Die Tugend von Tokyo - Götz T. Heinrich - E-Book

Die Tugend von Tokyo E-Book

Götz T. Heinrich

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Beschreibung

Toritaka Shingo, Inspektor der Metropolitan Police in Tokyo, verbringt seine Tage üblicherweise mit dem Kampf gegen Alltags- und Kleinkriminalität wie U-Bahn-Grabscherei oder Störungen der öffentlichen Ordnung. Als er eines Nachts bei einem Einsatz einen Selbstmord entdeckt, scheint zu Beginn nichts auf ein Verbrechen hinzudeuten. Doch dann entdeckt Toritaka einige Ungereimtheiten, und plötzlich steckt er bis zum Hals in einer Ermittlung, die auf eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes hindeutet. Doch was steckt hinter dem Fall? Ein Machtkampf unter verfeindeten Banden der Yakuza, der japanischen Mafia? Ein Psychopath, der untugendhaftes Verhalten mit dem Tode bestraft? Wer ist die Person, die Toritaka verschlüsselte Hinweise schickt, und auf welche Spur soll der Inspektor damit gebracht werden?

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Imprint

Die Tugend von Tokyo

Götz T. Heinrich

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Götz T. Heinrich

Umschlagfoto: Public Domain

ISBN 978-3-8442-2705-5

Götz T. Heinrich

Die Tugend von Tokyo

Prolog: Montag, 5. April 2004, 23.21 Uhr

Masakiri Satoshi war ein Mann mit vielen Sorgen, und er hatte jeden Grund dazu. Schering war weiter gefallen. Bayer war gefallen. Novartis war gefallen, und auch der Börsenwert von Pfizer wackelte gewaltig. Wenn man seinen acht wichtigsten Investoren empfohlen hatte, größere Mengen von Kapital in Pharmafonds eines eigentlich kleinen Geldunternehmens zu investieren, sollte man eigentlich bessere Nachrichten als diese liefern können. Morgen früh würde Masakiri einiges zu erklären haben, und die am Wochenanfang allgemein schleppend anlaufende Börse in New York war nicht wirklich eine Erklärung, die Leute in der Hochfinanz interessieren würde. Seufzend griff der Investmentberater in seine Westentasche und griff nach seiner Zigarettenpackung. Leer. Richtig - er hatte am Nachmittag, als die ersten Nachrichten über den Börsenticker gekommen waren, wieder einmal zehn oder zwölf Glimmstengel aufgeraucht, aus purer Spannung, ob sich in dieser Woche das Blatt endlich wendete. Nachdem nichts dergleichen geschehen war, hatte er sein Handy ausgeschaltet und sich in den Feierabend verabschiedet und darüber sogar vergessen, sich eine neue Schachtel Davidoff zu besorgen. In letzter Zeit wurde er immer nachlässiger - eigentlich ein Unding für einen tüchtigen Geschäftsmann, aber es kam ihm nicht mehr so vor, als habe er seinen Erfolg oder Misserfolg noch wirklich selbst in der Hand. Die Daytrader machten vielleicht noch mit ihrer eigenen Arbeit einen ordentlichen Profit, aber genau mit dieser Arbeit sorgten sie dafür, dass das Börsenparkett zu einem derart unsicheren, unmöglich vorherzusagenden Markt wurde, dass kaum noch jemand im Investmentgeschäft sicher sein konnte, in welche Richtung sich alles entwickelte. Vor ein paar Jahren hatte einmal eine Zeitung in Amerika einen Affen mit Wurfpfeilen auf einen Kurszettel werfen und anhand der Treffer Aktien kaufen lassen. Das vom Affen "ausgewählte" Paket hatte sich als gewinnträchtiger erwiesen als die Kaufempfehlungen selbst der renommiertesten Beraterinstitute. Vielleicht hätte er damals den Affen als Geschäftspartner anheuern sollen, dachte Masakiri bitter. Noch schlechter als heute hätte es ihm damit jedenfalls kaum ergehen können. Richtige Erfolgserlebnisse hatte er schon seit über einem Jahr nicht mehr gehabt, und der einzige Grund, wieso er noch nicht alle seine Investoren verloren hatte, war die Tatsache, dass im Moment ausnahmslos alle Beraterinstitute mit ihren Empfehlungen kaum mehr ernstzunehmen waren und er zumindest mit Fug und Recht sagen konnte, dass es keine besseren Alternativen zu seinen Dienstleistungen gab. Allerdings - und das machte einen großen Teil seiner Sorgen aus - fragte er sich, wieso er sich eigentlich noch immer mit Marktanalysen anstrengen sollte, wenn er eigentlich irgendetwas hätte empfehlen können und das genauso gut oder schlecht gewesen wäre wie seine mit viel Mühe erstellten Unternehmensprofile. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, Masakiri war in einer Existenzkrise, der dritten in seinem achtundvierzigjährigen Leben. Die erste hatte er in den letzten Jahren seiner Schulzeit gehabt, als er unter dem Leistungsdruck der Oberschule fast zerbrochen wäre, die zweite war als Juniorpartner in einem Beratungsinstitut während der letzten Wirtschaftskrise gekommen, als er mit elf Millionen Yen in der Kreide gestanden hatte. In beiden Situationen hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen, das erste Mal mit einer Überdosis Schlaftabletten, das zweite Mal auf die klassisch-japanische Art - durch den Sprung vor eine U-Bahn. Beide Male waren aber zu seiner Enttäuschung sehr viel unromantischer verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte, und was das wichtigste war: er hatte sie leider überlebt. Inzwischen war er allerdings älter und gereifter, und der Gedanke an Selbstmord kam ihm nicht mehr so leicht. Zudem war das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen, und für Menschen in fordernden Situationen gab es zahlreiche Methoden, den aufgestauten Stress wieder loszuwerden. Psychologische Beratung, Antidepressiva und die Anerkennung von psychischen Problemen als Berufskrankheit sorgten dafür, dass vielen potentiellen Selbstmördern geholfen werden konnte, ehe der innere Druck in ihnen so groß wurde, dass sie keinen Ausweg außer dem Freitod mehr sahen. Masakiri hatte zwar von diesen Mittel noch keine genutzt, aber er wusste, dass es sie gab, und wahrscheinlich hätte er auch nicht gezögert, nach professioneller Hilfe zu suchen, wenn es ihm unerträglich geworden wäre. Vorerst aber war der Gedanke an Selbstmord erst einmal nur da; noch war er nicht wirklich unerträglich. Unerträglich war eigentlich nur das Fehlen von Zigaretten, und in einem Anfall plötzlichen Zorns zerknüllte der Investmentberater die leere Schachtel in seiner Hand und warf sie im hohen Bogen vom Dach des Parkhauses, wo er seinen Mercedes geparkt hatte. In der Innenstadt, unter Menschen, hätte er es nicht gewagt, so einfach die Straßen zu verschmutzen; wenn es um diese Dinge ging, war jeder erwachsene Mensch in Tokyo ein Hilfspolizist, der solche Akte von mutwilligem Vandalismus sofort scharf angeprangert hätte. Japan hatte da eine ganz eigene Moral, was diese kleinen Dinge anging, und sie sorgte dafür, dass man sich in der Gesellschaft anderer Menschen noch ein klein wenig unfreier vorkam, als man das ohnehin schon als beruflicher Versager war.

Montag, 5. April 2004, 19.11 Uhr

Die Marunouchi-U-Bahn-Linie verband Nakano mit Ikebukuro und gehörte schon tagsüber zu den besonders überfüllten Strecken in Tokyo, besonders zur Rushhour. Doch zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr war sie quasi täglich hoffnungslos überlaufen, und das lag daran, dass sie in Shinjuku hielt, dem Unterhaltungsviertel der Metropole. Täglich zwängten sich in die Wagen Schüler auf dem Weg in die Spielhallen, Geschäftsleute in die Pachinko-Bars, Hausfrauen in die Kinos - es war eine formlose Masse von Menschen, die sich quallenähnlich zusammenquetschte, auseinanderzog und manchmal auch trennte, als bestehe sie aus einer einzigen Zelle und habe sich soeben geteilt. Eigentlich war die Enge in einer so besetzten U-Bahn geradezu unerträglich; die Fahrgäste jedoch standen sie mit stoischer Ruhe aus. Niemand beschwerte sich; warum auch, es ließ sich doch ohnehin nicht ändern, und manchen gelang es sogar, in den überfüllten Wagen zu schlafen. Wieder andere lasen, starrten vor sich hin oder waren in Gedanken schon im Feierabend. Eine Tokyoter U-Bahn war eine Studie in Introvertiertheit, wie man sie sonst vielleicht nur noch in tibetanischen Mönchsklostern oder bei Bergsteigern auf dem K2 beobachten konnte, und wenn sich doch jemand nicht nur mit sich selbst beschäftigte, nahm davon niemand Notiz - man tat sein bestes, die anderen Fahrgäste einfach zu übersehen. Aber als die Marunouchi-Linie in Richtung Nakano an diesem frühen Abend um elf Minuten nach neunzehn Uhr in die Haltestelle Shinjukusanchome einfuhr, war die bisherige Fahrt der U-Bahn für die Mitfahrer an diesem Abend völlig anders als sonst verlaufen, vor allem für acht Männer mittleren Alters, die die Wagen nicht, wie sonst üblich, ohne Begleitung verließen, sondern mit jeweils einem in Zivil gekleideten Polizeibeamten der "Tokyo Metropolitan Police", Abteilung "Öffentliche Sicherheit", direkt hinter sich. Einige neugierige Köpfe reckten sich ihnen nach, doch zum Glück nur wenige Sekunden, bis die Türen der Bahn sich wieder schlossen und sie abfuhr. Die Polizisten führten die Männer den Bahnsteig hinunter und auf eine der an der Station befindlichen kleinen Polizeistationen zu, die in der Stadt als "Kobans" bekannt waren. Diesmal war das Häuschen aber nicht, wie sonst üblich, von zwei uniformierten Mitgliedern der Gemeinschaftspolizei besetzt. Ein nahezu kahlköpfiger, gut durchtrainierter Mann in den Vierzigern saß auf einem Hocker in dem Koban, und ein etwas jüngerer mit leicht gebräunter Haut und einem konservativen Seitenscheitel in seinem schwarzen Haar stand davor. Er trug einen langen Mantel und hatte die Hände in den Taschen, doch als die kleine Gruppe von der U-Bahn sich näherte, nahm er sie heraus und klappte einen Polizeiausweis vor den ankommenden Leuten auf. "Meine Herren", sagte er mit ernster Stimme, "ich bin Polizeiinspektor Toritaka, und der Herr dort hinten ist Assistenzinspektor Kakiden. Wir kommen vom Dezernat Öffentliche Sicherheit, und die Damen und Herren, welche sich in der Bahn an sie gewandt haben, unterstehen ebenfalls unserer Abteilung. Ich darf ihnen mitteilen, dass sie wegen Verstößen gegen die sittliche Ordnung vorläufig festgenommen sind." "Das soll wohl ein Scherz sein", erboste sich einer der Festgenommenen, ein hochgewachsener, graumelierter Herr in einem teuren Straßenanzug und mit einer großen, goldumrandeten Brille. "Ich bin mir keines Vergehens bewusst! Darf ich erfahren, wieso man mich verhaftet?" Inspektor Toritaka klappte seinen Ausweis zu und verstaute ihn zackig in seiner Manteltasche. "Sie sind nicht verhaftet", sagte er ruhig, "sondern vorläufig festgenommen. Es liegt keine Anklage gegen sie vor, aber es besteht der hinreichende Verdacht, dass sie sich der Körperverletzung und Nötigung schuldig gemacht haben." Der graumelierte Herr wuchs förmlich noch ein paar Zentimeter vor Zorn. "Körperverletzung und Nötigung?! Das ist... das ist ja Willkür! Mein Anwalt wird sie..." "Beamtin Gorei", unterbrach ihn der Inspektor und nickte der Polizistin zu, die hinter dem Geschäftsmann stand, "wenn sie so freundlich wären, ihre Beobachtung mitzuteilen?" "Sehr wohl, Inspektor", nickte die junge Frau. "Um etwa achtzehn Uhr neunundvierzig konnte ich als Zeugin beobachten, wie dieser Herr hier sich in der U-Bahn einer weiblichen Person näherte, Mitte Zwanzig, schwarzes Haar, etwa einsachtundsechzig groß. Die Person war gerade eingestiegen und wurde weiter in die Mitte der Bahn gedrängt. Von der rechten Seite schob sich der Herr hier auf sie zu, presste seinen Unterleib gegen ihre Hüfte und begann, seinen Genitalbereich an ihrem Rock zu reiben. Nach einigen Sekunden sah er sich um, öffnete seine Hose und zog sein Geschlechtsteil heraus, das er dann ebenfalls an der Hüfte der weiblichen Person rieb. Als ich hinzukam und ihn ansprach, bemühte er sich nicht einmal, sich wieder anzukleiden, und erst nachdem ich mich als Polizistin offenbart hatte, brachte er seine Hose wieder in Ordnung." Der Kopf des graumelierten Mannes war bei diesem Bericht allmählich puterrot geworden. "Unerhört", presste er hervor. "Ich habe nichts dergleichen getan! Diese... diese Frau da lügt, und sie haben keinen Zeugen für die Tat." Toritaka starrte ihn unbewegt an. "Diese Frau dort, Polizistin Gorei, ist die Zeugin", erklärte er kalt. "Die Anklage gegen sie wird von der Person erhoben werden, die sie belästigt haben." "Und wer soll das sein?" verlangte der Mann zu wissen. "Ich verlange, dass sie mir die Personalien geben, damit mein Anwalt..." "Die Personalien dürften in diesen Minuten festgestellt werden", unterbrach der Inspektor ihn wieder, "und zwar von den anderen Beamten im Zug. Diejenigen, die sich ihnen und den anderen Herren nicht vorgestellt haben. Wie ich sagte, sie sind vorläufig festgenommen, damit wir erst einmal ihre Personalien aufnehmen können. Ich hoffe, sie alle hier können sich ausweisen?" "Ich werde mich nicht ausweisen", fuhr der ältere Herr Toritaka an. "Ich lasse mich nicht einfach so aus der U-Bahn heraus verhaften, ohne dass es auch nur eine Anzeige gegen mich gibt! Ich habe nichts getan, was unsittlich gewesen wäre. Die Frau, die ich angeblich belästigt haben soll... wenn ich der wirklich etwas angetan habe, wieso hat sie mich nicht gleich an Ort und Stelle..." In diesem Moment erhob sich ruckartig der fast kahle Mann von seinem Hocker, den Toritaka als Assistenzinspektor Kakiden vorgestellt hatte und trat einen Schritt auf den Herrn zu, der erschrocken verstummte. "Sie sagen also", fragte Kakiden freundlich nach, "sie möchten ihre Personalien hier nicht feststellen lassen?" Der graumelierte Mann zögerte einen Moment, dann nickte er. "Ich will nicht wie ein Krimineller behandelt werden, obwohl ich nichts..." "Ausgezeichnet", unterbrach ihn der Assistenzinspektor mit eisigem Lächeln. "Ich verhafte sie wegen Widerstands gegen Beamte der Öffentlichen Sicherheit. Gorei-san - festnehmen!" "Wa..." konnte der Mann noch sagen, ehe ihm die Polizistin in seinem Rücken einen Arm auf den Rücken drehte und ihn mit Wucht gegen die Wand des Koban stieß, um ihm Handfesseln anzulegen." Unter den entsetzten Schreien des älteren Mannes sah Kakiden über die Reihe der anderen Festgenommenen. "Noch jemand, der sich nicht ausweisen will?" fragte er. Es war nicht überraschend, dass sich niemand meldete. "Gut", nickte der Assistenzinspektor und sah zu seinem Vorgesetzten hinüber. "Sind sie einverstanden, wenn wir den Rest der Personalienfeststellung unseren Beamten hier überlassen?" Toritaka nickte. "Einverstanden", sagte er und wandte sich an den ranghöchsten Polizisten unter den U-Bahn-Ermittlern, einen älteren Beamten im Rang eines Sergeanten. "Die Leute sollen hier am Koban Ausweiskopien erstellen und den Festgenommenen die Möglichkeit geben, der Strafanzeige mit einem eigenen Geständnis zuvorzukommen. Wer sich nicht ausweisen kann, zur Feststellung aufs Revier Shinjuku. Alles verstanden?" "Vollkommen, Inspektor." Der Sergeant salutierte. "Die paar Leute behalten wir schon unter Kontrolle." "Ausgezeichnet", lobte ihn Toritaka und blickte dann zu seinem Assistenzinspektor. "Kakiden-san, wir gehen." "Manchmal verstehe ich sie wirklich nicht, Toritaka-san", meinte der ältere Polizist zu seinem Vorgesetzten, als die beiden ein Stück außer Hörweite waren. "Sie haben Superintendent Asashi drei Wochen lang mit diesem U-Bahn-Einsatz in den Ohren gelegen, haben fünfzehn Mann nur für diesen einen Abend zur Verfügung gestellt bekommen, und das alles nur für acht harmlose Grabscher?" Inspektor Toritaka sah Kakiden nicht an. "Wissen sie", fragte er, "was ich den Leuten von unserem Einsatzkommando gesagt habe, ehe ich sie losgeschickt habe?" Der kahlköpfige Polizeioffizier zuckte mit den Schultern. "dass sie kein Aufsehen erregen sollen?" schlug er vor. "Nein." Toritaka starrte auf die Treppenstufen, die er hinaufmarschierte. "Jeder, der nicht mit mindestens einem Delinquenten aus dem Wagen kommt, muss zur Strafe zwei Stunden Drilltraining auf der Akademie absolvieren." "Was?!" Kakiden sah verblüfft zur Seite. "Aber... das wäre doch ziemlich ungerecht gewesen, denke ich. Was, wenn in den Wagen jetzt gar nicht so viele Fummler gewesen wären?" Der Inspektor seufzte. "Es sind immer so viele", sagte er. "Tag für Tag, Stunde für Stunde, und in den Stoßzeiten werden es noch mehr. Und warum sind es so viele? Weil niemand auf sie achtet. Niemand! Man weiß, dass es sie gibt, aber man übersieht sie nur zu gerne. Und wenn ich unseren Leuten nicht Strafe angedroht hätte, dann hätten auch sie nichts gesehen." Unwillig neigte Kakiden den Kopf hin und her. "Darf ich offen sein, Toritaka-san?" "Gerne doch." "Ich glaube nicht", erklärte der Assistenzinspektor, "dass in den U-Bahnen viele strafwürdige Sachen passieren. Der Trottel von eben war doch ein Einzelfall. Vielleicht kommt gelegentlich wirklich mal ein Mann einer Frau zu nahe, aber so voll wie es da ist, lässt sich das doch kaum vermeiden, bei dieser Enge..." Inspektor Toritaka blickte ihn an. "Glauben sie?" "Absolut." "Dann möchte ich ihnen etwas erklären", sagte der Polizeioffizier und blieb stehen, so dass die Menschenmenge um ihn und seinen Kollegen herumbrandete. "Seit ich vor fünfzehn Jahren in die Metropolitan Police eingetreten bin, hatten wir immer mal wieder schwankende, aber an sich leicht rückläufige Zahlen von angezeigten Verbrechen und Vergehen. Über die ganze Zeit aber ist eine Zahl besonders stark gesunken, und das war die Zahl angezeigter Sittlichkeitsvergehen. Können sie sich denken, wieso?" Amüsiert schmunzelte Kakiden. "Die Straßen werden langsam sicherer", sagte er. "So einfach ist das." Inspektor Toritaka schüttelte den Kopf. "So einfach ist es eben nicht", widersprach er. "Wenn man sich die Fälle, die zur Anzeige kommen, einmal ansieht, dann merkt man, dass ein immer größerer Teil davon schwere Vergehen und Verbrechen gegen die Sittlichkeit sind. Wir haben insgesamt weniger Anzeigen als noch vor fünfzehn Jahren, aber beispielsweise die Zahl von lebensbedrohenden Vergewaltigungen hat sich in der selben Zeit verdoppelt! Genau wie die Zahl von Entführung mit anschließender Vergewaltigung und Sittlichkeitsvergehen, bei denen das Opfer unter Drogen gesetzt wurde. Was sagt ihnen das, Kakiden-san?" "Offensichtlich sind die Verbrecher in den letzten fünfzehn Jahren deutlich gewalttätiger geworden", schloss der Assistenzinspektor. "Ich bin zwar erst vor zwei Jahren aus der Verwaltung in ihre Abteilung gekommen, aber ich denke, das dürfte kein Geheimnis sein." "Und wieder liegen sie daneben", gab Toritaka trocken zur Antwort. "Eigentlich hat sich die Zahl aller Vergehen gegen Moral und Anstand im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Aber niemand macht sich mehr die Mühe, solche Sachen auch zur Anzeige zu bringen. Es ist sogar noch schlimmer - die Leute übersehen inzwischen Straftaten lieber, als dass sie sich einmischen. Es gibt keine Zivilcourage mehr in unserem Land." Er starrte seinen Untergebenen einen Moment an, dann wandte er sich plötzlich ab und begann, die letzten Stufen der Treppe zu nehmen, wobei er sich wieder in den Strom der Passanten eingliederte. Erst, als er die unterirdische Haltestelle verlassen hatte, gelang es Kakiden wieder, mit ihm aufzuschließen. Der Assistenzinspektor sah seinen Vorgesetzten lange und schweigend an, während er neben ihm in Richtung des gemeinsamen Dienstwagens schritt. Nach und nach lichtete sich die Menge der Passanten wieder, und schließlich war es um die beiden wieder ruhig genug, dass Kakiden es wagte, Toritaka wieder anzusprechen. "Darf ich ihnen noch eine persönliche Frage stellen, Inspektor?" bat er. "Immer." Der Polizeioffizier zog den Schlüsselbund des Wagens aus der Tasche und betätigte die elektronische Wegfahrsperre. "Ihr letzter Partner... Inspektor Katsuhara... warum hat er sich versetzen lassen?" Toritaka ließ den Arm sinken. Einen Moment stand er völlig still da, atmete einmal tief durch, dann drehte er sich zu Kakiden um. "Sie haben einige Gerüchte gehört, nehme ich an", sagte er. Langsam nickte der fast kahlköpfige Polizist. "Einige." "Dann wird es sie interessieren, dass die meisten davon stimmen", erklärte der Inspektor. "Was nicht stimmt, ist die Theorie, ich sei homosexuell und habe versucht, Katsuhara zu belästigen. Ebenso ins Reich der Legende gehört das Gerücht, ich habe den Sohn des Parlamentsabgeordneten Somachi wegen des Besitzes von Kinderpornografie hinter Gitter bringen wollen." Er machte eine kurze Pause. "Es war Somachi-san selbst." "Oh." Kakidens Miene verfinsterte sich. "Dann verstehe ich allerdings, dass es ihrem Partner an ihrer Seite zu heiß wurde. Somachi Youta hat schon die Karrieren von ganz anderen Leuten beendet." Toritaka lächelte überraschend sanft. "Wie sie sehen", sagte er, "ist ihm das in meinem Fall nicht gelungen, und das lag daran, dass meine Ermittlungen Hand und Fuß hatten." Er öffnete die Fahrertür des Wagens. Unsicher blieb der Assistenzinspektor vor der Beifahrertüre stehen. "Eins der Gerüchte lautet", sagte er, "dass sie keinem ihrer Verdächtigen etwas Strafbares nachweisen konnten, aber das Disziplinarverfahren eingestellt wurde, damit das Ansehen der Personen im Fall nicht litt." "Das ist auch wahr", nickte Toritaka. "Ich war nicht in der Lage, meinen Verdächtigen nachzuweisen, dass sie die perversen Fotos, um die es ging, heimlich mit ihren Fotohandys aufgenommen hatten." "Perverse Fotos, na ja..." Kakiden schmunzelte und öffnete die Türe. "Es ging doch nur um Pantyshots, oder?" Der Inspektor warf ihm einen langen, ernsten Blick zu. "Nur?" sagte er, dann schwang er sich in den Wagen und startete den Motor. Kakiden konnte gerade noch einsteigen, ehe der Wagen abfuhr. Auf der Fahrt ins Hauptpräsidium gingen Toritaka Shingo viele Gedanken durch den Kopf, doch er teilte sie nicht mit seinem Assistenzinspektor. Kakiden Tatsuhiro war vor zwei Jahren wegen einer Dienstaufsichtsbeschwerde degradiert und aus der Verwaltung in seine Abteilung versetzt worden - es war ironisch, aber irgendwie passend, dass man den Dienst an seiner Seite irgendwo oben als Strafe verhängte. Nach der Sache mit den Fotohandys hatte er einen mehr als schlechten Ruf als übereifrig und verbohrt gehabt, und er war froh gewesen, mit Kakiden wenigstens jemanden an seiner Seite zu haben, der gezwungen war, mit ihm zu arbeiten. Toritaka hatte gerade die Beförderung zum Inspektor erhalten, als er bei einem Fall von bandenmäßigem Vandalismus während der Spurensuche in einem demolierten Auto Fotos gefunden hatte, welche Mädchenunterhöschen zeigten. Genauer gesagt, Mädchenunterhöschen, die gerade von Mädchen getragen wurden, und wenn man sich die Bildumgebung besah, mussten es Grundschülerinnen sein, die man ziemlich direkt von unten zwischen den Beinen fotografiert hatte. Die Herkunft solcher "Schnappschüsse" war ihm ein ziemliches Rätsel gewesen, bis er das Material an die Abteilung Forensik weitergegeben hatte und man feststellte, dass die Fotos mit Digitalkameras erstellt worden waren. Mit eben solchen Digitalkameras, wie man sie in letzter Zeit immer häufiger in Handys einbaute. Der Inspektor forschte weiter nach und entdeckte zu seinem Entsetzen, dass der Besitzer des demolierten Autos, der Parlamentsabgeordnete Somachi Youta, sich vor kurzem ein solches Kamerahandy zugelegt hatte, und die Schuluniformen auf den Bildern passten zu einer Grundschule, die direkt gegenüber seines Büros in der Innenstadt lag. Unter dem Verdacht der verbotenen Kinderpornografie ließ er vom Bezirksrichter eine geheime Hausdurchsuchung genehmigen und ließ die Inhalte der Festplatten der Computer in Somachis Büro und seinem Privathaus kopieren. Unmengen von "Pantyshots" wie die auf den Bildern in seinem Auto kamen zum Vorschein, offensichtlich nicht nur von ihm angefertigt, und es war ersichtlich, dass der Abgeordnete mit anderen Leuten dieses Material austauschte. Und dann, mit einem Mal, war die Untersuchung zu Ende gewesen. Ein Parteifreund Somachis musste von den Ermittlungen erfahren haben, und der Parlamentsabgeordnete schaltete sogleich seine Anwälte ein. Diese stellten fest, dass es nicht möglich war, die im Wagen gefundenen Fotos zweifelsfrei genau seinem Fotohandy zuzuordnen, dass man außerdem digitale Bilder nach Belieben verändern konnten und diese somit als Beweismittel unzulässig waren und dass noch dazu die Wahrscheinlichkeit groß war, dass eher "moralisch verkommene Subjekte" wie eben die Vandalen, die das Auto verwüstet hatten, im Besitz solcher nicht einmal verbotenen Fotografien waren. Man forderte Toritaka auf, die Mädchen zu finden, die angeblich auf den Bildern zu sehen waren, denn ohne Geschädigte kein Verbrechen, und wenn hier niemand gegen seinen Willen aufgenommen worden war, dann war auch nichts strafbares passiert. Der Inspektor musste einräumen, dass er die Bilder niemandem zuordnen konnte (und selbst wenn er gekonnt hätte, so hätte er den Familien der Mädchen die Schmach nicht zumuten wollen, ihre Kinder in der Öffentlichkeit gedemütigt zu sehen), und es gelang ihm nur, einer Degradierung zu entgehen, indem er Somachi wissen ließ, dass sich die Klatschpresse mit Freude auf einen Pantyshotfetischisten im Parlament gestürzt hätte. Und so ließ der Abgeordnete seine Beziehungen spielen, das Dienstaufsichtsverfahren gegen den Polizisten wurde eingestellt, und alle waren zufrieden. Relativ zufrieden. Toritaka war immer noch der Ansicht, richtig gehandelt zu haben, und wenn ihm der Vorfall eins gelehrt hatte, dann war es die Wahrheit über die angebliche moralische Höherwertigkeit der japanischen Gesellschaft. Was war das für ein Land, in dem man nichts Schlechtes darin sah, minderjährige Mädchen in entwürdigender Weise zu fotografieren und sich an diesen Bildern sexuell zu erregen? Was war das für ein Land, in dem sich schon Zwölfjährige auftakelten wie für den Kinderstrich und das ganze dann auch noch "Puchi-Lolita-Stil" nannten? Das Fernsehen zeigte in den Abendstunden mehr und mehr gewalttätige Animes, gezeichnete Pornografie (beschönigend "Ecchi" genannt) durfte frei in den Büchereien verkauft werden, und es gab nicht einmal mehr die allgemeine Zensur der Darstellung von Geschlechtsorganen in den Erwachsenenfilmen. Nach und nach wurde die Gesellschaft immer verkommener; der Sex spielte eine immer größere Rolle, und immer mehr anstößige Dinge wurden für völlig normal oder, noch schlimmer, für "trendy" erklärt. Nach Ansicht des Inspektors hatte Japan seine Werte verloren. Werte, die es lange Zeit definiert hatten. Ein naturgegebener Anstand, eine Sitte, die sich aus dem ganz gewöhnlichen menschlichen Zusammenleben ergab. Wahrscheinlich hing der Verfall dieser Dinge damit zusammen, dass man die alten Hierarchien immer öfter in Frage stellte. In den Talkshows im Fernsehen wurde inzwischen sogar diskutiert, ob das Sempai/Kohai-Prinzip - eine ältere, erfahrenere Person, der Sempai, leitete eine jüngere, den Kohai, in ihrem Lebensweg an und stand ihr als Berater zur Verfügung, während die jüngere Person der älteren unangenehme alltägliche Pflichten abnahm - sich nicht inzwischen überlebt hatte und allgemein abgeschafft werden sollte. Sempai und Kohai gab es in allen Schichten der Gesellschaft und in allen Altersstufen, ob unter Schülern (wo die Älteren den Jüngeren beim Lernen halfen und die jüngeren dafür deren Putzdienst übernahmen), Geschäftsleuten (wo der Juniorpartner dem Älteren die Aktentasche trug und die Termine verwaltete, während der Seniorpartner dem Jüngeren die richtigen Beziehungen verschaffte) oder auch Polizisten (wo der dienstjüngere den Papierkram erledigte und den Mittagskaffee besorgte und der dienstältere ihm dafür die Gefahren im Revier vom Hals hielt). Und nun wurde selbst diese Grundlage menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt und als ausbeuterisch gegenüber dem Kohai bezeichnet... musste man sich da noch wundern, wenn Anstand und Moral zusammenbrachen? Natürlich konnte Toritaka seinem Assistenzinspektor das unmöglich verständlich machen. Kakiden Tatsuhiro war bereits vom liberalen Geist der "neuen Zeit" infiziert. Im Gegensatz zum seinem ledigen Vorgesetzten war er verheiratet und hatte zwei Töchter, dreizehn und sechzehn Jahre alt, und die beiden Mädchen gehörten zu der Sorte Jugendlicher, die nicht einmal so viel Gemeinschaftssinn hatten, dass sie in ihrer Freizeit die Schuluniform anbehielten. Wer seine Kinder so aufzog, der hatte kein Verständnis für die Vorzüge der alten Zeiten. Überhaupt hatten nicht viele Leute Verständnis für die Ansichten des Inspektors, weshalb er sie auch nur noch selten äußerte. Er wusste, dass hinter seinem Rücken deswegen über ihn geredet wurde, und mit Sicherheit gab es eine Menge Spott, aber er war ein guter Polizist und als Ermittler immer korrekt gewesen (mit der Ausnahme der Beinahe-Erpressung Somachis). Superintendent Asashi Hayao wusste, was er an ihm hatte und war auch gerne bereit, ihn bei seinen Fahndungen ein wenig zu unterstützen, wenn es denn nicht noch einmal auf einen öffentlichen Eklat hinauslief, und in der "U-Bahn-Razzia" hatte er persönlich grünes Licht gegeben. Der Einsatz war abgedeckt, selbst wenn von den Frauen, die man belästigt hatte, keine zu einer Anzeige bereit gewesen wäre. Und den Abschreckungseffekt durfte man auch nicht vergessen. Im Hauptpräsidium angekommen, beauftragte Toritaka seinen Assistenzinspektor mit dem Anfertigen der Berichte. Eigentlich hätten beide jetzt schon problemlos in den Feierabend gehen können, doch obwohl die Polizeigewerkschaft schon vor Jahrzehnten klare Richtlinien für die Arbeitszeiten durchgesetzt hatte, war nahezu jeder Polizist rund um die Uhr im Dienst, und jede "Freizeit" bestand aus den Stunden, in denen es nicht viel zu tun gab oder aus den wenigen Tagen, die man als Urlaub angemeldet hatte. Auch der Inspektor selbst blieb noch lange auf seinem Büro. Einerseits wollte er noch alle Rückmeldungen der Polizeibeamten abwarten, die sich in der U-Bahn um die Belästigungsopfer gekümmert hatten (und hoffentlich viele davon zu einer Anzeige hatten überreden können), und außerdem musste er noch Mainichi informieren. Die "Mainichi Daily News" waren eigentlich ein furchtbar unseriöses Sensationsblatt, das niemand kaufte, der halbwegs etwas auf sich hielt. Seltsamerweise wusste trotzdem jeder, wie die neuesten Schlagzeilen in den "Mainichi Daily News" lauteten, besonders die Schlagzeilen in der Sektion "Wai Wai", wo die besonders wilden Geschichten abgedruckt waren: Enthüllungsberichte über Hausfrauen als nebenberufliche Pornostars, kannibalisch veranlagte Grundschüler oder verrückte Lebensmittelskandale fanden sich hier regelmäßig, und eine Polizeimeldung über eine erfolgreiche Jagd auf U-Bahn-Grabscher in Tokyo würde sicherlich abgedruckt werden. Wenn er noch die Aussage Gorei-sans bezüglich des älteren Sittenstrolchs erwähnte, hatte er den Artikel sicher, und das würde das öffentliche Interesse wieder einmal auf das Problem der sexuellen Belästigung lenken. Vielleicht waren die Methoden nicht ganz die richtigen, aber sie hatten den richtigen Effekt. Es war schon nach dreiundzwanzig Uhr, als Inspektor Toritaka den Pressebericht fertig geschrieben und per Mail an die Redaktion der "Mainichi Daily News" geschickt hatte. Von immerhin fünf Belästigungsopfern waren Anzeigen eingegangen (und darunter auch, was ihn besonders freute, das Opfer des älteren graumelierten Herren), und zwei weitere hatten ihre Adressen hinterlassen und gesagt, sie wollten sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Solche Erfolge waren in der Polizeiarbeit selten, und der Beamte stellte für sich fest, dass er nun beruhigt in den Feierabend fahren konnte. Er schaltete seinen PC und das Licht im Büro aus, schloss ab, verabschiedete sich von den Kollegen von der Nachtschicht und vom Personal am Empfang des Präsidiums, dann ging er in die Tiefgarage und stieg in seinen privaten kleinen Honda. Er wohnte am Stadtrand, um diese Zeit etwa eine halbe Autostunde entfernt, und es bedeutete ihm eine Menge, nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Sicher, es war ein Gemeinschaftserlebnis, mit Bussen und Bahnen zu fahren, aber der Inspektor legte seit einigen Jahren keinen besonderen Wert mehr auf die "Gemeinschaft" dort. Wie üblich hatte er den Polizeifunk aktiviert - ein Polizist war nie wirklich außer Dienst - und ließ die Meldungen leise im Hintergrund laufen, während er die Sendersuche im Radio so eingestellt hatte, dass nur Enkas gespielt wurden. Toritaka hatte eine Schwäche für den schwermütigen, altmodisch anmutenden japanischen Schlager, die er im Gegensatz zu seinen sonstigen Ansichten tief in sich verborgen hielt und die ihm selbst ein wenig peinlich war, aber das hinderte ihn nicht daran, sie in seinen privaten Momenten vollkommen auszuleben. Er war eben dabei, auf die Zubringerstraße in Richtung Vorstadt abzubiegen, als eine Meldung über den Polizeifunk seine Aufmerksamkeit auf sich zog: "Sechs von K-Zweifünfsieben, wir haben einen Anruf aus PQ C-Dreizehn. Ruhestörung mit Verdacht auf Gewalttätigkeit. Kommen." Toritaka schaltete das Radio ab und mit der selben Bewegung die Freisprechanlage ein. "K-Zweifünfsieben, hier Sechs-dreiundachtzig", meldete er sich mit der Nummer seines Wagens - Dezernat sechs war seine Abteilung, die Öffentliche Sicherheit, und der Ruf kam von einer K-Nummer, also einer der Koban-Stationen. "Ich bin gerade auf Höhe B-Elf auf der Schnellstraße und kann in etwa vier Minuten bei ihnen in C-Dreizehn sein. Kommen." "Sechs-dreiundachtzig, verstanden", kam die Antwort. "Jemand hat sich beschwert, dass in einem Parkhaus eine Autoalarmanlage losgegangen ist und will direkt vorher einen Schrei und ein lautes Krachen gehört haben. Verdacht auf bandenmäßigen Vandalismus, Verstärkung von Vier ist unterwegs. Ende." Der Inspektor warf einen kurzen Blick auf das Navigationssystem in seinem Wagen, auch wenn das kaum notwendig gewesen wäre. Im Planquadrat C-13 gab es nur ein Parkhaus: das große elfstöckige, welches zum nahen Century Tower gehörte. Es lag im Stadtteil Bunkyo - ein seriöses Geschäftsviertel - was bedeutete, die Autos dort waren allesamt ausgesucht teuer und edel, weshalb die Parkhäuser gut von privaten Sicherheitsdiensten bewacht wurden und gewöhnlich keine polizeiliche Hilfe benötigten. Allerdings... bandenmäßger Vandalismus, das konnte bedeuten, dass eine der gefährlicheren Straßengangs unterwegs war, und die hatten durchaus die Mannstärke und die Logistik, um sich mit ein paar Mann Sicherheitsdienst anzulegen. Gegenüber der Polizei waren sie allerdings oft etwas vorsichtiger, was daran lag, dass bei einer Notlage von Polizeibeamten innerhalb von zehn Minuten überall in Tokyo ein Sondereinsatzkommando eingreifen konnte. Niemand wollte ein Sondereinsatzkommando am Hals haben. Toritaka ließ die Seitenscheibe seines Autos herunter, zog das Blaulicht aus der Mittelkonsole seines Wagens hervor, schaltete es ein und pflanzte es aufs Dach, während er in Richtung des gemeldeten Notrufs fuhr. Wenn Verstärkung vom Dezernat 4 angefordert worden war, der Streifenpolizei, die auch die Kobans besetzte, dann würden die wahrscheinlich erst in etwa zehn Minuten auftauchen, wenn sich zwei oder drei Wagen gesammelt hatten. Ganz alleine am Ort eines vermuteten Gangverbrechens aufzutauchen, wäre eine schlechte Idee gewesen, weshalb der Inspektor schon einen Block früher als nötig abbog und den Koban ansteuerte, von dem der Funkruf gekommen war. Er hielt vor dem kleinen Häuschen und ließ die Seitenscheibe herunter. "Einsteigen", sagte er zum ersten der beiden Polizisten, der ihm entgegenkam, wobei er ihm seinen Ausweis mit der Dienstmarke des Inspektors entgegenhielt. Der Mann, ein hagerer, dürrer Seniorpolizist, salutierte kurz, ehe er hastig die Tür aufriss und in den Honda sprang. Toritaka stieg sofort wieder aufs Gas, und bis sein Beifahrer sich angeschnallt hatte, war er auch schon auf dem halben Weg zum Parkhaus unterwegs. "Iburo Tomoki", stellte der Polizist sich vor. "Bei mir ging der Notruf ein." "Toritaka Shingo", gab der Inspektor zurück. "Ist der Zeuge glaubwürdig?" Iburo nickte. "Ein Student von der Metropolitan-Universität", berichtete er. "Personalien werden gerade aufgenommen." "Ausgezeichnet." Toritaka steuerte einen Platz am Straßenrand kurz vor der Einfahrt des Parkhauses an - um diese Uhrzeit war die Zufahrt schon lange geschlossen. "Wir werden nicht warten, bis die Verstärkung da ist. Sie sind an der Waffe ausgebildet, Iburo-san?" Der Polizist nickte. "Jawohl, Inspektor-san", bestätigte er, "aber im Dienst an einem Koban..." "Ich weiß", unterbrach ihn Toritaka, "sie tragen keine bei sich. Nehmen sie sich die Glock in meinem Handschuhfach. Munition liegt in den Magazinen direkt daneben." Langsam parkte der Inspektor den Wagen und sah Iburo zu, wie er die Waffe nahm, kontrollierte, sicherte und dann lud. Er steckte sie in seinen Gürtel, und Toritaka nickte. "Gut", sagte er, "sie haben sie eingesteckt, und da bleibt sie auch, bis ich etwas anderes sage." Die Glock war keine offizielle Dienstpistole, sondern ein Geschenk, das Toritaka beim Besuch einer ausländischen Polizeitruppe erhalten hatte, und er hätte es nicht gerne gesehen, wenn dieses Geschenk wirklich jemanden umgebracht hätte. Beide Polizisten verließen den Wagen, Toritaka schaltete die Wegfahrsperre ein, dann gingen sie die Auffahrt ins Parkhaus hinauf. Schon hier war zu hören, dass die Meldung nicht einfach frei erfunden gewesen war: das schrille Fiepen einer Autoalarmanlage hallte aus der Entfernung zu den beiden. Toritaka sah auf die Uhr: Einunddreißig Minuten nach Elf. "Um wieviel Uhr genau wurde das hier gemeldet?" erkundigte er sich. "Dreiundzwanzig Uhr und... dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Minuten", antwortete Iburo. "Ich habe den Ruf unverzüglich weitergeleitet. Warum fragen sie?" "Ich will abschätzen", erklärte der Inspektor, "ob unsere Täter noch hier sein könnten." Der Polizist schwieg kurz und lauschte. "Außer dem Alarmton höre ich nichts." Zustimmend nickte Toritaka. "Das bedeutet aber nicht", sagte er, "dass dort niemand ist. Es kann auch bedeuten, dass jemand der Polizei eine Falle stellen will. Und davon gehe ich hier aus." "Wieso das?" Iburos Gesicht zeigte deutliche Besorgnis. "Kein Licht", antwortete der Inspektor. "Es muss hier drinnen einen Sicherheitsdienst geben, der einen Autoalarm hört, ehe jemand außerhalb des Parkhauses davon etwas bemerkt. Im Polizeifunk kam keine Meldung, dass der Sicherheitsdienst hier im Parkhaus sich gemeldet hätte, also ist anzunehmen, dass das Wachpersonal hier die Sache selbst in die Hand nehmen will. Aber inzwischen sind mindestens acht Minuten vergangen, seitdem der Autoalarm gemeldet wurde. Genug Zeit für den Wachdienst, wenigstens das Licht einzuschalten, oder?" Der rangniedere Polizist schluckte und legte eine Hand auf die Pistole in seinem Gürtel. "Was... was machen wir jetzt?" wollte er wissen. "Licht", antwortete Toritaka, trat auf das Wachbüro direkt an der Einfahrtschranke zu und klopfte an die Milchglasscheibe am Eingang. Nichts geschah. Der Inspektor klopfte nochmal, und als niemand öffnete, ging er einen Schritt zurück, holte mit dem Fuß aus und trat kräftig mit der Ferse gegen das Schloss. Klirrend brach das dünne Metall auseinander und die Türe flog auf. Toritaka sah hinein: Leer. Ein Griff nach rechts schaltete die kleine Lampe im Büro ein. Es war ordentlich aufgeräumt, keine Anzeichen für einen Kampf waren zu erkennen. An der Rückwand hing der Dienstplan der Sicherheitsfirma, die für das Parkhaus zuständig war. Für montags war keine Nachtschicht eingetragen. "Entwarnung", seufzte der Inspektor. "Das Wachpersonal für heute abend wurde wohl bei den letzten Budgetkürzungen der Stadt eingespart. Verfluchte Wirtschaftskrise." Er sah sich kurz um, bis er den Hauptschalter für das Licht im Parkhaus entdeckt hatte und schaltete ihn ein. "Gehen wir." "Jawohl." Iburo war nun wieder sichtlich wohler zumute. "Wenn sie gestatten, Inspektor-san, der Alarm scheint nicht wirklich von hier drinnen zu kommen. Vielleicht hat das Parkhaus einen Hinterhof?" Toritaka nickte. "Gehen wir doch einmal nachsehen", sagte er und wandte sich in Richtung Treppenhaus um. Eine Türe mit der Aufschrift 'Personal' kam ihm vielversprechend vor; er rüttelte daran, aber sie war abgeschlossen. Er überlegte kurz. "Es muss einen Notausgang geben", sagte er dann, "der hinten zur Feuerwehrzufahrt führt und der nicht abgeschlossen werden darf. Suchen wir ihn." Beide Polizisten schritten im nun hell erleuchteten Parkhaus nebeneinander her, und es dauerte keine zwei Minuten, ehe sie die Ausschilderung zu einem Fluchtweg gefunden hatten. Zur Freude des Inspektors ging dieser ganz nach außen, wo er auf einer metallenen Feuertreppe im amerikanischen Stil endete. Das Geräusch des Autoalarms kam unzweifelhaft von hier unten. Ein orangenes Blinklicht, das neben ihm aufflammte, als er die letzte Tür öffnete, machte ihm klar, dass er wahrscheinlich soeben den Feueralarm des Parkhauses aktiviert hatte, aber das war kein Problem. "Iburo-san", sagte er, "sie haben ihr Funkgerät dabei?" Der hagere Polizist nickte. "Natürlich." "Dann melden sie hier einen irrtümlichen Feueralarm", ordnete Toritaka an. "Die Feuerwehr braucht nicht auszurücken. Und fragen sie nach, wo die Verstärkung von der Vier bleibt. Ich gehe runter." Ohne auf den zweiten Mann zu warten, schritt der Inspektor die Feuertreppe herunter. Dort unten war offensichlich niemand. Die blinkenden Scheinwerfer eines Autos waren schon von hier leicht zu sehen und erhellten den ganzen Platz halbwegs passabel. Es gab keine Versteckmöglichkeiten in der Gegend. Keine Gefahr. Je näher der Inspektor dem Auto kam, desto deutlicher konnte er erkennen, dass der Wagen schwer beschädigt war. Es handelte sich um einen Kombi, wahrscheinlich einen Dienstwagen der Parkhausverwaltung, und jemand hatte die Frontscheibe eingeschlagen und das Dach von oben eingedrückt. Als habe ein Sumoringer darauf den Bogentanz vorgeführt, kam es Toritaka seltsamerweise in den Sinn, doch dann war er nahe genug, und seine Augen hatten sich an die anderen Lichtverhältnisse genügend gewöhnt, dass er Details erkennen konnte, und sofort war jeder ansatzweise amüsante Gedanke aus seinem Kopf verschwunden.

Dienstag, 6. April 2004, 11.16 Uhr

In der "Metropolitan Police" waren die Aufgabenbereiche klar verteilt, und jedes Dezernat arbeitete nur an Fällen, für die es auch direkt zuständig war. Aus diesem Grund kam man bei der Polizeiarbeit gewöhnlich nicht mit Kollegen von anderen Dienstbereichen in Kontakt - mit einer Ausnahme: Dezernat 5, die Kriminalinspektion, musste immer dann hinzugezogen werden, wenn die auch nur entfernte Möglichkeit bestand, dass die anderen Dezernate bei ihrer Arbeit auf ein Kapitalverbrechen gestoßen waren, und das war bei einem Leichenfund grundsätzlich der Fall. Daher nannte man im internen Polizeijargon Tote "Fünfer", und die einzigen, die das nicht taten, waren vom Dezernat 7, der Abteilung für Organisierte Kriminalität. Inspektor Toritaka hatte noch am vorherigen Abend angeordnet, den Werkshof des Parkhauses abzusperren, in welchem man den Toten entdeckt hatte, und ein Sicherungskommando der Kriminalinspektion hatte die Leiche auch unverzüglich abtransportieren lassen und die erste Beweisaufnahme durchgeführt. Allerdings war das wirklich nur oberflächlich geschehen, und als Toritaka verwundert nachgefragt hatte, warum man denn noch keine richtige Spurensicherung durchführte, war die Antwort gewesen, dass man die wegen schlechter Lichtverhältnisse auf den kommenden Morgen verschob. Das war natürlich eine verdammte Ausrede - Dezernat 5 konnte innerhalb von einer halben Stunde den ganzen Innenhof mit Flutlicht ausstatten, wenn es notwendig war. Wahrscheinlich war Seniorsuperintendent Shirage, Leiter der Kriminalinspektion, einfach schon schlafen gegangen, und niemand hatte ihn so spät noch wecken wollen. Pünktlich morgens um acht allerdings hatte die Tatortsicherung begonnen, und Toritaka hatte noch auf der Hinfahrt in sein Büro den Funkruf erhalten, dass Superintendent Asashi ihm den Fall von gestern abend vorläufig zugeteilt hatte und er die Ermittlungen leiten würde, wenn sich nicht herausstellte, dass ein Verbrechen vorlag. Für Selbstmörder gab es keine klaren Zuständigkeiten; normalerweise erledigte bei einem Selbstmord das Dezernat den Fall, das mit ihm zuerst in Kontakt gekommen war. Stürzte sich jemand mit seinem Auto von einer Brücke, war Dezernat 2, die Verkehrspolizei, für ihn zuständig; die meisten Selbstmörder wurden allerdings von der Streifenpolizei von Dezernat 4 entdeckt. Leute, die sich vor U-Bahnen warfen, fielen normalerweise in die Kategorie, die die Öffentliche Sicherheit übernahm, und Ruhestörung und Vandalismus durch einen Selbstmörder... nun ja, das war wohl auch eine Sache der Öffentlichen Sicherheit. Trotz allem war der Inspektor zuerst einmal in Ruhe ins Hauptpräsidium gefahren, hatte sich nach den Eingängen von gestern nacht erkundigt, hatte seine Mails abgefragt (und zufrieden die Empfangsbestätigung von Mainichi gelesen), Assistenzinspektor Kakiden die Aufgaben für den Tag zugeteilt, sich bei Superintendent Asashi gemeldet, nach Rückmeldung für den gestrigen Einsatz gefragt und sich dann noch die neue Zuteilung schriftlich bestätigen lassen. Als er mit allem fertig war, war es fast halb elf Uhr gewesen, und dann war noch einmal eine Viertelstunde für die Fahrt nach Bunkyo verstrichen... und noch einmal eine halbe Stunde, bis er sich durch das Verkehrschaos gekämpft hatte, das durch die Schließung des Parkhauses entstanden war. Manchmal hatten die öffentlichen Verkehrsmittel doch ihre Vorzüge. Dementsprechend war die Spurensicherung so gut wie abgeschlossen, als Toritaka endlich ankam, und es waren nur noch einige Seniorpolizisten mit der Katalogisierung der gefundenen Spuren beschäftigt. Die Leiche war abtransportiert worden, und zahlreiche Kreidemarkierungen waren auf dem zerstörten Kombi und dem Boden aufgebracht worden. Der Inspektor trat auf einen der Beamten zu und zückte seinen Dienstausweis. "Toritaka, Dezernat sechs", sagte er. "Ich leite diesen Fall. Wo ist der diensthabende Inspektor der Spurensicherung hier?" "Auf dem Dach", kam die Antwort. "Arakami-san wollte sich persönlich noch den Ort ansehen, von dem der Körper herunterkam." "Verstehe." Toritaka nickte. "Könnten sie ihn herunterrufen?" "Das ist unmöglich", ertönte in diesem Moment eine ernste, aber freundliche Stimme in seinem Rücken, und als er sich umdrehte, stand dort eine Frau Anfang Dreißig, recht elegant in Bluse, Hosenrock und Blazer gekleidet - irgendwie overdressed für ein Parkhaus, kam es Toritaka in den Sinn. Sie trug ihr kastanienfarbenes Haar schulterlang nach hinten gekämmt, und ihre Augen wurden von einer kleinen, eckigen Brille ohne Rahmen umrandet. Der Inspektor verschränkte die Arme. "Und können sie mir auch sagen", wollte er wissen, "warum der gute Mann nicht herunterkommen kann?" "Weil es erstens keinen Mann dieses Namens gibt", war die Antwort, "und weil zweitens Arakami-san bereits hier unten ist. Wenn ich mich vorstellen darf - Inspektor Arakami Shige, Dezernat 5, Abteilung Forensik." Die Frau streckte ihre Hand aus. "Inspektor Toritaka Shingo." Toritaka nahm die Hand nicht an - er hatte eine tiefsitzende Abneigung gegen Leute, die sich im Dienst zu Witzeleien genötigt sahen - und zog stattdessen die schriftliche Zuteilung seines Superintendenten aus dem Mantel. "Ich wurde diesem Fall hier überstellt." "Angenehm", gab Arakami zurück, und zur Überraschung ihres Kollegen lächelte sie. "Ich habe schon einiges von ihnen gehört, Toritaka-san." Der Inspektor zog die Augenbrauen hoch. "Was wollen sie damit andeuten?" meinte er eine Spur unfreundlicher, als er es vorgehabt hatte. Wieder überraschte ihn die Reaktion der Frau. "Sie gehören zu Tokyos engagiertesten Polizeibeamten", sagte sie. "Ich bin froh, dass sie die Untersuchung leiten - da kann ich mir sicher sein, dass die Arbeit der Forensik auch in allen Details berücksichtigt wird. Sie wirken wie ein Mann, der nicht nach offensichtlichen Lösungen, sondern nach dem großen Ganzen sucht." "Vorerst einmal wüsste ich gerne", warf Toritaka ein, "ob ich überhaupt einen Fall habe oder ob Dezernat fünf die Ermittlungen an sich ziehen wird." Er war leicht gereizt, dass ihn diese Frau da so einfach vor anderen Beamten lobte - im Dienst hatte man sich unnötige Gefühlsäußerungen seinen Kollegen gegenüber besser zu verkneifen. "Gibt es Anzeichen für ein Gewaltverbrechen?" "Die Indizien sprechen dagegen", berichtete Arakami. "Auf den ersten Blick hin gab es keine Anzeichen von Gewalteinwirkung auf den Körper des Toten außer derer, die er durch das Trauma des Aufpralls auf den Wagen hier erlitten hat. Die Verletzungen sind typisch für ein Sturzopfer. Er hatte über vierzig Meter freien Fall. Das einzige untypische Detail für so einen Fall war die Tatsache, dass er mit dem Rücken zuerst auf dem Auto aufgeschlagen ist, aber sein Hemd vorne an der Brust aufgerissen war." Toritaka zog interessiert eine Augenbraue hoch. "Wie könnte so etwas zustandegekommen sein?" wollte er wissen. "Wurde er möglicherweise gepackt und heruntergestoßen?" Die Ermittlerin schüttelte den Kopf. "Sehr unwahrscheinlich", sagte sie. "Wenn man einen Menschen dort oben stößt, kippt er vielleicht über das Geländer, aber dann stürzt er direkt gerade an der Hauswand herab. Unsere Leiche lag auf dem Auto, zur Mitte von dem Hof hier hin, wie sie sehen. Er ist wahrscheinlich gesprungen, zumindest würde ich seine Flugkurve so deuten." "Und woher dann das zerrissene Hemd?" "Es war schon lange dunkel", sagte Arakami, "als unser Mann dort oben über das Geländer gestiegen ist, um sich herunterzustürzen. Möglicherweise ist er mit einem Hemdknopf am Geländer hängengeblieben. Wir haben zwar keine Stoffreste gefunden, aber die können leicht weggeweht worden sein. Windig genug ist es da oben." Toritaka dachte einen Moment lang nach. "Konnte der Tote schon identifiziert werden?" wollte er dann wissen. Mit einem Nicken zog seine Kollegin einen kleinen Plastikbeutel aus der Tasche ihres Blazers hervor, in der sich ein Ausweis befand. "Er hatte seine Papiere bei sich", sagte sie. "Masakiri Satoshi, achtundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Jimbocho. Aber er hat anscheinend gerne unter seinen Verhältnissen gelebt - seiner Visitenkarte nach war er Investmentberater im Auftrag der Yoshioka-Bank." "Yoshioka?" Der Inspektor hielt inne. "Nein, sagt mir nichts." "Nicht verwunderlich", nickte Arakami. "Nur ein kleines Bankhaus, allerdings eins mit ausgesuchter Klientel. Sie stellen eigene Aktienfonds nach dem Bedarf ihrer Kundschaft zusammen. Dezernat Sieben hatte sie mal am Wickel, weil sie Geld für einen Oyabun gewaschen haben sollen, aber die Direktion hat den Mitarbeiter, der für die illegalen Geschäfte verantwortlich war, als Einzeltäter dargestellt, und der Mann hat die Geschichte bestätigt." Toritaka kniff die Lippen zusammen. Die Yakuza in Tokyo war traditionell mit einigen kleineren Lichtern der Finanzwelt verbändelt, und die Oyabuns - die lokalen "Bosse" der japanischen Mafia - waren oft genug reiche und hochangesehene Leute mit ganz gewöhnlichem Privatleben, wenn man einmal davon absah, dass sie gefährlichen Verbrechersyndikaten vorstanden. Von den allermeisten Oyabuns war ganz offen bekannt, welchen Rang sie einnahmen, doch niemand machte auch nur den Versuch, sie zu verhaften - warum, das war dem Inspektor ein Rätsel, aber in Dezernat Sieben, die für Organisierte Kriminalität zuständig waren, würden die Beamten sicherlich wissen, was sie taten. Er musste einige Sekunden mit den Gedanken woanders gewesen sein, denn als er wieder aufsah, bemerkte er, dass Inspektor Arakami ihn ziemlich intensiv anblickte. "Ist etwas?" fragte er ein wenig unwirsch. "Ich weiß nicht", gab die Frau mit einem neuerlichen Lächen zurück - warum lächelte sie nur so viel? "Ich dachte, sie hätten vielleicht noch Fragen." "Die habe ich in der Tat", meinte Toritaka, "aber nicht mehr an sie. Ich gehe recht in der Annahme, dass sie empfehlen werden, den Fall in der Zuständigkeit von Dezernat Sechs zu belassen?" Wieder nickte Arakami freundlich. "Völlig korrekt, Toritaka-san. Keine Anzeichen für Fremdeinwirkung, keine Ungereimtheiten, die hinreichend Verdacht auf etwas anderes als einen Suizid lenken würden. Und ob es ein passendes Motiv für einen Suizid gibt, das werden dann wohl sie ermitteln können." Der Inspektor wollte sich schon verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. "Nur um sicherzugehen", sagte er, "einen Abschiedsbrief oder etwas ähnliches haben sie nicht bei Masakiri gefunden, oder?" "Richtig", stimmte die Ermittlerin zu. "Unsere Leiche war nicht mehr sehr mitteilungsbedürftig, wie es scheint. Aber vielleicht entdecken sie ja an seinem Arbeitsplatz oder bei ihm zuhause etwas in dieser Art." "Und gibt es in seiner Umgebung Gegenstände, die offensichtlich fehlen?" wollte Toritaka wissen. "Hat er zum Beispiel eine helle Stelle von einer Armbanduhr, aber nicht die dazugehörige Uhr? Und wo ist sein Auto - das hier ist immerhin ein Parkhaus." Arakami schmunzelte. "Wie ich sagte - sie sind jemand mit einem Auge fürs Detail, Toritaka-san." Leicht irritiert verschränkte der Inspektor die Arme. "Wären sie wohl so freundlich", gab er gezwungen höflich zurück, "solche Freundlichkeiten für nach dem Dienst aufzuheben? Ich möchte..." "Verzeihen sie bitte", entschuldigte sich die Frau sofort mit leichter Verbeugung, "ich wollte ihnen nicht zu nahe treten. Um ihre Fragen zu beantworten: nein, die Spurensicherung hat nichts dergleichen gefunden, und was das Auto angeht, das werden wir noch finden. Masakiri hatte seine Autoschlüssel in der Hosentasche, und ich habe schon eine Anfrage an Dezernat Zwei wegen der Zulassung auf seinen Namen gemacht, damit wir das Nummernschild wissen. Es ist übrigens ein Mercedes." "Danke." Toritaka wollte sich zum Gehen wenden, hielt aber noch ein weiteres Mal inne. "Arakami-san war ihr Name, nicht wahr? Verzeihen sie bitte meine Unhöflichkeiten. Es war gestern eine lange Nacht für mich." Langsam nickte die Frau, und wieder lächelte sie, aber dieses Mal sehr viel zurückhaltender. "Ich weiß", sagte sie, "sie haben den Toten entdeckt. Ich habe ihre Unterschrift auf dem Protokoll gesehen. Es war meine Schuld, sie so lange aufgehalten zu haben." Sie reichte ihm einen verschlossenen Manila-Umschlag. "Hier sind die Privatsachen von Masakiri, die ich bereits untersuchen konnte. Sie werden sie für die Akte brauchen." Der Inspektor nahm den Umschlag an sich. "Gut", sagte er, "dann ist das ja geklärt." Er meinte nicht nur die Akte, aber er führte es nicht weiter aus. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete er sich, dann lief er zurück zu seinem Wagen. Eine kurze Anfrage per Funk in der Zentrale bestätigte ihm, dass das Yoshioka-Bankhaus seinen Sitz im nahen Century Tower hatte. Angesichts der immer noch verstopften Straßen entschied sich der Inspektor kurzerhand dazu, den Block Entfernung zu Fuß zurückzulegen, stieg wieder aus und machte sich auf den Weg. Es vergingen trotzdem mehr als fünfzehn Minuten, bis er ankam, was auch daran lag, dass er zweimal eine der Straßen überqueren musste und die Ampeln hier nicht unbedingt sehr fußgängerfreundlich geschaltet waren. Der Century Tower war bei weitem nicht Tokyos größtes Hochhaus, und er war auch nicht, wie der Name implizierte, zu einer Jahrhundertwende entstanden. Wie viele der Wolkenkratzer in der Stadt war er die Kopie eines anderen Gebäudes, in diesem Fall das eines berühmten Bankenzentrums in Hongkong, und eben dieses "Original" war exakt im Jahr 1900 eingeweiht worden. Es war eine sehr japanische Eigenart, fand der Inspektor, die kulturellen Errungenschaften anderer Länder nachzuahmen und zu verbessern. Das war an der Architektur besonders offensichtlich (der Tokyo-Tower war zum Beispiel eine größere Version des Eiffelturms in Paris), aber auch in der Politik und der Verwaltung konnte man diesen Hang zum Duplikat feststellen: Das Regierungssystem des Landes war englisch, die Organisation der Polizei amerikanisch... und die Korruption in manchen Behörden hätte einer afrikanischen Militärdiktatur Konkurrenz gemacht. Wie es seit einigen Jahren in allen größeren öffentlichen Gebäuden und Geschäftszentren üblich war, gab es auch am Eingang des Century Towers eine Personalkontrolle - der internationale Terrorismus machte sicherlich auch nicht vor einer Insel wie Japan halt - und Toritaka wusste von dem Moment an, als er seinen Polizeiausweis vorzeigte, dass er im Gebäude keine illegalen Aktivitäten mehr würde entdecken können, wenn er danach suchte. Obwohl alle Personalkontrollen von Polizeidezernat 3 durchgeführt wurden, der Sicherungspolizei, waren die Beamten sehr wahrscheinlich von den Anwohnern des Gebäudes dazu "ermuntert" worden, polizeiliche Kontrollen nach oben zu melden, dass man sich auf sie vorbereiten konnte. Trotzdem galt es, den offiziellen Anschein zu wahren. Der Inspektor trat an die Rezeption und zeigte auch dort seinen Polizeiausweis vor. "Toritaka, Dezernat für öffentliche Sicherheit", stellte er sich vor. "Wo finde ich das Yoshioka-Bankhaus?" "Einundzwanzigstes Stockwerk, Inspektor-san", war die Antwort des Rezeptionisten. "Ich schalte ihnen Aufzug vier frei." "Danke." Toritaka nickte dem Mann kurz zu. "Melden sie mich bitte oben an, ich muss den Geschäftsführer oder Personalchef sprechen." Der Satz war reine Formsache; oben würde man schon wissen, dass er kam, aber es war ihm wichtig, niemanden zu verunsichern, indem er nicht sagte, was er wollte. Die Fahrt mit dem Aufzug dauerte erstaunlich lange, obgleich es sicherlich ein Expresslift war. Offensichtlich wollte man sich oben noch angemessen auf seinen Besuch vorbereiten und hatte die Rezeption um etwas Zeit gebeten. Der Inspektor fühlte sich fast geschmeichelt; man hielt ihn anscheinend für so wichtig, dass man ihm besondere Aufmerksamkeit widmen wollte. Vielleicht hatte der Polizist an der Eingangskontrolle aber auch einfach nur eine Bemerkung über den Ruf fallen lassen, den Toritaka in Polizeikreisen genoss. Nun ja, alles zu seiner Zeit. Als er oben aus dem Lift trat, der sich direkt ins Foyer des Yoshioka-Bankhauses öffnete, lief bereits ein junger Mitarbeiter, vielleicht knapp über zwanzig Jahre alt, auf ihn zu. Zu seinem Ärger musste er bemerken, dass der Anzug des Bankers mit Sicherheit mindestens das Fünffache seines eigenen gekostet hatte, und dabei gab er sich eigentlich immer Mühe, zumindest einen angemessenen Eindruck zu machen. Die folgende äußerst tiefe und respektvolle Verbeugung allerdings entschädigte ihn ein wenig dafür. "Guten Tag, Toritaka-dono", begrüßte der Bankmitarbeiter ihn, "mein Name ist Iyekawa, Public Relations." Er zog eine Visitenkarte aus dem Jackett und überreichte sie dem Inspektor mit beiden Händen. "Wie kann ich ihnen helfen?" "Sie können es nicht", sagte Toritaka schroff und nahm die Visitenkarte nicht an. Viele Dinge in Japan gingen schneller, wenn man sich nicht mit unwichtigen Leuten aufhielt. "Ich bat darum, Geschäftsführer oder Personalchef ihres Unternehmens sprechen zu dürfen. Führen sie mich bitte zu einem der beiden." Die überraschend informelle Umgangsweise des Polizisten verunsicherte Iyekawa offensichtlich. "Natürlich", meinte er zögernd, "sofort... wenn ich nur erfahren dürfte, um was es geht...?" Toritaka trat einen Schritt näher an den Banker heran, was diesen noch nervöser werden und etwas zurückweichen ließ. "Ich führe Ermittlungen über einen Angestellten dieses Bankhauses durch", sagte der Inspektor, "und werde diese Untersuchung nicht gefährden, indem ich interne Informationen an unbefugte Personen weitergebe. Würden sie mich jetzt endlich zu Personalchef oder Geschäftsführer bringen oder soll ich beide aufs Dezernat rufen lassen?" Das war ein glatter Bluff - der Superintendent würde das bei einem Selbstmord nie genehmigen - aber die Drohung half fast immer. So auch hier. "Folgen sie mir bitte", haspelte der junge Mann eilig hervor und wandte sich nach einer weiteren Verbeugung ab, um Toritaka den Weg zu zeigen. Natürlich brachte er ihn nur zum Personalchef und nicht zum Geschäftsführer - man kam nie sofort an die höchste mögliche Stelle in einer Hierarchie, wenn es Alternativen gab - aber es hatte weniger als fünf Minuten gedauert, hier hinzugelangen. Der Inspektor war fast stolz auf sich. "Mura-san wird sie persönlich in sein Zimmer führen", sagte Iyekawa, als er den Polizisten durch einen langen Gang zu einem Großraumbüro geführt hatte, wo sicherlich einige hundert Angestellte Platz hatten. Der Inspektor war beeindruckt - so klein schien die Yoshioka-Bank nun doch nicht zu sein. Oder hatte sie einfach keinen kleineren Bürokomplex im Century Tower mieten können? Unwichtig, zumindest vorerst. Der junge Banker wandte sich zum Gehen, und im selben Moment sah Toritaka, wie ein überraschend hochgewachsener Mann Mitte Vierzig, ebenfalls in einem ausgesprochen teuer aussehenden Anzug auf ihn zutrat. Er trug sein Haar in der selben langen Mähne, die der japanische Ministerpräsident Koizumi Junichiro berühmt gemacht hatte - offenbar setzten sich solche Trends auch in diesen Kreisen durch. "Herzlich willkommen, Inspektor Toritaka-san", begrüßte der große Mann seinen Gast, verneigte sich nur leicht in seine Richtung und wartete auf die erwiderte Verbeugung vom Inspektor, ehe er ihm seine Visitenkarte mit beiden Händen reichte. "Ich bin Mura Nobuhide, Personalleiter dieses Bankhauses." "Angenehm", gab Toritaka zurück, zog seine eigene Visitenkarte hervor und nahm die fremde in dem Moment, in dem er seine eigene überreichte. "Mein Name ist Toritaka Shingo, Inspektor vom Dezernat für Öffentliche Sicherheit der Metropolitan Police." Er besah die Visitenkarte des Personalchefs. "Ist das hier handgeschöpftes Papier? Es sieht nach ausgezeichneter Qualität aus." Mura nickte. "Es ist handgeschöpft, aber nichts besonderes - die Visitenkarten von allen hier in der Bank werden in billiger Massenproduktion hergestellt." Er besah die Karte des Inspektors, die selbstverständlich nur aus einfacher dünner Pappe bestand. "Ist das hier ihre Bürotelefonnummer?" wollte er wissen. Auch Toritaka nickte. "Ja, aber sie wird tagsüber auf meinen Funk umgeleitet", erklärte er. "Ich bin dort auch zu erreichen, wenn ich nicht im Dezernat bin." Damit war der Etikette Genüge getan - es war üblich, nach der gegenseitigen Vorstellung noch belanglose Fragen über die Visitenkarten auszutauschen, ein Überbleibsel aus den Tagen, als Männer von Stand noch persönliche Banner hatten und es höflich war, sein Interesse am Gegenüber zu zeigen, indem man nach der Symbolik des Banners fragte. "Können wir uns privat unterhalten?" "Sicher, sicher." Mura verneigte sich nochmals leicht. "Gehen wir in mein Büro." "Ausgezeichnet." Der Inspektor folgte dem Personalleiter, und der führte ihn zu einem Zimmer, das gegenüber dem Großraumbüro leicht erhöht lag und von dem aus man durch ein Fenster auf die Angestellten herabsehen konnte. Passend für einen Mann in seiner Position. Mura bot dem Inspektor einen Sessel an und setzte sich selbst, sobald dieser Platz genommen hatte. "Was kann ich denn nun für sie tun?" wollte er wissen. Mit etwas Mühe versuchte Toritaka sich im reichlich plüschigen Sessel aufrecht zu halten. "Es geht um einen Mitarbeiter ihrer Bank, Masakiri Satoshi", erklärte er. "Sagt ihnen der Name etwas?" "Masakiri? Aber sicher doch." Mura öffnete ein wenig seine Armhaltung. "Er gehört zu unseren Vertrauensleuten - die Kundenberater, denen wir beim Aushandeln der Fondsverträge größtenteils freie Hand lassen. Soll ich ihn rufen lassen?" "Das wird weder nötig noch möglich sein", gab der Inspektor zurück. "Masakiri-san ist tot." Die Augen des Personalleiters weiteten sich in Überraschung, sehr wahrscheinlich echter Überraschung. "Tot?" stieß er hervor. "Meine Güte... wie konnte das passieren? Ein Unfall, nehme ich an?" Toritaka lehnte sich leicht zurück und legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. "Es wäre gelogen", erklärte er, "wenn ich behaupten würde, wir hätten vollständige Klarheit. Es zeichnet sich natürlich ein bestimmtes Bild ab, aber um das zu bestätigen, brauche ich Informationen über Masakiri-sans Person. Darum bin ich hier." "Ich verstehe", nickte Mura, etwas gefasster als eben. "Was wollen sie wissen?" "Zunächst einmal interessiert mich", sagte der Inspektor, "was sie mir über seine Lebensumstände erzählen können. War er ausgesprochen reich, oder hatte er ihres Wissens nach höhere Schulden? Wie sah es denn mit seiner Karriere aus?" Der Personalleiter überlegte einen Moment. "Ich kann doch davon ausgehen", sagte er, "dass im offiziellen Bericht über den Tod keine Interna dieses Bankhauses auftauchen werden, oder?" Ruhig nickte Toritaka. "Nur unmittelbar mit dem Todesfall in Verbindung stehende Details werden erwähnt", erklärte er. "Wenn ihr Bankhaus nicht der unmittelbare Grund für den Tod war, wird es nicht im Bericht stehen. Aber einmal rein theoretisch, wenn jemand getötet worden wäre, weil er kurz davor stand, illegale Machenschaften an seinem Arbeitsplatz an die Öffentlichkeit zu bringen, dann würde so etwas natürlich auftauchen..." "So etwas wäre bei uns natürlich undenkbar", beeilte sich Mura zu sagen, "zumal Masakiri kaum ein Interesse an Problemen für die Yoshioka-Bank haben konnte. Er hat seinen Lebensunterhalt damit verdient, indem er mit unserem guten Ruf Fondsverträge abschloss. Gab es schlechte Nachrichten über die Yoshioka-Bank, schmälerte das direkt seinen Verdienst." "Und wie schmal war sein Verdienst in letzter Zeit?" Toritaka konnte sich nicht verkneifen, den Finger ein wenig in die Wunde zu legen - im Moment machte keine Bank wirklich gute Geschäfte. Die Stichelei kam offensichtlich an; der Personalchef versank noch ein Stück tiefer in seinem Sessel. "Ich habe natürlich keine genauen Zahlen", sagte er leicht errötend, "aber es ist kein Geheimnis, dass wir im Moment... schwierige Zeiten durchmachen. Wenn ich mich recht erinnere, haben in den letzten drei Monaten vier oder fünf von Masakiris Kunden ihre Fonds bei uns aufgelöst - ich hatte vor zwei Wochen ein Gespräch mit ihm deswegen. Er hat mir versprochen, bald neue Kunden zu gewinnen. Soweit ich weiß, hatte er einen Insidertipp aus den Vereinigten Staaten an der Hand und hoffte auf überzeugende Kaufargumente für unseren Pharma-Mischfonds." Interessiert beugte sich der Inspektor näher heran. "Und hat er die neuen Kunden bringen können?" wollte er wissen. "Oh ja", nickte Mura, "sogar gleich acht." "Acht?!" Erstaunt blinzelte Toritaka. "Ich dachte, die Zeiten wären so schwierig?" Der Personalleiter seufzte. "Das lag daran, dass er sehr großzügige Ausstiegsklauseln vereinbart hatte. Er hatte seine eigene Provision als Sicherheit für Verluste innerhalb des ersten Monats hinterlegt und dafür eben für diesen ersten Monat quasi 'auf Probe' die Fonds vermittelt. Verstehen sie... wenn unsere Anleger nach einem Monat sehen, dass der Fond nicht Rendite nach ihren Erwartungen abwirft, können sie bei diesen Verträgen ohne weiteres ihr Kapital zurückziehen." Nachdenklich sah der Inspektor vor sich hin. "Und wie wahrscheinlich ist es", wollte er wissen, "dass das geschieht?" "Leider sehr wahrscheinlich", sagte Mura. "Unser Pharma-Mischfonds ist ein Underperformer. Und wenn der Dow Jones noch weiter so abstürzt, wie er das gestern getan hat, dann wird er sogar Verluste machen. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zu Generika-Medikamenten in den USA verunsichern die Anleger, und es kommen zu wenig Innovationsimpulse von den Wirtschaftsgrößen. Nicht mal mehr Bayer macht von sich reden, und die Deutschen waren früher immer für angenehme Überraschungen gut." "Der Dow Jones ist also gestern abgestürzt?" fragte Toritaka noch einmal nach. "Nur dass ich das richtig verstanden habe." Der Personalchef nickte. "Der tiefste Sturz seit einem Monat, und das am Wochenanfang", bestätigte er.