Auf Bewährung - Jonas T. Bengtsson - E-Book

Auf Bewährung E-Book

Jonas T. Bengtsson

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Beschreibung

Danny, Malik und Christian sind Freunde seit Kindheitstagen, doch ihre Wege haben sich getrennt. Während Danny im Gefängnis sitzt, ist Christian Polizist geworden. Malik, Sohn äthiopischer Einwanderer, studiert und arbeitet im Restaurant seines Vaters. Als Danny Auf Bewährung entlassen wird, möchte er seine Freunde treffen. Aber Malik ist verschwunden. Wäre es irgendein anderer aus seinem alten Viertel gewesen, hätte Danny es mit einem Achselzucken abgetan. Aber nicht Malik, jeder andere, aber nicht sein Kumpel Malik. Danny verspricht Maliks Familie, dass er ihn finden wird. Und es ist vielleicht das erste Versprechen seines Lebens, das er auch einhalten wird.

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ZUMBUCH

Danny, Malik und Christian sind Freunde seit Kindheitstagen, doch ihre Wege haben sich getrennt. Während Danny im Gefängnis sitzt, ist Christian Polizist geworden. Malik, Sohn äthiopischer Einwanderer, studiert und arbeitet im Restaurant seines Vaters. Als Danny auf Bewährung entlassen wird, möchte er seine Freunde treffen. Aber Malik ist verschwunden. Wäre es irgendein anderer aus seinem alten Viertel gewesen, hätte Danny es mit einem Achselzucken abgetan. Aber nicht Malik, jeder andere, aber nicht sein Kumpel Malik. Danny verspricht Maliks Familie, dass er ihn finden wird. Und es ist vielleicht das erste Versprechen seines Lebens,das er auch einhalten wird.

ZUMAUTOR

Jonas T. Bengtsson, geboren 1976, ist Preisträger des renommierten Per-Olov-Enquist-Preises und Autor von vier Romanen. Für Aminas Briefe (2005) wurde er mit dem Dänischen Debütantenpreis ausgezeichnet, es folgten Submarino (2007, adaptiert von Thomas Vinterberg) und der SPIEGEL-Bestseller Wie keiner sonst (2013). Jonas T. Bengtsson lebt in Kopenhagen.

JONAS T. BENGTSSON

AUF BEWÄHRUNG

ROMAN

Aus dem Dänischen von Max Stadler

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Fra Blokken bei Politikens Forlag, Kopenhagen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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@heyne.hardcore

Copyright © 2020 by Jonas T. Bengtsson

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by agreement with Salomonsson Agency

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Kristof Kurz

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Simon McGill; Simon Lilholt

Coverdesign: Simon Lilholt/imperiet.dk

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28498-5V002

Für Line-Maria

DANNY

BEVORDANNYINden Knast kam, hatte er sich nie überwinden können, seine Waden zu trainieren. Er war nicht sehr oft ins Fitnessstudio gegangen, und wenn er sich mal dorthin geschleppt hatte, ging es nur um Bizeps, Schultern und Brust. Die Muskeln, die ihn gut aussehen lassen, wenn er ein T-Shirt trägt. Definitiv nicht die Beine, nie die Beine.

Aber im Knast gibt es nichts anderes zu tun, also trainiert Danny jetzt seine Waden. Seine verfluchten, beknackten Waden.

Zu dieser Tageszeit ist der Kraftraum fast leer. Nur er und Ahmed grunzen unter den Gewichten. So hat es Danny am liebsten.

Deshalb nervt es ihn, als die Tür aufgeht.

Sie sind zu dritt. Alles niederrangige Mitglieder einer Biker-Gang aus Vestegnen, wenn Danny sich nicht irrt.

Die Biker werfen rasche Blicke in alle Richtungen und halten beim Gehen die Arme etwas vom Körper weg, als zwängen ihre Muskeln sie dazu, sich so breitzumachen. Sie bleiben stehen und schauen auf Ahmed hinab, der unter der Hantel auf der Bankpresse wie auf dem Präsentierteller liegt. Er ist so konzentriert auf die hundert Kilo, die er stemmt, dass er die Tür nicht gehört hat. Die Jungs hätten es einfach hinter sich bringen können, doch sie sind so verdammt cool und haben das Bedürfnis, sich das gegenseitig zu zeigen. Sie brauchen ein Vorspiel vor der Gewalt.

Der Typ in der Mitte sagt: »Zahltag, Ahmed.«

Genau das sagt er. Hätten die Typen den Mund gehalten, dann hätte Danny vielleicht einfach weiter seine Waden trainiert. Denn das Ganze hat nichts mit Danny zu tun, es geht ihn überhaupt nichts an. Aber er ist schon von der Beinpresse gestiegen, ohne noch einmal darüber nachzudenken.

Danny geht hinüber zur Ablage mit den Kurzhanteln, wählt eine Fünf-Kilo-Hantel aus, wiegt sie in der Hand und tauscht sie dann gegen eine Drei-Kilo-Hantel aus. Würden die Typen in Dannys Richtung schauen, würden sie sehen, dass er lächelt.

Einer von ihnen sagt etwas wie »eine Lektion, die Ahmed lernen muss«, als Danny ihm die Hantel gegen den Hinterkopf knallt. Es klingt, wie wenn man eine Wassermelone abklopft, um zu sehen, ob sie reif ist. Der Typ daneben reagiert, aber ein bisschen zu langsam. Danny holt erneut mit der Hantel aus und trifft ihn voll ins Gesicht, auf die Zähne und wahrscheinlich auch auf die Nase.

Jetzt steht nur noch ein Biker. Der Kerl, der noch nicht die Zeit hatte, einen harten Spruch zu liefern. Danny lässt die Hantel fallen, um dem Typen eine faire Chance zu geben. Jetzt ist es ein Kampf auf Augenhöhe. Danny kennt die Gang und weiß, dass sie strenge Initiationsrituale hat. Der Kerl sollte auf eine Situation wie diese gut vorbereitet sein. Dennoch zittert seine Unterlippe. Danny tritt ihm in den Bauch, sodass er rücklings über eine Hantelstange fällt und gegen die Wand kracht. Der Typ versucht aufzustehen, doch Danny verpasst ihm einen zweiten Tritt, diesmal gegen den Kopf.

Es ist vorbei. Danny steht einfach nur da. Es ging alles zu schnell. Er bereut, die Hantel genommen zu haben.

»Danke«, sagt Ahmed.

Danny zuckt mit den Achseln.

»Gib mir dein T-Shirt.«

Danny zögert. In seinen Augen hat er genug für ihn getan.

»Da ist Blut drauf.«

Danny blickt an sich herab. Ahmed hat recht. Nicht viel, aber die roten Spritzer werden sich bald dunkelbraun färben.

»Dafür sollst du nicht den Kopf hinhalten«, sagt Ahmed. »Ich kann sagen, dass es Notwehr war.«

»Ich hab einem auf den Hinterkopf geschlagen.«

»Er lebt noch.«

Sie schauen auf den Biker zu ihren Füßen herab. Seine Augen sind geschlossen, aber ein Fuß zuckt.

Danny nickt Ahmed zu. Die weißen Kerle werden den Mund halten oder behaupten, dass sie von mindestens acht dunkelhäutigen Typen angegriffen worden seien. Und das Gefängnis wird wohl kaum das CSI Miami einschalten, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Danny und Ahmed tauschen ihre T-Shirts. Sie haben fast die gleiche Größe. Danny ist jetzt der stolze Besitzer eines Bullrot-Shirts mit einem starken Aftershave-Geruch.

Er wäscht sich die Hände. Sie haben nur wenig Blut abbekommen.

»Ich schulde dir was«, sagt Ahmed.

»Kauf mir ’nen Apfel.«

Danny geht. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Nur ein Gefangener von vielen in einem dänischen Staatsgefängnis, der im Kraftraum trainiert hat. Ein kurz geschorener Kerl mit hässlichen Amateur-Tätowierungen. Ein Typ, der nichts verbrochen hat – zumindest nicht heute. Danny würde pfeifen, wenn es nicht verdächtig wirken würde.

DANNYISSTRAVIOLIaus der Dose. Nun, nicht direkt aus der Dose, das Zeug war zwischendurch in der Mikrowelle. Ein wenig Stil hat man doch. Wie in den meisten dänischen Gefängnissen müssen die Insassen ihr Essen hier selbst zubereiten. Sie kaufen es in dem Laden im H-Flügel, wo die Preise höher sind als auf der anderen Seite der Mauer. Wer sagt, dass sich Verbrechen nicht lohnt?

Danny sitzt in der Kantine zusammen mit dem unglücklichen isländischen Mörder Haukur und Gert, der Erdkundelehrer war, bevor er seine Frau erwürgte. Dieser Ort ist ein echtes Gefängnis, nicht eines für Männer, die ein bisschen Geld veruntreut oder nur einmal im Leben Mist gebaut haben: Ich hatte nicht viel getrunken, und diese neuen Autos fahren doch fast von alleine. Nein, dies ist ein richtiges Gefängnis mit Gittern vor den Fenstern und hohen Mauern mit Stacheldraht. Und das hier ist der Hardcore-Trakt. Hier hocken die gefährlichen Typen. Die Männer, die von den Häftlingen ferngehalten werden sollen, für die es vielleicht noch Hoffnung gibt. Gert und Haukur hätten unter Umständen auch anderswo landen können, doch es besteht kein Zweifel, dass Danny hierhergehört.

»Jetzt geht es los«, sagt Haukur, und Gert stimmt mit seinem typischen kleinen, zurückhaltenden Nicken zu.

»Was geht los?«, fragt Danny.

»Der Bandenkrieg. Er tobt jetzt auch hier.«

»Welcher Bandenkrieg?«

»Verdammt, du lebst echt hinterm Mond.«

Haukur hat recht. Danny hat keine Ahnung, wie der Premierminister heißt, und er ist sogar unsicher, welches Jahr gerade ist. Es gibt zwei Möglichkeiten, seine Zeit abzusitzen. Entweder man hält mit der Welt da draußen Schritt, kriegt Besuch von denen, die sich die Mühe machen zu kommen, und bereitet sich auf den Tag vor, an dem man durch die Tore nach draußen spazieren darf. Oder man steckt den Kopf so tief wie möglich in den Sand. Danny gehört zur zweiten Gruppe.

Haukur erzählt ihm, dass der Bandenkrieg vor etwas mehr als einem Monat mit einer Schießerei zwischen den Jungs aus Nørrebro und den Bikern aus Vestegnen angefangen hat. Was mit Drogen und Revierkämpfen eben so alles einhergeht.

»Und jetzt hat der Bandenkrieg hier Einzug gehalten«, sagt Haukur.

»Wie kommst du darauf?«

»Sie haben drei schwere Jungs in die Krankenstation geschleppt. Und Ahmed sitzt in Einzelhaft.«

»Vielleicht haben sie sich ja beim Twister gestritten?«

Haukur lacht los. Er lacht zu laut. Er mag den Klang seines eigenen Lachens. Er versucht, bei Laune zu bleiben. Er ist Christ, und irgendwo in der Bibel steht etwas darüber, nicht zu verzweifeln. Haukur kam der Liebe wegen nach Dänemark, er hatte sich in ein Mädchen mit großen Brüsten und einem dürren Arsch verguckt, und als das nicht klappte, verliebte er sich in die viel niedrigeren Preise für Schnaps in Dänemark. Haukur kann sich nicht an den Mann erinnern, den er getötet hat, nicht einmal daran, dass er ihn zu einem Brei aus Fleisch und Knochen geschlagen hat. Trotzdem kann er nachts nicht schlafen. Das ist der Unterschied zwischen ihm und Danny. Danny weiß nicht, wie Gert sich fühlt, weil er seine Frau getötet hat. Gert sagt nicht viel. Normalerweise eigentlich gar nichts. Nur wenn er direkt etwas gefragt wird, und es kommt nur selten vor, dass Danny wissen will, wo Andorra liegt.

»Warum ist Ahmed in Einzelhaft?«, fragt Danny und übt schon mal für eine Befragung durch die Wärter. Entweder man hält die Klappe oder überhäuft sie mit dummen Fragen, bis sie die Nase voll haben und aufgeben.

»Er ist der Anführer der Nørrebro-Gang«, sagt Haukur. »Das weißt du doch.«

»Was meinst du mit ›Anführer der Nørrebro-Gang‹?«

Haukur sieht ihn an und lacht. »Du bist echt nicht ganz dicht, Danny.«

Danny stochert in seinen Ravioli. Er hat nicht auf die Uhr geguckt, als er sie aufgewärmt hat. Viele der Teigtaschen sind geplatzt.

»Isst du das noch?«, fragt Haukur.

»Willst du sie?«

»Zur Hölle, nein, aber es ist verdammt eklig, sich das ansehen zu müssen.«

Haukur hat keine Angst vor Danny. Vielleicht mag ihn Danny deshalb so gern. Anscheinend ist es Haukur nicht möglich, Angst vor anderen Männern zu haben. Er wurde ohne diese Fähigkeit geboren. Er hat Angst vor Gott und dem Meer, aber nicht vor anderen Menschen. Haukur ist ein kleiner Riese, bepackt mit jener Art von natürlich großen Muskeln, die sich in generationenlangem Treibholzschleppen ohne Zuhilfenahme der Beine entwickelt haben.

»Gefällt dir mein Essen nicht?«, fragt Danny.

»Dein Essen sieht aus wie Junkiedreck.«

»Du kommst aus einem Land, in dem die Leute Schafsköpfe fressen, und du hast ein Problem mit meinem Essen?«

Dieses Gespräch haben sie schon öfter geführt, eine Art Ritual, das sie wiederholen, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Sie hätten wahrscheinlich zehn Minuten lang so weitergemacht, wenn Gert sie nicht unterbrochen hätte.

»Gebt mir jeder zwanzig Kronen«, sagt er.

Es ist das erste Mal in dieser Woche, dass Danny ihn reden hört.

»Dann mach ich euch morgen Hackbraten«, sagt Gert.

ESISTNEUNUHR, das Geräusch von Metall auf Metall, mit dem die Türen abgeschlossen werden. Allein in der Zelle, eingesperrt bis morgen früh. Damit ist Danny schon immer gut klargekommen.

Auf seinen sieben Quadratmetern hat er nur wenige Besitztümer. Ein alter Fernseher, den er fast nie einschaltet. Ein paar Kleidungsstücke. Zahnpasta und eine Zahnbürste. Danny hat eine Schneekugel mit der kleinen Meerjungfrau darin. Sie war schon da, als er in die Zelle gezogen ist. Sie ist made in China, billig und hässlich, von einem überarbeiteten Kind zusammengebaut. Die Meerjungfrau schielt mit ihren schlampig gemalten Augen. Sie sieht aus, als hätte sie das Downsyndrom.

Sie leistet ihm nachts Gesellschaft.

»Das war wahrscheinlich nicht so schlau«, sagt Danny zu der kleinen Dame. Sie ist unzufrieden mit ihm. Eine der Regeln im Gefängnis lautet, dass man sich nicht in Dinge einmischt, die einen nichts angehen. Und schon gar nicht in einen Bandenkrieg.

Danny schüttelt die Schneekugel, sodass die kleinen Plastikflocken über der Meerjungfrau schweben. Das hat sie gern.

DANNYARBEITETINder Gefängnistischlerei. Sie stellen hölzerne Hochstühle für Kinder her. Verdammt teure Hochstühle, aber wenn die Leute Handmade in Denmark lesen, zahlen sie gern ein bisschen mehr. Sie wissen nicht, dass die Häftlinge nur zehn Kronen pro Stunde verdienen, oder was Flemming, der so geschickt darin ist, die Holzstäbe richtig anzubringen, mit ihren Kindern machen würde, wenn sich ihm nur eine winzige Gelegenheit böte.

Heute sitzt Danny ganz am Ende des Fertigungsprozesses: Er lackiert die Stühle. Danny ist kein geborener Handwerker, der sofort Arbeit finden wird, wenn er rauskommt. Weil er einfach so gut im Umgang mit Holz ist, gut mit Kindern, gut mit Hunden, the love of a good woman. Danny ist in gar nichts gut. Er macht das nur schon seit einer Ewigkeit. Er hat zahllose Stühle ruiniert und musste wieder von vorne anfangen.

Er streicht dünne Lackschichten auf das Holz. Die kleinen Luftbläschen platzen, und er trägt nass in nass eine neue Schicht auf. Dann bemerkt er aus dem Augenwinkel zwei Gefängniswärter, die in seine Richtung kommen. Danny lässt sich nichts anmerken, er arbeitet einfach weiter.

»Danny«, sagt einer der Wärter.

Danny wartet einen Moment, bevor er aufschaut.

»Jørgensen möchte mit dir sprechen«, sagt der Wärter.

Danny fährt ein letztes Mal mit dem Pinsel über das Holz, so langsam wie möglich. Dann setzt er den Deckel vorsichtig wieder auf die Dose und wäscht den Pinsel penibel ab, in der Hoffnung, sie zu ärgern.

Er folgt den Wärtern durch das Gefängnis. Sie gehen ein wenig langsamer, als es üblich ist. Dieses Tempo gibt den Wächtern ein Gefühl der Sicherheit und die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Sie sind Löwenbändiger, nur mit Knüppeln und Pfefferspray statt mit Hocker und Peitsche bewaffnet.

Danny hat heute keine Lust, sich mit ihnen anzulegen, sie zu provozieren, denn er hat andere Dinge im Kopf. Jørgensen hat nach ihm geschickt, und das ist nicht gut. Es ist alles andere als gut.

Jørgensen ist ein Gefängnisdirektor der alten Schule. Ein Mann, der seinen Kaffee schwarz und seinen Käse kräftig mag. Er hat eine unscheinbare Frau, die sich nie blicken lässt. Er isst sonntags Apple Crumble und nimmt seine Arbeit nicht mit nach Hause. Er hat die Aufgabe, die Häftlinge am Leben zu erhalten und dafür zu sorgen, dass sie nicht ausbrechen, und das tut er – ohne die Hoffnung, dass sie dadurch zu besseren Menschen werden. Danny weiß das, deshalb weiß er auch, dass Jørgensen ihn nicht nach neuen Ideen zur Beschäftigung der Häftlinge fragen oder ihn bitten wird, mit dem Gefängnischor The Sound of Music einzustudieren. Nein, es kann nur schlecht sein, dass er in Jørgensens Büro vorgeladen wurde. Womöglich ist einer der Biker aus dem Kraftraum gestorben. Das ist eine Möglichkeit. Vielleicht hat Danny mit der Hantel doch zu heftig zugeschlagen, oder Ahmed hat einen orientalischen Riverdance auf ihren Köpfen vollführt, nachdem Danny weg war.

Die Wärter eskortieren ihn in Jørgensens Büro. Der Raum mit der niedrigen Decke wurde wie der Rest des Gefängnisses irgendwann in den Achtzigerjahren entworfen. Danny setzt sich, während die Wärter hinter ihm Aufstellung nehmen, aber Jørgensen winkt sie hinaus. Er wirkt gereizt. Jetzt sind sie allein. Jørgensen hat eine Akte vor sich. Danny kann nicht erkennen, was darauf geschrieben steht, aber sie ist dick, und er vermutet, dass es sich um sein Strafregister handelt.

»Ich verstehe das nicht«, sagt Jørgensen kopfschüttelnd. »Ich verstehe das einfach nicht.«

Danny weiß, wohin das führt. Er hat die »Ich verstehe das nicht«-Rede oft gehört, als er jünger war. So wie in Ich verstehe nicht, warum du unser Angebot nicht einfach annehmen kannst, warum du nicht endlich aufhörst, Scheiße zu bauen. Reiß dich zusammen. Aber es überrascht ihn, dass er den Spruch jetzt zu hören kriegt. Danny wird in ein paar Monaten dreißig. Er ist ein Krimineller, seit er krabbeln kann, er hat bereits mit Spielzeugbausteinen gedealt und im Sandkasten Schutzgeld verlangt.

Jørgensen seufzt erneut. Als Nächstes folgt normalerweise das kleine Spiel, bei dem Danny schuldbewusst dreinsehen soll. In dieser Rolle war er noch nie besonders gut.

»Nein, ich verstehe es wirklich nicht«, wiederholt Jørgensen, neigt den Kopf zur Seite und mustert ihn. So vergehen einige Augenblicke. Danny sitzt ausdruckslos da. Das ist er gewohnt.

»Du hast eine vorzeitige Entlassung beantragt?«, fragt Jørgensen dann.

»Vor sechs Monaten. Der Antrag wurde abgelehnt.«

»Und wann wirst du regulär entlassen?«

»Sie haben da doch meine Akte vor sich, oder nicht?«

»Nur noch ein bisschen mehr als zwei Jahre. Dann wirst du deine vollen acht Jahre abgesessen haben. Du hast die Höchststrafe bekommen.«

»Liegt er immer noch im Koma?«, fragt Danny.

»Darum geht es hier nicht.«

Jørgensen öffnet die Akte und wirft einen Blick auf die Papiere darin.

»So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen. Es ist sehr, sehr außergewöhnlich«, sagt er und schüttelt wieder den Kopf.

Danny weiß nicht, was er sagen soll, also hält er den Mund.

»Du wirst vorzeitig entlassen«, sagt Jørgensen.

»Ja, na klar. Ich hab einen reichen Onkel in Amerika, und meine Kacke schmeckt nach Erdbeereis.«

Jørgensen sieht Danny an, als wolle er ihn am liebsten auf unbestimmte Zeit ins Loch werfen. Dann fährt er fort. »Der Bewährungsausschuss wurde aufgefordert, deinen Antrag erneut zu prüfen. Mit der dringenden Empfehlung, ihm mit sofortiger Wirkung stattzugeben.«

»Ich kann das nur schwer glauben.«

»Nun, ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass das möglich ist. Das bedeutet, dass jemand von ganz oben seine Beziehungen hat spielen lassen.«

»Um mich rauszuholen? Im Ernst?«

Jørgensen nickt.

Danny sieht ihn an und kann sich das Lachen nicht verkneifen. »Scheiße, fast hätten Sie mich drangekriegt. Wenn ich ein Gefängnis hätte, würde ich mir auch einen Spaß draus machen, die Gefangenen zu verarschen.«

Jørgensen lächelt nicht. Er schiebt die Mappe einfach über den Tisch.

»Weißt du, wer Jens Ivertssen ist?«, fragt er.

Danny antwortet nicht.

DANNYUNDHAUKUR essen Gerts Hackbraten mit Speck und Kartoffeln aus dem Glas, wofür Gert sich mehrmals entschuldigt, aber die frischen waren leider nicht so frisch, sondern grün und haben schon gekeimt. Dicke braune Soße. Es schmeckt wie richtiges Essen. Danny hat Gert und Haukur noch nichts von seiner vorzeitigen Entlassung erzählt. Vielleicht, weil er es selbst kaum glauben kann. Vielleicht, weil Ivertssens Name gefallen ist, was ihn fast dazu gebracht hat, das Angebot abzulehnen. Aber ein mit Rasierklingen gefüllter Geburtstagskuchen ist immer noch ein Kuchen.

»Ich werde entlassen«, sagt Danny. »Verdammt, ich werde bald entlassen.«

Beide sehen ihn an. Zwei Gefangene, die lebenslänglich sitzen.

»Willst du noch ein Stück?«, fragt Gert.

Danny nickt. Gert schneidet noch ein Stück ab. Das Messer ist stumpf, sodass er den Speck förmlich durchsägen muss. Gert gießt Soße über das graue Fleisch und schiebt den Teller über den Tisch. Das Geheimnis ist einen Tag altes Brot statt Semmelbrösel, sagt er. Brühe, ganz viel Brühe. Es ist das Rezept seiner Frau.

»SCHAUMICH nicht so an«, sagt Danny zu der kleinen Dame in der Schneekugel. »Du hast doch keine Ahnung.«

Sie blickt ihn immer noch skeptisch an. Aber sie war ja auch noch nie im Viertel. Ist Ivertssen nie begegnet.

Danny greift sich unwillkürlich an die Oberlippe. Die kleine Narbe dort ist inzwischen fast unsichtbar.

Er kann sich noch gut an den Tag erinnern, an dem Ivertssen ihm mit seinem Ehering die Lippe gespalten hat.

Danny und ein paar andere Jungen hatten sich auf dem Parkplatz herumgetrieben. Sie waren zu diesem Zeitpunkt neun oder zehn Jahre alt gewesen. Sie rauchten Zigaretten und naschten Himbeerrouladen, die sie im örtlichen Tante-Emma-Laden gestohlen hatten. Dann schrie jemand: Das Schwein kommt! Das Schwein kommt!

Ivertssen schlenderte langsam über den Parkplatz. Als er die Bank erreichte, saß Danny allein dort.

»Warum rennst du nicht weg?«, fragte Ivertssen ihn. »Alle anderen hauen ab, wenn sie mich sehen.«

Danny weiß nicht mehr, was er darauf geantwortet hat, zumindest nicht mehr den genauen Wortlaut. Aber es war etwas Freches. Etwas Provozierendes. Alles, was Danny zu Erwachsenen sagte, war provozierend. Ivertssen stutzte nicht einmal, aber seine Hand kam angesaust und traf Danny hart im Gesicht.

Ivertssen fuhr ihn selbst zur Notaufnahme und wartete in dem langen Krankenhausflur auf ihn.

»Du gefällst mir«, sagte Ivertssen. »Verflucht, du gefällst mir, du kleiner Scheißer.«

Danny hatte mit vier Stichen genäht werden müssen.

Er hört Klopfgeräusche aus der angrenzenden Zelle. Es ist Mogens, der krankhaft fettleibige Bankräuber. Wenn Mogens sich einen runterholt, wie heute Nacht, wackelt das ganze Bett und knallt gegen die Wand. Zum Glück ist Mogens immer schnell fertig. Sieben Minuten. So lange, wie es dauert, ein Ei zu kochen.

»Du irrst dich«, sagt Danny zu der kleinen Dame in der Schneekugel. »Ich kann es kaum erwarten, hier rauszukommen. Hörst du, verdammt? Ich kann’s nicht erwarten.«

CHRISTIAN

CHRISTIANUNDTHOMAS folgen dem Mistkerl seit zwanzig Minuten.

Sie haben gesehen, wie er eine gelbe Ampel überfuhr, erkannten sofort das Auto, einen tiefergelegten BMW aus den Neunzigerjahren, dessen Boden fast den Asphalt streifte und der so sehr aufgemotzt war, dass man kaum wusste, was er eigentlich darstellen sollte, vielleicht eine Art M3.

Sie haben das Nummernschild überprüft und außer einem unbezahlten Strafzettel nichts gefunden. Aber das spielt keine Rolle: Sie kennen den Kerl. Niels. Der verdammte Little Niels. Und die Art, wie er fährt – ein bisschen zu schnell und ein bisschen zu aggressiv –, sagt ihnen, dass Niels etwas Dringendes zu erledigen hat. Also folgen sie ihm und warten. Was Little Niels an Geduld fehlt, müssen sie wettmachen.

Christian und Thomas arbeiten schon seit einigen Jahren zusammen. Aus den Reihen der Streifenpolizisten wurden sie beide für das Drogendezernat herausgepickt, weil sie Typen wie Little Niels kennen. Sie wissen, wie er tickt.

Die großen Labore sind alle in Deutschland und Holland. Ein paar auch in Polen. Dänemark ist normalerweise nur auf der Empfängerseite. Wenn man in der Zeitung liest, dass größere Drogenmengen beschlagnahmt wurden, ist das selten das Ergebnis von Ermittlungsarbeit auf der Straße. Das sind Geschenke der deutschen Polizei oder von Interpol. Die tägliche Arbeit sieht anders aus. Verhaftungen, die die Statistik gut aussehen lassen, Beschlagnahmungen von straßenüblichen Mengen, das sind die Dinge, mit denen Christian und Thomas zu tun haben. Sie sind nicht die Einzigen, aber die Besten, behaupten sie zumindest.

Sie folgen Niels durch den Kreisverkehr. Sie sind irgendwo in Rødovre oder Hvidovre. Ein paar Kilometer außerhalb von Kopenhagen.

»Was sagt das GPS?«, fragt Christian, der heute am Steuer sitzt.

»Ihr könnt mich mal«, antwortet Thomas.

»Hast du versucht, es neu zu starten?«

»Was glaubst du, was ich hier seit zehn Minuten mache?«

Christian wedelt mit der Hand vor dem Gesicht. »Du hast unser Auto vollgestunken, sonst nichts. Seit wir das Revier verlassen haben.«

»Kohl«, sagt Thomas und lacht.

»Kohl?«

»Lisas Mutter wohnt bei uns. Sie will sichergehen, dass wir nichts falsch machen.«

»Dass du ihn ins richtige Loch steckst?«

Sie lachen. Christian weiß, dass Thomas und seine Freundin seit einem Jahr versuchen, ein Kind zu kriegen.

»Nein, du Idiot!«, sagt Thomas. »Sie will sichergehen, dass Lisa ordentlich isst. Und dass wir nicht rauchen und trinken oder neben einem Kraftwerk wohnen.«

»Das klingt verdammt nervig.«

»Oh, das kannst du aber glauben, ja! Gestern hab ich sie dabei erwischt, wie sie unsere Wäsche durchwühlt hat. Sie hat einfach nur dagestanden und meine Boxershorts angestarrt. Später hat Lisa gemeint, ich solle mir neue Unterwäsche kaufen. Sie hat angeblich gelesen, dass enge Unterwäsche schlecht für die Spermienqualität sein kann …« Thomas beugt sich vor. »Ich glaube, er hält an.«

Little Niels hat abgebremst und parkt schief vor einem Komplex aus Sozialwohnungen. Christian will keine Vollbremsung hinlegen, also fährt er an dem lächerlichen BMW vorbei. Thomas lockert seinen Gurt, damit er sich auf seinem Sitz umdrehen und die Zielperson im Auge behalten kann.

»Ist er reingegangen?«, fragt Christian.

»Ja«, sagt Thomas.

»Dann kauft er Stoff, oder was meinst du?«

»Auf jeden Fall, einen dicken Joint, damit der gute Little Niels sich ein bisschen entspannen kann.«

Christian rollt fünfzehn, zwanzig Meter weiter, findet einen freien Platz und parkt. Thomas stellt den Außenspiegel so ein, dass er die Straße im Auge behalten kann. Christian speichert die Adresse in seinem Handy. Später werden sie alle Bewohner des Gebäudes überprüfen, um zu sehen, ob jemand dabei ist, den sie kennen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis Little Niels wieder herauskommt.

»Scheiße, du hast wieder gefurzt, oder?«, sagt Christian. »Fahren wir diesem Idioten nur hinterher, damit du mich zwingen kannst, deine Fürze zu riechen?«

»Kohl«, wiederholt Thomas. »Rotkohl. Und letzten Samstag Weißkohl. Kohl, Kohl und noch mehr Kohl. Gute Hausmannskost aus Jütland, die uns hilft, schwanger zu werden. Nicht dieser Kopenhagener Mist wie Pizza und Schawarma.«

»Mach das Fenster runter.«

»Weiter geht es nicht auf. Da kommt er. Das ging ja verdammt schnell.«

Niels verlässt mit seinem tiefergelegten BMW die Parklücke. Sie geben ihm einen kleinen Vorsprung, bevor sie ihm folgen, warten ein paar Kilometer, knallen dann das Blaulicht auf das Dach und halten ihn an.

Niels bleibt mit den Händen am Lenkrad im Auto sitzen. Er kennt das Prozedere. Christian geht zum Seitenfenster und klopft auf das Dach.

»Was läuft, Arschloch? Komm raus und spiel mit uns.«

Niels überlegt, ob er Protest einlegen soll, ob er vielleicht sogar irgendetwas wiederholen könnte, was er im Internet über seine Rechte gelesen hat, aber er hält den Mund. Er kennt Christian und Thomas und steigt aus.

»Dann lass uns mal gucken.« Thomas klopft auf die Motorhaube.

»Ich habe nichts dabei«, sagt Niels in der Hoffnung, dass er heute Glück hat. Oder vielleicht kommt er sich auch einfach zu erbärmlich dabei vor, wenn er seine Taschen sofort ausleert.

»Jetzt«, sagt Christian. »Jetzt sofort.«

Niels weiß, dass er keine Wahl hat, also greift er in seine Innentasche. Er legt eine kleine Plastiktüte mit etwa fünf Gramm auf die Motorhaube seines Autos, dazu das Rizla-Papier. Es ist wirklich ein ziemlich erbärmlicher Anblick.

»Und wenn wir dich abtasten?«, fragt Thomas.

»Ich habe nichts.«

Sie glauben ihm. Niels weiß aus Erfahrung, was sie für eine Laune haben, wenn sie sich die Mühe machen müssen, ihn zu filzen. Dann gibt es schnell Hiebe, und es könnte passieren, dass sie ihm ein paar Schläge in die Nieren verpassen.

Thomas steckt das Haschisch und die Papers in die Tasche seines Hoodies, bevor der Wind das Zeug wegweht.

»Rizla ist doch nicht illegal«, sagt Niels.

Christian und Thomas fangen an zu lachen, und Little Niels versucht mitzulachen. Vielleicht hat er heute noch mal Glück und kommt ungeschoren davon. Fünf Gramm sind schließlich nichts.

»Was hast du im Kofferraum?«, fragt Christian.

»Nichts.«

»Also, wenn wir in den Kofferraum schauen, dann ist er leer? Keine leeren Coladosen, alte Fußmatten oder ein Paar Fußballschuhe?«, fragt Thomas.

»Ich spiele kein Fußball.«

»Willst du uns verarschen?«, fragt Christian.

»Er ist leer«, sagt Niels.

»Normalerweise fährt niemand mit einem völlig leeren Kofferraum herum, oder was meinst du, Thomas? Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn gar nichts drin liegt.«

»Vielleicht habe ich ein paar Sportsachen dabei«, sagt Niels.

»Sportsachen, aber keine Fußballschuhe?!«

»Nein.«

»Na, wie wär’s, wenn du ihn einfach mal aufmachst und wir uns deine Sportausrüstung ansehen?«

»Das muss ich nicht. Sie können mich nicht zwingen.«

»Nein, du hast recht. Wenn wir dich nicht gerade mit zehn Gramm Haschisch erwischt hätten«, sagt Christian.

»Das sind keine zehn Gramm.«

»Sieht aber nach zehn Gramm aus, nicht wahr, Thomas?«

Thomas zieht die Tüte aus seiner Tasche und hält sie gegen das Licht. »Oder fünfzehn, ich glaube, es sind eher fünfzehn.«

»Hätten wir dich nicht gerade mit fünfzehn Gramm Haschisch erwischt, die du bestimmt verticken wolltest, könnten wir dich nicht dazu auffordern, den Kofferraum zu öffnen. Aber jetzt können wir es. Und wir tun es auch.«

Little Niels sieht aus, als wolle er protestieren, aber er weiß, dass das nichts bringt. Also folgt er Thomas zum Heck des Fahrzeugs, steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet den Kofferraum.

»Das musst du dir ansehen«, sagt Thomas lachend. »Er hat nicht gelogen, verdammt. Da sind Sportsachen drin.«

Christian geht um das Auto herum, und nun blicken alle drei auf den Baseballschläger im Kofferraum.

»Du bist so bescheuert«, sagt Christian. »Wenn du auch ein paar Bälle dabeihättest, könnte das glatt als Sportsachen durchgehen. Aber du hattest zu wenig Kohle dabei, als du im Sportgeschäft warst, und schwuppdiwupp haben wir dich mit einer tödlichen Waffe erwischt.«

Christian sieht Niels so lange an, bis diesem klar wird, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Schlechter Tag, schlechtes Jahr. Er möchte, dass Niels sich das Innere einer Gefängniszelle ausmalt.

»Was hast du für uns?«, fragt Christian.

»Was meinen Sie?«

»Du weißt, was ich meine. Wenn du uns etwas Brauchbares lieferst, sind wir vielleicht einfach nur nett. Fangen wir damit an, wo du das Hasch gekauft hast.«

»Von einem Typen auf der Straße.«

Thomas holt die Handschellen unter seinem Hoodie hervor und sieht Christian an. »Einigen wir uns drauf, dass es zwanzig Gramm sind.«

»Mindestens zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig. Und eine Waffe, was ist dafür die Höchststrafe?«

»Okay, okay«, sagt Niels. »Er heißt Jimmy.«

»Jimmy und weiter?«

»Ich weiß es verdammt nochmal nicht.«

»Wo wohnt er?«

Niels kennt die Adresse nicht. Das ist ihnen egal, sie wissen ja, wo er gerade herkommt.

»Das sieht nicht gut aus, Niels«, sagt Christian. »Das Einzige, was du uns bieten kannst, ist ein Typ namens Jimmy, dessen Nachnamen du nicht kennst und an dessen Adresse du dich nicht mehr erinnerst.«

Thomas übernimmt. »Mensch, Niels, wir mögen dich. Aber das ist nicht genug. Wir müssen ja irgendwie begründen, dass wir dich laufen lassen, oder? Das kannst du doch besser.«

Niels sieht aus, als würde er nachdenken.

»Sucht ihr immer noch nach Morten Hvidbeck?«

»Was ist mit ihm?«, fragt Christian.

»Ich hab ihn vor ein paar Tagen im Einkaufszentrum gesehen.«

»Im Einkaufszentrum?«

»Im Café im Einkaufszentrum in Tåstrup.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Keine Ahnung, aber seine Tochter hat nächste Woche Geburtstag. Er hat ständig gefragt, ob jemand das große Barbie-Haus aus dem Spielzeugladen für ihn mitgehen lassen kann. Er will sie damit überraschen, aber er traut sich nicht, das Ding selbst zu klauen, weil er weiß, dass ihr ihn sucht.«

Christian und Thomas tauschen einen kurzen Blick aus. Das ist eine nützliche Information, und wegen so wenig Stoff hätten sie Niels ohnehin nicht verhaftet.

»Besorg ihm das verdammte Haus, auch wenn du es selbst kaufen musst«, sagt Christian.

»Das ist sauteuer …«

»Wir tun dir hier einen Gefallen. Einen verdammt großen«, sagt Thomas.

Sie nehmen Niels’ Baseballschläger und behalten sein Hasch und sein Rizla-Papier.

»Besorg ihm das Barbie-Haus!«, wiederholt Christian, bevor sie wieder ins Auto steigen.

Es war ein relativ guter Tag. Nicht großartig, aber sie haben eine Spur, die sie weiterverfolgen können. Sie müssen Jimmy im Polizeicomputer suchen und werden ihm in den nächsten Tagen vielleicht mal einen Besuch abstatten. Und sie müssen herausfinden, wann Morten Hvidbecks Tochter Geburtstag hat. Also, ja, ein ganz guter Tag. Sie tun, was sie immer tun, kreisen herum wie Haie, leben in ihrem Auto. Bringen die Leute zum Reden. Darin sind sie gut, und vielleicht ist das ihr Fluch. Manchmal reden sie darüber, dass niemand sie befördern will, nicht, solange sie als Zivilfahnder so gute Arbeit machen. Nicht, bevor sie fünfzig sind, nicht, bevor sie ausgebrannt sind, nicht, solange sie noch unbemerkt herumhängen können und von Weitem wie zwei stinknormale Typen in Kapuzenjacken aussehen.

»Ist das Zeug gut?«, fragt Christian.

Thomas hat sich an Niels’ Haschisch bedient und zerbröselt es auf einem Rizla.

»Es ist okay, aber als gut würde ich es nicht bezeichnen.«

Thomas nimmt die Zigarettenschachtel aus dem Handschuhfach, die sie den Verdächtigen anbieten, wenn sie sie im Auto befragen.

»Nur einen kleinen?«, fragt Thomas.

»Müssen wir wohl oder übel«, sagt Christian. Sie scherzen gern darüber, dass sie das Hasch, das es auf dem Markt gibt, testen müssen.

Thomas rollt einen Joint, einen feinen, langen, dünnen Joint. Nicht zu stark, damit die Augen nicht rot werden und sie keine Lachanfälle kriegen. Nur ein kleiner Joint, um den Arbeitstag ausklingen zu lassen.

»Gestern hab ich die Papiere unterschrieben«, sagt Christian, als sie an einer roten Ampel halten.

»Fuck. Herzlichen Glückwunsch und fuck.«

»Meine Hände zittern immer noch.«

»Das in Herlev, das du dir angesehen hast?«

»Nein, Katrines Vater hat eins bei einer Zwangsversteigerung gefunden. Eine riesige Hütte, die wir uns sonst niemals hätten leisten können. Das war eine einmalige Gelegenheit.«

»Sollen wir die Sirene anmachen und eine kleine Runde drehen?«, fragt Thomas.

»Nein, wir sind jetzt erwachsen. Du wirst Vater, und ich habe ein Haus gekauft.«

»Nur eine kurze Runde?«

»Okay.«

Thomas befestigt das Blaulicht auf dem Dach, und Christian gibt Gas. Sie rasen durch das Industriegebiet, vorbei an Betonblöcken, während sie sich abwechselnd den Joint reichen. An einem Mittwoch wie diesem ist es gar nicht so mies, ein unterbezahlter Drogenfahnder zu sein.

DANNY

DERZUGFÄHRTdurch das Land. Danny hat all seine Habseligkeiten in zwei Plastiktüten. In erster Linie Klamotten. Und ein altes Mobiltelefon. Als er das letzte Mal verhaftet wurde, besaß er eine Wohnung voller teurer Dinge. Einen Flachbildfernseher im Wohnzimmer, einen im Schlafzimmer und zwei im Kleiderschrank. Er hatte eine PlayStation und eine Xbox. Er hatte eine riesige Sammlung von Nike-Turnschuhen, allesamt die neuesten Modelle, die noch in ihren Schachteln steckten. Und keine Quittungen für irgendwas davon. Wir nehmen das, haben die Polizisten gesagt, und das und das. Danny vermutet, dass jetzt ein paar Polizisten mit seinen Yeezys herumlaufen, wenn sie ihren Hund Gassi führen.

Danny sitzt einer Frau mittleren Alters gegenüber. Ihre Nase läuft unablässig. Sie hat fast eine ganze Rolle Toilettenpapier aufgebraucht. Der kleine Müllbeutel, der unter dem Tisch für die Passagiere bereitliegt, ist bereits voll, und jetzt stopft sie die rotzigen Fetzen in ihren Fjällräven-Rucksack. Sie schaut zu ihm hinüber.

»Eine Allergie«, sagt sie. »Es ist nicht ansteckend.«

Felder rauschen am Fenster vorbei. Viele der Kleinstädte sehen gleich aus, oder vielleicht ist er inzwischen blind für die Unterschiede.

Er blättert in einer Zeitung, die jemand auf einem Sitz liegen gelassen hat. Die Titelgeschichte handelt vom Bandenkrieg. Weiter hinten befindet sich eine Karte mit vier verschiedenen Farben: Eine Farbe zeigt, wo Schießereien stattgefunden haben, eine zweite die Stelle, an der jemand bei einem Unfall mit Fahrerflucht gestorben ist, eine dritte, wo ein Mann tot aufgefunden wurde, und eine vierte den Platz, an dem zwei Menschen schwer verwundet wurden. Er blättert weiter, liest von einer Frau, die sich Brüste in Körbchengröße K gewünscht hat. Sie musste sich im Ausland operieren lassen, weil kein dänischer Chirurg bereit war, den Eingriff durchzuführen. Stolz zeigt sie ihre Brüste. Danny legt die Zeitung weg und schaut wieder aus dem Fenster. Er ist draußen, aber es fällt ihm schwer, es zu glauben. Scheiße, er ist draußen. Nicht ganz frei – die Bewährung ist das Geschenk eines falschen Freundes. Aber er ist draußen.

Es ist später Nachmittag, als der Zug am Kopenhagener Hauptbahnhof eintrifft. Danny nimmt die Rolltreppe hoch zur Haupthalle. Er scannt die Sitzbänke. Er interessiert sich nicht für die Rucksacktouristen oder die auf den Anschluss wartenden, in ihre Mobiltelefone vertieften Geschäftsleute. Danny sucht nach den Leuten, die die Bahnhofshalle als Unterschlupf nutzen, die mit den hohlen Wangen. Er stellt ihnen allen dieselbe Frage und wird schließlich an einen Mann in der Ecke verwiesen, einen Mann in einem abgetragenen Fuchspelzmantel. Der Mann hat ein heißes Handy im Angebot: 400 für das Telefon, 200 für eine Prepaid-Karte mit dem doppelten Wert.

Danny holt das Geld heraus, reicht dem Junkie die Scheine.

»Und da ist Guthaben drauf?«

»Ja, natürlich.«

»Wenn auf dieser Karte keine 400 drauf sind, komm ich wieder und schlag dir die Zähne ein.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, zieht der Mann eine andere Telefonkarte aus seiner Tasche.

»Dann nimm lieber die hier«, sagt er. Und sie tauschen.

Danny tritt auf die Straße hinaus. Die Sonne scheint nicht, und doch blendet ihn das Licht. Er setzt sich auf eine Bank. Er riecht den Hotdog-Wagen, riecht Pisse, Rauch und Benzindämpfe: Er liebt das alles. Er ist zurück in der Stadt. Es ist ihm im Moment scheißegal, dass es Ivertssen war, der ihn rausgeholt hat. Und dass Ivertssen dafür wahrscheinlich beide Nieren von ihm haben will. Danny freut sich, zurück zu sein. Hast du mich vermisst, Stadt? Ich werde dich ordentlich rannehmen. Ich werde dich zu einem gefährlicheren Ort machen. Die Statistiken für Gewaltverbrechen werden durch die Decke gehen. Ich sorge dafür, dass alle Leute aus Jütland wieder zurück nach Hause ziehen.

Danny holt sein altes Telefon aus einer der Plastiktüten. Er macht sich keine großen Hoffnungen, als er den Knopf drückt, doch wie durch ein modernes technologisches Wunder geht es an. Der Akku ist noch zu zwölf Prozent geladen. Aber natürlich ist auf der Telefonkarte kein Guthaben mehr. Und selbst wenn: Danny wird sein altes Handy nicht benutzen, es könnte ja abgehört werden. Er leidet unter der Paranoia, die alle Kriminellen im Laufe der Zeit entwickeln. Danny scrollt durch die Kontakte. Eine Reihe von Dealern und Hehlern, die ihre Telefone längst entsorgt haben. Ein paar Mädchen, mit denen er sich damals getroffen hat, die ihn jedoch gewiss nicht vermissen werden. Er war nicht sehr nett zu ihnen. Er sieht die Telefonnummer seiner Mutter. Er weiß nicht, warum er sie damals nicht gelöscht hat. Vielleicht erschien ihm das zu endgültig.

Danny gibt die Nummern von Malik und Christian in sein neues Handy ein. Die einzigen Nummern von Interesse. Zuerst versucht er es bei Malik, aber es geht direkt die Mailbox ran. Danny überlegt, ob er eine Nachricht hinterlassen soll, doch er will die Überraschung nicht verderben. Dann ruft er Christian an, kommt aber nicht durch. Wahrscheinlich hat Christian längst eine neue Nummer. Alles andere wäre seltsam, immerhin ist er Polizist geworden.

Danny holt den Zettel mit seiner neuen Adresse heraus und macht sich auf den Weg.

DANNYISTIRGENDWO in Sydhavnen. Er steht vor einem einstöckigen, grauen Gebäude aus Granulatbeton. Neben der Tür befindet sich ein einzelner Knopf mit einem Schild, das die Aufschrift »Birkely« trägt. Er drückt auf den Knopf. Falls irgendwo im Inneren eine Klingel läutet, kann er sie nicht hören. Er drückt noch einmal auf den Knopf.