ATTENTI AL CANE! - e al padrone - T. F. Wilfried - E-Book

ATTENTI AL CANE! - e al padrone E-Book

T. F. Wilfried

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Beschreibung

Ausgerechnet auf dem Teil des Friedhofs, welcher HSV-Fans zur Bestattung vorbehalten ist, wird Kurt tot aufgefunden. Im St. Pauli Trikot. Versehen mit einer Schmähaufschrift, die ihm brutal in die Brust getackert worden ist. Und nochmals ausgerechnet war Kurt langjähriger Mitarbeiter in einer Werkstatt für behinderte Menschen, für die Tom-Tom immer dann arbeitet, wenn er nicht zu den Spielen des HSV unterwegs ist. Als hätte er nicht schon genug damit zu tun, seine Tourenplanung mit dem Haufen von Chaoten abzustimmen, mit denen er am Wochenende durch die Republik reist. Wo doch seit kurzem seine beiden Mischlingshunde mit auf Tour gehen müssen, weil seine Göttin auch einmal Ruhe finden möchte. Doch dann sind es ausgerechnet die Hunde, welche die Spur zu Kurts Mörder finden.

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2016

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ATTENTI AL CANE!

e al padrone

Intro

Ausgerechnet auf dem Teil des Friedhofs, welcher HSV-Fans zur Bestattung vorbehalten ist, wird Kurt tot aufgefunden. Im St. Pauli Trikot. Versehen mit einer Schmähaufschrift, die ihm brutal in die Brust getackert worden ist.

Und nochmals ausgerechnet war Kurt langjähriger Mitarbeiter in einer Werkstatt für behinderte Menschen, für die Tom-Tom immer dann arbeitet, wenn er nicht zu den Spielen des HSV unterwegs ist. Als hätte er nicht schon genug damit zu tun, seine Tourenplanung mit dem Haufen von Chaoten abzustimmen, mit denen er am Wochenende durch die Republik reist. Wo doch seit kurzem seine beiden Mischlingshunde mit auf Tour gehen müssen, weil seine Göttin auch einmal Ruhe finden möchte.

Disclaimer

Der Autor ist bekennender HSV-Anhänger. Insoweit sind Ähnlichkeiten der handelnden Figuren zu lebenden Personen zwar nicht beabsichtigt, aber durchaus möglich. Sollte jemand meinen, sich wiederzufinden, so möge er dies nachsehen. Handlung, Orte der Handlung und handelnde Personen sind frei erfunden. Ohne die herrlichen Erlebnisse, die der Autor auf seinen Reisen zu den Spielen des HSV machen durfte, hätte es dieses Buch aber nicht geben können. Und liebe Leserin, lieber Leser, seien Sie versichert: Das wirkliche Leben ist nicht weniger unterhaltsam, als es die Geschichte von Kurt hoffentlich war.

In einer kleinen Randpassage kommen insbesondere die Anhänger eines Traditionsvereins aus dem Ruhrgebiet nicht ganz so gut weg. Auch hierfür bittet der Autor um Nachsehen. Einen besonderen Groll hegt der Autor gegen diesen Verein und seine Anhänger nicht. Würde er vermutlich aber dann, wenn es ihm so ergangen wäre, wie es dem Avvocato geschehen ist. Hierfür kann der Autor beim besten Willen keine Verantwortung übernehmen.

Kurt hat es wirklich gegeben. Natürlich hieß er nicht Kurt. Und er fand sein Ende auch nicht auf dem Friedhof in Altona. Viel schöner war sein Ende allerdings trotzdem nicht. Denn Kurt war wirklich eine arme Sau.

Der Autor weiß nicht, ob Kurt von wo auch immer an der Niederschrift der Handlung wie auch immer hat teilnehmen können. Zu seinen Lebzeiten hatte er diese außerordentliche Fähigkeit jedenfalls. In einem ist sich der Autor aber sicher: Kurt hätten die Episoden gefallen. Und nicht nur die schönen, wie die mit den Girly Girls.

Er hätte Zeugnis dafür abgelegt, dass einiges tatsächlich genau so passiert ist. Und dass anderes gut hätte genau so passieren können. Vermutlich hätte er den Autor ermuntert, noch mehr auszuplaudern. Wie auch immer:

© - T.F. Wilfried, may - 2016

imprint:

T.F. Wilfried

c/o Weißhoff-Günther

Ditzumerhammrich 82

26831 Bunde

Lektorat: Weißhoff-Günther

Coverbild & Gestaltung: T.F. Wilfried

Bildrechte: T.F. Wilfried

all rights reserved by the author

(T.F. Wilfried ist ein Pseudonym,

unter welchem der Autor gelegentlich

kleinere Geschichten zu Papier bringt,

die einen autobiographischen Bezug haben.

Sie erreichen den Autor

über die im Impressum

on stage

Kurt:

Ist eine echt arme Sau.

Tom-Tom:

Wäre gern zur See gefahren.

Lea und Leo:

Hatten den richtigen Riecher.

Mutti:

Liebt es, Pläne zu machen.

Der Avvocato:

Ihn bringt so schnell nichts aus der Ruhe.

Presbyter und Mongo:

Bekommt man für gewöhnlich nur im Doppelpack.

Der Holländer:

Hat nicht nur ein großes Herz.

Lucy und Britt:

Bringen Kurt zunächst ordentlich durcheinander. Danach ordentlich auf Trab.

Leonie:

Trägt (fast) gar nichts zur Aufklärung bei. Sieht aber unheimlich gut aus.

DJ-drei-Zuhörer:

Lebt zwar von Hartz IV. Hat aber trotzdem nur drei Zuhörer auf seiner Webradiostation.

Claudette:

Hat endlich einen festen Job. Und dann das.

Frau Geil:

Inhalt:

1. Gar nicht bekloppt!

2. So etwas geschieht doch nicht

3. Warum es Hamburg sein musste

4. Erinnerung an Kurt

5. Der Avvocato

6. Kurt kommt so gar nicht auf die Beine

7. Mutti

8. Rantzau

9. Presbyter und Mongo

10. Kurt überlegt

11. Lea und Le0

12. Und wieder fährt Kurt nach Rantzau

13. Der Holländer

14. Irgendwann muss man sich entscheiden

15. Leonie

16. Umzug nach Rantzau

17. Mach hin Sozialpädagoge

18. Die Fahndung beginnt

19. Claudette fährt nicht mehr mit

20. Lea und Leo lernen Leonie kennen

21. Das Bewerbungsgespräch

22. Buddeln verboten

23. Spurensuche auswärts

24. Spieltagauswertung

25. Das Institut

26. Der Anruf - Claudette erzählt

27. Der erste Arbeitstag

28. Luruper Vergangenheit

29. Bestandsaufnahme

30. Das Vermächtnis

31. Frederike-Sophie

32. Die Cloud

33. Das Geständnis der Girly Girls

34. Videoabend

35. De Kerk

36. Das Ornament

37. Der Opfersaal

38. Requiescat in Pace

39. Epilog

1 - Gar nicht bekloppt!

Tom-Tom hatte einen dieser Freitage erwischt, an denen er sich fragte, warum er überhaupt zur Arbeit gekommen war.

Nein, Tom-Tom hatte natürlich nichts mit dem Unternehmen aus den Niederlanden zu tun, welches seit 2001 seinen Namen okkupiert hatte. Es war sein bester Jugendfreund gewesen, der stotterte, wenn er aufgeregt war. Und weil er eigentlich immer aufgeregt war, blieb es halt bei Tom-Tom. Spätestens seit Tom-Tom sich in der Vorstellungsrunde am ersten Schultag selbst so genannt hatte, war die Nummer durch. Alle Welt nannte ihn seit damals Tom-Tom. So viel Zeit musste sein.

Und nein, nicht dass es Tom-Tom keinen Spaß mehr machte nach all den Jahren. Tom-Tom arbeitete in einer Behindertenwerkstatt. Also schon auf der anderen Seite. Sein Job war es hauptsächlich, für genügend Lohnaufträge und damit Umsatz zu sorgen. Das war durchaus eine spannende Geschichte, die da tagtäglich ablief. Kein Tag glich wirklich dem anderen. Und selbst nach über zwanzig Jahren Werkstatt konnte es vorkommen, dass Tom-Tom eine weitere Methode kennenlernte, wie man ein Fahrrad besser nicht zusammenbaut.

Oder warum es unverzichtbar wichtig ist, dass beim Frühstückskaffee nicht nur die Tasse randvoll sein muss, sondern auch die Untertasse. Selbstverständlich kommen darauf noch fünf Löffel Zucker und reichlich Milch.

Und selbstverständlich macht sich der Gefahrguttransport dann von der Ausgabe quer durch den Pausenraum zum allerentferntesten Tisch auf den Weg. Ohne Zwischenstopp, ohne Ausweichen, ohne Erbarmen. Wäre die Tasse nicht randvoll gewesen, was wäre dann noch am Tisch angekommen? Nichts geschieht ohne tieferen Sinn.

Tom-Tom war an diesen Freitag ausgesprochen pünktlich auf den Hof gefahren. Soweit man das im Zeitalter von Gleitzeit sagen darf.

Jedenfalls war er deutlich früher als sein Chef. Was Wunder. Der hatte bereits nach wenig mehr als einem halben Jahr die Schnauze gestrichen voll. Sagte er jedenfalls schon mal recht nachdrücklich. Ohne wirklich danach gefragt worden zu sein. Schreit nach einem Führungskräfteseminar.

Zumindest darin war Werkstatt wirklich gut. Gibt es ein Problem: Arbeitskreis einberufen und Fortbildung buchen. Hätte an der inneren Kündigung des Chefs zwar nichts geändert. Er hätte sich aber womöglich geschliffener ausgedrückt.

Der Tag ging also alles in allem durchaus gut an. Es lagen drei vielversprechende Anfragen potenzieller Kunden mit einem erklecklichen Gesamtvolumen auf Tom-Toms Schreibtisch.

Für eine Behindertenwerkstatt, die hauptsächlich überschaubare Montageaufträge für mittelständische Unternehmen ausführte, sogar ein ganz besonders erkleckliches Sümmchen. Eine Menge behinderter Menschen wären für eine geraume Weile mit Arbeit versorgt gewesen.

Tom-Tom war dennoch sofort klar: Diese Anfragen waren einfach eine Nummer zu groß, als dass seine Kollegen zu begeistern sein würden. Im Gegenteil. Sie würden wieder unzählige Gründe finden, warum sie genau diese Aufträge nicht, jedenfalls nicht jetzt oder erst nach ausgiebiger Prüfung durchführen könnten.

Unter Einbezug der jeweils zuständigen Sozialpädagogin, versteht sich. Die nach Tom-Toms Einschätzung eine grundsätzliche Abneigung gegen jedwede Arbeit hatte, über die man nicht mindestens fünf Monate diskutieren konnte. Doch was willst du über Konstruktionsvorgaben diskutieren?

Tom-Tom hatte auch das gelernt: Diskutieren geht immer!

Treffen sich zwei Sozialarbeiter am Bahnhof. Fragt der eine: Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Sagt der andere: Du, ich habe weder Uhr noch Handy. Aber gut, dass wir darüber gesprochen haben!

Doch an diesem Freitag ging alles besonders schnell. Anstelle einer vorsichtigen Hinhaltetaktik, wie sie sonst Gepflogenheit war, sagten alle Verantwortlichen mit Verweis auf die gute Auslastung, mangelnde Lagerkapazitäten und hohen Krankenstand sofort ab. Das war ungewöhnlich.

Üblicherweise wurde sonst immerhin so getan, als wäre man im Prinzip schon interessiert. Selbst der oberste Chef, der natürlich immer in Carbon Copy gesetzt sein wollte, um sich gleich darauf über sein überquellendes Postfach und die vielen überflüssigen Mails zu beschweren, hatte recht zügig Verständnis für die Kollegen und verzichtete auf mediativen Eingriff. Welcher am Ergebnis ohnehin nichts geändert hätte.

Unter dem Strich hatte Tom-Tom jedenfalls nach der Frühstückspause bereits gestrichen die Nase voll. Meistens hielt er sonst tapfer bis Mittag durch. Also begann er, sein Wochenende zu planen.

Gut. Zuvor mussten noch die Kunden informiert werden. Ihnen eine Absage zu erteilen und sie dennoch so bei Laune zu halten, dass sie nicht zum letzten Mal angefragt hatten, blieb natürlich an ihm hängen. War vielleicht sogar sein wichtigster Job. Nicht immer leicht, aber einer musste es schließlich machen.

Wie hatte es sein Chef auf den Punkt gebracht: »Ich brauche einen Schutzwall für die Kollegen. Das sind sie. Wenn es gut läuft, werden alle gelobt. Wenn es schlecht läuft, bekommen wenigstens nur sie auf die Schnauze. So lange es so bleibt, haben wir alle etwas davon und sie können machen, was sie wollen. Oder wenigstens beinahe.«

Hin und wieder durchbrach der Geschäftsführer dieses unfreiwillige Stillhalteabkommen mit unangenehmen und vor allem unangemessenen Forderungen nach Umsatzsteigerung.

Da dieser aber weder in der Lage war, das System zu verstehen und zu durchschauen, noch bereit, es signifikant zu ändern, blieb alles, wie es war.

Tom-Tom sorgte für Kundenanfragen, die keiner haben wollte. Schrieb Konzepte zur Umsatzsteigerung, Kundenbindung und Erhöhung der Produktivität, allesamt praktikabel und installierbar.

Problem jedoch blieb: Hätte man etwas ändern wollen, hätte man etwas ändern müssen. Und dazu schien niemand bereit. Also verschwanden diese Konzepte schnell wieder in der Schublade, mindestens bis zum nächsten Rundumschlag des Geschäftsführers. Dann wurden diesem die nahezu unveränderten Konzepte erneut vorgelegt.

Der Geschäftsführer fand sie wieder sehr innovativ. Wollte keinesfalls, dass sie in der Schublade vergilbten. Berief Arbeitskreise und Arbeitstreffen ein. Und danach war alles wie zuvor. Die Konzepte lagen in der Schublade bei den anderen und niemanden hat es wirklich interessiert.

Es gab also keinen plausiblen Grund, die Wochenendplanung länger aufzuschieben. Bis auf einige Telefonate, welche noch zu führen waren und einige Mails, die beantwortet sein wollten.

Nachdem er dies erledigt hatte, rief Tom-Tom gegen elf Uhr seinen Kollegen in einer Behindertenwerkstatt im tiefsten Ruhrgebiet an, der dort die Schreinerei leitete. Ihm hatte er vor seinem Urlaub Muster und Zeichnungen überlassen in der Hoffnung, die Ruhrpöttler würden sich an einer Eigenproduktion beteiligen, die Tom-Tom vor kurzem initiiert hatte. Dem war natürlich nicht so.

Auch im Ruhrgebiet stand das Tagesgeschäft einer strategischen Neuausrichtung im Weg. Die überlassenen Muster und Zeichnungen wollte Tom-Tom immerhin nicht ebenso abschreiben wie die erhoffte gedeihliche Zusammenarbeit. Also war ein zweites Treffen unumgänglich.

Es passte ihm an diesem Tage zudem ausgesprochen gut. Für vierzehn Uhr hatte Tom-Tom sich mit dem Avvocato am üblichen Treffpunkt verabredet, keine fünf Kilometer von seinem aktuellen Termin entfernt. Denn WIR hatten das Abendspiel.

Auch unter Berücksichtigung eines erhöhten Verkehrsaufkommens an einem Freitag sollten sechseinhalb Stunden allemal reichen, um aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg zu kommen. Einen kostenfreien Parkplatz am Stadion zu finden. Ein paar Freunde zu treffen. Die nächsten Auswärtstickets am Supporters-Stand abzuholen und pünktlich zum Anpfiff im Block zu sein. Pinkelpause inbegriffen.

Immerhin hatten WIR ja Heimspiel, da kommt man nicht gern zu spät.

Wieso man plus minus achthundert Kilometer für ein Heimspiel verfährt und das für völlig normal hält, ist vielleicht nicht jedem und nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Wie sich heraus stellen sollte, für den Schreiner-Kollegen ebenfalls nicht.

Jedenfalls war Tom-Tom um Punkt dreizehn Uhr bei der befreundeten Werkstatt für Behinderte im tiefsten Ruhrgebiet, wie er es dem Kollegen, der heute mal früher Schluss machen wollte, versprochen hatte. Er fand ihn nicht gleich, denn es war Mittagszeit. Und vor der Zeit Feierabend machen heißt ja jetzt nicht, auch vor der Zeit Pausen zu streichen. Nicht in einer Werkstatt für Behinderte. Und schon gar nicht im Ruhrgebiet.

Er fand seinen Kollegen also in der Kantine bei dessen wohlverdienter Mittagspause, die im Grunde bereits das Einläuten des auf dreizehn Uhr dreißig geplanten Wochenendes war.

Wartete geduldig, bis der Kollege seinen Kaffee ausgeschlürft hatte und wollte eigentlich nur noch eben die überlassenen Muster und Zeichnungen einladen, um sich dann auf den Weg zum Treffpunkt zu machen. Doch so schnell gehen die Dinge im Ruhrgebiet nicht. In einer Werkstatt für Behinderte schon mal gar nicht.

Wo waren denn noch gleich diese verdammten Muster? Der Kollege fing an, zu suchen und war sich jedes Mal sicher, hier müssen sie doch sein! Nicht, dass er seit gut zwei Stunden fernmündlich darauf vorbereitet gewesen war. Nicht, dass er etwa zur Unordnung neigte. Nein, er war schlicht und ergreifend nur noch nicht dazu gekommen, die besagten Gegenstände zu suchen.

Übrigens ein unverkennbares Merkmal, sich in einer Werkstatt für Behinderte zu befinden. Und dies gilt nicht nur für das Ruhrgebiet. Im Zweifel wird es der Kollege gewesen sein, welcher die Urlaubszeit des Schreiners missbraucht hatte, das wohlgeordnete Chaos in ein nicht durchschaubares, weil systematisches Ablagesystem zu verwandeln.

Gegen dreizehn Uhr zwanzig, also höchste Zeit für beide, endlich zum Abschluss zu kommen, war dann alles Gesuchte beisammen: Die Muster und die Zeichnungen. Man hatte sich im Grunde nur noch zu verabschieden und beide konnten ihre Termine voraussichtlich gemäß Plan einhalten.

Doch so ist nicht das Ruhrgebiet. Da ist ein klein Pläuschken ein Zeichen des Respekts, also unverzichtbar. Egal, wie sehr die Zeit drängte.

Kollege Schreiner: »Die Verkehrslage ist ja mal wieder ziemlich chaotisch.«

Anmerkung: Es lagen etwa eineinhalb Zentimeter Schnee, denn derWinterhatte erbarmungslos zugeschlagen im Ruhrgebiet!

»Mein Chef, die arme Socke, muss nachher nach Hamburg! Der tut mir richtig leid. Hoffentlich kommt er überhaupt heute noch an.«

Tom-Tom fragte interessiert, denn Hamburg interessierte immer: »Fährt dein Chef auch zum Spiel?« Kollege Schreiner: »Nee, der fährt Verwandtschaft besuchen, bleibt wohl auch das ganze Wochenende. Aber wieso auch, und wieso zum Spiel, zu was für einem Spiel?«

Tom-Tom holte seinen Autoschlüssel aus der Tasche und zeigte auf den Anhänger mit der HSV-Raute: »Na zu dem Spiel natürlich, wohin denn sonst?«

»Wie jetzt?«, fragte der Kollege. »Sag nicht, du fährst für ein Fußballspiel nach Hamburg?«

»Natürlich«, antwortete Tom-Tom. »Ich fahre nicht für ein Fußballspiel nach Hamburg. Ich fahre zu jedem Spiel des HSV.«

Der Kollege: »Dann bleibst du aber über das Wochenende da oben in Hamburg, oder?«

Tom-Tom: »Nein, wir fahren zum Spiel und heute Abend noch zurück.«

Der Schreiner: »Das ist aber ganz schön bekloppt, vierhundert Kilometer zu einem Fußballspiel zu fahren und danach gleich wieder vierhundert Kilometer zurück!?«

Bevor Tom-Tom noch antworten konnte, wobei er schon eine Weile überlegte, wie er denn jetzt eine auch für Außenstehende verständliche Antwort geben sollte, stand weiter hinten in der Werkstatt einer der behinderten Mitarbeiter auf.

Schlurfte gemächlich nach vorne. Zog umständlich mit etwas ungeschickter Bewegung aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund, an dem ein zwar recht abgenutzter, aber unverkennbar ebensolcher HSV-Anhänger prangte, wie Tom-Tom ihn eben noch stolz dem Kollegen gezeigt hatte.

Gab Tom-Tom kumpelhaft die obligatorische Fünf und sprach laut und selbstverständlich in aller Ruhe aus, was sowieso jeder weiß: »Gar nicht bekloppt!!!«

Das breite Grinsen des behinderten Mitarbeiters, die völlige Verblüffung des Kollegen, die Absurdität der Situation, welche der behinderte Mitarbeiter so pointiert als schlichte Normalität auf den Punkt gebracht hatte.

Noch im selben Augenblick wusste Tom-Tom: Vielleicht hatte er nicht immer einen leichten Job. Aber Momente wie diesen erlebst du nicht mal eben so, nicht einmal im Ruhrgebiet.

Alles, was morgens noch geschehen war, spielte jetzt keine Rolle mehr. Tom-Tom war sehr stolz, mit behinderten Menschen arbeiten zu dürfen. Er war froh, erleben zu dürfen, wie es seinem Kollegen die Sprache verschlug. Im Ruhrgebiet wohl gemerkt!

Und Tom-Tom war mit einem Schlag in der Stimmung, sich jetzt mit guter Laune auf den Weg zum Treffpunkt und dann nach Hamburg zum Spiel machen zu dürfen.

2 - So etwas geschieht doch nicht

Gestern haben sie Kurt erschlagen. Dass es Kurt war, sollte Tom-Tom erst später erfahren. Gefunden wurde Kurt mit eingeschlagenem Schädel auf dem Hauptfriedhof Altona in unmittelbarer Sichtweite zur Arena.

An Spieltagen eine beliebte Abkürzung Richtung Luruper Hauptstraße zu den Haltestellen oder zu den Parkplätzen entlang der Stadionstraße.

Pikant daran war, dass Kurt im nordöstlichen Bereich des Friedhofs gefunden worden war, also in dem Bereich, der HSV-Fans zur Beisetzung vorbehalten ist. Pikant deshalb, weil Kurt ein St. Pauli Trikot trug. Auf dieses Trikot und damit natürlich auch auf Kurt war im Brustbereich ein Pappschild getackert worden mit der Aufschrift: Schaiss St. Pauli. Schlachtgesang mit Bolzenschussgerät verewigt.

Allerdings war hier wohl ein Legastheniker am Werk gewesen, denn die Schreibweise Schaiss entsprach nun nicht üblicher Konvention.

Tom-Tom hatte diese Schreibweise schon einmal gesehen. Das war gewesen, als die damalige Freundin seines Sohnes - wie sagt man so schön - Schluss gemacht und einen Zettel zurückgelassen hatte, auf dem DU SCHAISS WICKSER stand.

Bis auf das DU war also alles nicht so ganz rechtschreibkonform. Darauf wird es der Freundin damals allerdings erstens nicht angekommen sein. Und zweitens kam sie als Tatverdächtige wohl kaum in Betracht.

Die in Hamburg ansässigen Printmedien, die ja auch ansonsten nicht gerade für Zurückhaltung und seriöse Berichterstattung bekannt sind, machten aus dem Fall eine ganz große Nummer. Es war sehr schnell die Rede von Krieg zwischen den verfeindeten Anhängern der beiden Traditionsvereine und einer gezielten Provokation. Die Staatsanwaltschaft tat das einzig Richtige und hielt sich mit Verlautbarungen dezent zurück. Womit wildesten Spekulationen Tür und Tor geöffnet wurden.

Recht schnell kam ein findiger Reporter auf die Idee, dass der doppelte Buchstabe SS leicht runenhaft verzerrt geschrieben war. Ein eindeutiges Indiz für einen rechtsradikalen Hintergrund innerhalb der Fanszene.

Damit nicht genug sollten die Buchstaben A und I für Aktionsfront Islam stehen, also bewusst gewählt worden sein. Angeblich war diese Front ein Zusammenschluss diverser rechter Zellen, welcher sich als Bündnispartner der Islamischen Aktionsfront verstand und in einer gewissermaßen konzertierten Aktion den Rechtsstaat von zwei Seiten mit Terror überziehen wollte.

Wie der Reporter darauf gekommen war, blieb sein Geheimnis. Denn Bilder des Opfers wurden durch die Staatsanwaltschaft nicht veröffentlicht. Der arme Friedhofsgärtner, welcher Kurt an einem nasskalten Morgen gefunden hatte, musste als Zeuge herhalten, obwohl er immer wieder beteuerte, sich an kaum etwas erinnern zu können.

Und für die Existenz einer Aktionsfront Islam gab es in der einschlägigen Literatur bislang nicht die geringsten Hinweise.

Natürlich war die Nachricht von Kurts Tod unter spektakulären Umständen auch überregional in Funk und Fernsehen verbreitet worden. Jedoch ohne Namensnennung und nähere Details zum Opfer. Dafür unter direkter Bezugnahme zu den jüngsten Vorgängen, als es HSV-Fans oder solchen, die sich dafür hielten, im Stehblock gelungen war, im Zuge einer Protestaktion gegen ein Verbot von Pyro-Technik beim Abbrennen mehrerer Bengalos die Supporters-Fahne gleich mit abzufackeln. Von Eskalation der Gewaltspirale war die Rede. Von kriminellen Elementen innerhalb der Fanszene und einer Radikalisierung derselben. Die auch vor Totschlag nicht mehr Halt machte.

So hatte Tom-Tom überhaupt erst von dem Vorfall erfahren. Verstehen konnte er das alles aber nicht. Da die Hamburger Presse ihre reißerischen Berichte mit Überschriften wie Straßenkrieg in Hamburg oder Wann schlagen die Pauli-Fans zurück? titelte, waren sie natürlich direkt betroffen. Denn die Fahrt zum nächsten Heimspiel war gerade in Planung.

Wenn es denn stattfand. Noch wurde spekuliert, ob der Deutsche Fußballbund das Spiel wegen massiver Sicherheitsbedenken womöglich absetzen würde.

Gerade hatte Tom-Tom eine Short Message von Mutti beantwortet, der natürlich dafür votierte, auf das Spiel am Wochenende zu verzichten. Jetzt wollte er sich endlich auf das konzentrieren, wofür ihn sein Arbeitgeber bezahlte.

Da stand plötzlich ein hochgradig aufgelöster Sozialpädagoge in seinem Büro. Aufgeregte Sozialpädagogen waren Tom-Tom hinlänglich bekannt.

Doch sein Kollege schien ihm noch wibbeliger als sonst.

»Das ist ja mal ein echt starkes Stück, das mit Kurt!« »Wieso Kurt, welcher Kurt? Wovon redest du?« »Na unser Kurt aus B. Der war doch damals in deiner Gruppe!«, antwortete sein Kollege.

Natürlich erinnerte sich Tom-Tom an Kurt. Der war nicht nur einer seiner findigsten Betreuten gewesen, sondern beinahe so etwas wie sein persönlicher Sekretär, als er noch im Gruppendienst tätig gewesen war.

Kurt war allerdings schon seit etlichen Jahren nicht mehr in ihren Werkstätten. Näheres wusste Tom-Tom nicht, da er selbst vom Gruppendienst in eine Funktionsstelle gewechselt war und seine ehemaligen Mitarbeiter nur noch sporadisch sah. Kurt jedenfalls war schon lange nicht mehr dabei. Tom-Tom hatte irgendetwas von langem Klinikaufenthalt auf der Akutstation und Umzug in den Norden gehört. Das lag aber inzwischen auch schon etliche Jahre zurück.

»Ja, aber ich habe gedacht, du wüsstest Bescheid. Du bist doch HSV-Fan!«, stotterte sein Sozialpädagogen-Kollege und hüpfte von einem Bein auf das andere. »Und was hat das mit Kurt zu tun?« Tom-Tom verstand immer noch nicht, worauf sein Kollege hinaus wollte.

»Na, das ist doch unser Kurt, den sie in Hamburg totgeschlagen haben!« Treffer, versenkt. Wie bitte sollte Tom-Tom denn darauf kommen können, dass sein ehemaliger Mitarbeiter ein und dieselbe Person war, die gerade unverschuldet dafür sorgte, dass nicht nur in Hamburg so allmählich alles aus den Fugen geriet. In den Berichten tauchten nur Namenskürzel auf. Keine Bilder, keine Hintergrundinformationen durch die Sonderkommission.

Auch dass es sich um einen behinderten Menschen gehandelt hatte, war noch nicht an die Presse gelangt. Vermutlich wollte die Staatsanwaltschaft verhindern, dass die sowieso schon überbordenden Spekulationen weitere Nahrung erhielten. Lediglich Alter und Geschlecht männlich blieben unwidersprochen.

Und natürlich die Aussage des Friedhofsgärtners, das Opfer habe ein St. Pauli Trikot getragen, auf das eben jene unselige Aufschrift auf unkonventionell brutale Weise aufgebracht worden war.

Tom-Tom merkte, wie ihm leicht schwindelig wurde. Schemenhaft tauchten Bilder aus seiner Erinnerung auf, die ihn an Erlebnisse mit Kurt erinnerten. Und davon gab es eine Menge.

Nur ein Bild tauchte nirgendwo auf: Kurt im St. Pauli Trikot. Kurt hatte sich nicht die Bohne für Sport interessiert. Und Tom-Tom hegte berechtigte Zweifel, ob Kurt Fußball überhaupt unter Sport eingeordnet hätte. Er meinte, sich an eine Äußerung erinnern zu können, in der Kurt den Sportunterricht seiner Schulzeit als persönlichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit bezeichnet hatte. Wie so vieles, was ihm damals und später das Leben oft genug zur Hölle gemacht und ihn letztlich in die Psychose getrieben hatte.

3 - Warum es Hamburg sein musste

Jeder Mensch benötigt in seinem Leben einen Fixpunkt. Andere sagen auch Heimat, ein Lebensziel, eine Identifikation. Jedenfalls einen Punkt im Leben, an dem du deinen Anker fallen lässt und sagst: Hier bin ich zu Haus, hier gehöre ich hin.

Wenn man bedenkt, dass Tom-Tom im Grunde im Ruhrgebiet aufgewachsen war, seinen späteren Lebensmittelpunkt mitsamt Familie in das Rheinland verlegt hatte und sich dort wohl fühlte, muss man erst einmal darauf kommen, wieso jetzt Hamburg nicht nur seine gefühlte, sondern seine authentische Identität sein konnte. Gut, er war in Hamburg geboren. Einer genaueren Überprüfung hätte diese Angabe allerdings kaum standgehalten. Denn bereits in seinen ersten Lebensjahren wurde er zunächst nach Kiel und dann auf Dauer in das Ruhrgebiet verschleppt.

Noch mal gut. In den Nachkriegsjahren waren die Dinge eben, wie sie waren. Seine Eltern werden froh gewesen sein, im Ruhrgebiet einen neuen Anfang gemacht haben zu dürfen. Zumal ihr eigener Lebensmittelpunkt nicht Hamburg, sondern das großartige Berlin gewesen war.

Was jetzt an Berlin so großartig sein sollte, hatte Tom-Tom zwar nach etlichen Berlin-Reisen noch immer nicht herausfinden können. Aber gut. Die Eltern hatten halt ihren eigenen Ankerplatz. Hamburg war für sie letztlich nur Zwischenstopp gewesen. Ausreichend, um sich vom alten Leben abzukoppeln, ein Kind zur Welt zu bringen und von hier aus eine hoffentlich und endlich freundlichere Zukunft zu planen.

Tom-Tom hatte das nie etwas ausgemacht. Nicht, dass er im Ruhrgebiet keine schöne und behütete Kindheit gehabt hätte. Doch Hamburg blieb für ihn immer das Maß aller Dinge. Vom Balkon seiner Lieblingstante Jenny, die eigentlich nicht wirklich seine Tante war, die er aber mochte wie keine andere, und die sie mindestens immer dann besuchten, wenn die Familie zu seiner Großmutter nach Kiel fuhr, konnte er - weit über das Balkongeländer gebeugt - das Trainingsgelände am Rothenbaum einsehen.

Sein Onkel, genauer der Sohn seiner Tante, die nicht wirklich seine Tante war, hatte irgendwann die entscheidenden Worte gesagt. Damals mochte Tom-Tom vielleicht sechs Jahre alt gewesen sein:

»Sieh nur genau hin. Wenn du gute Augen hast, wirst du Uwe Seeler sehen können. Wenn du ein wenig älter bist und ich länger im Hafen liege, nehme ich dich einmal mit.«

Das war noch vor Bundesliga. Aber Uwe Seeler, die beiden Dörfels, Willi Schulz und alle, die danach kamen, das waren seine Idole. Später sollten Willi Schulz und Uwe Seeler seine ersten Starschnitte aus der BRAVO werden.

Zugegeben, Franz Beckenbauer und Winnetou/Pierre Brice lagen genau dazwischen. Die hatte er aber nicht aus eigenen Mitteln gesammelt, sie lagen halt einfach dazwischen.

Und die Zeitschrift hatte seine Schwester gekauft. Jedoch nicht wegen Franz Beckenbauer oder Pierre Brice. Sondern wohl eher wegen Dr. Sommer und den seinerzeit sehr beliebten - und in dieser Zeit wohl auch unverzichtbaren - lila Aufklärungsseiten im Innenteil. Leicht verschämt eingeheftet und gerade dadurch als Loseblattsammlung zur Weitergabe prädestiniert.

Die Fickipedia-Jugend kann mit derlei Erinnerungen nicht viel anfangen. Er zu dieser Zeit konnte mit den lila Seiten auch noch nicht wirklich viel anfangen. Mit den Starschnitten allerdings schon.

Dass sich hier die Prioritäten in nicht allzu weiter Zukunft verschieben sollten, lag auf der Hand. In der notwendig anzüglichen Terminologie der Pubertät würde man später gesagt haben: Die Priorität lag in der Hand.

Doch gegenwärtig war er zufrieden damit, vom Balkon seiner Tante, die eigentlich nicht wirklich seine Tante war, Uwe Seeler sehen zu können. Hätte ihn rufen können, ihm zuwinken. Erkennen konnte er zwar nur kleine schwarze Punkte auf grünem Geläuf, nebenan auf roter Asche. Doch es war ganz sicher Uwe Seeler.

Dies vor allem deshalb, weil sein Onkel es ihm versichert hatte. Und der war über jeden Zweifel erhaben. Hatte er doch als Erster Steuermann zur See Panama, Ceylon - wie es damals noch hieß -, Buenos Aires und Hongkong angefahren.

Alles Orte, die in der Tom-Sawyer-Fantasie eines im Ruhrgebiet gestrandeten angehenden Seemannes Freddy-Quinn-Romantik und unendliche Sehnsucht auslösten. Kap Horn und Feuerland umrunden. In jedem Hafen eine Lale Andersen schmachtend zurücklassen. Seinen Original-Panama-Strohhut, den ihm der Steuermann geschenkt hatte, endlich zum Einsatz bringen. Was konnte einem das Leben Besseres bieten?

Im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren hatte er dann noch einmal ernsthaft über eine Ausbildung an der Seefahrtsschule an der Rainvilleterrasse in Ottensen nachgedacht. Natürlich hätte er für den Anfang bei Tante Jenny wohnen können. Doch zur See fahren hieß auch, mit Mathematik klar kommen.

Was nun nicht so sein Ding war. Und gute Augen haben. Brillenträger wurden in diesen Jahren nicht zur Ausbildung zugelassen. Auch wenn es kaum mehr üblich war, die Wache an der Reling oder im Mastkorb zu durchstehen und seine Brille gegen die überpeitschende Gischt der Wellen zu beschützen. Was unzweifelhaft zu weniger Aufmerksamkeit, damit Riffkollision und Schiffbruch führen musste.

Wie auch immer. Sowohl die Mathematik als auch seine vererbte Sehschwäche ließen seine romantischen Träume von einem Leben zur See bei Durchsicht der Aufnahmekriterien zur Nautikschule schlagartig unerfüllbar erscheinen. Schade für die Lale Andersens der Häfen dieser Welt. Schade für seinen pubertären Lebenstraum.

Seine Liebe zur See, zu Tante Jenny und zu Hamburg blieben dennoch Fixpunkte, die wie der Polarstern das Licht in der Nacht bedeuteten, wenn er Halt und Orientierung oder auch nur Entspannung suchte.

4 - Erinnerung an Kurt

Szenenbild: »Kurt, wenn ich dich in den Wald schicke, Schnecken einsammeln. Dann kommst du nach Stunden mit leeren Korb zurück und sagst zu mir: Herr Tom-Tom! Immer, wenn ich mich nach den Schnecken gebückt habe, husch, husch, waren sie weg!«

Kurt war übrigens der einzige behinderte Mitarbeiter, welcher Tom-Tom mit Herr Tom-Tom angeredet hatte. Er war halt etwas besonders und etwas Besonderes gewesen. Und Tom-Tom hatte seine Bemerkung im gleichen Augenblick bereut, wie zutreffend sie auch gewesen sein mochte. Kurt war eben mit vielen Dingen beschäftigt.

Auf Schneckensuche hätte er vermutlich zunächst einmal sein Logbuch herausgekramt und notiert, wie der Winkel der Sonneneinstrahlung zur Kriechrichtung der Schnecken zu bemessen war. Ob sich diese Kriechrichtung veränderte, sobald Kurt sich in den Sonnenstrahl stellte und für Schattenwurf sorgte.

Solche und unzählige andere Einflussgrößen wären notiert worden, um ein Muster zu erhalten, an dem man sich orientieren konnte. Derartige Orientierungsmuster bedeuteten Kurt sehr viel. Und als ehemaliger Mathematikstudent besaß er das nötige Rüstzeug, die Welt zu vermessen.

In seinem Logbuch war alles aufgezeichnet. Genützt hat es ihm dennoch nichts. Zu leicht verlor Kurt seine Orientierung. Weshalb er letztlich in einer Werkstatt für Behinderte gelandet war.

Zudem litt Kurt an Kontrollzwängen. Es konnte vorkommen, dass er Tom-Tom noch nach Feierabend mehrmals anrief, um sich zu vergewissern, dass er den Wasserhahn in der Umkleidekabine wieder zugedreht hatte, den er insbesondere in Krisenzeiten arg strapazierte. Denn unter Waschzwang litt Kurt ebenfalls.

Kurt entschuldigte sich für jeden Anruf. Er wusste, dass er den Wasserhahn zugedreht hatte. Kontrolliert hatte er natürlich auch. Vermutlich mehrmals.

Wie auch immer. Tom-Tom hätte sich für seine unüberlegte Anmache wirklich ohrfeigen können. Er hätte Kurt niemals auf Schneckensuche geschickt. Aufgabenstellungen ohne konkret planbare Abläufe bargen zu viele Gefahren. Dann verlor sich Kurt in der Welt. Es war nicht nur unprofessionell. Es war regelrecht eine persönliche Schikane an Kurt gewesen. Für Dinge, die Kurt gar nicht beeinflussen konnte. Darum war er ja bei ihnen in der Werkstatt gelandet.

Kurt hatte es nie leicht gehabt. Er kam aus einer Familie, die ziemlich ab vom Weg war. Kurts Vater hatte sich bei erstbester Gelegenheit von der Ruhrtalbrücke zwischen Mülheim an der Ruhr und Essen-Kettwig gestürzt. Tom-Tom konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass diese Wahl immer noch besser gewesen war, als sich mit Kurts Mutter jedes Wochenende die Rudi Carell Show ansehen zu müssen.

Tom-Toms erste Begegnung mit Kurts Mutter sollte eine einzige Katastrophe bleiben. Nervös nestelte diese zunächst an der Tischdecke, dann an den Servietten und fiel ihm bei mindestens jedem zweiten Satz ins Wort. Kurt, du arme Sau, hätte er schreien mögen. Doch wer hätte es hören wollen?

Immerhin hatte Kurts Vater der Familie ein abbezahltes Einfamilienhaus hinterlassen.

Dazu eine stolze Betriebsrente und eine unanfechtbar fällige Lebensversicherungs-Police. Denn der Risikovorbehalt war pünktlich vor Suizid abgelaufen. Auch Kurts Vater überließ die Dinge nicht gern dem Zufall.

Er hatte sich exakt am Folgetag des ersten Jahres seit Abschluss von der Brücke gestürzt. Die Versicherung muckte zwar eine Zeitlang. Konnte die Auszahlung aber nicht verhindern. Zusammen mit einem kleinen Aktienpaket und Grundstücken im Norden Deutschlands, die Kurts Vater von einer alleinstehenden Tante geerbt hatte, war die Familie im herkömmlichen Sinne unabhängig. Man hätte auch sagen können: wohlhabend.

Was aber nichts am bescheidenen Lebensstil änderte. Kurt benötigte nicht viel. Und seine Mutter war von Statur klein, in ihrer Geisteshaltung kleinlich und hielt auch ihre Ausgaben auf kleinster Flamme. Mit anderen Worten: Sie war geizig wie ein Schotte und ein Schwabe zusammen.

Tom-Tom hatte damals nicht wirklich verstanden, was Kurt damit meinte, als dieser ihm en passant sagte: »Herr Tom-Tom. Wenn Sie einmal eine Überschwemmung im Keller haben. Stellen Sie die Möbel auf Erasco-Konserven. Das sind die besten. Die halten mindesten fünfzehn Jahre. Alle anderen Sorten, die wir ausprobiert haben, waren spätestens nach acht Jahren hinüber.«

Als Tom-Tom dann das erste Mal bei Kurt im Keller stand, wusste er sofort, was Kurt gemeint hatte. Zwei Kellerräume wirkten aufgeräumt. Die Regale und Kommoden standen ordentlich in Reih und Glied. Aufgebockt auf Konservendosen. Natürlich Erasco, wie sich Tom-Tom mit bücken und in Augenschein nehmen versicherte.

Der Rest des Kellers war weniger gut in Schuss. Kommoden, die mit zwei Regalfüßen schief im knöcheltiefen Wasser standen.

Geborstene Konservendosen und verrostete Überreste. Den ehemaligen Inhalt mochten Ratten weggeholt haben. Da Kurts Familienbesitz in Überschwemmungsgebiet stand, hatte schon sein Vater Vorsorge getroffen und sämtliche Einrichtungsgegenstände im Keller auf tatsächlich Konservendosen gestellt. Und es waren exakt die Erasco-Konserven, welche noch als intakte Stützen dienten. Alle übrigen Konserven hatten sich bereits ergeben.

Kurts Vater hatte peinlich genau und penibel auf jede Konservendose ein Etikett aufgeklebt, auf dem Tag des Einsatzes als Stützfuß und Kaufdatum der Konserve vermerkt waren. Die meisten Dosen hatten maximal acht, wenige neun Jahre gehalten. Kurts Geheimtipp war mittlerweile in der Tat über zwanzig Jahre im Einsatz und sah von außen betrachtet noch durchaus Vertrauen erweckend aus.

Obwohl Tom-Tom sich nicht für einen Konservendosenexperten hielt, hatte er sich dennoch vorgenommen, dem Hersteller eine anerkennende Notiz mit Kurts gesammelten Erfahrungen zu schicken. Gemacht hatte er es dann doch nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Hersteller diesen Dauertest verstehen, geschweige denn gewinnbringend verwerten könnte.

Kurt war dem Ganzen ziemlich allein und schutzlos ausgesetzt. Seine Schwester hatte sich mit vierzehn Jahren von einem Mitglied einer durchziehenden Provinzband schwängern lassen und war mit ihm durchgebrannt. Kurt hatte ihn immer nur den Roadie genannt. In den Bittbriefen, die seine Schwester regelmäßig an die Familie schrieb, - nicht, ohne ein aktuelles Bild vom Enkelkind beizulegen - war ihr Auserwählter natürlich Bandleader mit vorübergehender Pechsträhne.

Mal war der Arm aufgrund einer wilden Bühnenshow gebrochen. Für einen Leadgitarristen durchaus ein Handicap.

Mal hatte die Stimme nach unendlichen Zugaben versagt. Stimmband-Entzündung. In der Version war er dann wohl der Leadsänger der aufstrebenden Nachwuchsband.

Für Kurt blieb er der Roadie, welcher nur aus Versehen nicht bei der Schaustellertruppe am Riesenrad als Mitreisender gelandet war. Seine Mutter schickte dennoch immer wieder Geld. Wenn auch nie die geforderten Beträge.

In dieser Familie kannte aber jedes Mitglied die Spielregeln. Daher war Kurt sich sicher: Seine Schwester hatte bei ihren Angaben einen ordentlichen Aufschlag sicherheitshalber gleich eingerechnet.

Damit war es an Kurt, sich um seine Mutter zu kümmern. Die sah das natürlich genau umgekehrt. Zumal Kurt ja zwischenzeitlich in einer Behindertenwerkstatt gelandet und damit ausgewiesen nicht selbständig lebensfähig war. Doch letztlich bildeten Kurt und seine Mutter eine unselige Symbiose, die anscheinend nur der Tod aufzulösen vermochte. Und genau so sollte es auch kommen.

Kurt hatte zwar sein Abitur noch mit exzellenten Noten in den naturwissenschaftlichen Fächern abschließen können.

Doch bereits zu der Zeit - sein Vater war kurz zuvor in den Suizid gegangen - hätte man sehen können, dass die Dinge keineswegs normal liefen. Entsprechend hatte Kurt sein Mathematikstudium im dritten Semester abbrechen müssen. Diese Semester verkürzten ihm dann zwar seine Elektroniker-Lehre. Doch auch das nur zu dem Ergebnis, bei Woolworth als Substitut vorübergehend eine kleine Elektroabteilung leiten zu dürfen.

Der ganze Kram aus Fernost in billigem Plastiklook und albernen Farben bereitete Kurt körperliche Schmerzen. Also tat er, was er in Krisenzeiten immer tat. Er schaffte sich seine eigene Welt.

Anfangs durchaus noch interessiert an der hiesigen. So wollte er, als das Rendezvous, welches er auf eine Kontaktanzeige in der Zeitung hin in Aussicht hatte, endlich anstand, auf Nummer sicher gehen und mietete für einem Samstagabend den kompletten Bankett-Saal des Schlosses Hugenpoet in Essen-Kettwig.

Seine Auserwählte kam nicht. Wohl aber die Rechnung. Kurt versicherte seiner Mutter, dass er ganz bestimmt festgenommen werden würde, wenn sie die Rechnung nicht bezahlten. Und Mutter zahlte. Nicht jedoch, ohne Kurt eindringlich darauf hinzuweisen, dass diese Summe vom Erbteil abgezogen würde.

Dass Kurt schon längst volljährig war und damit auch schon längst seinen Anteil vom Erbe hätte bekommen müssen, spielte natürlich keine Rolle. Kurts Mutter verwies bei solchen Gelegenheiten auf die lange Schuldenliste.

Etwa, als Kurt es für eine gute Idee gehalten hatte, den Steinschlag in der Windschutzscheibe seines Fiat Cinquecento in der heimatlichen Küche zu reparieren. Das Harz bekam er gut auf den Kratzer und gut auf die Küchenfliesen. Die ausgebaute Windschutzscheibe des kleinen Italieners bekam er auch gut in den Backofen. Denn das Harz sollte bei einhundertachtzig bis zweihundertzwanzig Grad austrocknen.

Warum dann die Scheibe trotzdem geplatzt und in tausend Stücke zersplittert ist, weiß der Himmel. Der Backofen war jedenfalls hin. Was aber im Grunde auch nicht so schlimm war, denn Kurts Mutter backte nie. Sie konnte noch nicht einmal Brötchen aufbacken. Daher war der Verlust des Backofens eigentlich zu verschmerzen. Leichter jedenfalls als jener der Badewanne.

In selbiger hatte Kurt den rechten vorderen Kotflügel nach einer leichten Karambolage mit einer Telefonzelle wieder in Form bringen wollen. Die Schweißpunkte gaben der Emaillebeschichtung der Wanne allerdings den Rest und ein wenngleich schickes, so doch irreparables Muster.

Dummer Weise hatte Kurt bei der Aktion nebenher auch noch die Dichtungen am Abfluss und zur Wand hin geschreddert. Womit die Badewanne nicht mehr benutzbar war. Oder präzise ausgedrückt: Badete jemand im Obergeschoss, wurde die Küche darunter gleich mit geflutet. Ja, auch Kurts Mutter hatte es nicht leicht.

Die Nummer mit der Kontaktanzeige in der Zeitung machte Kurt obendrein erneut zum Gespött seiner männlichen Kollegen in der Gruppe:

»Die Anzeige hättest du mal besser in Wuppertal aufgegeben!« »Wieso in Wuppertal?«, fragte Kurt auch noch dackeltreu zurück. »Na, einem Kumpel habe ich erzählt, dass in Wuppertal die Züge durch die Luft fahren. Sagt der: Boah ey, Wuppertal! Und wollte sofort nach Wuppertal umziehen. Ist dann in Wuppertal zur Zeitung hin, erklärt der Mieze am Schalter, dass er jetzt eine Wohnung braucht. Mieze am Schalter macht die Suchanzeige fertig.

Eine Woche später hat mein Kumpel eine eins-A-Wohnung in Wuppertal. Er gleich wieder: Boah ey, Wuppertal. Geht dann noch mal zu der Mieze von der Zeitung und sagt: Jetzt brauche ich aber auch Arbeit, damit ich die Wohnung bezahlen kann.

Mieze macht Anzeige fertig. Mein Kumpel hat nach wieder einer Woche einen fetten Job. Kannst dir ja denken was der sagt: Boah ey, Wuppertal!

Nachdem er sich so eingelebt hat in Wuppertal, geht er noch mal zu der Mieze am Anzeigenschalter. Erklärt ihr ein wenig schüchtern, dass das alles ja wunderbar klappt in Wuppertal. Aber so rein hormontechnisch wäre es nicht schlecht, wenn jetzt eine Frau in sein Leben träte.

Kein Problem, sagt die Mieze. Beschreiben sie doch mal, was für eine Frau sie suchen. Mein Kumpel legt dann gleich los: Astrein aussehen muss sie natürlich. Darf auch ruhig ein bisschen was auf den Knochen haben. An den richtigen Stellen, versteht sich. Und ähnlich wichtige Details. Die Mieze liest ihm dann alles nochmals vor.

Mein Kumpel verdreht verzückt die Augen und sagt: Jau, fertig machen, das ist sie!

Fragt die Mieze ein letztes Mal: Eine Angabe fehle ihr noch: Einspaltig oder zweispaltig? Kannst dir ja denken, was mein Kumpel gesagt hat: Boah ey, Wuppertal!«

Auch wenn Tom-Tom ziemlich sicher annahm, dass Kurt die Pointe nicht verstanden hatte, machten Kurt diese und ähnliche Frotzeleien in der Folgezeit das Leben nicht leichter.

Den finalen Schuss versetzte sich Kurt jedoch erst mit seiner Idee vom Bühnen- und Discotechniker. Okay, Woolworth Elektroabteilung war jetzt vielleicht nicht die Verwirklichung aller durch die Familie gestellten Erwartungen an einen Abiturienten mit Prädikatsabschluss in den naturwissenschaftlichen Fächern.

Kurt nahm die unausgesprochen im Raume stehende Herausforderung an und bastelte an einer zweiten Existenz.

Die Nummer mit der Discotechnik ging nach Tom-Toms Einschätzung auf gleich zwei gravierende Fehleinschätzungen durch Kurt zurück. Zum einen war Kurt der Meinung, dass er als begnadeter Naturwissenschaftler deren Gesetze völlig durchschaut und im Griff habe. Zum anderen war sich Kurt sicher, dass er als Herr der Lightshow in der Disco bei den Mädels top angesagt wäre. Womöglich noch vor dem DJ. Denn wie sollte der ohne Kurt eine gescheite Bühnenshow mit Wahnsinnseffekten hinbekommen?

Kurt hat sich in dieses Thema, wie es nun einmal seine Art war, leibhaftig hineingefressen. Er arbeitete Schaltpläne für Stroboskop-Kanonen heraus, dass es nur so krachte.

Entwarf Nebelmaschinen, die mit flüssigem Kohlenstoffdioxid betrieben wurden, und kam über alledem kaum noch zur Ruhe.

Nachdem seine ersten Prototypen beeindruckend funktionierten und er tatsächlich sein erstes Engagement in einer Vorortdisco erhalten hatte, machte es bei Kurt natürlich wieder klick. Zu schade für den Vorort war wohl eher vom Vater vererbt. Zu teuer, Kohlenstoffdioxyd nur für einen Disco-Auftritt zu bestellen, dann mehr die Schottennummer der Mutter.

Also setzte sich Kurt in seinen Fiat Cinquecento und fuhr nach Düsseldorf zu Messer Griesheim, heute Air Liquide.

Beim Pförtner bestellte er um Punkt zwei Uhr dreißig in der Früh zwei Tankwagen Kohlenstoffdioxid an die Lieferadresse seines Elternhauses. Der Pförtner gab die Bestellung brav weiter. Der Vertrieb verbuchte die Bestellung ebenfalls ordnungsgemäß, ohne Kurt als Erstbesteller, die Lieferanschrift, seine Bonität oder auch nur einen Handelsregistereintrag nachzuprüfen. Eilbestellung hatte der Pförtner dick unterstrichen vermerkt.

Kurt musste wohl Eindruck gemacht haben. Schätzungsweise hatte er den sündhaft teuren Anzug getragen, welchen er für die Nummer auf Schloss Hugenpoet erstanden hatte. Und den Fiat wird er um die Ecke geparkt haben.

Die Bestellung ging dann tatsächlich auf Tour. Am späten Donnerstagabend. Denn freitags sollte die Disco von Kurts Show elektrisiert werden. Doch die beiden Tanklastzüge hatten sich in den kleinen Anliegerstraßen der Siedlung, in der Kurt wohnte, hoffnungslos festgefahren. Alles dies war noch lange vor Handy und auch lange vor Navigationsgerät.

5 - Der Avvocato

Kennengelernt hatte Tom-Tom den Avvocato über Mutti. Mutti war, wie der Name schon sagt, zuständig für Planung, Versorgung, Kartenbestellungen und häufig genug auch Kreditausschüttungen an den Haufen HSV-Fans, die sich im Großraum Niederrhein / Ruhrgebiet bis angrenzend Niederlande zu einer lockeren Fahr- und Feiergemeinschaft zu HSV-Spielen zusammengefunden hatte. Na ja, die Sache mit dem Feiern mussten sie in den letzten Jahren regelmäßig anderen überlassen.

Tom-Tom war einige Jahre lang solo zu den Heim- und Auswärtsspielen des HSV gefahren. In den ersten Jahren noch mit seiner großen Reise-Enduro, danach mit einem 125er Roller, den er speziell für diverse Toskana-Urlaube gekauft hatte.

Insbesondere der Roller hatte ihm, ohne dass er das zu diesem Zeitpunkt wissen konnte, in besagter Fahrgemeinschaft einen veritablen Respekt eingebracht. Denn die Jungs hatten ihn irgendwo bei Karlsruhe in nicht strömendem, sondern schon sintflutartigem Regen bei gefühlten Minustemperaturen von locker zehn Grad unter dem Nullpunkt auf dem Rückweg von Freiburg überholt.

Erkannt hatten sie ihn als HSV-Fan aus dem Rheinland natürlich am Nummernschild und an der am Topcase befestigten Vereinsfahne. Alle Achtung, hatte damals der Avvocato, der am Steuer gesessen hatte, zu den anderen gesagt: »Datt ist aber mal echt 'en Harten.«

Gut, mit Roller oder Motorrad zum Spiel war ja jetzt nicht so schlecht. Weder Stau unterwegs noch Parkplatzsuche waren jemals ein Thema. Doch erstens war alleine fahren echt öde. Und zweitens auch nicht gerade die günstigste Variante, so eurotechnisch gesehen.

Also hatte Tom-Tom zu Beginn der neuen Saison im Forum unter Mitfahrgelegenheit gepostet:

»Suche Mitfahrgelegenheit aus Großraum Düsseldorf zu allen Spielen des HSV. Bin bislang mit Roller solo unterwegs. Allein ist aber wenig kommunikativ, außer für den Geldautomaten.«

Insbesondere die Sache mit dem Roller brachte einige Nachfragen von Fans aus dem Forum, die nicht glauben wollten, dass man bekloppt genug sein konnte, aus dem Rheinland nach Hamburg regelmäßig mit einem Roller anzureisen.

Für Mutti war das alles gar kein Thema und auch keine Besonderheit. Er wollte nur ein weiteres Schäfchen unter seine Fittiche bringen. Und so wurde bereits das zweite Spiel der neuen Saison zu einer gemeinsamen Fahrt mit den Jungs und mit dem Avvocato.

Mit dem Avvocato verstand Tom-Tom sich gleich vom ersten Moment an richtig gut. Er hatte diesen trockenen norddeutschen Humor. Gepaart mit inzwischen gut dreißig Jahren Überleben im Ruhrgebiet. Also echt en Töften, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte.

Außer vielleicht, wir hatten gegen die blau-weiße Arroganz des Ruhrgebiets verloren und der Avvocato musste sich dutzende aufmunternde Short Messages seiner Kollegen gefallen lassen, die nahezu durchgängig Schalke-Fans und damit quasi von Geburt an bekloppt waren.

Spätestens seit der Avvocato sich als kleiner Junge auf dem Weg zur Schule von mehreren - natürlich deutlich älteren - Schalke-Fans, die man auch ohne Trikot sofort am unsere-Eltern-gehen-zum-BVB-Syndrom erkennen konnte, einige Ohr-Watschen eingefangen hatte, weil er so dreist gewesen war, in der blau-weißen Sperrzone mit seinem nagelneuen HSV-Trikot zu Schule zu gehen, gab es für den Avvocato nur ein oberstes Saisonziel: Nicht gegen den blau-weißen Mob verlieren!

Um das zu erreichen, wurden alle verfügbaren Fußball-Geister beschworen: Hatten sie den letzten Sieg unrasiert eingefahren, ging es natürlich unrasiert zum Spiel. Auch Nuancen konnten entscheidend sein: Drei-Tage-Bart oder nur die üblichen Wochenend-Stoppeln. Die Fußball-Götter nahmen die Abläufe sehr genau. Die kleinste Abweichung konnte dazu führen, dass auch die sorgfältigste Vorbereitung nicht von Erfolg gekrönt war.

So hatten sie zuletzt das Derby in der Nähe von Delmenhorst sicher nur deswegen verloren, weil der Holländer dieses Mal auf dem Rücksitz gesessen hatte. Bei jedem erfolgreichen Derby zuvor - erfolgreich war natürlich schon jede knappe Niederlage! - hatte der Holländer immer auf dem Beifahrersitz gesessen.

Da half dann auch die grüne Unterhose von Mutti nichts mehr, die er wie immer vor einem Derby ordentlich gelüftet hatte.

Denn waschen hätte das Karma des letzten Unentschieden zerstört. Hätten sie im Vorhinein gewusst, wie wichtig der Holländer auf dem Beifahrersitz war, sie hätten ihn im Leben nicht auf die Rückbank verbannt.

Da musste er sitzen, weil bei der Fahrt zum Derby in der Saison zuvor ein echt gravierendes Missgeschick geschehen war. Der Holländer hatte gerade die fünf Tickets für den Auswärts-Steher auf der Armaturenablage drapiert und wollte von Mutti, der am Steuer saß, wissen, wer noch an wen wie viel zu bezahlen hatte, bevor er sie verteilte.

Vielleicht war es ein kleiner Schelmenstreich der Fußball-Götter, dass just in dem Moment der Presbyter auf dem Rücksitz, eingekeilt zwischen DJ und Mongo, einen derart hammerartigen Darm-Bengalo in die Welt entließ, dass »Presbyter, du Wildsau!« schreien und Fenster herunterfahren im Grunde beim Holländer eine einzige fließend natürliche Körperreaktion auslöste, die auch nicht mehr durch Muttis »bloß nicht das Fenster!« aufgehalten werden konnte.

Jedenfalls lagen die fünf Tickets jetzt irgendwo zwischen Holdorf und Vechta verteilt auf der Autobahn. An ein Einsammeln war nicht zu denken und das Spiel damit abgesagt.

Zurückfahren? Undenkbar. Das Spiel irgendwo in Delmenhorst in der Kneipe anschauen? Hallo? Geht’s noch? Was blieb? Gas geben, nach Hamburg durchfahren und das Spiel da in vertrauter Umgebung in einer Supporters-Kneipe anschauen.

Ausreichend Platz müsste sein. Schließlich waren die meisten von denen einhundert Kilometer südlich im Stadion. Und danach? Bloß die Schnauze halten und niemandem von der Nummer erzählen. Und dann haben wir das Derby auch noch richtig gut gespielt. Kam ja auch nicht so oft vor.

Das war der Grund, warum der Holländer nicht mehr vorne sitzen durfte. Und das ist auch ganz sicher der Grund, warum wir diese Saison trotz präziser Vorbereitung das Derby dann wieder verloren haben. Die Fußball-Götter nehmen auch kleinste Details sehr genau.

Der Avvocato war, wie der Name schon sagt, im zweiten Leben niedergelassener Rechtsanwalt, und zwar für Arbeitsrecht. Mit anderen Worten: Hauptsächlich mit der Vertretung von Hartz-IV Vorgängen betraut. Ein sicherer Garant für zumindest zwei Dinge: Den Kontakt zur S04-Klientel nicht zu verlieren und ganz sicher nicht zum Arschloch zu konvertieren.

In gewisser Weise war er die männliche Ausgabe von Danny Lowinski, mit allerdings deutlich spektakulärerer Körbchen-Größe.

Dafür ohne Klapptisch, aber mit fester postalischer Adresse und einem Einkommen, welches ihn gelehrt hatte, dass Tempo fünfundneunzig völlig ausreichend war, pünktlich zum Spiel nach Hamburg zu kommen. Wenn man rechtzeitig genug losfuhr. Mit vollem Tank kam man so bis nach Hamburg zum Spiel und noch einen Teil des Rückweges bis Osnabrück-Hafen, wo die Jungs gerne auf einen kraftvollen Fünf-Sterne-Burger einkehrten.

Da der Avvocato und Tom-Tom nie wirklich diese Leidenschaft hatten teilen können, wichen sie meistens in die ordinäre Pommes-Bude direkt nebenan aus oder ließen den Spätimbiss komplett sein.

Nachdem die Jungs dann wieder eingesammelt waren, was sich leichter anhört, als es tatsächlich vonstattenging, wurde die Heimfahrt fortgesetzt.

Von der präzisen Ursache für die aktuelle Niederlage im Derby hatte der Avvocato übrigens erst sehr viel später erfahren, da er die Tour solo über Rotterdam gefahren war.

Dennoch hatte es ihn ungeheuer beruhigt. Er hat dem Holländer auf der nächsten Tour fünf Biere ausgegeben und aus gutem Grund für sich behalten, dass er den Gewinner-Dress der letzten drei siegreichen Derbys - ein ganz besonders ausgefallenes Exemplar von Einteiler in geschmackvollem Leoparden-Muster, welches er sich anlässlich eines ziemlich ausgelassenen Herrenabends verdient hatte - dieses Mal partout nicht hatte finden können.

Es waren natürlich seine Kollegen von der Schalke-Front gewesen, welche ihm dieses ausgesprochen geschmackvolle Dessous kredenzt hatten. »Hör mah! Auf’m Kiez bisse damit der Stier überhaupt. Fär’sse doch sowieso immer hin. Musse anziehn, bisse voll der Gewinner!«

Der Avvocato hatte weder die Geduld noch die sonderpädagogische Ausbildung, einem Schalke-Fan zu erklären, dass man entweder zum Kiez oder zum HSV fährt.

Hätte der sowieso nicht verstanden. Also hatte er brav den geschmackvollen Einteiler in Leopard-Optik angezogen, natürlich den Kumpels einen kurzen Blick vergönnt und war nicht lange danach nach Hause gedackelt.

Irgendwie hatte er dann aber morgens den Wecker überhört und war erst vom Presbyter nach vielen Versuchen per Handy wach geklingelt worden. Der bereits ein halbe Stunde am Treffpunkt auf ihn gewartet hatte. Wasser ins Gesicht, Zähne putzen, Eintrittskarte und Geld am Mann? Okay, dann mal schnell los. So ging der Einteiler mit auf Tour, wurde zum Gewinner-Dress und war damit fortan bei jedem Derby unverzichtbar.

Natürlich wurden nur die engsten Freunde in die Geschichte eingeweiht. Was letztlich nichts anderes bedeutete, als dass im Grunde jeder aus der Fahrgemeinschaft sowieso über Facebook bestens auf dem aktuellen Stand war. Aber auch der größte Teil im Block über den wahren Grund des unerwarteten Derby-Sieges Bescheid wusste.

Allein schon deshalb ließ es dem Avvocato keine Ruhe, wo der Einteiler denn wohl hin abgekommen sein konnte. Das nächste Derby durfte nicht dem Zufall überlassen bleiben.

Sich da nur auf den Holländer und sein Karma verlassen, konnte grob leichtsinnig sein. Besser noch mal in aller Ruhe suchen und Vattern Bescheid geben, der sich in ihrer Zwei-Männer-WG um die Wäsche kümmerte: Dieser Einteiler ist tabu für die Waschmaschine (oder die Putzlappensammlung

6 - Kurt kommt so gar nicht auf die Beine

Der Sozialpädagoge redete und redete. Dabei sprang er nicht nur ständig von einem Bein auf das andere. Auch seine Gedanken sprangen recht munter zwischen den jeweiligen Schauplätzen und zeitlichen Zusammenhängen hin und her.

Tom-Tom kannte den Sozialpädagogen zu lange und zu gut, als dass er versucht hätte, ihn zu unterbrechen. Irgendwie würde er die Geschichte schon zusammenpuzzeln und in eine verständliche Reihenfolge bringen können.

Er konnte sich noch gut erinnern, wie der Sozialpädagoge vor einigen Jahren einen behinderten Mitarbeiter, den sie wegen eines psychotischen Schubes in die Klinik bringen mussten, dadurch beruhigen wollte, dass er ihn auf der Fahrt dorthin weiter rauchen lassen wollte.

Ihr Dienst-Bulli hatte keinen Aschenbecher. Der Mitarbeiter war so von der Rolle, dass er ständig neue Zigaretten anzündete und mindestens immer drei gleichzeitig unterwegs hatte. Also kam der Sozialpädagoge auf die glorreiche Idee, aus der Werkstatt auch drei Aschenbecher mitzunehmen.

Man wollte ja schließlich kein Brandloch im Sitzpolster des Bullis haben. Natürlich nicht die aus Kunststoff, sondern gläserne.

Es kam, wie es kommen musste. Der wibbelige Sozialpädagoge stolperte mit seinen drei Aschenbechern über die Trittstufe des Bullis, flog mit dem Kopf voraus ungebremst in den Fahrgastraum und zerdepperte alle drei Aschenbecher. Neben einer ordentlichen Schnittwunde am Arm zog er sich noch eine recht eindrucksvolle Beule an der Stirn zu. Machte ja nichts, ging 'eh in die Klinik.

Der psychotische Mitarbeiter hörte den lauten Knall, als die Aschenbecher zersprangen. Sah das Blut auf den Boden tropfen. Und reagierte folgerichtig: Er fing an zu schreien, um sich zu schlagen und war nicht mehr zu beruhigen. Also mussten sie jetzt tun, was sie unbedingt hatten vermeiden wollen: Ambulanz und Polizei anrufen. Das ganz große Besteck.

Kliniküberführung mit Blaulicht und in Handschellen. Na super. Brachte geschätzte drei Monate geschlossene Station anstelle Krisenintervention über das Wochenende. Für die behinderten Mitarbeiter wurden Anforderungsprofile und Stressanalysen erstellt. Hätte man mal besser für die Fachkräfte machen sollen.

Doch nun gab es ja keine Aschenbecher mehr zu zerschlagen. In der Werkstatt herrschte schon seit geraumer Zeit Rauchverbot. Tom-Tom merkte, dass er immer ungeduldiger wurde. Der Sozialpädagogen-Kollege war ein netter Kerl. Trotzdem konnte Tom-Tom ihn nur begrenzt lange ertragen. Er war einfach zu wibbelig.

Weghören und an Hamburg denken, was er es sonst immer tat, war dieses Mal nicht möglich. Er wollte ja schließlich wissen, wie Kurt nach Hamburg gekommen war. Nach gefühlten vier Stunden stellte sich der Hergang aus dem Wortgemetzel des Sozialpädagogen wie folgt dar:

Kurt hatte sein Projekt, wie komme ich an eine Frau, mit mehreren Versuchen fortgesetzt. Teile der Geschichte hatte Tom-Tom noch zu Zeiten seines Gruppendienstes miterlebt.

So war Kurt kurzzeitig offiziell mit einer ebenfalls behinderten Mitarbeiterin aus der Werkstatt verlobt. Er brachte ihr regelmäßig Blumen und Zigaretten. Räumte ihre Wohnung auf. Lud sie zum Essen ein. Alles Dinge, die Männer so tun, wenn ihre Lebensplanung im nächsten Abschnitt Ehegatte vorsieht. Jedenfalls dachte sich Kurt, dass es so ablaufen müsste.

Irgendwann hatte es sich dann ausverlobt. Nicht unwesentlichen Anteil an dem Zerwürfnis hatte ein ehemaliger Mitarbeiter der Werkstatt, der Kurts Verlobter zwar weder Blumen noch Zigaretten brachte. Sie dafür aber regelmäßig flachlegte, wie man sich zu der Zeit in Kurts Kreisen auszudrücken pflegte.

Kurt hatte seine Verlobte nie flachgelegt. Das wollte er sich bis nach der Hochzeit aufsparen. Sah das Ablaufschema in seinem Logbuch jedenfalls so vor.

Was nicht vorgesehen war, fand dann im wirklichen Leben statt. Eines Tages hatte Kurt den Bus verpasst, der ihn zu seiner Verlobten bringen sollte. Also nahm er sich kurzer Hand ein Taxi und kam früher als verabredet bei der Wohnung der Verlobten an. Die war aber noch intensiv in flachlegen-Stellung und flachlegen-Stimmung, was bis in das Treppenhaus nicht zu überhören war.

Kurt war empört und verletzt. Möglicherweise auch in umgekehrter Reihenfolge. Die Verlobung wurde jedenfalls förmlich aufgehoben. Per Einschreiben und mit Rückforderung des Verlobungsringes.

Kurt hielt noch gut eine Woche durch. Danach landete er wieder auf der geschlossenen Station und blieb dieses Mal für ein gutes halbes Jahr dort. Beziehungsgeflecht therapeutisch entsorgen.

Die nächste Auserwählte war dann zwar deutlich hübscher, als Kurts Verlobte es gewesen war. Entsprechend groß war damit aber auch die Heerschar ihrer Verehrer und Kurts Konkurrenz.