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Trotz mangelhafter Fitness, fehlender Planung und ohne ausreichende Kenntnisse der Landessprache entschied sich Andreas Kühnapfel 2008 den Jakobsweg zu laufen. Allen Schwierigkeiten zum Trotz fand er zwar keine Erleuchtungen, dafür aber einige interessante Begegnungen und etwas Ruhe. Den eigentlichen Grund seiner Reise fand er aber erst Jahre später - ohne ihn je gesucht zu haben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Fluch(t) und Segen
Prolog
Der Weg beginnt bei Ihnen
Erster Tag
Zweiter Tag
Dritter Tag
Vierter Tag
Fünfter Tag
Sechster Tag
Siebter Tag
Achter Tag
Neunter Tag
Zehnter Tag
Die Zeit danach
Entscheidungen
Die Regeln bei Madame
Wenn Blicke töten könnten…
Das Ende
Und warum?
Impressum
Auf allen Vieren...
... und andere Katastrophen
Ein Erlebnisbericht von Andreas Kühnapfel
El camino comienza en su casa. Für meine Familie.
Vorwort von Falk Enderle
Unterwegs sein, auf dem Weg zu sein war schon immer Teil seines Lebens. Als ich ihn kennenlernte, war Andreas nie wirklich zu Hause, so glaube ich es zumindest, jedenfalls nicht in seinem Herzen. Selbst wenn er körperlich anwesend schien, waren seine Gedanken unterwegs, hier und da, zwar auch immer bei seinen Gesprächspartnern, aber zwischendurch woanders.
Kennengelernt haben Andreas und ich uns, als er mal körperlich angekommen war, in der Pfalz, weit weg von seiner Heimat. Da ich eine genauso eskapistische Ader habe wie er und mithilfe von guten Geschichten »Urlaub im Kopf« machen kann, lagen wir gleich auf einer Wellenlänge. Aus dem Eskapismus ist ein gemeinsames Buch geworden, eine Reise mit Worten, mit und in die Fantasie, ein Fantasy-Roman, in dem ein bisschen etwas von meiner Vergangenheit und etwas von Andreas’ Vergangenheit steckt.
Ich bin mir gerade nicht sicher, ob »Auf allen Vieren« vor oder nach dem »Drachengeist« entstanden ist. Aber das ist auch nicht wichtig. Einzig und allein wichtig ist, dass Andreas in seinem Büchlein über seinen Jakobsweg eine Reise nachzeichnet, der er sich bis zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben immer verweigert hatte: das Unterwegssein zu sich selbst. Sicherlich war das Buch über seinen persönlichen Jakobsweg nur ein Baustein all jener Anstrengungen in seinem Leben, die zu einiger Selbsterkenntnis führte. Aber es war ein Baustein für Andreas zu sich zu finden und zu erkennen, dass einer der Gründe für sein Reisefieber auch ein wenig die Flucht vor sich selbst zu sein schien. Ich kenne ähnliche Gedanken und Beweggründe auch von mir, eine »Welt-Flucht« kann schließlich Fluch und Segen, freundlich-eskapistischer Nachbar im Alltag und finsterer Einschlepper von Depressionen sein. Wichtig ist das Erkennen und danach das Unterscheiden-Können von »guten« und »schlechten« Einflüssen auf die eigene Psyche. Und das schwierige Eingeständnis, dass Depressionen zum eigenen Charakter dazugehören. Auch wenn es schwerfällt. Das hat Andreas geschafft, und deshalb gebührt ihm Respekt.
»Auf allen Vieren« erinnert mich jedenfalls daran, dass Unterwegssein nicht nur eine Flucht sein kann. Sondern auch etwas Heilsames. Auch wenn Andreas’ Füße etwas anderes sagen würden.
Falk Enderle, März 2023
Es tut immer weniger weh, und die Regenerationsphasen werden beständig kürzer. Wie bei einem Boxer. Beim ersten Niederschlag bleibt er noch zehn Minuten liegen, beim zweiten fünf. Er lernt Schläge einzustecken und die Folgen zu verarbeiten.
Bis es irgendwann gar nicht mehr geht.
Irgendwann am ersten Tag, während sich die ersten Erschöpfungssymptome zeigten, dachte ich sarkastisch darüber nach, dass ich mit meinen Stöcken ja eigentlich auf allen Vieren lief. Ich wollte also auf allen Vieren nach Nancy.
Aber verflucht. Meine Arme waren nicht gewohnt zu laufen.
Der Weg nach Toul
2008
Wirkliche Einsamkeit beschränkt sich nicht unbedingt auf die Zeit, in der man alleine ist.
Charles Bukowski
An einem Sonntag im August saß ich wieder einmal im Büro. Ärgerlich schon deshalb, da mir an diesem Tag so manches durch den Kopf ging. Zum Beispiel, dass der erste Todestag meines Hundes, Jerry Lee, bevorstand. Ich dachte lange an den Moment, als er vor mir im Gras saß, hechelte und nicht mehr aufstehen wollte. An das Gefühl, das mich beschlich, als mir klar wurde, dass dieser Hund, der mich 15 Jahre lang begleitet hatte, immer für mich da war und mir alles gegeben hatte, am Ende seines Weges angelangt war. Er starb etwa eine Stunde später, seinen Kopf auf meinem Schoss.
Dazu kamen noch ein paar schlechte Nachrichten persönlicher Natur, ein technisches Problem und der Umstand, dass ich bei strahlendem Sonnenschein arbeiten durfte.
Unter anderem wurde ich an diesem Tag gefragt, ob ich nicht einmal Lust hätte, den Jakobsweg zu laufen. Dieser Begriff hatte schon vorher angefangen, seinen Weg in die Öffentlichkeit zu finden. Nicht zuletzt durch das Buch eines populären Comedians. Doch eigentlich war ich der Ansicht, dafür keine Zeit zu haben.
Das bequeme Versteck hinter meiner Verantwortung und den vielen wichtigen Dingen, die zu tun waren, funktionierte tadellos. Der Schutzwall gegen den ersten Schritt, hinaus aus der eigenen Komfortzone, funktionierte einwandfrei.
Dies war aber auch der Zeitpunkt, an dem ich wahrscheinlich kurz vor einem Burn-Out oder auch einem dramatischen Zusammenbruch stand. Die Monate davor hatten für mich eigentlich nur puren Stress gebracht. Mein Stundenkonto im Büro war eindeutig zu hoch und ich hatte noch nicht einmal alle Stunden aufgeschrieben. An jedem Feiertag in diesem Jahr saß ich an meinem Schreibtisch, jeder Fehler, der irgendwo gemacht wurde, musste von mir verantwortet werden und eine langjährige Beziehung war auch zerbrochen. Zudem hatte ich noch meinen nahezu kompletten Jahresurlaub offen, den ich ja irgendwann nehmen musste.
Nach einigem Überlegen und vielem Hin und Her fiel mein Entschluss: ich würde diesen Weg gehen!
Mir gefiel schon die spirituelle Bedeutung. Die Tatsache, dass seit Jahrhunderten Menschen diesen Weg gingen, in der Hoffnung, Lösungen für ihre Probleme zu finden, Gott zu treffen oder Buße für irgendwelche Sünden zu tun. An diesem Abend, denn irgendwann endet jeder Arbeitstag, dachte ich lange nach. Nicht nur über diesen Weg, auch über seine Bedeutung und natürlich wieder einmal mein Leben, die Bedeutung des Weges für meine Zukunft, die Bedeutung meines Vorlebens für mein augenblickliches Leben und die Bedeutung des schwarzen Fleckes an der Wand, der sich nach einigem Starren als Wolfspinne entpuppte.
Ein erster Planungsversuch begann ebenfalls an diesem Abend. Glücklicherweise fand sich im Internet ja 2008 schon reichlich zu dem Thema. Blogs und Foren klärten über Dinge auf, die man machen sollte − oder auch nicht. Ich lernte schnell, dass der Jakobspilger einen Pass benötigt, den er an seinen einzelnen Stationen abstempeln lassen muss, um nachweisen zu können, welchen Weg er genommen hat.
Sicher sind öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahren per Anhalter verpönt, aber genau genommen muss man nur die letzten 100 Kilometer zu Fuß oder 200 Kilometer per Rad oder auf dem Pferd zurücklegen; um die Urkunde und das Abzeichen zu erhalten.
In der Planung war einer der kritischen Punkte zunächst, wie ich zu meinem Ausgangspunkt, ich dachte dabei zunächst an Saint-Jean-Pied-de-Port, kommen würde. Aber dann erfuhr ich, dass ich gar nicht so weit musste, denn:
El camino comienza en su casa.
»Der Weg beginnt bei Ihnen zu Hause«, heißt es. Genau genommen war ich also, allein durch die Planung, bereits unterwegs.
Okay, das vielleicht nicht, aber ich war bereits an meinem Ausgangspunkt. Der Weg begann vor der Haustür! Gerade hier in der Gegend ging sogar eine der offiziellen und ausgeschilderten Routen vorbei. Daher sollte mich ein Freund an einer dieser Strecken absetzen. Ich würde von da aus losgehen. Im Oktober.
Schon allein aufgrund der Hoffnung dass ich im Oktober auch wirklich allein sein würde. Denn seit der Veröffentlichung von »Ich bin dann mal weg«, war der Weg sehr populär, und es wurden Statistiken veröffentlicht, in denen vom »Hape Kerkeling-Syndrom« die Rede war. Was bedeutete, dass die Anzahl der Pilger tendenziell stark gestiegen war.
Außerdem kann im Sommer in Spanien jeder spazieren gehen! Der wahre Pilger geht im Herbst in Deutschland los.
Irgendwann gab ich dann auch die Routenplanung auf. Ich wusste genug. Für die ersten ein oder zwei Nächte hatte ich Herbergen gefunden, danach würde ich mich treiben lassen, einfach meiner Wege gehen. Ich wollte von Medelsheim nach Sarreguemines, von da aus weiter nach Metz, und dann runter Richtung Dijon. Ich hoffte wenigstens Nancy zu erreichen. Den weiteren Teil des Weges verlegte ich vorsorglich auf einen anderen Urlaub.
Da ich kein großer Heimlichtuer bin, wussten sehr schnell einige Leute von meinem Vorhaben. Ein paar waren sehr skeptisch, ob ich überhaupt losgehen würde. Oder ob das wieder eine meiner »Tauben auf dem Dach« war. Andere fanden die Idee eher unsinnig, machten sich Sorgen. was alles passieren könne, zumal ich ja alleine gehen wollte.
Um ehrlich zu sein, ich war mir selber nicht mal sicher, ob ich gehen würde. Erst einige Tage vor dem Start wurde mir klar, dass ich nun wirklich bald weg wäre. Ich wurde nachdenklich.
Hatte ich alles? Einer meiner Freunde hatte sich einen ganzen Abend Zeit genommen, mir zu erklären, worauf ich achten müsse. Die richtige Unterwäsche, das Packen des Rucksacks, Ausrüstungsgegenstände wie Panzertape und Kabelbinder, ein gutes Messer und einen Esbitkocher. Aber so manches Mal beschlich mich auch ein merkwürdiges Gefühl. Wusste ich, was ich da tat? War es nicht einfach nur eine hirnrissige Idee? Eine Spinnerei, die man besser aufgibt, bevor man sich in Schwierigkeiten bringt?
Aber da ich auch immer schon eine gewisse Sturheit besessen hatte, rang ich das Gefühl jedes Mal, einem Wrestler ähnlich, nieder, und sagte mir, dass ich schon das Richtige täte. Zusätzlich wuchs meine Neugier auf das zu erwartende Abenteuer. Schon allein die Tatsache, dass ich in Frankreich sein würde und eigentlich überhaupt kein Französisch verstand, versprach die ein oder andere Schwierigkeit mit sich zu bringen.
Das war nun auch nicht so unbedingt neu für mich. In den Jahren, in denen ich Lkws gefahren hatte, konnte ich so manche merkwürdige oder schwierige Situation erleben und vor allem überleben. Ich habe schon in dieser Zeit gelernt, dass die Menschen eigentlich gar nicht so schlecht sind, wie sie gern gemacht werden.
Egal in welcher Gegend, in welchem Land ich war, ob ich die Sprache konnte oder nicht, es galt immer: Geh auf einen Menschen zu, lächle, zeige dich etwas hilflos und bitte ihn um Hilfe. Diesem Menschen wird für gewöhnlich sehr schnell einfallen, dass er dir gar nicht helfen kann, oder vielleicht doch, oder dass er jemanden kennt, der dir helfen kann.
Man muss sicher ein wenig offen sein, Höflichkeit ist eine Grundvoraussetzung, und es gehört auch ein wenig Anpassungsfähigkeit dazu. Das würde schon alles funktionieren, da war ich mir sicher. Etwa eine Woche bevor es dann endlich losging, wurde ich langsam unruhig. Ich konnte es kaum mehr erwarten. Jeden Tag rief ich im Internet die Wettervorhersage ab. Aber mit jeder Abfrage veränderte sich die Vorhersage wieder. Bis ich dann beschloss, einfach nicht mehr nachzuschauen. Das war der Zeitpunkt, als ich vom Arzt kam, der mir gesagt hatte, ich sei kerngesund, und die Wettervorhersage mir mitteilte, dass an meinem ersten Tag leichter Regen auf mich warte.
Am letzten Tag vor der Abreise wurde ich noch einmal hektisch. Ich ging verschiedene Listen durch. Was musste ich noch erledigen?
Ein paar Kleinigkeiten mussten noch gekauft werden, ein Bild von Jerry-Lee musste mit. Dann wollte ich die Wohnung noch einmal putzen und den Rest des Gepäcks einpacken. Eventuell auch noch nach einigen Informationen zu meiner Route schauen.
Beim ersten Versuch, den gepackten Rucksack zu schultern, riss mich das Gewicht fast rückwärts zu Boden. Okay, der war also definitiv zu schwer. Noch einmal packen. Brauchte ich unbedingt dieses T-Shirt? Mussten drei Hoodies mit?
Zweiter Versuch. Immer noch schwer, aber das sollte schon gehen. Glaubte ich zumindest.
Ich hatte mir weder einen Wanderführer noch Kartenmaterial gekauft. Es musste ohne gehen. »Früher« ging es ja auch ohne. Ich hatte sowieso schon viel zu viel eingepackt und ich wollte es auch nicht zu einfach haben. Ein Blick nach draußen zeigte mir, dass das Wetter offenbar wirklich vorhatte, die nächsten Tage trübe und regnerisch zu bleiben. Sollte es doch.
Mich würde es nicht aufhalten.
Sonntag
Matz, ein guter Freund, fuhr mich zunächst zu einer gemeinsamen Freundin in Medelsheim, bei der wir noch einmal zusammen frühstückten. Mit einigem Entsetzen wurde hier noch einmal meine Planung in Worte gefasst:
»Wie, du weißt zwar, wo du hin musst, aber nicht, wie du hin kommst?«
Anschließend setzte er mich aus. Direkt am Weg. Natürlich begann der Weg an einer Kirche, genau genommen einer Friedhofskapelle. Wir alberten noch ein paar Minuten herum, machten ein paar Bilder, dann marschierte ich los, und schon nach etwa ein oder zwei Kilometern wurden mir zwei Dinge bewusst: Mein Gepäck ist deutlich zu schwer und ich bin nun allein. Auf mich gestellt.
Mir ging erneut die Frage durch den Kopf, was ich hier eigentlich tat. Auf was ließ ich mich da gerade ein?
Ich wusste zwar an diesem Tag, wo ich schlafen würde, aber nicht für die nächsten. Okay, das war früher, als ich noch LKW fuhr, und auch im Jahr davor in Irland normal, ja geplant. Aber da hatte ich auch immer ein Auto dabei, und wenn ich ein Auto habe, habe ich auch einen Schlafplatz.
Jetzt war es Oktober, Herbst, und da schläft es sich im Freien auch nicht immer so angenehm. Außerdem ist man im Auto wesentlich flexibler dabei, nochmal eben ein paar Kilometer weiterzufahren, als wenn man zu Fuß läuft. Das Gepäck liegt im Kofferraum und nicht auf dem Rücken.
Aber zu Fuß?
Eigentlich hatte ich da schon die Hosen voll, aber wenn man so vielen Menschen von seinem Plan erzählt hatte, blieb einem ja kaum noch eine Wahl.
Zudem war ich allein unterwegs und damit für niemanden verantwortlich. Wenn etwas schief ging und ich eine Nacht keinen Platz zum Schlafen bekäme, müsste ich lediglich mich durch irgendwelche Wälder schleppen. Ich könnte an Bahnhöfen schlafen oder unter einem Laubdach rasten und würde mir nicht noch Sorgen um jemand anderen machen.
Wenn ich dann von finsteren Gestalten überfallen und ausgenommen würde, dann wäre das nur mein Gepäck, mein Geld. Und es würde bestimmt noch eine tolle Story dabei herausspringen.
Von dem angekündigten Regen war übrigens auch nichts zu sehen und es wurde klar, dass es später auch noch sehr warm werden könnte.
Frohen Mutes griff ich also noch einmal die Wanderstöcke fester und schritt aus. Viel zu schnell, wie mir dann ein paar Kilometer weiter klar wurde. Denn da begannen die ersten Schmerzen in den Beinen. Von dem Gepäck überlastet rebellierten bereits meine Hüften, ich hatte Hunger und eigentlich schon wieder keine Lust mehr.
Kurz zuvor passierte ich einen Garten, in dem vom Besitzer zwei Jakobsmuscheln aufgestellt wurden. Die eine war mit dem typischen roten Kreuz verziert, die andere trug die Aufschrift: »Santiago di Compostella 2021 Kilometer«. Danke! Motivation geht anders. Wäre ich bereits 2000 Kilometer gelaufen, hätte das anders ausgesehen, aber so? Hechelnd wie ein Husky nach einem Rennen ließ ich mich auf eine verrottete Bank am Waldrand sinken, trennte mich von dem viel zu schweren Rucksack und drehte mir eine Zigarette.
Damit starb eigentlich schon ein erster guter Vorsatz. Unterwegs wollte ich mit dem Rauchen aufhören, aber – und da haben mir mehrere Raucher zugestimmt – das Fatale ist ja, dass so eine Zigarette eigentlich nur dann richtig gut schmeckt, wenn man gerade so richtig ausgepumpt ist und schon länger als üblich nicht geraucht hat.
Achselzuckend lehnte ich mich zurück, lauschte dem Wind, der durch die Bäume rauschte und genoss die Aussicht, die ich von diesem Waldrand aus hatte. Pläne schmiedet man, Vorsätze fasst man und Zeitpläne ändern sich. Das nennt man Flexibilität und erleichtert einem vieles. Warum sollte ich mich selber auch unter Stress setzen?
Ein Paar kam mit seinem Hund vorbei und sprach mich direkt an. Wo ich denn hin wolle. Während der gutmütig blickende Retriever sich von mir kurz hinter den Ohren kraulen ließ, beantwortete ich die Frage, wohin es denn gehen solle.
Eine Weile hörte ich mir daraufhin noch an, wie toll der Gedanke ja sei. Dann begann ich durch Körperhaltung und andere Symbolik, wie vor der Brust verschränkte Arme, zu signalisieren, dass ich nun eigentlich nicht mehr bereit sei, weitere Gespräche zu führen. Die drei gingen dann auch weiter und ich betrachtete noch eine Weile die Landschaft.
Man konnte sehr weit sehen und so saugte ich die Details in mir auf, direkt in mein Gedächtnis. Die weit entfernte Kirche, die bergige, stark bewaldete Fläche auf der einen Seite, die weitläufigen Felder auf der anderen. Bis mir dann klar wurde, dass ich mich wieder auf den Weg machen musste, denn Auersmacher, mein geplantes Tagesziel, würde nicht hier vorbeikommen.
Einige Kilometer weiter entdeckte ich zwei Schilder:
Hartungshof 2,9 km
Auersmacher 7,9 km
Ich ächzte, rückte den schweren Rucksack zurecht und trank aus der Wasserflasche.
Noch immer 7,9 Kilometer? Ich pfiff bereits aus dem letzten Loch, meine Hüften fühlten sich an, als würden sie jeden Moment ihren Dienst versagen und meine rechte Kniescheibe begann zu meutern.
Es half aber alles nichts, ich musste weiter. Ein Blick nach vorn zeigte, dass ich nicht nur noch etliche Kilometer, sondern dies auch noch über Berg und Tal vor mir hatte.
Endlich erreichte ich den Hartungshof. Ich hatte auf eine Gaststätte gehofft, in der ich vielleicht etwas essen könnte. Doch enttäuscht stellte ich fest, dass es sich hier offenbar nur um einen Hof handelt auf dem Reiter ihre Pferde einstellen können. Frustriert ging ich weiter, sah von Weitem einen weiteren Wegweiser. Eher flüchtig warf ich beim Erreichen einen Blick darauf:
Auersmacher 6,9 km
Wie konnte das sein? Nach meinen bescheidenen mathematischen Kenntnissen hätte da jetzt 5,0 stehen müssen. Fluchend stapfte ich weiter. Irgendwie hatte ich meinen Rhythmus mit den Stöcken auch noch nicht so recht gefunden und als ich nach gefühlten zwei Kilometern das nächste Schild erreichte, stand darauf:
Auersmacher 6,1 km
Was? Schob irgendeine übernatürliche Kontinentalverschiebung das Nest vor mir her? Oder waren diese Schilder einfach eine ähnliche Mogelpackung wie der Wonderbra?
Mit einem leisen, imaginären Plopp erschien ein kleines Teufelchen auf meiner Schulter.
»Gib auf«, wisperte es mir ins Ohr. Mit einem weiteren Plopp erschien ein kleines Engelchen.
»Du schaffst das schon. Es war doch klar, dass der Anfang schwer werden würde.«
»Ach was. So ein Unsinn. Pack deine müden Knochen ein und genieße deinen Urlaub daheim auf der Couch.