Astellis Pilgerschaft - Götz T. Heinrich - E-Book

Astellis Pilgerschaft E-Book

Götz T. Heinrich

0,0

Beschreibung

Wer ist Astelli? Scheinbar nur ein Kind, das sich auf einer Pilgerreise quer durch alle Länder begibt. Doch niemand, der das Kind trifft, bleibt von der Begegnung unberührt. Es steckt mehr in Astelli, als das Auge zu sehen vermag - doch das Kind weiß selbst nicht, ob es wirklich sein will, wozu sein Schicksal es anscheinend hinführt. In dreizehn Kapiteln wird Astellis Pilgerschaft und ihre Folgen für die Welt ausgebreitet, und mit ihr die große Frage, ob der Glaube den Menschen macht oder der Mensch den Glauben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 133

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Astellis Pilgerschaft

ImpressumDas blaue HausDer beste PlatzDer Triumph des GeistesEin stilles MahlIm dunklen WaldMänner des LichtsEin gutes GeschäftWorte der WeisheitDer Lohn der EinsamkeitDie nahende DunkelheitEin freier MannDas dreizehnte JahrDer Blick von oben

Impressum

Texte: © Copyright by Götz T. Heinrich Umschlaggestaltung: © Copyright by Götz T. Heinrich Originalgrafik: llexandro / deviantart

Verlag: Götz T. Heinrich Gudrunstr. 21 67059 Ludwigshafen

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das blaue Haus

Der Junge mit den Wassereimern war gerade am Brunnen angekommen, als er in der Entfernung Astelli über die Brücke kommen sah.

Nur einen kurzen Moment hielt der Junge inne und sah herüber. Nein, diese Gestalt kannte er nicht; er hatte sie auch sicherlich noch nie gesehen. Ein kleiner Körper in einem flatternden grauen Mantel, mehr war da nicht, kaum etwas, worüber man sich Gedanken machen musste. Nicht, wenn man Wasser zu holen hatte, Wasser für die Suppe zu Abend, in die Mutter Kohl, Speck, Graupen und jede Menge andere leckere Sachen schneiden würde...

Während Astelli langsam näher kam, knotete der Junge seinen ersten Eimer am Seil der Winde fest, welche am Brunnen vor sich hin rostete. Wahrscheinlich würden sie nach dem nächsten Winter eine neue Winde brauchen, dachte der Junge, aber nun war erst Spätsommer, noch lange nicht die Zeit, daran zu denken, was im Winter sein würde. Vielleicht würde sein Vater mit der neuen Winde auch einen neuen Schöpfeimer anbringen, so dass er nicht, wie jetzt, immer wieder die Knoten binden und lösen musste.

Der Junge ließ den ersten Eimer in den Brunnen hinab, hörte das Quietschen der altersschwachen Winde und dann das Klatschen von Holz auf Wasser. Seine Finger umgriffen den Griff der zerfallenden gußeisernen Kurbel und drehten dann den Eimer wieder nach oben, gefüllt mit klarem, kalten Wasser. Er löste den Knoten, band den zweiten Eimer fest, dann wiederholte sich der Vorgang. Quietschen, klatschen, kurbeln, den Knoten lösen. Der Junge packte beide Eimer, einen links, einen rechts, dann wandte er sich zum Gehen.

„Warte noch“, rief ihm Astelli zu.

Der Junge blieb stehen, setzte die Eimer ab und wandte sich um. „Ja?“ fragte er.

„Warte noch“, wiederholte Astelli. "Ich möchte dich etwas fragen."

„Ja“, sagte der Junge. „Was ist?“

Astelli trat zu ihm und deutete mit dem Finger an ihm vorbei auf den dunkelgrün bewachsenen Hügel. „Wem gehört das blaue Haus dort oben?“

Der Junge sah sich um und lächelte. „Das ist unser Haus“, sagte er stolz. „Dort wohnen wir. Mein Vater, meine Mutter und ich.“

„Es ist das erste blaue Haus, das ich sehe, seitdem ich hier in diesem Land angekommen bin“, sagte Astelli. „Es gibt nicht viele davon, oder?“

„Natürlich nicht"“, antwortete der Junge, und sein Stolz legte sich wie eine Maske über sein Gesicht. „Nur reiche Leute können sich blaue Farbe leisten.“

Astellis Augen wanderten vom Haus zum Jungen. „Und ihr seid reiche Leute?“

„Oh ja.“ Der Junge blickte Astelli an, und zu seiner Verwunderung bemerkte er zum ersten Mal, dass er einem anderen Kind gegenüberstand, kaum älter oder größer als er selbst. Struppiges Haar von einem seltsamen strohblonden Ton drängte unter der Kapuze des grauen Mantels hervor und fiel in ein schmales, fast hageres Gesicht mit einer kaum dazu passenden Stupsnase, der sich ein dünner, blasser Mund anschloss. Die Augen schienen tiefer in ihren Höhlen zu liegen, als es ihnen gut tat, und der Junge konnte nicht feststellen, welche Farbe sie hatten, geschweige denn, ob sie ihn ansahen oder einfach durch ihn hindurch blickten.

Mit einem Mal wurde es dem Jungen unangenehm, neben Astelli zu stehen. „Ich muss dann wieder“, sagte er. „Wasser holen.“ Er griff nach den Eimern.

„Warte noch“, sagte Astelli. „Wie ist dein Name?“

„Ivano“, sagte der Junge, und im selben Moment ärgerte er sich, das getan zu haben. Wozu hatte er sich vorgestellt? Er kannte das fremde Kind ja noch nicht einmal.

„Ich bin Astelli“, sagte Astelli, als wären Ivanos Gedanken deutliche Worte gewesen und als sei dies die Antwort auf diese Gedanken. „Es ist schön, mit jemandem zu sprechen. Ich bin schon lange auf der Reise, und seit Tagen habe ich niemanden mehr getroffen. Es leben nicht mehr viele Menschen zwischen hier und der westlichen Grenze, oder?“

Ivano seufzte. „Ich weiß es nicht“, sagte er. „Wahrscheinlich liegt es an der Revolution.“

„Revolution?“ Astellis Augen weiteten sich ein wenig. „Ich wusste nicht, dass es in diesem Land eine Revolution gibt."

„Vater sagt auch immer, sie wäre nicht der Rede wert.“ Ivano winkte ab und sah zum blauen Haus - seinem blauen Haus - hinauf. „Ich verstehe auch nicht, was die Landarbeiter wollen. Die ganzen Jahre haben sie bei uns auf dem Hof immer gut arbeiten können, und wir haben uns gut um sie gekümmert. Und jetzt plötzlich verschwinden sie alle und rotten sich zusammen. Vater sagt, wenn sie sich auch nur in der Nähe der Hauptstadt zeigen, werden sie alle erschossen. Sie haben keine Gewehre.“ Der Junge griff wieder nach den Eimern. „So, aber jetzt muss ich wirklich zurück.“

„Warte noch“, sagte Astelli und berührte Ivano an der Schulter. „Lass mich dir beim Tragen helfen.“

Ivano wandte den Kopf wieder zu Astelli, senkte aber den Blick, bevor er wieder die seltsamen Augen erreichen konnte. „Nein, das geht schon“, murmelte er. „Ich kann das auch alleine.“

„Ich möchte aber“, sagte Astelli und griff kurzerhand nach einem der Henkel der Eimer. „Ich möchte helfen. Bitte.“

„Du bist komisch“, gab Ivano zurück, ließ dann aber einen der Eimer gehen, so dass Astelli ihn nehmen konnte. „Warum willst du helfen? Glaubst du, ich lasse dich dann in unser Haus mit hinein?“

Astelli schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Ich möchte einfach nur helfen.“

„Und warum?“

Mit beiden Händen und sichtlicher Mühe hob Astelli den hölzernen Eimer an. “Ich bin auf Pilgerschaft. Arbeit gehört zu meinen Pflichten als Pilger.“

„Pilgerschaft?“ Ivano sah mißtrauisch auf, wobei er sich bemühte, Astellis Blick zu vermeiden. „Wohin bist du unterwegs - nach Avenamice?“

Astelli schüttelte den Kopf und machte sich mit schweren Schritten auf den Weg in Richtung des blauen Hauses. „Ich reise. Das ist meine Pilgerschaft. Ich habe nicht vor, irgendwo anzukommen.“

„Aha?“ sagte Ivano und folgte dem Kind in einem halben Schritt Abstand. „Davon hab ich noch nie was gehört.“

„Es passiert auch nicht oft.“ Astelli wandte den Kopf um, und der Junge konnte deutlich sehen, dass die blassen Lippen leicht lächelten. „Aber so ist es nun mal.“

Ivano überlegte ein wenig. „Bist du nicht ein bisschen jung, um alleine auf Reisen zu gehen? Du bist doch höchstens zehn oder elf.“

„Zwölf.“ Astelli blickte wieder nach vorne. „Aber ich bin nicht alleine.“

„Nicht? Aber du...“

„Ich bin auf Pilgerschaft“, sagte Astelli mit einem seltsamen Unterton. „Auf Pilgerschaft ist man nie ganz alleine.“

Ivano blieb stehen. „Das verstehe ich nicht“, gab er zurück.

„Ich auch nicht“, sagte Astelli und ließ den Wassereimer fallen.

„Was tust du?“ schrie der Junge erschrocken auf, setzte seinen eigenen Eimer eilig ab und sprang nach vorne. Zu spät: das Wasser, das Astelli getragen hatte, war bereits ausgelaufen. „Du Esel! Warum hast du das getan?“

Astelli trat einige Schritte zur Seite. „Verzeih mir.“ In den seltsam überschatteten Augen lag echtes Bedauern. „Verzeih mir.“

„Jetzt muss ich das Mistding nochmal füllen! Du bist auch zu gar nichts nutze!“ Ivano hob den leeren Eimer auf und marschierte zornig zum Brunnen zurück. Zum Glück war er noch nicht weit gekommen. Immer noch mit Wut im Bauch griff er nach dem Seil an der Winde und machte sich daran, den Henkel festzuknoten.

„Warte noch“, sagte Astelli.

„Warten worauf?“ fragte der Junge.

In diesem Moment hörte er die Schüsse.

Sie kamen oben vom Hügel her, vom Haus, von seinem blauen Haus, und es waren viele. Ivano warf sich erschrocken hinter den Brunnen, Astelli huschte neben ihn, und dann blickten die beiden nach oben, über den grünen Hügel, hinauf zum blauen Haus, wo die Scheiben unter den Gewehrkugeln zersprangen, als die Landarbeiter, die Landarbeiter in ihrem schmutzigen Braun heraufstürmten, Gewehre schwenkend und immer wieder Schüsse abfeuernd.

Und dann sah Ivano seinen Vater, wie er die Tür aufstieß, die große blaue Tür des Hauses, und der Junge sah, wie er aus zwei Pistolen auf die heranstürmenden Landarbeiter feuerte und wie einer zu Boden ging, und er sah seinen Vater zucken, als die Kugeln ihn trafen und sein Blut rot an der blauen Tür herablief, als die Landarbeiter in das blaue Haus stürmten und weiter feuerten.

Ivano wollte aufspringen, auf das Haus zulaufen, irgend etwas tun, doch da spürte er Astellis Hand auf seiner Schulter. "Warte noch", sagte Astelli.

Und Ivano wartete. Wartete hinter dem Brunnen. Wartete, bis die Schüsse aufhörten. Wartete, bis das blaue Haus, sein blaues Haus, in Flammen aufging und die Landarbeiter in ihrem schmutzigen Braun und mit den rauchenden Gewehren wieder gingen und nach einem neuen Haus suchten, das sie niederbrennen konnten.

Erst jetzt hob sich Astellis Hand von Ivanos Schulter. Der Junge sah auf, und seine Augen waren ebenso leer wie die in Astellis Gesicht.

„Ich ziehe weiter“, sagte Astelli und stand auf. „Tut mir leid, das mit deinen Eltern.“

Ivano sah zu Astelli auf, mit Tränen in den Augen, aber unfähig, sich zu rühren. „Du wusstest es doch", wisperte er. „Du wusstest doch, was passieren würde. Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte Vater warnen können...“

„Ich bin auf Pilgerschaft“, sagte Astelli leise und mit einem kleinen Hauch von Schwermut in der Stimme. „Nur auf Pilgerschaft. Nichts weiter.“

Und das waren die letzten Worte, die Ivano von Astelli hörte. Am nächsten Tag sah man ihn auf der Straße nach Westen, gekleidet in einen flatternden grauen Mantel, und wer ihn sah, fragte sich, warum ein so junges Kind ganz alleine auf Reisen war.

Der beste Platz

Es war noch eine halbe Stunde bis zu seinem Dienstschluss, als der Wachmann Astelli bemerkte. Bei einem Kind hätte er normalerweise nicht nachgefragt, doch hier ließen ihn einige Dinge stutzen: der graue Kapuzenmantel, den es trug, die Richtung, aus der es kam, und die Tatsache, dass er es nicht bemerkt hatte, ehe es nur noch wenige Schritte vom mächtigen, bronzenen Tor der Stadt entfernt war.

„Du da“, fuhr er das Kind an, „bleib stehen!“

Astelli hielt inne und wandte den Blick zum Wachmann. „Ja?“

Der Wachmann schauderte einen Moment, als ob er Astellis schattenhafte Augen nicht nur sehen, sondern ihren Blick auf seiner Haut spüren konnte, und die Empfindung missfiel ihn zutiefst. Unwillig riss er sich zusammen, nahm sein Gewehr fest vor die Brust und schritt auf das Kind zu. „Wer bist du und woher kommst du?“ fragte er einer Stimme, die sein Unbehagen nur ganz leicht zu erkennen gab.

„Ich bin Astelli“, sagte Astelli,“und ich komme gerade aus Skruland.“

„Aus Skruland?“ Die Finger des Wachmanns schlossen sich unwillkürlich fester um das Gewehr, und er versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass das aufgesetzte Bajonett auch gut befestigt war. „Bist du ein Revolutionär?“

Astelli schüttelte den Kopf. „Ich bin auf Pilgerschaft.“

„Das ist offensichtlich“, gab der Wachmann zurück. „Zu welchem Tempel gehörst du?“

„Tempel?“ Astelli schien nicht zu verstehen. „Was meinst du damit, zu welchem Tempel ich gehöre?“

Jetzt lag die Verwirrung beim Wachmann. „Du kommst nach Avenamice und weißt nicht, zu welchem Tempel du gehörst?“

„Nein“, sagte Astelli. „Ist das wichtig?“

„Und wie!“ entgegnete der Wachmann entgeistert. „Avenamice ist doch überall in der Welt bekannt als die Stadt der zehntausend Tempel. Für jemanden, der auf Pilgerschaft ist, ist das der beste Platz.“

„Oh“, entgegnete Astelli. „Das hier ist also Avenamice?“

Der Wachmann nickte. „Nicht mal das wusstest du? Ich dachte doch, drüben in Skruland kennt jeder unsere Stadt.“

„Ich bin durch Skruland nur durchgereist“, sagte Astelli. „Und weil dort gerade Revolution ist, kann man die Leute nur schwer nach dem Weg fragen.“

„Ach so, jetzt verstehe ich.“ Der Wachmann entspannte sich ein wenig und ließ das Gewehr sinken; wenn das Kind hierher mehr oder minder geirrt war, dann erklärte das seine offensichtliche Verwirrung ein wenig. „Na ja, jetzt bist du ja endlich hier angekommen. Wohin in der Stadt willst du denn?“

Astelli zögerte einen Moment. „Ich suche eine Unterkunft für eine Nacht. Ein Gasthaus wäre gut.“

„Ein Gasthaus?!“ Die Entrüstung stand dem Wachmann wie ins Gesicht geschrieben. „Du meinst... wo man für die Übernachtung bezahlt?“

„Ja, so in der Art.“ Astellis Finger wühlten in den Taschen des Kapuzenmantels. „Ich habe Geld, wenn es das ist, was dir Sorgen macht...“

„So etwas gibt es in Avenamice nicht“, entgegnete der Wachmann schroff. „Gasthäuser - so etwas Profanes! Avenamice ist der beste Platz für Pilger! Natürlich wirst du in einem der Tempel unterkommen.“

Astelli sah überrascht auf. „Tatsächlich? Zu welchem Tempel kann ich denn gehen?“

„Das hängt davon ab“, sagte der Wachmann, „welchem Glauben du angehörst. Wenn du aus dem Osten kommst, bist du bestimmt ein Monoterrarier.“

„Ich weiß nicht“, sagte Astelli. „Woran glauben Monoterrarier?“

„An die Göttlichkeit unserer einen Erde und daran, dass sie alle Menschen in ihrer Gnade einzigartig erschaffen hat.“

Astelli schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht.“

„Dann bist du bestimmt einer der Gefolgsleute des großen Himmelsschafes, dessen Wärme den Funken der Gemeinschaft in den Menschen erweckt hat“, mutmaßte der Wachmann.

„Auch nicht.“

„Hm. Kult des reinigenden Blutes der gepeinigten Seelen?“

In Astellis Gesicht trat zum ersten Mal ein Ausdruck des Unbehagens. „Ich glaube, dass ich nicht mal wissen will, was dieser Kult genau macht.“

Der Wachmann grübelte. „Ja, um der Ungezählten Himmel Willen“, wollte er wissen, "an welche Götter glaubst du dann?"

„Ich glaube an gar keine Götter“, sagte Astelli. „Ich...“

„Ach so!“ Erleichtert seufzte der Wachmann auf. „Du gehörst also zur Gemeinschaft der vereinigten Atheisten.“

Astelli blinzelte unsicher. „Atheisten?“

„Du glaubst, dass es keine Götter gibt und dass der Glaube an Götter eine verfehlte Weltanschauung ist. Die Straße runter, das große dreistöckige Gebäude gleich rechts vom Marktplatz.“

Sofort schüttelte Astelli den Kopf. „So was würde ich nie sagen! So viele Leute sind glücklich, weil sie an Götter glauben, da kann ich doch nicht behaupten, das wäre falsch!“

„Ja verflixt noch mal!“ Der Wachmann starrte Astelli an. „Vielleicht bist du ja einer der Erleuchteten Agnostiker?“

Das Kind sah nun reichlich hilflos drein. „Was ist das schon wieder?“

"Die Erleuchteten Agnostiker sagen, dass man die Frage, ob es Götter gibt, nicht beantworten kann und dass kein Mensch das sicher wissen kann."

„Das ist es auch nicht“, sagte Astelli und spähte am Wachmann vorbei durch das Tor, wo unzählige Tempel die Straßen säumten. „Ich weiß, dass es Götter gibt. Ich glaube nur nicht an sie.“

Einen langen Moment sah der Wachmann Astelli an. Dann lächelte er plötzlich. „Jetzt verstehe ich“, sagte er. „Du bist ein Religionsstifter.“

„Ein was?“

„Du hast eine ganz neue Idee für eine Religion. Eine Religion, in der man weiß, dass es alle Götter gibt, an die andere glauben, aber in der man selbst an keinen Gott glaubt. Eine Religion, in der sich die Menschen von den Göttern befreien und alle aufnehmen, die den Glauben an ihre eigenen Götter verloren haben.“

„Hm.“ Astelli schien zu überlegen. „Wenn ich ein Religionsstifter wäre, bekäme ich dann in Avenamice ein Zimmer für die Nacht?“

„Ein Zimmer?“ Der Wachmann lachte auf. „Dann bekommst du sogar ein ganzes Haus! Geh einfach nur ins Westviertel, da sind alleine im letzten Jahr zwei Sekten und drei dunkle Kulte erloschen. Die Tempel stehen jetzt leer. Such dir einfach einen, der dir gefällt. Ich bin sicher, es wird sich schnell herumsprechen, dass es in Avenamice eine neue Religion gibt, und dann hast du schon bald Pilger.“

„Pilger?“ Astellis Blick zeigte leichtes Entsetzen. „Ich werde Pilger haben?“

„Natürlich!“ Der Wachmann zeigte sein strahlendstes Lächeln. „Avenamice ist der beste Platz für Pilger!“

Entschlossen machte Astelli zwei Schritte rückwärts. „Ich glaube“, sagte das Kind, „ich möchte doch kein Zimmer hier in der Stadt. Gibt es hier in der Nähe noch andere Menschen? Vielleicht einen Bauernhof oder so etwas...“

„Du willst lieber zu einem Bauernhof statt nach Avenamice?“ Dem Wachmann stand vor Verwunderung der Mund offen. „Aber ich denke, du bist auf Pilgerschaft!“

„Schon“, sagte Astelli, „aber ich bin auf der Durchreise. Ich kann hier nicht bleiben und eine neue Religion gründen; ich habe nur einen Tag Zeit, und ich möchte nicht, dass hierher Pilger kommen, die von mir gehört haben und mich suchen und mich dann nicht finden.“

„Aber was wäre daran so schlimm?“ wollte der Wachmann wissen. „Wer nach Avenamice kommt, der sucht nach Antworten, und in der Stadt gibt es zehntausend davon. Irgendeine wird er schon finden, die für ihn richtig ist, auch wenn es nicht deine ist.“

„Und du glaubst“, wollte Astelli wissen, „dass es keinen Unterschied für einen Pilger macht, ob er hier findet, wonach er gesucht hat, oder etwas anderes?“

„Ich weiß“, sagte der Wachmann, „dass es keinen Unterschied macht. Avenamice ist der beste Platz für Pilger, eben weil hier jeder etwas findet, das ihm gefällt. Bestimmt sogar du!“

Aber Astelli schüttelte nur den Kopf. „Nichts von dem, was ich suche, ist in Avenamice. Das weiß ich jetzt. Ich danke dir dafür. Du hast mir sehr geholfen. Jetzt brauche ich nur noch eine Unterkunft für die Nacht. Kannst du mir sagen, wo ich eine finde?“