Assassin's Creed Valhalla: Die Geirmund Saga - Matthew J. Kirby - E-Book

Assassin's Creed Valhalla: Die Geirmund Saga E-Book

Matthew J. Kirby

5,0

Beschreibung

ASSASSIN'S CREED VALHALLA DIE GEIRMUND SAGA 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung: Geirmund Heljarskinn Hjörrsson entstammt einem altehrwürdigen Geschlecht von Norwegerkönigen und will sich als Krieger beweisen: Er schließt sich daher dem Wikingerheer König Guthrums an und zieht mit den berüchtigten Seefahrern gegen die englischen Königreiche. Dabei gelangt Geirmund in den Besitz eines mystischen Armreifs, der ihm sowohl große Macht als auch bitteren Verrat verheißt. Doch kaum in England angekommen, verliert er das Geschenk des Götterschmieds Völund … Während Geirmund in den Reihen von König Guthrums legendärer Armee aufsteigt, muss er einerseits all seine Stärken aufbieten, um die Gefahren eines vom Krieg verwüsteten Landes zu meistern – und andererseits erkennen, dass der Kampf sich letztlich um sein persönliches Schicksal dreht … Ein offizieller Roman zu Ubisofs neuestem Blockbuster-Game Assassins's Creed: Valhalla

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MATTHEW J. KIRBY

Aus dem Englischen von Timothy Stahl

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe:

„ASSASSIN’S CREED: Valhalla – Geirmund’s Saga“ by Matthew J. Kirby, published by Ubisoft and Penguin Books, UK, November 2020.

© 2020 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Assassin’s Creed, Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks of Ubisoft Entertainment in the U. S. and/or other countries.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Timothy Stahl

Lektorat: Robert Montainbeau

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover Illustration von Jung Gi Kim und Pyeong Jun Park

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDACTP011E

ISBN 978-3-7367-9890-8

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3952-6

1. Auflage, November 2020

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TEIL EINS

– Ein gewöhnliches Messer –

1

Kaum war der Rothirsch zu Boden gegangen, zeigten sich die Wölfe, und Geirmund fragte sich, wie lange die Biester ihnen schon nachstellen mochten. Der Pfeil seines Bruders war dem Hirsch ungünstig in die Flanke gefahren, und das verwundete Tier hatte gebrüllt und eine deutliche Blutspur hinter sich hergezogen. Erst nach einer langen Verfolgungsjagd war es mit einem letzten Grunzen im frühwinterlichen Schnee zusammengebrochen. Seine Todeslaute und der Geruch des Blutes mussten über die umliegenden Berge und tief in die Täler gezogen und dem Wolfsrudel vorgekommen sein wie das Signal eines Horns, das zur Schlacht rief.

„Wie viele zählst du?“, fragte Hámund.

Geirmund spähte in den Wald, wo so spät am Nachmittag bereits Zwielicht und Stille herrschten. Die lichten Eichenhaine des Tieflands waren längst dichten Bergwäldern gewichen, in denen sich alle möglichen Untiere verbergen konnten. Die schwarzen Stämme von Kiefern und Birken standen in stummen, im Dunkel verschwimmenden Reihen da wie die Pfeiler eines Hauses, in dem Geirmund und sein Bruder nicht erwünscht waren. Es brannten darin weder ein Herdfeuer noch Specksteinlaternen, und wenn es in diesem Haus einen König oder Häuptling gab, sei er ein Troll oder ein Geist, würde dieser Herrscher ihnen keinen Schutz gewähren.

„Ich zähle fünf“, sagte Hámund.

Und das waren nur die Wölfe, die gesehen werden wollten. Geirmund zog sein Schwert und lockerte seine Axt im Gürtel. „Es könnten noch doppelt so viele als Verstärkung auf der Lauer liegen.“

„Als Verstärkung?“ Hámund runzelte die Stirn. „Du schreibst diesen Wölfen die Gerissenheit eines Trupps von Kriegern zu.“

„Das sind sie ja auch – auf ihre Art.“ Und Geirmund hatte auch die Anführerin dieses „Trupps“ ausgemacht. Sie schlich zwischen den Bäumen einher und verharrte zwischen zweien davon, wie um ihm in die Augen zu blicken und sich zu vergewissern, dass ihm eines klar war: Sie wusste alles über ihn. Ihr Nackenhaar sträubte sich, das Fell hatte die Farbe von nassem Treibholz, und obwohl sie groß war, gab es im Rudel noch größere Tiere als sie. Das hieß, sie verließ sich nicht allein auf ihre Kraft. „Sie mögen nicht mit Langschiffen übers Wasser segeln, aber diese Wölfe gebärden sich wie Wikinger.“

Hámund spottete weiter. „Gleich machst du mir noch weis, dass sie uns in die Zange nehmen wollen.“

„Das werden sie gewiss versuchen.“

Jetzt schnaubte Hámund verächtlich, und Geirmund wurde wütend.

„Wenn du weniger Zeit darauf verschwendet hättest, mit Vater zu saufen und irgendwelchen Jarls um den Bart zu gehen, dann wüsstest du vielleicht, wie Wölfe jagen.“

Hámund hörte auf zu lachen, erwiderte jedoch nichts. Geirmund kannte dieses Schweigen seines älteren Bruders und wusste, dass ihn die Kränkung später noch teuer zu stehen kommen würde, ganz gleich, wie wahr seine Worte auch gewesen waren – aber nicht jetzt, nicht in der Gefahr dieses Augenblicks. Ein paar Tiere aus dem Rudel waren nun einige Schritte auf sie zugekommen, die Köpfe gesenkt, die Lefzen hochgezogen, ein leises Grollen in der Kehle.

„Sie wollen den Hirsch“, sagte Hámund. „Vielleicht sollten wir ihn ihnen überlassen.“

Geirmund sah auf ihre Jagdbeute hinab. Es war ein junger Rothirsch, der noch nicht um den Anspruch auf ein eigenes Rudel von Hirschkühen gekämpft hatte. Der Winter hatte gerade erst begonnen, das Tier trug noch sein Geweih, und mochte es auch nicht als Trophäe taugen, war es doch groß genug, um etwas Nützliches daraus zu schnitzen. Das makellose rote Fell hatte einen seidigen Glanz, und das Fleisch würde gut schmecken und ihnen den Bauch füllen.

„Du würdest dir von ihnen nehmen lassen, was dir gehört?“, fragte Geirmund.

„Du würdest für ein Stück Rotwild sterben, obgleich die Speisekammer zu Hause voll ist?“

Die Deutlichkeit dieser Frage ließ Geirmund innehalten und überlegen. Sie waren drei Tage von ihrem Zuhause in Avaldsnes entfernt. Was als kurze Jagd auf Kleinwild begonnen hatte, war rasch zu einem ehrgeizigeren Unterfangen geworden. Weil größeres Wild in der Nähe rar geworden war, waren sie dem Ålfjord in nordöstlicher Richtung gefolgt, weit hinauf ins Hochland, das sich südwestlich des Dorfes Olund erhob, unweit der Grenze zu Hordaland. Aber auch von dort – ihrer einzigen Zuflucht, sollten sie in Not geraten – waren sie noch über einen Tag entfernt. Geirmund nahm keinen Rauch im Wind wahr, keinen Kochdunst. Nur den Duft der Bäume und den schweren Geruch des feuchten Erdreichs unter dem Schnee.

„Wir sind so weit gegangen, weil du einen Hirsch haben wolltest“, erinnerte Geirmund.

„Aber nicht um den Preis meines oder deines Lebens.“

Geirmund wollte seinem Bruder schon zustimmen, als die Leitwölfin des Rudels plötzlich wieder auftauchte, kalt und stumm wie ein Nebelstreif aus Niflheim und näher als irgendeines der anderen Tiere. Dann verschwand sie wieder, ebenso schnell und erhobenen Kopfes. Doch Geirmund hatte die Glut von Muspellheim in ihren gelben Augen gesehen, einen heißen, furchtlosen Trutz und einen Appetit auf mehr als nur Hirschfleisch. Diese Wölfin wusste Bescheid über Jäger und hatte selbst schon welche gejagt. Geirmund spürte ihren unbarmherzigen Hass auf die beiden Männer, die in ihr Revier in den Bergen eingedrungen waren, in ihr Haus des Waldes.

Aber dies waren nicht ihre Berge, und dieser Hirsch war nicht ihre Beute, und das musste sie begreifen.

„Wenn wir davonlaufen“, sagte Geirmund, „dann werden sie uns folgen und uns im Schlaf die Kehle herausreißen.“

„Unsinn“, meinte Hámund, wenn auch ohne Überzeugung.

„Ich gehe auch jede Wette ein, dass die Bewohner von Olund diese Wölfin nur zu gut kennen.“

„Und wenn schon …“

Geirmund wandte sich seinem Bruder zu und sah ihn missbilligend an. „Sie sind Rogaländer und unserem Vater treu ergeben. Sie gehören zu unserem Volk. Und du wirst eines Tages ihr König sein.“

Hámund straffte sich bei dem Vorwurf, den Geirmund nicht vollends offen ausgesprochen hatte. Jetzt ging es um seine Ehre, und sein Schicksal entschied.

„Komm schon, Bruder.“ Geirmund grinste und hob seine Waffen. „Willst du kämpfen? Oder möchtest du lieber versuchen, über den Hirsch zu verhandeln?“ Er wies mit dem Kopf zu den Wölfen. „Ich bin sicher, dass sie dir gerne ein Angebot machen werden – allerdings nicht zu unseren Gunsten.“

Hámund nahm seinen Bogen aus Eibenholz vom Rücken. „Es wird dich vielleicht überraschen, Bruder, aber ich habe auf meinen Reisen durchaus ein paar nützliche Dinge gelernt.“ Er zog einen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn auf die Bogensehne. „Ich habe zum Beispiel gelernt, dass die See nicht mit sich handeln lässt, egal, was für ein Angebot du ihr machst, und ich glaube nicht, dass man ein Jäger sein muss, um zu wissen, dass es sich mit Wölfen ebenso verhält.“

Geirmund trat dichter an seinen Bruder heran. „Jetzt ziel’ aber besser als vorhin auf den Hirsch.“

„Halt sie mir vom Leib, damit ich überhaupt zielen kann.“

Daraufhin drehte Geirmund sich um und stellte sich Rücken an Rücken mit Hámund. Beide stemmten sie die Füße fest in den Boden, um gewappnet zu sein für den bevorstehenden Kampf, während die Wölfe sie zu umkreisen begannen und nach einer Schwachstelle oder Lücke in ihrer Verteidigung suchten. Sie schnaubten Atemwolken in die Luft. Das kalte Nachmittagslicht war unterdessen weiter geschwunden, wodurch die Wolfsaugen im Vorteil waren.

Als zwei der Tiere schließlich angriffen, taten sie es gleichzeitig und aus verschiedenen Richtungen. Über seine Schulter hinweg hörte Geirmund das Sirren des Bogens seines Bruders, unmittelbar gefolgt von einem Aufjaulen, dann duckte er sich und schwang sein Schwert nach dem zweiten Wolf, der es auf seine Axthand abgesehen hatte. Die Klinge traf das linke Vorderbein des Tieres, und der Wolf zog sich hinkend zurück, die blutende Pfote von kaum mehr als der Haut gehalten.

Geirmund warf einen raschen Blick auf den Angreifer seines Bruders – wie zusammengefaltet lag das Biest da, der Kopf unterm Leib in den Schnee gedrückt. Zwischen Nacken und Schulter ragte der Schaft eines Pfeils aus dem Fell. Ein präziser Schuss, ein schneller Tod.

„Gut gemacht, Bruder“, sagte Geirmund.

„Was ist mit deinem?“

„Außer Gefecht gesetzt. Aber wir …“

Die nächste Welle knurrender Wölfe stürzte auf sie zu, vier an der Zahl, und weitere drei oder vier Tiere umkreisten sie schon, bereit, ihre Artgenossen zu unterstützen. Hámund schoss einen Pfeil ab und zog den nächsten aus dem Köcher, während Geirmund mit der Axt nach dem ersten Wolf hieb, der sich seinem Bruder bedrohlich dicht näherte. Der Pfeil fand sein Ziel, traf allerdings nicht tödlich. Der verwundete Wolf strauchelte, kam zitternd wieder auf die Beine und fiel abermals hin, derweil das Tier, das Geirmund erwischt hatte, davonrollte und dann liegen blieb.

„Hinter dir!“, rief Hámund und spannte seinen Bogen.

Geirmund wich zur Seite, der Pfeil pfiff an ihm vorbei, er hörte einen dumpfen Laut und ein Winseln, hatte jedoch keine Zeit, sich umzudrehen und nachzuschauen, was geschehen war. Der vierte Angreifer sprang ihn an, bevor Geirmund eine seiner beiden Waffen heben konnte. Er ging unter der Wucht des Anpralls zu Boden, das Zuschnappen der Kiefer des Tieres dicht am Ohr, den stinkenden Atem in der Nase. Geirmund drückte den Schwertarm nach oben, um das Maul von seiner Kehle fernzuhalten – und der Wolf biss zu! Seine Zähne drangen durch Leder, Wolle und Haut ins Fleisch des Armes, und Geirmund wusste, dass diese Kiefer ihm die Knochen zermalmen würden.

Weit riss er die Augen auf und brüllte dem Wolf in die Ohren, dann brüllte auch Hámund, und plötzlich zuckte das Biest zusammen und ließ Geirmunds Arm los. Das Tier entfernte sich mit ein paar unsteten Schritten und fuhr sich mit den Pfoten übers Gesicht – ein Pfeil ragte aus einem der beiden Augen. Aus nächster Nähe hatte Hámund ihn dem Tier mit bloßer Hand wie einen Dolch hineingestoßen, weshalb der Schaft nicht tief genug ins Gehirn gedrungen war, um es auf der Stelle zu töten. Hámund zog einen weiteren Pfeil, um die Sache zu beenden. Sein Augenmerk richtete sich ganz auf den mit dem Tod ringenden Wolf.

Geirmund war noch nicht wieder auf den Beinen, als ein fünftes Tier diese kleine Lücke in ihrer Deckung nutzte. Blutend und im Schnee ausrutschend, versuchte Geirmund hochzukommen, schaffte es aber nicht rechtzeitig bis zu seinem Bruder. Der Wolf flog auf Hámund zu, schnappte nach Ärmel und Fleisch des Arms, mit dem Hámund den Bogen spannte, und riss ihn zu Boden.

„Nein!“, rief Geirmund. Er hatte sein Schwert verloren, warf sich jedoch mit seiner Axt auf den Wolf, ließ sie auf den Rücken des Tieres niederfahren und schlug ihm das Rückgrat mittendurch. Der Wolf heulte schrill auf und versuchte zu fliehen, wobei er die nutzlos gewordenen Hinterläufe hinter sich herzog. Geirmund machte der Qual des Geschöpfs rasch ein Ende, dann wandte er sich um, bereit für den nächsten Angriff.

Aber es kam keiner. Der Kampf war unversehens vorüber. Das Rudel war verschwunden, für den Moment wenigstens. Die toten und verletzten Artgenossen hatte man zurückgelassen. Geirmund hob sein Schwert auf und tötete die beiden Tiere, die noch zuckten und litten. Da fiel ihm die fast abgetrennte Pfote jenes Wolfes auf, der seinen Bruder zuletzt attackiert hatte, eine schwere Verletzung, die das Tier jedoch nicht daran gehindert hatte, sich nur noch mutiger und wilder erneut in den Kampf zu stürzen. Oder vielleicht hatte der Wolf auch einfach nur gewusst, dass er sterben würde, und sich deshalb entschieden, seinem Schicksal mit gefletschten Zähnen entgegenzutreten. Geirmund erachtete beide Möglichkeiten als ehrenwert. Er ging neben dem Wolf in die Knie, erfüllt von Bewunderung, die dann in Bedauern umschlug.

„Sie sind weg“, sagte Hámund, aber es klang wie eine Frage.

Geirmund nickte.

„Werden sie zurückkommen?“

„Sie werden immer wieder zurückkommen“, antwortete Geirmund. „Aber nicht heute.“

„Was ist mit deinem Arm?“

„Verletzt.“ Geirmund senkte den Blick auf die Wunde und bemerkte etwas Helles, das aus seinem zerfetzten und rot verfärbten Ärmel hervorschaute. Im ersten Moment dachte er, es sei der Knochen seines Armes, aber dann stellte er fest, dass es sich lediglich um einen Wolfszahn handelte. Er zog ihn heraus und hielt ihn in der flachen Hand – ein elfenbeinfarbener Zahn mit blutiger Wurzel. „Ich werde es überleben“, sagte er. Dann wandte er sich seinem Bruder zu, der seinerseits ihn ansah. In Hámunds Augen loderte noch der schwindende Rausch des Kampfes, aber Geirmund sah auch den roten Fleck am Leib seines Bruders. „Was ist mit dir?“

Hámund löste den Blick von Geirmunds Arm und sah an sich selbst hinab. „Ich werd’s auch überleben. Sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Bist du dir sicher?“

Hámund schluckte und nickte, dann schweifte sein Blick über den Ort des Kampfes. „Wir haben sechs von ihnen erlegt.“

Geirmund legte eine Hand auf die Flanke des Wolfes und drückte seine Finger in das dichte Fell, unter dem er die Rippen spüren konnte. „Sie sind fast bis auf die Knochen abgemagert“, erklärte er, „und ihre Zähne sind locker.“

Die Tiere waren weder blutrünstig noch bösartig oder rachgierig, sondern einfach nur verzweifelt, doch Geirmund wusste, dass dies unterm Strich keinen Unterschied machte, und schloss seine Hand um den Zahn. Selbst wenn er sich den Trutz und Zorn in den Augen der Anführerin des Rudels nur eingebildet hatte – es gab schlicht nicht genug Land und Beute in Rogaland, um alle Bäuche zu füllen. Kampf und Tod waren unvermeidlich.

Geirmund erhob sich. „Wir müssen unser Lager aufschlagen. Ein Feuer machen, unsere Wunden säubern und dann die Tiere häuten. Morgen früh brechen wir wieder auf.“

Hámund blinzelte und nickte, dann nutzten sie das letzte Tageslicht, um sich einen Lagerplatz zu schaffen und Brennholz zu sammeln. Geirmund schleifte die toten Wölfe näher zu der Stelle, wo Hámund dabei war, mit dem verzierten Funkenschläger, den er auf einer Finnlandreise mit ihrem Vater erworben hatte, ein Feuer zu entfachen. Der Funkenschläger bestand aus einem schimmernden Bronzegriff, den links und rechts je ein Reiter schmückte, aber trotz all seiner Verschönerungen schien er keine besseren Funken zu schlagen als Geirmunds schlichter Stahl. Hámund hatte offenbar Mühe damit. Seine Schläge mit dem Zündstein waren schwach und wirkungslos. Geirmund wollte schon eingreifen, als endlich doch ein paar Rauchfäden von dem Zunderholz aufstiegen. Hámund richtete sich langsam auf, schien aber unsicher auf den Beinen.

„Du siehst nicht gut aus“, bemerkte Geirmund.

Hámund nickte. „Ich fühle mich …“, begann er, ohne den Satz zu beenden.

„Setz dich. Lass mich nach deiner …“

Hámund stürzte zu Boden, als wäre er plötzlich sämtlicher Knochen beraubt.

Geirmund eilte zu ihm. „Sieh mich an“, verlangte er und tätschelte die blasse Wange seines Bruders. „Sieh mich an!“ Aber die Augen seines Bruders rollten nur hinter den halb geschlossenen Lidern hin und her.

Die Stofflagen der Kleidung an Hámunds Seite fühlten sich schwer und durchnässt an. Geirmund zerschnitt sie mit seinem Messer und entdeckte unter dem Arm seines Bruders eine tiefe Wunde, aus der immer noch Blut floss. Ein Anblick, der ihn scharf die Luft einsaugen ließ. Schnell lief er zur Feuerstelle, wo er den Kopf seiner Axt in die höher schlagenden Flammen legte, dann füllte er eine Specksteinschale mit Schnee, die er neben dem Feuer abstellte, damit der Schnee schmolz und das Wasser heiß wurde, derweil er zu seinem Bruder zurückkehrte und versuchte, die Blutung mit dem Druck seiner Hände zu stillen.

„Hámund, du Narr“, flüsterte er.

Wenig später holte er die Specksteinschale und goss das darin dampfende Wasser über die Wunde, um sie zu säubern. Dann nahm er seine Axt und prüfte die Temperatur des Metalls, indem er etwas Schnee darauf fallen ließ – er schmolz sofort und verdampfte.

„Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst“, sagte Geirmund, der nun über seinem Bruder stand, „aber mach dich auf etwas gefasst. Das wird jetzt wehtun.“

Damit beugte er sich vor und packte das Handgelenk seines Bruders. Dann hob er dessen Arm an, um die Wunde darunter zur Gänze freizulegen, und presste die flache Seite der Axt gegen das verletzte Fleisch. Hámund stöhnte, zuckte jedoch nicht, als das heiße Metall sein Fleisch versengte. Rauch und der Geruch von Gebratenem stiegen Geirmund in die Nase und ließen ihn würgen.

Er wartete ein paar Augenblicke ab, dann löste er die Axt, die mit der Haut seines Bruders verklebt war. Erleichtert stellte er fest, dass die grässlich aussehende Wunde anscheinend nicht mehr blutete. Er konnte nur hoffen, dass sich der Blutfluss nicht umgekehrt hatte und nun Hámunds Bauch und Brust füllte. Doch selbst wenn es so sein sollte, hätte er nichts dagegen tun können. Er rollte ein Stück Stoff zusammen und tränkte es mit dem restlichen Met, der sich noch in seinem Schlauch befand, dann schob er es unter den Arm seines Bruders und dort auf die Wunde, bevor er den Arm so fixierte, dass er den Verband festhielt und Druck auf die Verletzung ausübte.

„Jetzt muss ich dich nur noch irgendwie von hier fortbringen“, sagte er und richtete den Blick auf die toten Wölfe.

Er entschied sich für die beiden größten, einer davon war der Wolf mit der fast abgetrennten Pfote, und hängte sie an den Hinterläufen auf, um ihnen im Schein des Feuers das Fell abzuziehen. Vorsichtig, aber auch so schnell wie möglich machte er sich ans blutige Werk. Normalerweise hätte er den Tieren den Bauch und die Läufe aufgeschlitzt, damit er die Glieder zur Seite spreizen und die so geöffneten Kadaver flach auf den Boden legen konnte, aber für seinen jetzigen Plan brauchte er die Pelze in einem Stück, und das kostete Zeit und Kraft. Er begann mit den Beinen, schnitt lediglich kleine Schlitze in die Haut und schälte das Fell dann so vom Leib, als zöge er sich selbst seine nassen Beinlinge aus, die eingegangen und eng geworden waren. Manchmal musste er sein ganzes Körpergewicht einsetzen, um das Fell vom Leib zu lösen und nach unten zu ziehen, und er schwitzte trotz der Kälte, aber schließlich hatte er zwei weiche Pelzballen. Nun fällte er mit seiner Axt zwei junge Birken, beide Stämme so dick wie sein Handgelenk, und diese wiederum hieb er auf die Körperlänge seines Bruders zurecht. Anschließend breitete er die Wolfsfelle aus und schob die beiden Pfähle hindurch. Er verstrebte die Birkenstämme so, dass sie die Pelze straff spannten und einen Schlitten bildeten, der sowohl stabil als auch weich war und vor der kalten Luft und dem Schnee darunter schützte.

Dieses bewegbare Bett zog Geirmund neben seinen Bruder, rollte ihn behutsam darauf und befestigte ihn, unter anderem mit Hámunds eigenem Bogen, auf dem Schlitten. Damit waren sie zum Abmarsch bereit.

Es war gefährlich, jetzt aufzubrechen und bei Nacht zu wandern, doch Geirmund befürchtete, dass es noch gefährlicher wäre, dort zu verweilen, nicht nur wegen der Wölfe, sondern auch wegen des Risikos für seinen Bruder. Hámund bedurfte der Hilfe eines Heilers daheim in Avaldsnes, eines Heilers, der wusste, wie man eine Entzündung dieser Wunde verhinderte, und er brauchte diese Hilfe schnell. Jede Verzögerung würde sehr wahrscheinlich Hámunds Tod bedeuten.

Geirmund schnitt die Wolfskadaver los und ließ sie für das Rudel liegen, sollte es zurückkommen. Er wusste, dass Wölfe bisweilen ihresgleichen fraßen, und wenn nicht, wartete auch noch der tote Hirsch auf sie. Aus dessen Keulen schnitt er ein paar große Stücke heraus, nur so viel, dass Hámund und er unterwegs genug zu essen hatten. Den Rest ließ er zurück.

Dann nahm er das Seil, mit dem er die Wölfe aufgehängt hatte, und band es so um die Birkenstämme, dass er es sich über Brust und Schultern legen konnte. So würde sein Rücken den größten Teil der Last tragen, und die Hände hatte er frei, um die Pfähle zu führen und den Schlitten gerade zu halten. Doch als er dann zum ersten Mal anzog, nahm ihm das gemeinsame Gewicht des Körpers seines Bruders, der Wolfsfelle und der Birkenstämme den Atem und ließ ihn stolpern, bevor er auch nur den ersten Schritt gemacht hatte.

„Möge Thor mir Kraft gewähren“, flüsterte er, während er noch um festen Stand rang.

Einen Augenblick später stapfte er los.

2

Nachdem eine Nacht, ein Tag, eine weitere Nacht und ein weiterer Tag vergangen waren, wurden die Muskeln in Geirmunds Schultern – dort, wo sich die Seile unbarmherzig wie Axtschneiden in sein Fleisch drückten – schließlich taub. Auch aus seinen Füßen war das Gefühl gewichen, einerseits herausgepresst von dem Druck, mit dem er seine Fersen in den Boden stemmte, andererseits betäubt von Eis und Schnee, und sein steifer Rücken knarrte wie eine alte Eiche, die den nächsten Sturm nicht überstehen würde. Die Stangen hatten ihm die Fäuste durch die Handschuhe hindurch wund gescheuert, und seine Brust brannte tief drinnen, wo die eisige Luft, die er einatmete, auf das Feuer seiner Lunge traf.

Nun war der dritte Tag heraufgedämmert, und im Lauf der Nacht hatte er endlich den Fels und Schnee der Berge hinter sich gelassen und das Tiefland erreicht, wo ihm die weiten Felder und Wiesen weniger Schwierigkeiten bereiteten. An manchen Stellen schuf das lange, regenfeuchte Gras einen weichen, rutschigen Untergrund, über den er den Schlitten ziehen konnte, und das erleichterte ihm das Vorankommen für eine Weile.

Aber auch das war nicht von Dauer.

Als die Sonne sich ihrem Mittagsstand näherte, war nicht länger der Schmerz sein Feind – er wurde abgelöst von einem weitaus tödlicheren Widersacher. Die Muskeln in Geirmunds Beinen und Armen zitterten vor Erschöpfung, seine Gelenke und Bänder fühlten sich verschlissen und lose an. Während der Schmerz ein direkter Gegner war, dem er sich entgegenwerfen konnte, um ihn zu bekämpfen, glich die Erschöpfung einer endlosen Belagerung, die sich geduldig fortsetzte, bis er jede Kraftreserve, die er besaß, aufgebraucht hatte und so ausgelaugt war, dass er schließlich fiel. Um ihr widerstehen zu können, brauchte er Schlaf, aber er hatte gehofft, Avaldsnes zu erreichen, ohne zwischendurch zu übernachten, und so hatte er sich nur jeweils kurze Pausen gegönnt, um Hámunds Zustand zu überprüfen, etwas Hirschfleisch zu garen und ein paar Bissen davon zu essen, und nur zweimal hatte er die Augen geschlossen, gerade so lange, dass er nicht zu träumen begonnen hatte. Doch nun war ihm klar, dass er keine Wahl mehr hatte. Sein Körper brauchte mehr.

Ein paar Ackerlängen voraus machte er eine Ansammlung von Haselnusssträuchern an einem kleinen Teich aus und entschied, dass dies ein guter Rastplatz sei. Als er ihn erreichte, ließ er seinen Bruder behutsam zu Boden und brach dann selbst inmitten der feuchten Blätter und zerbrochenen Nussschalen zusammen, umgeben von dem dumpfigen, süßen Duft verwesenden Pflanzenwuchses.

Bevor er sich zu schlafen erlaubte, sah er nach Hámund, und obgleich das Gesicht seines Bruders immer noch blass war, fühlte sich seine Stirn nicht heiß an, was Geirmund als gutes Zeichen wertete. Sein Bruder schien in einem unruhigen Schlaf gefangen zu sein, seit er das Bewusstsein verloren hatte. Gelegentlich hatte er vor sich hingemurmelt oder nach irgendjemandem gerufen, war aber nie ganz bei Besinnung gewesen. Geirmund betrachtete Hámunds momentanen Zustand als Glücksfall, weil er so weder die Schmerzen noch sonstige Beschwerden spürte, die ihm andernfalls gewiss zu schaffen gemacht hätten. Aus diesem Grund hatte Geirmund auch nicht versucht, ihn zu wecken, und das tat er auch jetzt nicht, als er endlich seinen eigenen Anker lichtete und sich von der Flut mitnehmen ließ, ganz gleich, wohin sie ihn auch tragen mochte … und als er die Augen wieder aufschlug, war es Nacht und er fröstelte.

Der Schmerz war zurückgekehrt, doch Geirmund hieß ihn willkommen. Er verfügte nun wieder über frische Willenskraft, ihm zu begegnen. Mit zusammengebissenen Zähnen kam er auf die Beine und sammelte Holz für ein kleines Feuer, in dessen Schein er seinen Bruder untersuchen und an dem er sich wärmen wollte, bevor er die letzte Etappe seiner anstrengenden Reise in Angriff nahm. Überrascht stellte er jedoch fest, dass Hámund die Augen geöffnet hatte und ihn beobachtete.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Geirmund, schon auf dem Weg zu ihm.

„Es juckt überall. Diese Wolfsfelle sind voller Flöhe.“ Hámund versuchte zu grinsen. „Und es würde mir auch besser gehen, wenn ich endlich einmal pissen und scheißen könnte.“

Geirmund lachte und löste die Seile, mit denen er seinen Bruder am Schlitten festgebunden hatte, dann half er ihm beim Aufstehen. „Pass auf deinen Arm auf. Heb ihn nicht an.“

„Ich glaube, das könnte ich auch gar nicht – selbst wenn du ihn nicht festgebunden hättest.“

Hámund humpelte aus dem Kreis des Feuerscheins, und Geirmund wartete ein wenig, ehe er nach ihm rief. Daraufhin kam Hámund wortlos zurück und legte sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen wieder auf den Schlitten. Geirmund reichte ihm die letzten Bissen des kalten Hirschfleischs, das er gestern gebraten hatte. Oder vorgestern. Es fiel ihm schwer, sich zu erinnern.

„Wo sind wir?“, fragte Hámund.

Geirmund nahm auf der anderen Seite des Feuers Platz. „Ich hoffe, dass wir zu Hause sind, bevor die morgige Nacht anbricht.“

Sein Bruder hörte auf zu kauen. „Du hast mich den ganzen Weg bis hierher gezogen?“

Geirmund warf einen weiteren Ast ins Feuer. Funken stoben, und eine Wolke dichten, nussig riechenden Rauchs stieg auf. „Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du warst ja zu faul zum Laufen.“

„Allerdings.“ Hámund lachte, zuckte unter Schmerzen zusammen und aß einen weiteren Bissen Fleisch. „Und ich fürchte, dass ich immer noch zu faul bin.“

Geirmund sah den Stolz und die Sorge in den Augen seines Bruders und kannte seine Gedanken so gut, wie er die eigenen kannte. Hámund fehlte die Kraft zum Gehen, aber er wollte auch keine Last sein. Geirmund hob die Schultern. „Ein Tag mehr macht mir nichts aus.“

„Aber mir macht er etwas aus“, erwiderte Hámund. „Schließlich bin ich es, den die Flöhe zerfressen.“

„Von Flöhen warst du doch schon vorher zerfressen. Dein Clan von Flöhen und die der Wölfe könnten eine Versammlung abhalten.“

Hámund gluckste und zuckte abermals zusammen. „Bring mich nicht zum Lachen.“

„Ich bezweifle, dass du noch Grund zum Lachen haben wirst, wenn wir wieder aufbrechen.“ Geirmund erhob sich und nahm mit beiden Händen feuchtes Laub auf, das er in die kleine Feuerstelle fallen ließ, um die Flammen zu ersticken. Dann trat er sie zusätzlich aus, und Dunkelheit stülpte sich über den Lagerplatz inmitten der Haselnusssträucher. „Bist du bereit?“

Hámund blickte hinauf zum Nachthimmel mit seinen Sternen, als wolle er abschätzen, wie lange es noch bis zur Morgendämmerung war. „Jetzt schon?“

„Ja, ich glaube, wir müssen.“ Geirmund wischte sich das Laub von den Händen, und sein Tonfall wurde gewichtig, ohne dass er es wollte. „Du brauchst einen Heiler, der mehr von seiner Sache versteht als ich.“

Hámund nickte bedächtig. „Dann müssen wir wohl.“

Geirmund machte sich ein letztes Mal daran, seinen Bruder am Schlitten festzubinden, doch diesmal war Hámund wach und stöhnte gequält. Die Laute weckten Geirmunds Mitleid, änderten jedoch nichts an dem, was getan werden musste, und Hámund beklagte sich auch mit keinem Wort – er presste einfach nur Lippen und Lider fest zusammen, bis es geschafft war. Erst dann hatte er eine Bitte.

„Gib mir mein Schwert.“

Geirmund zögerte. „Dein Schwert?“

„Damit ich es in der Hand halten kann.“

Geirmund begriff die Bedeutung hinter dem Wunsch seines Bruders und versuchte, Hámunds Befürchtungen mit einer abfälligen Handbewegung abzutun. „Das Schicksal ist noch nicht fertig mit dir. Und Vater auch nicht. Er würde höchstpersönlich nach Walhall gehen, um dich zurückzuholen …“

„Bitte, Bruder.“ Hámund öffnete die auf seiner Brust liegende Hand. „Mein Schwert.“

Ob es nun nötig war oder nicht, Geirmund fand keinen guten Grund, seinem Bruder die Ehre zu verweigern, sein Schwert in der Hand zu halten, für den Fall, dass er das Ende seines Lebensfadens erreichen sollte, bevor sie in Avaldsnes ankamen. Innerlich schwor er, dass er schneller sein würde als die Nornen mit ihren Scheren, während er Hámunds Schwert, das er sicher befestigt hatte, losmachte und aus der Scheide zog. Die Waffe hatte eine Klinge aus edlem Stahl, der in Frakkland geschmiedet worden war, ein Geschenk ihres Vaters anlässlich Hámunds erster Seereise, das – soweit Geirmund wusste – noch nie das Blut eines Menschen oder Tieres geschmeckt hatte. Der Griff war mit Leder umwickelt, Heft und Knauf mit aufwendigen Mustern in Silber und Gold verziert. Die Wellen und Wirbel, die sich längs durch den kalten Stahl wanden, schimmerten im Licht der Sterne wie ein Fluss.

„Wenn du es fallen lässt, werde ich nicht umkehren, um es zu holen“, sagte Geirmund mit gespieltem Ernst.

„Ich weiß.“

Er schob das Ende der Klinge unter eines der Seile auf Höhe von Hámunds Knie, damit es halbwegs gesichert war, sollte sein Bruder es loslassen. Den Griff legte er ihm in die offene Hand.

„Danke.“ Hámund schloss die Hand zur Faust und drückte sich den Schwertgriff fest ans Herz.

Geirmund nickte und nahm seinen Platz vorne am Schlitten ein, ging in die Knie und streifte sich die Seile über die Schultern. Als er seinen Bruder anhob, schnitt ihm das Gewicht an diesen Seilen mit neuer Schärfe ins Fleisch und er fragte sich, ob er nach dieser Tortur überhaupt noch imstande sein würde zu rudern, wenn es endlich an der Zeit war, auf seinem eigenen Schiff zu segeln.

„Ich habe das Gefühl, dass du leichter geworden bist“, sagte er. „Ich danke dir, dass du gepisst und geschissen hast.“

Hámund lachte hinter ihm auf, dann lachte und stöhnte er gleichzeitig, und das Stöhnen hielt an, als Geirmund sich in die Seile legte und der Schlitten sich mit einem Ruck in Bewegung setzte.

Er bemühte sich, auf ebenem Boden zu bleiben, als er einem Stück Tiefland zwischen dem Ålfjord im Norden und dem Skjoldafjord im Süden folgte, aber es war noch dunkel und so konnte er unmöglich allen Buckeln und Vertiefungen ausweichen, und mit jedem Mal schien Hámund lauter zu stöhnen. Den größten Teil der Nacht über nutzte Geirmund die Sterne, um auf Kurs zu bleiben, aber kurz vor Beginn der Dämmerung verlor er diese Führer hinter einer dichten Wolkenbank, die Donner und Regen brachte. Da verstummte Hámund, obwohl Geirmund auf dem nassen Untergrund noch häufiger ausrutschte und der Schlitten ins Wanken geriet. Er blieb stehen, um nachzuschauen, ob sein Bruder wieder besinnungslos geworden war, aber Hámund war bei Bewusstsein und biss stoisch die Zähne zusammen.

„Kannst du mir das Gesicht zudecken?“, presste er hervor. Er hielt die himmelwärts gewandten Augen fest geschlossen, in seinen Wimpern hatten sich Regentropfen gefangen.

„Natürlich, das hätte ich gleich tun sollen …“ Geirmund zog die Kapuze von Hámunds Umhang unter dessen Kopf hervor und so weit es ging über sein Gesicht, immerhin bis zur Nasenspitze. „Reicht das?“

Hámund nickte, wenn auch nur knapp. Die Knöchel seiner Schwerthand waren weiß.

Geirmund seufzte und nahm, wie ein Ochse, sein Joch wieder auf. Der Regen fiel schwer und kalt und durchnässte seinen Umhang, seine Felle und drang durch die Nähte des Leders seiner Kleidung. Doch dann erreichte er endlich Ackerland mit angelegten Wegen. Im Südosten erhob sich wie eine in der Bewegung erstarrte Welle kahles, graues Felsland. Er nahm den Pfad, der am Ufer des Skjoldafjords nach Süden führte. Im Lauf des Morgens ließ der Regen nach und Dunst wälzte sich von den Höhen herab, um sich in den Niederungen und auf dem Wasser zu sammeln. Geirmund folgte weiter der Küste des Fjords und anschließend dem Ufer eines Sees.

Die Straßen hätten das Vorankommen eigentlich erleichtern sollen, aber der Regen hatte sie aufgeweicht, und der Morast sog an Geirmunds Stiefeln, hielt die Enden der Schlittenstangen fest und verklebte beides mit schwerem Schlamm. Geirmunds Schritte wurden langsamer, obgleich er sich bis an die Grenzen seiner Kraft anstrengte und sein Herz zu platzen drohte. Zweimal rutschten ihm die Beine weg, sodass er mitsamt seinem Bruder in den Schlamm stürzte, und beim dritten Mal blieb er einfach liegen, weil er nicht wusste, ob er überhaupt wieder auf die Füße kommen könnte.

„Ist ein Haus zu sehen?“, fragte Hámund. „Oder irgendeine andere Zuflucht?“

„Noch nicht“, antwortete Geirmund, die Hand auf der Brust, während er nach Atem rang. Doch er roch den Rauch von brennendem Holz. „Und selbst … wenn ein Haus in der Nähe wäre, müsste ich … einen Heiler holen, und … das würde zu lange dauern.“

Geirmund kam erst auf die Knie und dann auf die Füße.

„Ich kann auf einen Heiler warten“, sagte Hámund. „Finde eine Stelle, wo du mich zurücklassen kannst, und geh.“

Geirmund schirrte sich wieder an. „Ich lasse dich nirgendwo zurück.“

„Aber du kannst nicht …“

„Ich habe gesagt, ich werde dich nicht …“ Geirmund hatte versucht, seine Stimme zu heben, doch die Anstrengung raubte ihm nur den Atem. „Ich lass dich nicht zurück.“

Er zog in Erwägung, mit dem Schlitten den Pfad zu verlassen, um einfacheres Terrain zu suchen, doch die Gerstenfelder ringsum waren abgeerntet und sahen noch ungangbarer aus als der vor ihnen liegende Weg. Es blieb ihm nichts anderes übrig als weiterzugehen. Nichts anderes als der Weg, der Schlamm und die Strecke, die er noch zu überwinden hatte, und wenn er noch tausendmal hinfiel.

Schon bald verlor er den Blick für die Entfernungen zwischen auftauchenden Hügeln und Bäumen, er konzentrierte sich nur noch auf den Rhythmus seiner kraftloser werdenden Schritte und die Länge eines jeden einzelnen davon. Selbst die wachsende Gewissheit, dass er nicht mehr lange durchhalten konnte und sie nie zu Hause ankommen würden, scherte ihn nicht. Er ging weiter, einfach immer weiter.

Schließlich verzogen sich die Regenwolken, Sonnenlicht ließ die nasse Welt erstrahlen. Als sie die nördliche Spitze des Førresfjords erreichten, wandte er sich nach Südwesten und folgte der Küste in Richtung Karmsund und ihrer Heimat. Auch wenn es nun vielleicht etwas weniger kalt war, gewann Geirmund durch den Wetterwechsel keine neuen Kräfte. Außerdem musste er jetzt die Augen zusammenkneifen, weil ihn das Schimmern der vielen Pfützen auf dem Weg blendete.

„Hörst du das?“, fragte Hámund.

„Was denn?“

„Pferde. Reiter.“

Geirmund blieb stehen und versuchte, durch das Dröhnen der Erschöpfung in seinen Ohren etwas wahrzunehmen. Hámund hatte recht. Es befanden sich Reisende vor ihnen, so wie es sich anhörte, gleich hinter der nächsten Wegbiegung. Ihre Stimmen wehten über den morastigen Pfad zu ihnen her. Sie verfluchten den Schlamm und den Regen.

„Zu laut, als dass es Räuber sein könnten“, meinte Hámund.

Auch damit hatte er recht. Räuber benutzten keine Wege, es sei denn, um an abgeschiedenen Stellen Reisenden aufzulauern, die sie auszuplündern und zu ermorden gedachten. Doch bevor Geirmund seine Sinne so weit sammeln konnte, um zu entscheiden, ob es nicht trotzdem klug wäre, den Pfad zu verlassen, tauchten die Reisenden auch schon auf. Im nächsten Moment riefen die Reiter, die sie ihrerseits ebenfalls gesehen hatten, bereits nach ihnen, und Geirmund glaubte, die ihm bekannte raue Stimme Steinólfurs zu hören. Er fragte sich, ob ihn Wahnsinn oder Delirium befallen hatten, während die Reiter auf sie zugeprescht kamen. Doch als sie näher heran waren, erkannte Geirmund nicht nur Steinólfur, sondern auch dessen junges Mündel Skjalgi, ein Bursche mit einer unverkennbaren Narbe über dem linken Auge. Bei ihnen waren vier weitere Männer aus Avaldsnes, und sie schlossen die Lücke zwischen ihrer Gruppe und Geirmund, als betrüge sie nur einen Katzensprung. Die Erleichterung, die Geirmund bei ihrem Anblick empfand, ließ ihn beinahe taumeln.

„Halt!“, rief Steinólfur und zügelte sein Pferd ein paar Schritte entfernt. „Geirmund, bist du das?“

„Ich bin es“, antwortete Geirmund. Ein Zittern erfasste seine Arme.

„Was ist das für ein Schlitten, den du da ziehst?“ Steinólfur stieg ab und schritt auf ihn zu. „Wo ist Hámund?“

„Hámund ist dieser Schlitten“, erwiderte Hámund.

Skjalgi war ebenfalls vom Pferd gestiegen, und beide Männer eilten herbei, um Geirmund die Stangen des Schlittens aus den Händen zu nehmen. Sie mussten sie regelrecht aus seinen Fäusten befreien, nicht etwa, weil Geirmund nicht losgelassen hätte, sondern weil ihm seine Finger nicht mehr gehorchten und er sie nicht öffnen konnte. Dann hielt Skjalgi das Gewicht des Schlittens mit beiden Armen, während Steinólfur die Seile von Geirmunds Schultern zog.

„Bei den Göttern“, flüsterte er und sah in Geirmunds Augen. „Was ist euch widerfahren?“

„Wölfe“, erwiderte Hámund.

„Wölfe?“ Skjalgi setzte den Schlitten vorsichtig auf dem Boden ab. „Wo?“

„Ein paar Tage von hier“, sagte Geirmund. „In der Nähe von Olund.“

„Olund?“ Steinólfur schüttelte den Kopf. „Es hieß, ihr seid auf Eichhörnchenjagd gegangen. Euer Vater hat Suchtrupps nach euch ausgeschickt, aber keinen bis nach Olund.“

„Wir wollten nicht nur Eichhörnchen jagen“, erklärte Hámund.

„Hör mir zu, Steinólfur.“ Geirmund hatte endlich die Worte gefunden, um zu sagen, was gesagt werden musste. „Mein Bruder ist verletzt, schwer verletzt. Unter dem Arm. Er braucht einen Heiler.“

Steinólfur sah Hámund an. „Kannst du reiten?“

„Sicher“, erwiderte Hámund. „Aber es wäre ein sehr kurzer Ritt.“

„Er braucht jemanden, mit dem er reiten kann und der ihn auf dem Pferd festhält“, sagte Geirmund.

Einer aus der Gruppe ergriff das Wort, ein Mann namens Egil. „Mein Pferd kann den Heljarskinn tragen.“

Geirmund ging über die Verwendung dieses Namens hinweg, obwohl er ihn hasste, aber niemand, der ihn gebrauchte, meinte ihn als echte Beleidigung.

Steinólfur nickte und sagte: „Egils Pferd ist das kräftigste.“ Er winkte den Reiter heran und rief Skjalgi zu, dass er Hámund vom Schlitten losbinden solle. Dann wandte er sich wieder an Geirmund. „Und was ist mit dir? Dein Arm sieht nicht gut aus.“

Geirmund senkte den Blick. Seine eigene Verletzung hatte er ganz vergessen, und mittlerweile war das Blut an seinem Ärmel getrocknet und hatte sich, wo der Stoff und das Leder zerrissen waren, mit Schlamm vermischt. „Darum habe ich mich noch gar nicht gekümmert.“

„Lass mich mal nach der Wunde sehen“, sagte Steinólfur, „sobald dein Bruder auf dem Weg ist.“

Dann sah Geirmund, wie Egil sich auf seinem mächtigen Pferd näherte, einem Hengst mit goldenem Fell und ebensolcher Mähne. Mehrere Männer packten mit an, um Hámund vor Egil in den Sattel zu heben. Als das geschafft war, wandte Steinólfur sich an die anderen in seiner Gruppe.

„Skjalgi und ich folgen euch mit Geirmund. Ihr seht zu, dass Hámund noch vor Sonnenuntergang bei König Hjörr eintrifft.“

Die Reiter nickten, und dann sah Geirmund sie auch schon mit seinem Bruder davongaloppieren. Hoch spritzte der Schlamm unter den Hufen der Pferde auf.

„Ich muss mit ihm gehen“, sagte er. „Wir müssen …“

„Du gehst nirgends hin, bis ich mir deinen Arm angeschaut habe.“ Steinólfur führte Geirmund vom Weg herunter und in den Schatten einer großen Esche. Geirmund war zu erschöpft, um sich zu widersetzen. „Und danach“, fuhr Steinólfur fort, „kannst du mir erzählen, warum du Hámund nicht einfach dort hast liegen und sterben lassen.“

3

Geirmund setzte sich rittlings auf eine Wurzel der Esche und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Die hochragenden, weitverzweigten Äste hatten ihr goldfarbenes Laub abgeworfen, und es lag um ihn und den Baum herum wie eine zu Boden gefallene Krone. Linkerhand schimmerte der Førresfjord in der Sonne, das Ufer vielleicht hundert Klafter entfernt, während Ackerland und Wiesen die flachen Hügel zu seiner Linken bedeckten.

Neben dem Baum machte Steinólfur sich daran, ein kleines Feuer zu entfachen. Die Bewegungen des älteren Kriegers waren von einer Steifheit gezeichnet, die von vergangenen Kämpfen und deren Verletzungen kündeten, und oft schien es Geirmund, als wäre in die zehn Sommer, die sie dem Alter nach trennten, mehr Leben geflossen, als es eigentlich normal gewesen wäre. Steinólfurs brauner Bart wies bereits graue Strähnen auf, und wäre seine Haut Leder gewesen, hätte man es nicht noch einmal verwenden können. Er konnte zu Geirmund sowohl als Freund als auch als Berater sprechen, und manchmal tat er dies in einem Atemzug. Einmal, als er betrunken gewesen war und nicht wusste, was er redete, hatte er eine Zeit erwähnt, die er am Ruder zugebracht habe, und Geirmund hatte sich gefragt, ob Steinólfur einst ein Sklave gewesen sein mochte. Aber es wäre nicht richtig gewesen, einen Mann nach etwas zu fragen, das er im betrunkenen Zustand geäußert hatte, und deshalb hatte Geirmund die Frage für sich behalten.

„Du siehst nicht aus, als ob du Fieber hast.“ Steinólfur nahm etwas Zunderholz und seinen Funkenschläger aus seiner Tasche. „Wie schlimm sind deine Schmerzen?“

„Nicht sehr schlimm“, antwortete Geirmund, aber das war eine Lüge. Von der Last seines Bruders befreit, bemerkte er nun eine straffe Schwellung seines Armes, einen stechenden Schmerz, wenn er sich bewegte, und ein dumpfes Pochen, wenn er stillhielt. Aber er würde sich deswegen Steinólfur gegenüber nicht beklagen. Er wollte erst einmal zurück nach Avaldsnes und sich um Hámund kümmern. „Wir brauchen kein Feuer. Dafür haben wir keine Zeit.“

„Das ist keine Frage der Zeit mehr.“ Der ältere Krieger schlug Funken in den Zunder, dann blies er vorsichtig in die kleinen Flammen, bis das Feuer aus eigener Kraft brannte. „Dein Bruder wird zu einem Heiler kommen und überleben. Oder auch nicht, wie es dem Schicksal eben gefällt. Nichts, was du jetzt noch tun könntest, wird daran etwas ändern, und wir müssen deine Wunden versorgen.“

Geirmund sagte nichts, jedenfalls nicht laut – aber innerlich sandte er ein stummes Flehen an die Nornen, die das Los seines Bruders entscheiden würden … wenn es nicht schon entschieden war.

„Na also.“ Zufrieden nickte Steinólfur in Richtung des Feuers, dann sah er Geirmund an. „Aber ich weiß, dass du nicht in Sorge um deinen Bruder bist. Du sorgst dich, dass dein Vater wütend sein könnte.“

Geirmunds Miene verfinsterte sich. „Ich bin in Sorge um meinen Bruder.“

Steinólfur erhob sich, verschränkte die Arme und wartete ab, bis Geirmund nickte.

„Aber ich sorge mich auch wegen meines Vaters“, gestand er schließlich.

Unterdessen war die Wärme der Flammen auf der feuernahen Seite seines Körpers durch die Kleidung gedrungen, aber auf der anderen klebte der Stoff noch feucht und kalt auf seiner Haut, und ein Schauder rann wie ein eisiger Hauch aus Ginnungagap über sein Rückgrat und schien seinen Körper in zwei Hälften zu spalten.

„Wenn mein Vater Hámund sieht“, fuhr Geirmund fort, „wird er nach mir suchen, und er wird mir die Schuld geben.“

Steinólfur ließ die Arme sinken und trat zu ihm. „Er wird dir auf jeden Fall die Schuld geben, ob du nun dort bist oder nicht.“

Skjalgi kehrte mit zwei Schläuchen zurück, die er am Fjord mit kaltem, frischen Wasser gefüllt hatte. „Wer wird dir die Schuld geben?“

„Mein Vater“, sagte Geirmund.

„Und wessen wird er dich beschuldigen?“, fragte Skjalgi weiter.

„Dass er seine Nase in Dinge gesteckt hat, die ihn nichts angehen“, erwiderte Steinólfur. „Und jetzt leg ein paar Steine ins Feuer, Junge.“

Skjalgi warf Geirmund einen Blick zu, und sie grinsten sich an. Dann suchte er nach Steinen in der richtigen Größe und warf sie am Rand des Feuers in die Flammen, um sie zu erhitzen.

„So, nun lass mal sehen“, sagte Steinólfur.

Mit Skjalgis Hilfe zog er Geirmund den ledernen Umhang aus, dann die wollene Kleidung, wobei sie besondere Vorsicht walten ließen, als sie seinen Arm daraus lösten. Geirmund zuckte trotzdem zusammen, als die Fasern an seinen Wunden rupften, aber letztlich befreiten sie ihn aus beiden Kleidungsstücken, ohne die verkrusteten Verletzungen wieder aufzureißen.

Ihm das leinene Untergewand auszuziehen, würde sich jedoch schwieriger gestalten. Das Gewebe hatte sich mit seinem Blut vollgesaugt und war praktisch eins geworden mit seinem zerfetzten Fleisch. Um es aufzuweichen, nahm Skjalgi die heißen Steine aus dem Feuer und gab sie in die Wasserschläuche, die sich daraufhin blubbernd mit Dampf füllten. Dann träufelte er das erhitzte Wasser über Geirmunds Arm, während Steinólfur den Stoff mit reibenden Bewegungen löste, so gut er konnte. Geirmund stöhnte und biss die Zähne zusammen vor Schmerz, der eine ganze Weile anhielt, bis sie den Stoff endlich entfernen und sich seine Verletzung ansehen konnten.

„Eine Menge Blut und Getue für einen Kratzer“, meinte Steinólfur.

Geirmund blickte auf seinen Arm, keuchte fast auf und lachte dann. Von wegen Kratzer! Die Zähne des Wolfs hatten einen deutlichen Kranz aus Löchern und zerrissener Haut hinterlassen, und rings um den Biss war die Haut schwarz verfärbt und entzündet. „Ich nehme an, du hast schon Schlimmeres gesehen“, sagte er.

„Und Schlimmeres ausgeteilt“, erwiderte Steinólfur. „Selbst der Junge hier hat schon Schlimmeres angerichtet.“

Skjalgi sagte nichts. Mit starrem Gesicht betrachtete er Geirmunds Wunden, denn offenbar hatte er selbst eben doch noch niemandem eine solche Verletzung beigebracht. Doch die tiefe Narbe über seinem Auge bewies, dass er solche Verletzungen schon gesehen hatte – und auch schlimmere. Sein Vater war unter dem umstürzenden Baum, der auch ihn beinahe getötet hätte, zerquetscht worden. Er war alt genug, um einen Speer zu führen, hatte aber noch keinen Bart. Doch im Gegensatz zu Geirmund würde ihm eines Tages ein Bart wachsen, wenn sein Körper beschloss, dass er erwachsen war.

„Na ja, er ist nun mal Hjörrs Sohn.“ Steinólfur seufzte und stieß Skjalgi an, ein Versuch, etwas Frohsinn in dem Jungen zu wecken und seine Angst zu lindern. „Also erwartet man von uns, dass wir ihn aufpäppeln wie ein verkümmertes Hündchen und die Schuld auf uns nehmen, falls ihm irgendetwas zustoßen sollte.“

„So sieht’s wohl aus“, pflichtete Skjalgi ihm bei, wenn auch leise.

„Na dann“, meinte Steinólfur und musterte Geirmunds Arm. „Ich nehme an, dass du den Arm behalten willst?“

„Wenn es möglich wäre“, antwortete Geirmund. „Mein Schwert würde ihn sehr vermissen.“

„Wirklich? Ein Schwert muss gespeist werden, und ich wette, dein Schwert wäre froh, einen anderen Arm zu finden, der besser für sein Wohl sorgt.“

„Deinen Arm zum Beispiel?“, fragte Skjalgi, und jetzt grinste er.

Steinólfur zuckte die Schultern. „Vielleicht. Aber ich habe ja schon ein Schwert, und ich werde mein Bestes tun, damit Geirmund dem seinen verbunden bleibt.“ Dann ließ er den Spott aus seinem Blick verschwinden. „Aber du solltest genau wie dein Bruder einen Heiler aufsuchen, wenn wir zurück sind.“

Geirmund nickte. „Das wird den Zorn meines Vaters vielleicht etwas mildern.“

„Vielleicht.“ Steinólfur wandte sich an Skjalgi. „Hol mehr Wasser. Und etwas Kamillenkraut, wenn du welches findest.“

Skjalgi schüttelte die Steine aus den Schläuchen und eilte davon, und Geirmund wartete, bis der Junge außer Hörweite war, bevor er das Wort an Steinólfur richtete.

„Du hast mich nicht nur hierbehalten, um meinen Arm zu versorgen. Du hast mir etwas zu sagen.“

„So ist es.“ Steinólfur warf die Steine aus den Schläuchen wieder ins Feuer. „Und zwar Folgendes: Niemand hätte schlecht von dir gedacht. Niemand hätte dir einen Vorwurf gemacht.“

„Weshalb?“ Geirmund stellte die Frage in provozierendem Ton, weil er sehr wohl wusste, was Steinólfur meinte.

Der ältere Krieger rieb sich die Stirn und seufzte. „Menschen sterben nun mal. Das ist der Lauf der Dinge.“

Geirmund lehnte sich so weit zu ihm hin, dass er die Hitze des Feuers auf seinen Wangen spürte. „Er ist mein Bruder.“

Steinólfur nickte, stocherte mit einem Ast in der Glut und verschob die Steine darin. „Auch Brüder sterben. Im Süden, wo ich herkomme …“

„Wir sind hier in Rogaland.“ Geirmund wurde die Kehle eng. „Du bist nicht mehr in Agðir, und du tätest gut daran, dir das in Erinnerung zu rufen, bevor du sprichst.“

„Ich bin dein Eidsmann, Geirmund. Wenn ich nicht offen mit dir reden kann, wer dann?“

Geirmund schaute ihm in die Augen und sah kein Arg darin, eine Ausnahme unter denen, die in der Halle seines Vaters um ihn waren. „Dann sprich offen. Aber mit Bedacht.“

Steinólfur zögerte wie ein Mann, der Frühjahrseis überqueren wollte. „Vor Jahren, du warst damals noch jünger als Skjalgi heute, sah ich, wie du mit Hámund den Kampf übtest. Ich beobachtete euch beide eine Zeit lang, und gleich im Anschluss ging ich zu Hjörr und bat ihn, dein Eidsmann zu werden.“

Geirmund erinnerte sich an den Tag, da sein Vater ihm Steinólfur vorgestellt hatte. Auch wenn er die Gesellschaft des älteren Kriegers seither zu schätzen gelernt hatte, wusste er doch noch, dass er Steinólfur zu jener Zeit nicht gemocht hatte, weil er annahm, er sei nur da, um ihn zu bespitzeln und vor Unheil zu bewahren, und an vielen Tagen hatte er den Eindruck gehabt, dass Steinólfur seine eigene Aufgabe ebenso zuwider war. Dass er sich freiwillig dafür gemeldet haben könnte, war Geirmund nie in den Sinn gekommen. „Warum?“, fragte er.

Steinólfur lachte leise. „Ja, warum? Deine Arme waren dünn wie Schösslinge, und du warst kaum in der Lage, ein hölzernes Übungsschwert zu schwingen. Trotzdem …“ Steinólfur grinste und drohte Geirmund spielerisch mit einem Finger. „Du machtest mir Angst. Ich sah den Hunger in deinen Augen, und ich sah Zorn, die Art von Zorn, die nie von selbst vergeht. Ich wusste, dass es dir bestimmt war, ein König zu werden. In Hámunds Augen sah ich alles das nicht. Weder damals noch heute. Deshalb bin ich dein Eidsmann und nicht seiner. Es ist dein Schicksal, König zu werden, König von …“

„Schluss damit“, sagte Geirmund. Dann saß er still da und wog seine nächsten Worte ab. Was der ältere Krieger gesagt hatte, erfüllte ihn mit unerwartetem Stolz und heimlicher Scham. Er fühlte sich wie zerrissen von seinen widerstreitenden Verpflichtungen, und als dieser innere Aufruhr sich legte, begann er zu zittern, vor Wut und vor Schmerz. „Ich danke dir für deine offenen Worte“, sagte er.

Steinólfur nickte.

„Und nun will ich zu dir offen sprechen. Du wirst nie wieder solche Worte führen, weder mir noch irgendjemand anderem gegenüber. Hámund ist mehr als ein Eidsmann. Er ist mein Bruder.“ Geirmunds Ton wurde schärfer und drohender. „Du wirst mir gegenüber nie wieder davon sprechen, was du in ihm siehst oder woran es ihm deiner Ansicht nach fehlt. Weil du keine Ahnung hast von den Kämpfen, die wir auszutragen hatten, Seite an Seite, in der Halle unseres eigenen Vaters.“

Der ältere Krieger starrte ihn sprachlos an. Geirmund wusste, dass Steinólfur die Geschichte darüber, wie die Brüder die ersten Jahre ihres Lebens mit den Hunden im Stroh verbracht hatten, kannte – aber es bedeutete auch, dass er nur einen Bruchteil des Ganzen kannte.

„Du weißt nichts über den Hunger und den Zorn meines Bruders“, fuhr Geirmund fort. „Und auch über mich weißt du längst nicht alles.“

Steinólfur senkte den Blick und nickte. Offensichtlich spürte er, dass er bis an die Grenzen dessen gegangen war, was seine Rolle ihm zugestand.

Im nächsten Moment kam Skjalgi keuchend zurück, die Wangen so rot wie sein Haar, und Steinólfur riss ihm die Wasserschläuche aus den Händen. Der Junge zuckte ein wenig zusammen und schaute verdutzt von einem zum anderen, in der Hand ein paar vertrocknete Stängel Kamille, die der Sommer übrig gelassen hatte. Er schien zu spüren, dass während seiner Abwesenheit etwas vorgefallen war, aber er war klug genug, nicht danach zu fragen. Steinólfur trat zum Feuer, holte die Steine heraus und gab sie in die Schläuche, dann nahm er Geirmunds verletzten Arm in seine Hände.

„Versuch, nicht zu schreien“, sagte er.

Geirmund biss die Zähne fest zusammen und ließ keinen Laut über seine Lippen, obwohl ihn der folgende Schmerz fast um die Besinnung brachte. Steinólfur goss heißes Wasser über die Wunden und säuberte sie mit einem Stück Stoff, so gut er konnte. Ein paar der Löcher, die von den Zähnen zeugten, öffneten sich wieder und füllten sich mit stinkendem Eiter und Blut. Steinólfur drückte sie aus, bis das Blut rein und dunkel daraus floss, dann kochte er die Kamille und packte sie auf die Wunden, bevor er sie verband.

„Ich glaube, dein Arm wird gut verheilen“, sagte der ältere Krieger, als er fertig war.

Geirmund nickte, Schweiß rann ihm von der Stirn. „Danke.“

„Ich wünschte, ich hätte Bier oder Met mitgenommen“, sagte Skjalgi. „Um die Schmerzen zu lindern.“

„So viel, wie dazu nötig wäre, hättest du gar nicht tragen können“, erwiderte Geirmund.

Sie halfen Geirmund in seine Kleidung, und als er wieder angezogen war, machten sie sich auf den Weg nach Avaldsnes. Weil Steinólfur darauf bestand, ritt Geirmund auf Skjalgis Pferd, während der Junge neben ihm her durch den Schlamm trottete, aber sie behielten ein Tempo bei, das er leicht einhalten konnte. Die Unstimmigkeit zwischen Geirmund und Steinólfur blieb, zwar unausgesprochen, aber beständig, und so ritten sie schweigend dahin. Nur Skjalgi machte hin und wieder eine Bemerkung über die Landschaft oder die wechselnde Jahreszeit. Und schließlich fragte der Junge, ob einer von ihnen schon einmal etwas von einem Dänen namens Guthrum gehört habe.

„Mein Vater hat den Namen einmal erwähnt“, sagte Geirmund. „Ich glaube, dieser Guthrum ist ein Jarl.“

„Warum fragst du nach ihm?“, wollte Steinólfur wissen.

Skjalgi sah zu ihm hoch. „Ein paar Männer von einem Handelsschiff nannten seinen Namen.“

„Und wie kommst du gerade jetzt auf ihn?“, fragte Geirmund.

„Nur so.“ Der Junge legte eine Hand auf den Kopf der Axt, die er an seiner Hüfte trug. „Es heißt, Guthrum sammle auf Befehl des dänischen Königs Bersi Schiffe und Männer. Nicht nur Dänen, sondern auch Nordmänner. Vielleicht sogar Gauten und Svear.“

„Zu welchem Zweck?“, fragte Steinólfur.

„Um Halfdans Armee zu verstärken und die Länder der Angelsachsen zu erobern.“

„Welche Länder der Angelsachsen?“, fragte nun Geirmund.

Skjalgi hob die Schultern. „Alle, nehme ich an.“

Geirmund warf einen Blick hin zu Steinólfur. Der ältere Krieger blickte stur auf den vor ihnen liegenden befestigten Weg, als müsse er seine Zunge im Zaum halten, doch Geirmund wusste, was er dachte. Steinólfur hatte oft von den Söhnen Ranar Loðbroks gesprochen und ihre Erfolge auf See gepriesen. Die Sommerraubzüge genügten ihnen nicht mehr, und so hatten sie begonnen, nach den angelsächsischen Kronen und Reichen zu greifen, und wäre Steinólfur nicht per Eid an Geirmund gebunden gewesen, hätte er sich zweifellos schon längst auf den Weg übers Meer gemacht, um sich der Schlacht anzuschließen und ein eigenes Haus mit Hof zu erringen.

Geirmund sah zu Skjalgi hinab. „Ich höre Verlangen in deiner Stimme. Willst du dich diesem Dänen anschließen?“

Der Junge zögerte und blickte an Geirmund vorbei zu Steinólfur. „Ja, vielleicht.“

„Das kann ich dir nicht verübeln“, meinte Geirmund. „Im Gegenteil, ein wenig Lust darauf verspüre ich selbst.“

„Dann lass uns doch gehen“, sagte Steinólfur in leisem Ton. „Bitte deinen Vater um ein Schiff.“

„Du weißt, dass er mir kein Schiff geben würde. Nicht für Raubzüge.“

„Warum nicht für Raubzüge?“, wunderte sich Skjalgi.

Geirmund schüttelte den Kopf. Er wusste nicht recht, wie er die Wahrheit sagen sollte, ohne treulos zu klingen.

„Es geht nicht um Raubzüge, und das weißt du auch.“ Steinólfur drehte sich im Sattel und sah Geirmund in die Augen. „Und Hjörr weiß es ebenfalls. Er hat das Blut seines Vaters und seines Großvaters in sich, auch wenn er einen anderen Weg gewählt hat. Ihn um ein Schiff zu bitten, ist noch lange kein Verrat. Das ist es, was ein zweitgeborener Sohn tun muss, wenn er sein eigenes Glück machen will.“

Jetzt wandte Geirmund sich ab und richtete seinen Blick starr auf den vor ihnen liegenden Weg, und er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Steinólfur sprach die Wahrheit, das konnte Geirmund nicht leugnen. Es stimmte auch, dass Geirmund schon lange ein eigenes Schiff haben wollte, um Rogaland zu verlassen und sein eigenes Los zu suchen, wo immer er es auch finden mochte. Aber er fühlte sich hin- und hergerissen und konnte sich noch nicht dazu durchringen, seinen Bruder zurückzulassen.

„Ich werde darüber nachdenken“, sagte er schließlich.

Steinólfur nickte nach einer Weile, fügte jedoch hinzu: „Dann denk darüber nach. Aber frag dich, ob du wirklich weißt, was du willst. Ich glaube, das tust du, und alles Nachdenken wird daran nichts ändern. Es bleibt nur noch eines zu tun, und das ist Handeln.“

Sie sprachen nicht mehr darüber, während sie weiterzogen, unterwegs geräucherten Fisch aßen und schon bald vertrautes Land erreichten. Als die Sonne vor ihnen unterging, passierten sie die Höfe und Häuser von Avaldsnes, und sie hätten in einem davon unterkommen und die Nacht verbringen können, aber Geirmund wollte zu seinem Bruder. Und so reisten sie nach Sonnenuntergang bei Dunkelheit weiter. Nur ein schmaler Mond und ferne Herdfeuer erhellten die Straße, bis sie die schwarzen Wasser des Karmsunds erreichten.

Von Avaldsnes aus erstreckte sich diese schmale Meeresstraße fast zwanzig Seemeilen weit nach Süden, bis hin zum gewaltigen Boknafjord, während sie in der anderen Richtung in die Wal- und Handelsrouten des Nordvegen mündete. Auf der anderen Seite des Karmsunds, auf der langen Schildinsel Karmøy, deren alte Könige von den Göttern abstammten, lag Geirmunds Zuhause. Die wilden Wasser jenseits dieser Insel zwangen fast alle nordwärts fahrenden Schiffe, die Fahrrinne des Karmsunds zu nutzen, und die Gezeiten sorgten dafür, dass sie in Avaldsnes anhalten mussten, um Vorräte aufzufüllen und Reparaturen vorzunehmen. Darin lagen die Macht und der Reichtum des Hofes seines Vaters.

Sie hielten auf die schmalste Stelle des Karmsunds zu und passierten fünf uralte Steine, die in breiter Formation fünfzig Klafter vom Ufer entfernt standen, allesamt weiß im Mondlicht und dünn wie Rippenknochen. Niemand wusste mehr, welches Volk sie einst errichtet hatte oder ob sie gar das Werk von Riesen oder der Götter waren, doch die Kraft, die in ihnen steckte, war deutlich zu spüren. Sie standen unweit der Stelle, an der angeblich Thor den Karmsund überquert hatte und wo nun eine Fähre Reisende zur Insel brachte. Die Vorhut mit Hámund musste Geirmunds Kommen bereits angekündigt haben, denn sie fanden ein Boot vor, mit dem sie übersetzen konnten.

Als sie sich dem anderen Ufer näherten, konnte Geirmund in der Ferne vor dem nächtlichen Himmel im Norden die schwarzen Umrisse der Hügelgräber seiner Ahnen ausmachen. Das größte gehörte dem Vater seines Vaters, Half. Nachdem sie angelegt hatten, wandten sie sich nach Süden und folgten dem dortigen Weg, und auf der anderen Seite einer kleinen Bucht erreichten sie endlich Avaldsnes.

Brennende Fackeln erhellten das Stadttor, das sich öffnete, kaum dass sie in Sichtweite kamen; die Wachen waren offenbar angehalten gewesen, nach ihnen Ausschau zu halten. Nachdem sie in der Stadt waren, schloss sich das Tor hinter ihnen, und sie fanden die Hauptstraße gleichermaßen beleuchtet vor. Eine Reihe von Fackeln säumte die Hauptstraße, die vom Tor aus nach Osten verlief, durch die Stadt und die Anhöhe hinauf auf den Kamm, wo die Halle seines Vaters den Karmsund dominierte.

„Es scheint, als würden wir erwartet“, sagte Skjalgi. „Das ist ein Trost.“

Geirmund spürte beginnende Furcht in seiner Brust, brachte jedoch ein Lachen zustande. „Oder eine Warnung.“

„Warte es am besten einfach ab“, riet Steinólfur.

Sie folgten den Fackeln durch die Stadt, und in den Türen und Fenstern, an denen sie vorüberkamen, erschienen etliche vertraute Gesichter. Viele riefen ihnen Segenswünsche für Geirmund und seinen Bruder zu. Der Geruch vom Rauch brennenden Holzes und von Herdfeuern umgab sie ebenso wie gedämpftes Lachen, und aus einigen Häusern drang sogar Musik.

Als sie sich dem Anstieg zur Halle seines Vaters näherten, machte Geirmund dort oben Bewegung aus, ein Schatten zwischen den aufrecht stehenden Steinen, die lange schon ihrem Platz gestanden hatten, bevor seine Ahnen sich hier niederließen. Im Gegensatz zu den Steinen, die sie vorhin am Karmsund passiert hatten, waren diese von dreifacher Mannshöhe und einander zugeneigt wie die Krallen eines Drachen, der aus dem Boden herausgreift. Das lange Bogendach der Halle seines Vaters erhob sich aus dem nahen Kamm, höher als die Steine und wie hin- und hergerissen zwischen Ehrfurcht und Trotz gegen deren Präsenz. Als Geirmund und seine Begleiter den Gipfel des Hügels erreichten, löste sich die Gestalt aus dem Schatten zwischen den Steinen und trat in den Schein der Fackeln.

„Geirmund Heljarskinn“, sagte die Gestalt und kam näher, während die beiden Männer absaßen.