ATLAN X: Fluchtpunkt Schemmenstern - Frank Borsch - E-Book

ATLAN X: Fluchtpunkt Schemmenstern E-Book

Frank Borsch

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Beschreibung

Rund 5800 Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung: Durch eine unbeabsichtigte Zeitreise hat es den Arkoniden Atlan in die Vergangenheit des Arkon-Imperiums verschlagen. Nachdem er den Bewohnern des Planeten Traversan geholfen hat, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, begibt er sich in einen Tiefschlaf – er möchte kein Zeitparadoxon auslösen. Doch dann wird er geweckt: Seine ehemalige Geliebte Tamarena steckt in großer Not. Auf der Suche nach ihr gelangt Atlan in das System der Sonne Schemmenstern; dort verliert sich die Spur in den orbitalen Städten. Während er im bunten Völkergemisch der Stationen nach Hinweisen forscht, beginnt ein interstellarer Konflikt. Soll Atlan eingreifen, oder löst er damit doch ein Zeitparadoxon aus?   Den ATLAN-Roman "Fluchtpunkt Schemmenstern" verfasste Frank Borsch im Jahr 2001 für die kurzlebige Buchreihe "Moewig fantastic"; er ist eigenständig und führt die Geschehnisse aus der Miniserie ATLAN-Traversan weiter. Mit der E-Book-Edition dieses Romans liegen nun alle "Traversan"-Romane in digitaler Form vor.

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Fluchtpunkt

Schemmenstern

von Frank Borsch

Cover

Rückentext

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kleines Arkon-Glossar

Impressum

Rund 5800 Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung: Durch eine unbeabsichtigte Zeitreise hat es den Arkoniden Atlan in die Vergangenheit des Arkon-Imperiums verschlagen. Nachdem er den Bewohnern des Planeten Traversan geholfen hat, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, begibt er sich in einen Tiefschlaf – er möchte kein Zeitparadoxon auslösen.

Doch dann wird er geweckt: Seine ehemalige Geliebte Tamarena steckt in großer Not. Auf der Suche nach ihr gelangt Atlan in das System der Sonne Schemmenstern; dort verliert sich die Spur in den orbitalen Städten. Während er im bunten Völkergemisch der Stationen nach Hinweisen forscht, beginnt ein interstellarer Konflikt. Soll Atlan eingreifen, oder löst er damit doch ein Zeitparadoxon aus?

Kapitel 1

Es begann mit einem leisen, allgegenwärtigen Brummen, vertraut und fremd zugleich.

Ich versuchte die Augen aufzuschlagen, aber meine Lider gehorchten nicht. Ich versuchte den Arm zu heben, um die störrischen Hautlappen mit den Fingern hochzuziehen, aber der Arm wollte meinen Befehlen nicht folgen. Nein, das war falsch, erkannte ich: Ich spürte den Arm nicht, genauso wenig wie meinen restlichen Körper. Was war mit mir geschehen? War ich ...

Bleib ruhig, Arkonide!

Die Stimme ertönte übergangslos in meinen Gedanken. Die Panik, die gedroht hatte, mich wie eine Welle zu überrollen und davonzutragen, ebbte ebenso schnell ab wie sie gekommen war. Ich kannte diese Stimme. Sie schien mir vertraut wie die eines Bruders. Es war die eines manchmal hämischen und launischen, aber unbedingt verlässlichen Freundes. Ich konnte der Stimme vertrauen.

Das Brummen wurde lauter. Meine nicht vorhandenen Augen mühten sich, die absolute Dunkelheit zu durchdringen. Wo war ich? Und: Wie kam ich hierher? Als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet, stiegen Bilder aus der Tiefe meines Gedächtnisses hervor. Die absolute Dunkelheit verblasste. Plötzlich umringten mich unzählige Sterne und Galaxien, manche nur winzige stecknadelkopfgroße Lichter, andere drängten sich in gleißenden Haufen und Nebeln. Dann sah ich die Scheibe eines Planeten. Eine dichte Wolkendecke verdeckte einen Teil der südlichen Hemisphäre, doch überall sonst schimmerte das lockende Blau lebensspendender Ozeane. Die Nordhalbkugel bedeckte ein mächtiger, unförmiger Kontinent. Funkelnde Lichter markierten seine Küsten. Der Planet war bewohnt – was ich sah, waren die Lichtansammlungen von Städten und Industrieanlagen.

Dann bemerkte ich den Mond. Sein blutrotes Antlitz schien mich mit Blicken zu durchbohren. Der Einschlag mehrerer Meteoriten hatte die Illusion eines gewaltigen Auges erzeugt.

Travs Nachtauge!

Die Stimme meines Freundes klang jetzt ungeduldig. Als wollte er sagen: Verstehst du immer noch nicht?

Nein, ich verstand nicht. Ich ließ den Namen auf meiner nicht vorhandenen Zunge – mein Geist konnte sich offenbar nicht von körperlichen Analogien freimachen – zergehen: Travs Nachtauge. Ich hatte den Namen schon einmal gehört, dessen war ich mir sicher. Aber was hatte er zu bedeuten? Und wieso stiegen diese Bilder in mir auf? Was hatten sie mit mir zu tun?

Im selben Moment bemerkte ich die Raumschiffe. Es mochten 200, 300 Kugelraumer sein, die aus dem Nichts heraus materialisiert waren und nun dem Planeten und seinem Trabanten entgegenjagten. Ich brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen, was geschah. Ein Angriff! Andere schienen eine ähnlich schnelle Auffassungsgabe zu besitzen. Überall auf dem Mond öffneten sich verborgene Hangarschleusen. Dutzende von Kugelraumern stiegen auf viele Kilometer langen Feuerschweifen in das Vakuum und warfen sich den Angreifern entgegen.

Verstehst du jetzt endlich?, erkundigte sich die Stimme meines immateriellen Begleiters ungläubig.

Das Zittern, das mich geweckt hatte, steigerte sich zu einem durchdringenden Vibrieren.

Nein!, antwortete ich fast schreiend. Im Laufe der Jahrtausende hatte ich viele Raumschlachten verfolgt, zu viele.

Na gut, du hast es so gewollt.

Die ersten Raumer vergingen in lautlosen Explosionen. Irrlichternde Sonnen traten an die Stelle des Sternenmeers, blähten sich auf, blendeten mich. Absolutes Weiß überflutete meine Sinne.

Als die blendende Helligkeit verblasste, fand ich mich auf einem Planeten wieder. Ein stetiges Donnern lag in der Luft, unterbrochen nur von unregelmäßigen, markerschütternden Explosionen. Dies musste der Planet des Trabanten sein. Trav... Trav... Traversan! Mir schien, als wäre der Name ein Schlüssel. Der Schlüssel zur rettenden Erkenntnis.

Und ich spürte meinen Körper! Schweiß rann über meine Stirn, stach in meinen Augen. Mein Atem ging keuchend und stoßweise. Meine Arme, deren Finger sich um den Griff eines Dagor-Schwertes verkrampften, waren schwer und schmerzten.

Mir gegenüber tänzelte ein ganz in schwarzes Leder gekleideter, sehniger Arkonide. Sein Dagor-Schwert schnitt mit spielerischer Leichtigkeit durch den dünnen Rauch, der sich über das Land gelegt hatte. Trokk!, durchfuhr es mich. Der Dagor-Meister, der dich während der Schlacht um Traversan zum Duell gefordert hat! Meine Erinnerung kehrte jetzt in Schüben zurück. Dennoch spürte ich, dass der entscheidende Teil noch fehlte. Ich wusste, dass ich Trokk besiegen würde. Traversan würde den Angriff der Flotte des rachsüchtigen Leuhar da Merrits überstehen, wenn auch nur mit knapper Not. Aber da war noch etwas gewesen. Etwas, das ...

Dann sah ich sie. Sie war nur ein Schemen am äußerten Rand meines Sichtfelds, aber das genügte. Wie hatte ich sie nur vergessen können? Ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt war unverkennbar. Sie hatte diese besondere Art, Stolz auszustrahlen ohne dabei überheblich zu wirken – eine rare Eigenschaft in der von Standesdünkel bestimmten Gesellschaft des Tai Ark'Tussan, des Großen Imperiums der Arkoniden. Doch jetzt wirkte sie verkrampft, angespannt. Ihre vollen Lippen hatten sich in dünne, blutleere Striche verwandelt. Sie hatte Angst um mich.

Und ich um sie. Unvermittelt wusste ich, was gleich geschehen würde. Ich versuchte auszubrechen, zur Seite zu springen und sie mit mir zu Boden zu reißen, sie außer Reichweite von Trokks grünlich schimmerndem Dagor-Schwert zu bringen. Meine Beine reagierten nicht. Tamarena! Meine Gedankenstimme überschlug sich. Bitte, tu es nicht!

Sie hörte mich nicht.

Dann geschah alles wie in Zeitlupe: Trokks konzentrierte Züge verzerrten sich, wichen einer Maske der Überraschung. Der Dagor-Meister war ein Mann, dem Ehre mehr als nur ein Wort war. Verzweifelt mühte er sich, den Hieb zu stoppen oder zumindest seine Richtung zu ändern. Vergeblich. Die herabsausende Waffe traf den Kopf der zu meiner Hilfe herbeieilenden Tamarena – und nur der Tatsache, dass es Trokk gelungen war, das Desintegratorfeld des Schwertes einen Sekundenbruchteil vor dem Aufprall zu deaktivieren, verdankte sie, dass sie nicht an Ort und Stelle starb.

»Tamarena!« Wieder schrie ich auf. »Bei allen Sternengöttern, nein! Bitte nicht.«

»Es tut mir leid, Altao. Sie ist nicht hier.«

Diese Stimme! Das war nicht das Gedankenflüstern meines Bruders. Nein, es war die Stimme einer Frau. Und ich hatte sie gehört, nicht nur in Gedanken vernommen. Plötzlich nahmen meine Sinne noch mehr wahr: Das Brummen von an ihren Kapazitätsgrenzen arbeitenden Aggregaten, den Stich einer Injektionsnadel in meinem Unterarm, die wohlige Wärme, die mich umgab. In der abgestandenen Luft vermischte sich der stechende Geruch von Urin mit dem verschiedener Desinfektions- und Reinigungsmittel. Und da war noch etwas: ein frisches Blütenaroma, köstlich unaufdringlich und von unentrinnbarer Präsenz zugleich. Ich kannte diesen Duft. Nur, woher?

Ich schlug die Augen auf.

Im schwachen Schein indirekter Leuchtkörper saß eine Frau. Sie lächelte. »Altao ... Atlan! Oh, du weißt nicht, wie gut es tut, dich wiederzusehen!«

Ich starrte die Frau verständnislos an. Sie war eine Arkonidin – ob reinrassig oder von einem Kolonialplaneten konnte ich in dem Dämmerlicht nicht erkennen – und musste um die Achtzig oder Fünfundachtzig sein. Eine alte Frau nach arkonidischen Maßstäben, aber noch längst keine Greisin. Sie trug einen einfachen, mit geometrischen Mustern bedruckten Umhang aus Kunstfaser, der ihre erhebliche Leibesfülle nur unzureichend kaschierte. Ihr langes, sprödes Haar wurde von einigen Haarklammern nur leidlich gebändigt. Dicke Tränensäcke drohten beinahe die unnatürlich geröteten Wangen zu berühren.

Wahrscheinlich Alkoholmissbrauch, vermeldete mein Gedankenbruder kühl. Jetzt, wieder zu Sinnen gekommen, erkannte ich ihn als meinen Extrasinn, eine durch fünfdimensionale Bestrahlung aktivierte Region meines Gehirns, die zu einem bisweilen unangenehmen Eigenleben neigte.

»Du ... du erkennst mich nicht?« Das Lächeln der Frau verschwand. »Hast du denn schon vergessen?« Die Frage klang fast wie eine Anklage.

Streng dich an!, ermahnte ich mich. Wozu hast du ein fotografisches Gedächtnis? Forschend musterte ich die Frau. Ich lächelte höflich. Wer immer sie sein mochte, ich war gut beraten, sie nicht gegen mich aufzubringen. Meine Muskeln schienen geschmolzen zu sein. Was von ihnen übrig war, schmerzte pochend. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es mir, den Kopf einige Zentimeter anzuheben. Nach wenigen Augenblicken sackte er wieder auf das Kissen. Ich war dieser Frau ausgeliefert.

»Gib mir einen Augenblick Zeit, ich bin noch etwas verwirrt«, bat ich.

Ich blickte mich um. Ich lag auf einer Konturliege in einer niedrigen Kammer. Die Wände waren aus stumpfem, unpoliertem Arkonstahl. Neben einem Medorobot, der lautlos auf einem Antigravfeld schwebte, war der einfache Plastikstuhl, auf dem die unbekannte Arkonidin saß, der einzige Einrichtungsgegenstand. Wieder kehrte ein Teil meiner Erinnerung zurück. Zweifellos, dies hier war dieselbe Kammer, in der ich mich in einen künstlichen Tiefschlaf hatte versetzen lassen – ein Akt der bloßen Verzweiflung, um nach der Vernichtung der Zeitstation der Meister der Insel in meine Gegenwart zurückzugelangen. Doch das hier konnte sie nicht sein, das sagte mir mein Instinkt. Aber in welcher Zeit war ich dann gestrandet? War mein Vorhaben gescheitert? Befand ich mich immer noch im Jahr 12.402 da Ark, beinahe 5800 Jahre vor Beginn der terranischen Zeitrechnung?

Mein Blick heftete sich wieder auf die Frau vor mir. Sie rutschte nervös hin und her und schien den Tränen nahe, ob aus Erregung oder Trauer, darüber wagte ich keine Vermutung.

Sie hat dich Atlan genannt, schaltete sich der Extrasinn ein. Dieser Name war nur wenigen vertraut; sie kann nicht durch Zufall auf die Station gestoßen sein.

Eine kluge Beobachtung – und darüber hinaus der Beweis dafür, dass ich nicht lange geschlafen haben konnte, sollte ich die Frau wirklich kennen. Höchstens ein paar Jahrzehnte, ein Nichts für einen Unsterblichen, der sich eigentlich niedergelegt hatte, um mehr als zehn Jahrtausende zu überbrücken.

»Du warst Mitglied in einem der Sonderkommandos, die Traversan vor Pyrius Bit retteten«, sagte ich in Anspielung auf den Sonnenkur des Großen Imperiums, der sich die Vernichtung Traversans auf die Fahnen geschrieben hatte. Mein Einwurf war ein Schuss ins Blaue, wie es meine terranischen Freunde genannt hätten, ein Bluff. Aber ein erfolgreicher.

»Ich wusste, du würdest dich erinnern, Atlan!« Die Frau schien sich zu straffen. »Ich Dummkopf hätte damit rechnen sollen; der Tiefschlaf setzt dem Körper hart zu, das weiß jedes Kind. Du musstest erst zu dir kommen. Aber jetzt bist du wieder klar, nicht? Wie könntest du auch deine treue Gefährtin vergessen, die an deiner Seite den Tato der Orbitalen Städte ...«

Die Orbitalen Städte! Die Erwähnung des Namens zerriss die letzten Schleier der Verwirrung, die sich über mein Bewusstsein gelegt hatten.

»Riaal! Du bist es!«, rief ich. »Du trägst dasselbe Parfum wie an dem Tag, als wir diese große Schau auf TAI MEREN NOAS veranstalteten, nicht wahr?«

Riaal nickte so heftig, dass ihre Tränensäcke gegen die Backen klatschten.

Damals war sie eine üppig gebaute, herbe Schönheit gewesen. Ich war – getarnt als der neureiche Adlige Altao Ta-Camlo – mit allem Pomp auf TAI MEREN NOAS, der Großraumstation Eins und Hauptstadt des Schemmenstern-Systems eingezogen, um den örtlichen Gouverneur, den sogenannten Tato, zu beeindrucken. Wie es meinem vorgeblichen Stand gebührte, hatte sich in meinem umfangreichen Tross auch eine Mätresse befunden. Und diese Rolle hatte die Wirtschaftsexpertin Riaal mit atemberaubender Perfektion gespielt – dieselbe Riaal, von der ich mich, subjektiv gesehen, erst vor Stunden verabschiedet hatte, und die jetzt von den Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert vor mir saß. Wie viele Jahrzehnte mochten vergangen sein? Drei? Oder vielleicht sogar vier?

»Riaal, bitte verzeih mir, du siehst so ... so ... anders aus«, stotterte ich unbeholfen.

Der Blick der Arkonidin war stechend. »Du nicht, Atlan. Du scheinst keinen Tag gealtert. Dann ist es also wahr. Ich wollte es nicht glauben, aber du bist tatsächlich unsterblich.« Tränen traten aus ihren Augen.

Ich nickte vorsichtig. War das der Grund, wieso sie mich geweckt hatte? Aus Neid auf meine Unsterblichkeit, in der verrückten Hoffnung, dass ich auch ihren Alterungsprozess anhalten oder vielleicht sogar wieder rückgängig machen konnte?

Einige Sekunden lang schwiegen wir bedrückt, dann flüsterte ich: »Riaal, sag mir, wie lange habe ich geschlafen?«

»21 Arkon-Jahre.«

»Das ist unmöglich!« Ich bereute meine Worte noch im selben Moment. Riaal, erinnerte ich mich, war damals 46 Jahre alt gewesen, jetzt wirkte sie wie Achtzig oder Neunzig.

Narr!, zischte der Extrasinn. Gerade du solltest doch wissen, wie hart das Leben einem zusetzen kann.

»Ich meine«, korrigierte ich mich hastig, »es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Jahrzehnte verstrichen sind. Mir scheint, dass ich mich gerade erst vor Stunden schlafen gelegt habe.«

»Sieh mich doch an.« Die Arkonidin deutete verächtlich auf ihren aufgedunsenen Körper. »Könntest du dir einen besseren Beweis vorstellen?«

Ich verzichtete darauf, auf ihre Bemerkung einzugehen. Stattdessen drehte ich mich langsam zur Seite und stützte den Kopf mit dem Ellbogen ab. Die rasenden Schmerzen, mit denen meine Muskeln die Bewegung quittierten, ignorierte ich. Es war Zeit, endlich die entscheidende Frage zu stellen.

»Riaal«, setzte ich an. Ich sah ihr direkt in die Augen; sie erwiderte meinen Blick. »Riaal, wieso hast du mich geweckt?«

»Wegen Tamarena.« Nur ein kaum wahrnehmbares Zittern in ihrer Stimme verriet ihre Aufregung.

»Tamarena?« Meine Gedanken überschlugen sich. Meine geliebte Rena! Die Tochter des Nert Kuriols, des Herrschers von Traversan, die mir hier, in dieser Zeit über zehntausend Jahre vor meiner eigenen Gegenwart, zur Gefährtin geworden war! Die bereit gewesen war, ihr Leben für das meine zu opfern.

»Was ist mit ihr?«, krächzte ich. »Ist sie ... gestorben?«

»Nein.« Riaal schüttelte den Kopf. »Sie ist aus dem Koma erwacht.«

Kapitel 2

Das schrille Kreischen der Warnsirenen hallte bereits durch den Hangar, als Lathir durch den schmalen Spalt der sich schließenden Schleusentore hetzte. Der junge Unither machte kurz halt und sah sich um – da sein halbkugelförmiger Kopf direkt auf der Schulterpartie aufsetzte, war dies ein Manöver, bei dem er den gesamten Oberkörper drehen musste.

Da! Dort drüben, halb verdeckt von der wuchtigen Walze eines Springerraumers, reckte sich die schnittige Silhouette der Fähre gegen die von den Steuerdüsen zahlloser Raumschiffe geschwärzte Hangardecke. Lathir ignorierte das Protestgeschrei eines in einen klobigen Raumanzug gehüllten Dockarbeiters – ein ungewöhnlicher Akt für den stets beflissen höflichen Unither – und setzte zu einem letzten Sprint an. Er musste diese Fähre erreichen! Zwar würde zwei Tontas später ein weiteres Shuttle sein Zuhause, TAI MEREN NOAS oder – im Sprachgebrauch der Unither – YARUZAS LETZTE HOFFNUNG verlassen, aber dann würde er zu spät kommen. Und Lathir spürte, hoffte, dass dies nicht sein Hradith war.

Schwer atmend erreichte Lathir die Fähre. Sein Rüssel fand den Notöffnungsschalter der Luke. Der geschmeidige Muskelstrang, zugleich Greiforgan und Sitz der Luftröhre, war für gewöhnlich der Stolz eines jeden Unithers. Viele Stunden täglich verbrachten die stämmigen Wesen mit seiner Pflege. Doch für Lathir war der Rüssel eine stetige Quelle der Scham. Sein Rüssel war zwar ebenso kräftig wie der seiner Altersgenossen, maß aber nur 50 Zentimeter, gerade einmal die Hälfte der Norm, und machte den jungen Unither zur Zielscheibe des Spotts. Lathir dachte oft daran, dass er es nur der schützenden Hand Khalankas, der Herdenältesten, zu verdanken hatte, dass der Spott gutmütig blieb.

Mit einem kurzen Tasten der linken Hand gegen seine Jacke versicherte sich der Unither, dass der Schwingquarz noch an Ort und Stelle war. Dann wirbelte er kurz herum, winkte dem immer noch fluchenden Dockarbeiter entschuldigend zu und sprang in die Öffnung, die sich zwischenzeitlich in der Außenseite der Fähre aufgetan hatte.

Hinter ihm schloss sich die Luke wieder, undurchdringliche Schwärze senkte sich über die Schleusenkammer. Mit pochendem Herzen reckte er den linken Arm in die Höhe; den Arm, in dessen Muskel ein kaum staubkorngroßer Chip implantiert war. Lathir wusste, dass die Geste nüchtern betrachtet sinnlos war. Die Sensoren der Schleusenkammer konnten den Chip selbst durch einen dicken Schutzanzug hindurch auslesen. Aber die Angst, dass sein Vorhaben jetzt, so kurz vor seiner Vollendung, scheitern könnte, trieb den jungen Unither zu irrationaler Vorsicht.

Ein Spalt blendenden Lichts zeigte an, dass Lathir sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Mit einem zufriedenem Brummen betrat er die Passagierkabine – und starrte in die missmutigen Mienen von etwa vier Dutzend Reisenden. Einen kurzen Augenblick erstarrte Lathir, dann senkte er den Rüssel in einer Bedauern anzeigenden Geste und stapfte unablässig Entschuldigungen murmelnd an seinen Platz.

Seine Mitpassagiere stellten einen ungefähren Querschnitt der Bevölkerung der Orbitalen Städte dar: In den ersten Reihen drängten sich ein Dutzend Naats, ihrer derben Sprache nach zu urteilen einfache Bergmänner, die in einer der Minen der vielen Monde des Schemmenstern-Systems nach wertvollen fünfdimensionalen Schwingquarzen schürften. Hinter ihnen, in einem sorgfältig gewählten Abstand von zwei Sitzreihen, folgte die Mittelschicht der Orbitalen Städte. Es waren Männer und Frauen wie diese Renoner, Zaliter, Ekhoniden und andere Kolonialarkoniden, die das System der 268 Orbitalen Städte am Laufen hielten. Aus ihren Reihen rekrutierten Verwaltung, Garde und Schürfunternehmen der riesigen Raumstationen die zuverlässigen Arbeitskräfte, denen der Aufstieg des Schemmenstern-Systems zu einer der wohlhabendsten Regionen des Tai Ark'Tussan zu verdanken war. Wiederum zwei Sitzreihen von ihnen getrennt begann die Sektion der Nicht-Humanoiden. Drei oder vier von ihnen wurden von undurchsichtigen Schirmfeldern verborgen, die übrigen – Lathir identifizierte unter anderem mit fachmännischem Blick einen sechsgliedrigen Fantan – saßen, standen oder lagen auf den Kontursesseln, die sich automatisch ihrer jeweiligen Körperform anpassten.

Wie immer, wenn er mit einer Fähre flog, warf Lathir den Nicht-Arkoniden wehmütige Blicke zu. Alles in ihm drängte danach, sich zu ihnen zu setzen, sie über ihre Heimatplaneten zu befragen, zu erfahren, was sie in die Orbitalen Städte gezogen hatte. Er wollte wissen, wie sie das Universum sahen. Aber das war unmöglich, die Gesellschaft des Tai Ark'Tussan hatte sehr genaue Vorstellungen davon, welcher Umgang von Intelligenzen sich gehörte und welcher nicht. Die Arkoniden als herrschende Rasse des Imperiums ließen sich nicht mit Nicht-Humanoiden ein. Viele Kolonialarkoniden wiederum kompensierten ihren Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem reinrassigen Herrschervolk mit demonstrativer Herablassung gegenüber all jenen, die körperlich noch weiter vom Ideal abwichen.

»Entschuldigt bitte vielmals die Störung, Zhdopanda. Ist hier noch frei?« Lathir deutete auf einen Kontursessel in der Gangmitte.

Der Mann auf dem Nebensitz, ein schlanker Kolonialarkonide mittleren Alters, blickte von seinem Trivideowürfel auf. Er musterte den jungen Unither mit gerunzelter Stirn. Sein Blick sprach Bände. Was für ein schräger Vogel bist du, mich miteinem Adelstitel anzusprechen? Willst du mich verspotten oder weißt du es nicht besser? Nach einigen Augenblicken schien der Mann sich für letzteres zu entscheiden, denn er murmelte ein paar Worte, die Lathir als Wenn es unbedingt sein muss!, interpretierte, und widmete sich wieder seinem Würfel. Lathir setzte sich. Er hatte die Reaktion des Mannes vorausgeahnt. Als Unither fiel er durch alle Raster: Dank zweier Beine, zweier Arme und einem Augenpaar wäre seinesgleichen ohne Schwierigkeiten als humanoid durchgegangen – wenn da nicht der geschmeidige Rüssel gewesen wäre, der den Angehörigen seiner Rasse zu eigen war. Irgendwie, so das diffuse Gefühl der Arkoniden, gehörten die Unither zu ihnen. Doch gleichzeitig genügte ein Blick in das von ledriger, gelblich brauner Haut bedeckte Gesicht eines Unithers, um mit letzter Sicherheit zu urteilen, dass er ein Fremdkörper in der Gemeinschaft der Arkoniden und ihrer Abkömmlinge war. Diese Zwiespältigkeit erzeugte paradoxe Resultate: So verbot es die Konvention dem neugierigen Lathir, sich zu den Nicht-Humanoiden zu gesellen, während viele Humanoide, zu denen er angeblich gehörte, ihn wie einen Aussätzigen behandelten.

Inzwischen hatte die Fähre den Hangar hinter sich gelassen.

Lathir verscheuchte die trüben Gedanken und blickte durch das großflächige Fenster aus Panzertroplon. Er musste in den 19 Arkon-Jahren, die seit seiner Geburt auf YARUZAS LETZTER HOFFNUNG vergangen waren, bereits Hunderte von Flügen zwischen den einzelnen Raumstationen absolviert haben, anfangs in Begleitung von Khalanka, die immer wieder zu Besuchen bei den 14 anderen Herden, die über die Orbitalen Städte verstreut lebten, aufbrach, in jüngster Zeit zum Befremden seiner geselligen Artgenossen alleine, von Abenteuerlust und Neugierde getrieben. Doch noch immer drohte ihm der Blick ins All den Atem zu rauben. Jede der 268 Orbitalen Städte war unverwechselbar, ein Konglomerat aus den unterschiedlichsten Stilen, Formen und Materialien. Doch den Kern jeder Stadt bildeten Raumschiffwracks – traurige Überreste des jahrzehntelangen, blutigen Ringens zwischen Methans und Arkoniden um das rohstoffreiche System des Schemmensterns. Aber seit den letzten Kämpfen waren Jahrhunderte vergangen, und der einstmals winzige Schürfposten des Imperiums war zu einem Drehkreuz des Handels geworden. Der Wohlstand hatte seine Spuren in Form von gewaltigen Anbauten hinterlassen, die vielerorts die ursprünglichen Orbitalen Städte, die eher die Bezeichnung Raumstationen verdient gehabt hätten, komplett einschlossen. Überall, so schien es Lathir, reckten sich die stolzen Kelchbauten der reichen Händler und Prospektoren ins All.

Und wir sind es, denen sie ihren Reichtum verdanken! Die bittere Feststellung schob sich gegen seinen Willen in Lathirs Gedanken. Er schob sie weg, unterstützt von dem wohlwollenden Schwingen des Quarzes in seiner Jackentasche. Bald, schien es ihn zu trösten. Bald bist du frei.

Ein leises Zischen kündigte eine Kurskorrektur an. Die positronisch gesteuerte Fähre drehte ab und nahm Kurs auf ihr nächstes Ziel, PARUNKAS UNGLÜCK, die Orbitalstadt 112. Eine gewaltige, gelbbraune Scheibe schob sich in Lathirs Sichtfeld und nahm schließlich die gesamte Fläche des Fensters ein. Es war Schemmen, der einzige Planet des Systems. Ein über 183.000 Kilometer durchmessender Gasriese mit einer von ewigen Stürmen gepeitschten Atmosphäre aus Wasserstoff, Methan und Ammoniak – der Vorhof der Hölle für die Arkoniden, ein Paradies für die Methans. Lathir hatte im Intranet der Städte von den Heldentaten der tapferen arkonidischen Flotte gelesen. Aber er verstand immer noch nicht, wieso man überhaupt um das System des Schemmensterns gekämpft hatte. Die Interessen der beiden Seiten hätten nicht unterschiedlicher sein können: Den Arkoniden war es um die 23 Monde des Gasriesen gegangen; dort fanden sie die fünfdimensionalen Schwingquarze, auf die ihre hochentwickelte Technik angewiesen war. Die Methans dagegen hatten eine neue Heimat gesucht. Einen Ort, der ihrem über alle Maßen fruchtbaren Volk – wenigstens für kurze Zeit – Entlastung bringen konnte. Man hätte sich mühelos arrangieren können, glaubte Lathir. Mit einem Quäntchen guten Willens ...

Der Zwischenstopp auf PARUNKAS UNGLÜCK schien quälend lange. Lathir rutschte unruhig hin und her. Der Kontursessel war für Arkoniden und ihre Abkömmlinge entworfen, nicht für das entschieden anders geformte Gesäß eines Unithers. Immer öfters hob der Kolonialarkonide neben ihm den Kopf und strafte ihn mit missbilligenden Blicken.

Schließlich legte die Fähre wieder ab und machte sich auf den Weg nach dem GARTEN ERFORS, einer der schönsten unter den Stationen. Die dortige zalitische Bevölkerungsmehrheit hatte das Gewirr aus Stahl und Glassit in einen blühenden Garten verwandelt – mit demselben, bereits sprichwörtlichen Eifer, der sie zu den besten und treuesten Verbündeten des Tai Ark'Tussan gemacht hatte. An einem anderen Tag hätte Lathir es sich nicht nehmen lassen, dort haltzumachen und auf Erfors Spuren zu wandeln. Der Anblick von Grün besaß für ihn, der noch nie einen Planeten betreten hatte, eine geradezu magische Anziehungskraft. Aber nicht heute; heute musste er weiter. Das wichtigste Treffen seinen jungen Lebens wartete auf ihn.

Dann – sechs Tontas und vier weitere Zwischenstopps später – legte die Fähre endlich an Orbitalstadt 78 an; TARIKS ZUFLUCHT, wie sie die Unither nannten. Lathir trat in die hektische Empfangshalle. Sein Puls machte einen Satz; er blieb nach wenigen Metern stehen, unfähig, auch nur einen kleinen Schritt zu machen. Alle Augen, so schien es ihm, waren auf ihn gerichtet. Unwillkürlich strich er mit der Spitze seines Rüssels über die Hörstreifen am Kopfansatz – eine beruhigende Geste, die selten ihre Wirkung verfehlte. Sein Puls normalisierte sich wieder. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und überblickte die weitläufige Halle. An den Ausgängen standen jeweils zwei Rupiaki, Angehörige der persönlichen Garde des Tato Rupiaks, des Gouverneur des Schemmenstern-Systems. Doch die Männer und Frauen in den olivgrünen Uniformen schenkten ihm keine Beachtung, sie scherzten miteinander und schienen vor allem anderen das Ende ihrer Schicht im Auge zu haben.

Erleichtert setzte sich Lathir wieder in Bewegung. Von dieser Seite drohte ihm keine Gefahr. Blieb noch das Risiko, von Artgenossen entdeckt zu werden. Eigentlich war dies eine zu vernachlässigende Größe – von den über 50 Millionen Bewohnern der Orbitalen Städte waren keine 500 Unither –, aber Lathir wusste, dass sein Plan gescheitert wäre, sollte er einer Gruppe seiner Artgenossen in die Arme laufen. Für die geselligen Unither war die bloße Vorstellung, sich alleine in der Öffentlichkeit zu bewegen, ein absurder Gedanke. Einer der ihren, der sich dennoch absonderte, musste krank sein und bedurfte sofortiger Behandlung. Vielleicht bin ich das ja wirklich, dachte Lathir, ein Kranker. Vielleicht sollte ich umkehren, solange ich noch kann.

Der Unither schüttelte die Zweifel ab. Nein, er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war. Dies hier war sein Hradith. Er durfte jetzt nicht aufgeben.

Wenige Minuten später saß Lathir im hinteren Teil des STERNENTAUS, einem auf die Wünsche einer gemischtrassigen Kundschaft ausgerichteten Restaurant in der Nähe des Fährterminals. Nervös starrte er auf das in die Tischplatte eingelassene Display eines Chronometers. Er war zu früh. Noch eine halbe Tonta, dann ...

»Lathir?«

Der Kopf des Unithers ruckte hoch. Vor ihm stand ein Arkonide mittleren Alters in einem einfarbigem, leichten Overall. Lathir hätte ihn, wäre er ihm zufällig in den Gängen einer Orbitalstadt begegnet, mit keiner besonderen Aufmerksamkeit bedacht.

Ohne eine Antwort abzuwarten setzte sich der Mann. Auf seinen Knopfdruck hin legte sich ein licht- und schallundurchlässiger Energieschirm über den Tisch.

»Oh, wie gut, dass Ihr hier seid«, sprudelte es aus dem Unither hervor. Sein Rüssel pendelte aufgeregt von links nach rechts und wieder zurück; er erinnerte sich an die endlosen Ermahnungen Khalankas, stets höflich zu sein. Eigentlich war er ihrer längst überdrüssig, aber in diesem Augenblick war er froh, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. »Ich versichere Euch, dass ich die Ehre zu schätzen ...«

»Ich habe gehört, ihr habt Namen für die Orbitalen Städte, nicht Nummern«, unterbrach ihn der Mann. »Ist das wahr?«

»Ja«, antwortete der Unither verwirrt. Worauf wollte der Mann hinaus?

»Und wie nennt ihr diese Stadt?«

»DIE ZUFLUCHT TARIKS.«

»Ein schöner Name ... und wie passend für den Anlass.«

Lathir musterte den Mann vor ihm ratlos. Obwohl der Unither unter Arkoniden und ihren Abkömmlingen aufgewachsen war, war es ihm oft unmöglich, ihre Gesten und Äußerungen zu deuten. Was ging hier vor? Sie waren zusammengekommen, um über ein Geschäft zu sprechen. Wieso also tat der Mann es nicht? Lathir beschloss, weiter auf Höflichkeit zu setzen.

»Oh, dessen bin ich mir sicher, Zhdopanda.« Der Unither diente sich seinem Gegenüber bewusst mit der eigentlich für Hochedle reservierten Anrede an. »Mein verehrter Vorfahr fand in dieser Stadt, was er suchte: Schutz vor seinen Feinden außerhalb wie innerhalb der Herde. Ich bin zuversichtlich, Ihr könnt mir geben, wonach ich suche.«

Der Arkonide lächelte und beugte sich über den Tisch. Im Ausschnitt des Overalls sah Lathir eine Tätowierung, halb Schlange, halb Drache. Das Zeichen der Sentenza, des organisierten Verbrechens.

»Und was könnte das sein, Unither?«, flüsterte er. »Rauschgift? Die Beseitigung eines Rivalen? Oder geht es dir um irgendein eigenartiges religiöses Ritual?«

»Nein, viel einfacher. Ich will hier weg.«

Zum ersten Mal schien der Arkonide überrascht. »Was meinst du damit ... weg? Willst du auf einen der Monde? Oder musst du eine Zeitlang untertauchen? Oder ...«

»Nein.« Lathir wunderte sich über die eigene Kühnheit. Wie konnte er es wagen, diesem Mann das Wort abzuschneiden? Er war seine einzige Chance. »Ich will zu den Sternen. Ich will die Wunder des Universums sehen.«

Einen Augenblick lang starrte der Arkonide ihn schweigend an. Dann warf er den Kopf zurück und lachte schallend. »Du willst zu den Sternen! Ein Unither! Bei den Göttern Arkons, einen solchen Unsinn habe ich lange nicht mehr gehört! Ihr steckt doch enger zusammen als eine Rotte zalitischer Nager. Was willst du dort, ganz alleine?«

»Diese Sorge könnt Ihr getrost mir überlassen«, versetzte Lathir trotzig. »Helft Ihr mir oder nicht?«

»Hör auf mich«, ignorierte der Arkonide seine Frage. Er schien plötzlich sehr ernst. »Da draußen ist kein Ort für dich. Die Sterne sind grausam – glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Das ist nichts für einen Jungen wie dich. Bleib, wo du hingehörst.«

Lathirs armdicker Rüssel knallte auf die Tischplatte. Der Aufprall ließ das Getränk des Arkoniden in die Höhe fliegen. Geistesgegenwärtig fing er das geschwungene Glas noch im Flug auf. Woher weiß er mein Alter?, durchzuckte es den Unither. Und wieso kommt er mir mit denselben Sprüchen wie der Rest meiner Herde?

»Ich frage dich noch einmal«, Lathir ließ, ohne es zu merken, die höfliche Anrede fallen. »Helft Ihr mir oder nicht?«

»Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Seit Tato Rupiaks verfluchter Wandlung zum größten Wohltäter des Imperiums sind die Kontrollen strenger geworden. Und seine Leute sind fast unbestechlich.«

»Fast oder völlig unbestechlich?«

»Fast«, räumte der Arkonide ein. »Aber die wenigen Kontakte, die wir noch haben, verlangen inzwischen ein Vermögen für ihre Dienste. Und das ist noch nicht alles. Auch ihr Unither werdet mitbekommen haben, wie angespannt die Lage ist. Reomir X. missfällt die liberale Haltung des Tatos zusehends. Viele glauben, dass sich der Imperator nicht mehr lange von einem mickrigen Gouverneur auf der Nase herumtanzen lässt. Immer mehr Leute setzen sich ab. Der Preis für eine Passage nach Arkon hat sich in den letzten Wochen vervielfacht.«

»Also ist es möglich, nicht?«

Der Arkonide warf die Hände hoch. »Ja, das ist es.«

»Wunderbar, wo ist also das ...«

»Ich war noch nicht fertig. Es ist möglich, aber nicht für einen Unither.«

Lathirs Oberkörper sackte nach vorne. Auch wenn er den Gedanken in den letzten Tagen mit aller Gewalt beiseite geschoben hatte, er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde.

»Ihr seid der Reichtum der Orbitalen Städte«, fuhr der Arkonide fort. »Niemand im Imperium versteht sich so gut auf die Bearbeitung der fünfdimensionalen Quarze. Würdet ihr von hier verschwinden, was bliebe dann noch? Ein paar Minen, ein Heer tumber Naats und verlassene Städte. Tato Rupiak wäre ein kompletter Narr, ließe er deinesgleichen ziehen.« Der Arkonide seufzte. »Und du wärst ebenso ein Narr. Dein Zuhause ist hier. Wie lange, glaubst du, könntest du deine Freiheit genießen, bevor dich irgendjemand an die Kette legte und für sich schuften ließe?«

Lathirs Rüssel verschwand in der Tasche seiner Jacke. »Und was wäre, wenn dieser Narr dich hiermit bezahlte?« Er zog den Rüssel aus der Tasche und streckte ihn dem Arkoniden entgegen. Etwas Violettes funkelte an seiner Spitze.

»Ein ... Criipa!« Der Arkonide schien seinen Augen nicht zu trauen. Er streckte die Hand aus und strich vorsichtig, fast als fürchtete er, er könnte ihn zerbrechen, über den glitzernden Quarz.

Lathir entließ langsam die Luft aus den Lungen. Er hatte sich nicht getäuscht. Der fünfdimensionale Quarz zählte zu den wertvollsten Schätzen seiner Herde – nicht wegen seines finanziellen Wertes, der seinem Gegenüber offenbar den Atem verschlug, sondern aufgrund seiner harmonischen, hyperfrequenten Schwingungen. Aber davon spürten die Arkoniden nichts, genauso wenig wie von so vielem anderen.

»Nun, was sagst du jetzt?«, erkundigte sich der Unither. »Bist du immer noch so besorgt um mich?«

»Ich ... ich ...« Selbst für den Unither war offensichtlich, dass der Arkonide mit sich rang. Gier, Furcht, Sorge, Berechnung huschten über seine Züge. Schließlich kam er zu einem Entschluss.

»In Ordnung, wir helfen dir.«

Die Muskeln an der Spitze von Lathirs Rüssel lösten ihren Griff um den Quarz. Fast ehrfürchtig nahm der Arkonide den Kristall an sich und verstaute ihn behutsam in der Seitentasche seines Overalls.

Der Arkonide stand auf und deaktivierte den Energieschirm. Der Lärm der Restaurantgäste erschien Lathir nach der geisterhaften Stille, die er eben noch genossen hatte, beinahe unerträglich. »Komm in drei Pragos an den Fährhafen von TAI MEREN NOAS und frag am Schalter 15 nach dem Ticket nach Schemmen. Man wird dir einen Umschlag geben. In ihm wird alles sein, was du brauchst.«

Ohne sich zu verabschieden, machte der Mann kehrt und verließ das STERNENTAU.

Lathir blieb noch beinahe eine Tonta sitzen. Erst dann war das Zittern seiner Muskeln soweit abgeflaut, dass er aufstehen konnte. Er hatte es geschafft. Das Tor zu den Sternen stand offen.

Kapitel 3

Die Wüste lebte.

In der Nacht war ein Sturzregen über der Yssods-Wüste niedergegangen, ein äußert seltenes, aber nicht ungewöhnliches Ereignis in dieser Gegend, die nicht umsonst als eine der unwirtlichsten des ganzen Planeten galt. Jetzt, nur wenige Stunden später, überzog ein dünner, aber leuchtend grüner Teppich die sanften Hügel. Blumen waren aus dem sandigen Boden geschossen und wetteiferten mit ihren tausendfarbigen Blüten um die Aufmerksamkeit der Insektenschwärme. Die Tiere mussten Monate, vielleicht sogar Jahre in Höhlen und Erdlöchern geschlafen haben – immer in Erwartung dieses kurzen Augenblicks frenetischer Aktivität. Nicht lange, dann würde das Wunder verblüht sein und die Insekten würden wieder in ihre Schlafstätten zurückkehren und auf bessere Zeiten warten.

So wie du!, ertönte die ironische Stimme meines Gedankenbruders. Ob du deine Zeit ebenso gut nutzen wirst wie diese Tiere?

Ich schüttelte unwillig den Kopf. Konnte mein Extrasinn mir nicht wenigstens ein paar Augenblicke der Muße gönnen?

Riaal, die neben mir im Pilotensitz des Gleiters saß, warf mir einen fragenden Blick zu.

»Ach, nichts«, sagte ich. »Ich bin nur Gedanken nachgehangen. Ist schon vorbei.«

Riaal nickte und konzentrierte sich schweigend auf die Steuerung des Gleiters. Drei Pragos waren vergangen, seit ich in meiner Station unter dem Boden der Yssods-Wüste zu mir gekommen war. Statt der angepeilten Jahrtausende hatte ich kaum mehr als zwei Jahrzehnte dort gelegen – ein mikroskopischer Hüpfer verglichen mit dem ursprünglich geplanten gewaltigen Satz. Dennoch hatte ich mich den üblichen Rehabilitations-Maßnahmen unterziehen müssen: Auch an dem Körper eines relativ Unsterblichen ging das künstliche Koma nicht spurlos vorbei. Atrophierte Muskeln mussten behutsam wieder angeregt, einfache Bewegungen wieder neu erlernt werden. Und – so aberwitzig das klingt – ich hatte viel schlafen, mich einem tiefen, natürlichen Schlummer hingeben müssen, während die unermüdlichen Finger der Medoroboter meine Muskeln kneteten.

Aber wie gut es tat, wieder zu leben! Die anregenden Impulse meines Zellaktivatorchips fluteten wohlig durch meinen Körper. Jeder einzelne von ihnen schien mir wie ein Willkommensgruß. Ich öffnete das Fenster des Gleiters einen Spalt weit. Sofort strömte die heiße, würzige Luft der kaum 200 Meter unter uns dahingleitenden Wüste in die Kabine. Ich sog sie in tiefen Zügen ein, genoss das Hier und Jetzt. In kaum einer Stunde würde ich in Erican sein und Tamarena wiedersehen. Das allein zählte, alles andere würde sich weisen.

In den Senken waren kleine Seen entstanden. Glitzernd brach sich das Sonnenlicht im Wasser. Ich beugte mich vor, um das Bild besser aufnehmen zu können. Die Oberflächen der Seen, erkannte ich, waren in unaufhörlicher Bewegung. Aber wieso? Kein Windhauch rührte sich in der Mittagshitze.

»Es sind Charims«, ertönte Riaals Stimme. Sie musste meinen verwunderten Blick bemerkt haben. »Wüstenfische. Wenn es in der Wüste regnet, schlüpfen sie aus ihren Eiern. Sie fressen alles, was sich bewegt, auch ihre kleineren Artgenossen. Am Abend sind die größten von ihnen fingerlang geworden. Dann hören sie auf zu fressen, legen ihre Eier und warten auf den Tod.« Die Traversanerin ging etwas tiefer, damit ich besser sehen konnte. »Sie müssen nicht lange warten. Länger als zwei, drei Pragos halten sich die Seen nie. Was du siehst, sind ihre um sich schlagenden Leiber.«