Auf dem Fahrrad macht man keinen Mittagsschlaf - Heinz Engelhardt - E-Book

Auf dem Fahrrad macht man keinen Mittagsschlaf E-Book

Heinz Engelhardt

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Beschreibung

Helmut, ein Mittfünfziger aus Südthüringen, begibt sich auf eine fünftägige Radtour. Sie beginnt im thüringischen Zella-Mehlis und führt durch Mainfranken ins hessische Maintal. Von den unzähligen Reiseeindrücken überwältigt, gerät er oft ins Staunen und Philosophieren. Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung reflektiert Helmut seine Weltsicht immer noch durch seine ostdeutsche Brille und stolpert dabei gelegentlich über kleinteilige Mauerreste zwischen Ost und West. Durch seine eigentümliche Denkart bekommen die Schilderungen oftmals eine groteske Note. Manche Begebenheiten nehmen kuriose Wendungen an. Eine Geschichte zum Schmunzeln - besonders aufschlussreich für alle Leser mit einem "ostdeutschen Migrationshintergrund".

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Heinz Engelhardt

Auf dem Fahrrad macht man keinen Mittagsschlaf

Unterwegs am Main

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Oktober 2017

Autor: Heinz Engelhardt

Umschlag/Layout/Satz: B. Winkler, www.winkler-layout.de

Bildquelle Cover: www.fotolia.com | © VRD

Illustrationen: Heinz Engelhardt, Karina Engelhardt (S.46)

Lektorat: Dorothea von der Höh, Kevelaer

Sprache: deutsch, broschiert

ISBN: 978-3-95716-228-1

ISBN E-Book: 978-3-95716-244-1

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder auf anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einführung

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Einführung

Helmut hat die Fünfzig bereits überschritten und möchte noch mal richtig durchstarten. Radfahren ist sein neues Hobby.

Er ist bereits den vierten Tag auf dem Drahtesel unterwegs, um seine Cousine in Hessen zu besuchen. Mit Leichtigkeit auf ebenen Radwegen dahingleiten und dabei die herrlichen Landschaften genießen – so hat sich Helmut aus Südthüringen seine Tour vorgestellt. Es läuft nicht alles glatt.

Zu seiner Verblüffung ist der Kampf mit den kleinen Tücken des Alltags die eigentliche Herausforderung. Hitze, Erschöpfung, Durst und immer neue Missgeschicke trüben die Stimmung. Gelegentlich plagen den reiselustigen Senior Selbstzweifel. Ist er schon zu alt? Immer wieder muss er sich motivieren.

Die arteigene Denkweise des Autors verleiht vielen Episoden eine groteske Note. Selbst die Schilderungen von Banalitäten haben einen gewissen Unterhaltungswert und manche Desaster nehmen kuriose Wendungen an. Gratis liefert er subjektive Lebensweisheiten und seine arglose Weltsicht durch eine ostdeutsche Brille.

I

Krach! Bremsen quietschen. Plötzlich laute Rufe! Erschrocken vernehme ich hinter mir ein kratzend rutschendes Geräusch. Und wieder lautes Quietschen.

Eine Männerstimme ruft mehrmals: „Halt! Halt! Hallo! – Anhalten!“ Ich zucke heftig zusammen.

Eine Fahrradklingel bimmelt stürmisch und die Männerstimme hinter mir ruft nochmals: „Anhalten! – Hallo, Sie da vorn!“ Der meint mich! Beängstigt sehe ich nach hinten. Eine graue Staubwolke entfaltet sich. Ich erblicke drei Radfahrer, die wohl soeben stark gebremst haben. Knapp hinter mir halten sie. Ich trete kräftig in den Rücktritt. Nach kurzem Rutschen auf dem sandigen Radweg bringe ich mein Fahrrad zum Stehen. Auch meine Staubwolke entfaltet sich und weht nach hinten. Gespannt wende ich meinen Kopf den Männern zu. Was werden die denn so Aufregendes mitzuteilen haben? Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert!, denke ich und spekuliere, warum diese Herren mir einen solchen Schreck eingejagt haben.

Ich lehne mein Fahrrad rechts an einen Metallgartenzaun, um den drei Radlern zu Hilfe zu eilen. Augenblicklich ertönt lautes Hundegebell. Es kommt vom Gartengrundstück hinter dem Zaun. Aus der Haustür eines schmucken Einfamilienhauses flitzt ein grauweißer Zwergschnauzer aufgeregt in meine Richtung. Wild springt er an der Umzäunung hoch und beißt dabei in den Lenkergriff meines Fahrrades, der durch den Zaun in sein Revier ragt. Sofort nach diesem Angriff kreischt es markerschütternd durch die dichte mannshohe Hecke im Garten: „Rudi! Ruudiii!“

Eine Frau kommt aufgeregt von der Hecke auf mich zugehastet. Ich ziehe mein Fahrrad eilig vom Zaun zurück. Rudi hört nicht auf zu bellen. Die drei Radler beobachten mich schelmisch.

„Guten Tag, ich hatte nur kurz mein Fahrrad an Ihren Zaun gelehnt“, erkläre ich reumütig der Frau. Meine Entschuldigung wird vom lauten Kläffen des Hofhundes übertönt. Endlich hat sich der Köter beruhigt und verkrümelt sich in Richtung Hauseingang.

„Grüß Gott!“, begrüßt mich die Frau hinter der Einfriedung mit freundlicher Stimme. Ich antworte ebenfalls mit „Grüß Gott“ und schiebe mein Fahrrad dabei noch mehr vom Grundstück zurück. Jetzt erwarte ich einen Vorwurf, weil ich mein Fahrrad an den Zaun gelehnt habe, oder wenigstens eine Hundegeschichte über Rudi. Viele Hundebesitzer erzählen am Anfang einer Begegnung etwas über ihre Vierbeiner. Ihr Blick schweift jedoch neugierig zu den drei feschen Mannsbildern mit den Fahrrädern. Sie warten seit ihrem Radstopp bewegungslos auf mich.

„Sie haben Ihre Mütze verloren! Das ist doch Ihre!?“, ruft einer der Radfahrer. Dabei zeigt er mit seiner in dunkelgraue Handschuhe gehüllten Hand in Richtung seines Hinterrades.

„Ach, die ist ja tatsächlich mir!“ Ich erkenne meine oliv-grünliche Stoffmütze mit Sonnenschild. Vor einigen Minuten hatte ich sie wegen des Fahrtwindes abgesetzt und an den Fahrradlenker gehängt. Wahrscheinlich haben sich die Druckknöpfe gelöst, mit denen ich die Mütze zusammengeklemmt hatte. So ist sie mir unbemerkt abgefallen. Bevor ich etwas sagen kann, hebt der hintere Radfahrer die Mütze auf und reicht sie mir zu. „Oh, herzlichen Dank, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie verloren habe!“, begrüße ich das Radlertrio und bemerke ironisch: „Das war ja fast ein Auffahrunfall, die Bremsen haben laut genug gequietscht. Zum Glück ist Ihnen nichts passiert.“

„Ist schon o.k.“

Ich nehme meine zerknautschte Kopfbedeckung entgegen. Sie ist von mehrfachen Reifenspuren gezeichnet. Die drei jungen Männer, alle um die dreißig Jahre alt, schmunzeln anteilnehmend. Ihre gebräunten Körper sind elegant mit blau-schwarz gemusterten, kurzen Sportdresses bekleidet, die Sportschuhe farblich mit der Oberbekleidung abgestimmt. Abgerundet wird ihr Erscheinungsbild durch feine Lederhandschuhe, aus denen die Finger hüllenlos herausragen. Ihre Helme glänzen ebenso in der glühenden Sonne wie ihre Sporträder und die Schweißperlen auf ihrer Haut. Kerle wie aus einem Hochglanz-Sportmagazin.

„Angebertypen“, murmle ich, „da kann ich nicht mithalten.“ Bin ich neidisch oder verachte ich sie?

Wie auf Kommando schließen alle drei die Riemen ihrer Fahrradhelme.

„Wo soll es denn noch hingehen?“, fragt mich der Anführer der Gruppe.

„Richtung Aschaffenburg, nach Sulzbach“, antworte ich. „Na dann viel Spaß noch“, verabschieden sich die Rennfahrer gönnerhaft. Nach einem mitleidigen Blick auf meine unprofessionelle Radfahrerkleidung treten sie kräftig in die Pedale. Sie hinterlassen einen angenehmen Duft nach Sonnenöl. Schnell und dicht hintereinander rollend tauchen sie in eine Mulde ab und überqueren kurz darauf ein Bahngleis. Nach wenigen Augenblicken sind sie nur noch als drei kleine Punkte in der Ferne zu erkennen.

Ich bemerke jetzt umso mehr meinen Schweißgeruch. Das ist nicht verwunderlich, denn mit Wollpullover und langer Hose entspreche ich nicht unbedingt den sommerlichen Temperaturen.

Aber was soll ich tun? An meinen Armen und Beinen haben sich durch die Sonnenglut schon Blasen auf der Haut gebildet. Ein luftiger, langärmliger Sportdress könnte mir helfen, so etwas habe ich aber nicht mit. Ich hatte keinesfalls mit Hitze und Sonnenbrand gerechnet – es ist erst Ende Mai. So bevorzuge ich, zwischen zwei Übeln wählend, das Schwitzen vor dem Verbrennen.

In der Zwischenzeit ist die Frau hinter dem Zaun wieder ihrer Gartenarbeit nachgegangen. Gemeinsam mit ihrem Hund Rudi durchstreift sie ihre ausgedehnten Blumenrabatten, um diese oder jene Pflanze zu begutachten oder an ihr herumzuzupfen. Einige Pfingstrosen mit weißen und pinkfarbenen Blüten zieren den breiten Weg zum Gartentor. Dazu leuchten die prächtigen Blüten von gelben Margeriten und feuerrotem Mohn. Es duftet nach Flieder und frisch gemähtem Rasen. Hier gefällt es mir. Die Äste eines großen verdorrten Baumes bieten mir ein wenig Schatten. Ich setze mich auf einen bequem geformten Feldstein und beschließe, mich kurz auszuruhen.

Es ist schon der vierte Tag meiner Radreise. Gestartet bin ich im thüringischen Zella-Mehlis. Da war noch kühles Wetter, zudem hatte es stark geregnet, fast die ganze erste Etappe.

Doch jetzt ist es wie im Sommer – es herrschen Temperaturen von über dreißig Grad. Die Natur zeigt sich in üppigem Grün. Dabei ist noch Frühling.

Ich habe bereits Ortschaften wie Mellrichstadt, Bad Kissingen und Hammelburg an der fränkischen Saale durchquert. In der verträumten Kleinstadt Gemünden endet die schmale fränkische Saale und mündet in den ausgedehnten Main. Seitdem fahre ich auf wunderschönen Radwegen in Fließrichtung mit dem Main. Meine Endstation soll morgen die hessische Stadt Maintal, direkt bei Frankfurt gelegen, sein. Dann werden insgesamt dreihundertzwanzig Kilometer Fahrradstrecke hinter mir liegen.

Ich wühle in der Lenkertasche nach meiner Lesebrille. Anschließend finde ich die Landkarte, meinen Streckenplan und den Kugelschreiber. Pedantisch schreibe ich in die vorbereitete Streckentabelle:

Donnerstag, 28. Mai 2005, 12.00 Uhr

Tachometerstand – 27km, Hitze, wolkenlos

einzelne Gehöfte vor Kirschfurt, rechtes Mainufer

Zusätzlich vermerke ich:

Mütze verloren, drei Radler

Nach den Aufzeichnungen nippe ich aus meiner Wasserflasche. Das Wasser schmeckt abscheulich. Es hat sich bereits auf Stufe „lauwarm“ aufgeheizt, löscht aber etwas von meinem Riesendurst.

Ich klopfe den Staub von der soeben wiedererlangten Mütze. Die Reifenspuren am Schild bleiben trotzdem. Da ich Hunger verspüre, entscheide ich, meine Pause auszudehnen, und verspeise einen Teil meiner Wegzehrung: ein zerdrücktes, von zerlaufener Butter durchtränktes Brötchen mit Wurst- und Käsebelag. Ich schwitze. Mein Wollpullover kratzt überall. Wenn nur dieser elende Sonnenbrand nicht wäre!

Kauend rutsche ich auf meinem Steinsitz ein wenig zur Seite. So erhasche ich mehr Schatten von den dünnen Baumästen. Schön ist es hier. Vor mir in Sichtweite, kaum erkennbar zwischen dem üppigen Pflanzenwuchs, verläuft eine Eisenbahnstrecke. Darunter schlängelt sich der Radweg durch eine Unterführung. Zu meiner rechten Seite flimmert eine saftig grüne Wiese, mit vielerlei farbigen Blüten durchmischt. Sie zieht sich weit hinunter, bis zum Mainufer. Zwischen der bunten Pracht surren und schwirren unzählige Insekten. Auf der anderen Uferseite sind die Häuser des kleinen Ortes Freudenberg erkennbar. Weiter rechts breitet sich ein prächtig gelber Rapsfeldteppich aus, der sich bis zu einer Brückensilhouette am Horizont ausdehnt. Nachher werde ich dort den Main überqueren, um dem Radweg auf der linken Mainseite zu folgen.

Die wohltuende Ruhe wird jäh unterbrochen. Dröhnend, tosend und keuchend zieht eine Dampflok mit einer Reihe altertümlicher Waggons auf den Gleisen vorbei.

Wenig später bewegt sich eine lärmende Gruppe von etwa zehn Männern an der Bahnschiene entlang. Sie sind alle mit Kameras bewaffnet. Die langen Teleobjektive blinken in der Sonne. Anscheinend wollen sie die heute zahlreich fahrenden historischen Eisenbahnen fotografieren. Zwei Schafe grasen friedlich auf einer Koppel, gleich neben dem Gleis. Sie schenken diesem Rummel keine Beachtung.

Der Zug hinterlässt eine Spur gigantischer grauweißer Dampfschwaden und entschwindet leise schnaufend hinter einem kleinen Wiesenhügel. Langsam nach oben schwebend, lösen sich in der Ferne milchig weiße Wolken allmählich auf. Danach zieren nur noch wenige zarte, federartige Wölkchen den blauen Sonnenhimmel. Es sind die einzigen, die heute zu sehen sind. Eisenbahnromantik pur!

Am liebsten würde ich es den Männern gleichtun: ein bisschen an den Schienen umherrennen, auf gute Bilder lauern. Ich wüsste schon, wie und wo ich meinen Kamerastandpunkt aussuchen würde, wenn ich auf Bilderjagd wäre. Eine Weile blinzle ich mit den Augen in Richtung des Bahngleises, um so gedanklich tolle Fotos und Filmszenen aufzunehmen.

Jemand stupst mich ans Bein. Erstaunt entdecke ich Rudi, den Zwergschnauzer, neben mir. Anscheinend ist er aus dem Garten entwischt. Er verhält sich unauffällig und leise, um nicht von Frauchen entdeckt zu werden. Freudig wedelt er mit dem Schwanz, beschnuppert meine Gepäcktasche. Ich reiche ihm meine Landkarte zum Beschnüffeln entgegen. Daran zeigt er aber wenig Interesse und ist wenige Sekunden später irgendwo verschwunden.

Ich setze meine Mütze auf und geselle mich zu den Eisenbahnfreunden auf der Wiese neben den Bahngleisen. Ein Mann hat sich auf einem Getränkekasten postiert. Ein komischer Anblick. Er scheint sich, auf dem mickrigen Kästchen stehend, wie auf einem hohen Turm in schwindelerregender Höhe zu fühlen. Jedenfalls schwankt der Bildjäger so. Balancierend probt er unbeirrt immer neue Motiveinstellungen. Neben ihm harrt ein anderer Fotograf gleich mit fünf Kameras, die allesamt auf einem sonderbaren Holzstativ montiert sind. Ich gehe auf zwei Männer zu, die sorgsam etwas auf ihre Notizblätter schreiben. Eifrig plaudernd, vergleichen sie weitere Zugabfahrtszeiten. Dabei tauschen sie lautstark unverständliche Lokomotivbezeichnungen aus.

Ich besaß früher selbst eine elektrische Spielzeugeisenbahn – baute sogar begeistert mehrere Modellbahnanlagen. Aber die Bezeichnungen von Loks und Wagen sind für mich fortdauernd Fachchinesisch geblieben.

„Um dreizehn Uhr zwanzig rollt aus der Gegenrichtung der nächste Zug an. Eine Dampflok Baureihe 98.8-12 ist vorgespannt!“ So lange werde ich nicht hier warten.

Meine Beobachtungen werden durch das Bellen von Rudi unterbrochen. Die nette Frau im Blumengarten empfängt zwei männliche Gäste. Sie sind gerade durch den hinteren Eingang des Grundstücks mit Fahrrädern eingetroffen. Rudi flitzt an mir vorbei über den Radweg in Richtung Garten. Die Männer haben, wie ich, Schildmützen auf, in sattem Purpurrot und in Türkis. Nach ihrer Fotoausstattung zu urteilen, sind sie ebenfalls Eisenbahnfreunde, auf der Jagd nach guten Bildern.

„Grüß Gott!“, ruft der Purpurmützenträger mit einem rollenden „R“ in der Aussprache. Er meint mich. Ich winke zurück und gehe wieder zu meinem Rastplatz. Eigentlich möchte ich keine Eisenbahngespräche mehr hören und entschließe mich weiterzufahren. Die halbe Stunde Rast war lang genug. Beide Männer kommen näher an den Zaun. Ich sortiere meine Ausrüstung und hänge die Gepäcktaschen ans Fahrrad. Die Männer beobachten mich und scheinen eine Antwort auf ihren Gruß zu erwarten.

„Grüß Gott. Das waren ja heute tolle Züge“, sage ich zu den beiden.

„Die Hauptattraktion kommt erst noch! In dreißig Minuten! Ein Güterzug mit vierzehn Wagen. Gezogen von einer Diesel TuHi-212257.“

Ich kann mit der Lokbeschreibung wenig anfangen. „Na dann viel Spaß beim Fotografieren“, entgegne ich. „Die Güterwagen kommen überwiegend aus Frankreich!“, vervollständigt der Türkismützenträger freudetrunken. Nach einem Blick auf den Sonnenstand und der Überprüfung meiner Fahrtrichtung schiebe ich das Mützenschild in den Nacken. Mein Fahrrad steht bereit zur Abfahrt. „Zweimal im Jahr fahren die Nostalgiezüge hier lang. Heute waren es schon acht Züge. Eine badische VIc als DRG-Lok 75-1014 von 1934 mit PW4-Gepäckwagen war auch schon dabei!“

Wie man sich diese blöden Bezeichnungen merken kann. Ich schwanke zwischen Bewunderung und Mitleid. Der Hofhund kommt wieder herbeigelaufen.

„Na Rudi, guckst du auch nach der Eisenbahn?“, frage ich. Die Männer plaudern begeistert weiter. Mal zu mir, mal zueinander. Gestik und Augen versprühen Leidenschaft. Ich habe keine Lust auf weitere Eisenbahnlegenden. Daher schwinge ich mich auf mein Rad und rette mich vor den endlosen Erläuterungen der zwei Eisenbahnfreunde.

Ich muss jetzt an mein Weiterkommen denken. Mir stehen noch viele Kilometer bevor. Sicher werde ich heute noch einigen Nostalgiezügen begegnen. Mit schnellen Pedaltritten flüchte ich auf den sandigen Radweg. Ich schaue nicht zurück. Die beiden werden meine Unhöflichkeit verschmerzen. Rudi auch.

II

Heute Morgen um neun Uhr bin ich von Wertheim losgefahren, einem romantischen Städtchen, das am Zusammenfluss von Tauber und Main liegt. Dort habe ich übernachtet.

Zu meiner Verwunderung musste ich feststellen, dass heute ein Feiertag ist. Fronleichnam – plötzlich und unerwartet. Fronleichnam folgt nach Trinitatis, dem Dreieinigkeitsfest, das am ersten Sonntag nach Pfingsten gefeiert wird. Das hat mir heute eine Frau erläutert. Also stets am zweiten Donnerstag nach Pfingsten. Bisher hatte ich Fronleichnam nie wahrgenommen. Wie auch? Als gesetzlichen Feiertag gibt es ihn in Thüringen nur in katholischen Gemeinden. Hier in Franken scheint Fronleichnam obligatorisch. Auch in Hessen und einer Handvoll anderer Bundesländer.

Prinzipiell stört mich ein Feiertag nicht. Im Gegenteil, freie Tage sind immer gut. Nur leider stand ich heute Morgen überrascht vor einem geschlossenen Geschäft. Ich wollte meinen Getränkevorrat für die heutige Etappe kaufen. Nun bin ich auf Gasthöfe angewiesen. Das ist teurer. Zum Glück hatte ich noch zwei Flaschen Radler und eine Flasche Wasser. Mittlerweile ist das Wasser fast alle. Was soll’s.

Jetzt, am frühen Nachmittag, mache ich mir langsam Gedanken, wo und wie ich die nächste Nacht verbringen werde. Der Tageskilometerzähler an meinem Fahrrad zeigt bereits vierzig Kilometer an. Bürgstadt und Miltenberg liegen hinter mir.

Der heutige Tag ist bis jetzt, von den geschlossenen Läden abgesehen, zufriedenstellend im Sinne eines Radreisenden verlaufen. Hier am Main waren die Radwege bisher immer in passablem Zustand, meist sogar asphaltiert, manchmal als Sand-Splitt-Wege ordentlich befestigt. Für einen Radfahrer ist das sehr wichtig, denn auf solch guten Oberflächen lässt es sich ganz unbekümmert fahren, alles auf ebenen Strecken. Zwar gibt es auch hier links und rechts Berge, aber der Radweg führt nahe am Ufer entlang. Keine Anstiege erschweren die Fahrt wie auf den gebirgigen Wegen im Thüringer Wald. Im Gegenteil, sich gemeinsam mit dem Fluss in eine Richtung fortzubewegen bedeutet auch ein leichtes Gefälle im Gesamtverlauf der Radstrecke. Das hatte ich mir auch schon am ersten Tag an der fränkischen Saale erhofft. Doch da waren etliche Steigungen zu überwinden. Hier fährt es sich ganz mühelos und ich genieße es.

Während des Pedaltretens kann ich meine Umgebung ausgiebig betrachten. Das lässt mich meinen Sonnenbrand fast vergessen. Ich gleite unbeschwert dahin. Fast gleicht dies einer Schiffsfahrt. Ich sehe die Uferlandschaft der gegenüberliegenden Seite an mir vorbeiziehen.

Die Wegweiser sind hier am Main-Radweg ausgezeichnet. Eigentlich könnte man sich nicht verfahren, man muss nur in Main-Nähe bleiben. Dennoch kann man allenthalben Ortsnamen, Entfernungen und Fahrtrichtungen ablesen.

Der Main-Radweg ist sehr beliebt bei Radlern. Beginnend bei Kulmbach, folgt er weitestgehend dem schlängelnden Flussverlauf. Der Weg verläuft mal mehr südlich, mal eher nördlich, tendenziell jedoch von Ost nach West. Auf etwa vierhundertachtzig Kilometern könnte man über Bamberg, Schweinfurt und Würzburg bis Mainz radeln. Dort mündet der Main in den Rhein.

Ich bin begeistert von den abwechslungsreichen Landstrichen am Fluss. Die sonderbar geformten Weinberge und schönen Ortschaften waren bislang angenehm anzusehen. Zum heutigen Fronleichnam haben sich besonders die kleinen Ansiedlungen herausgeputzt. In einer Gemeinde waren über die gesamte Hauptstraße Blütenblätter verstreut. Blaskapellen spielten, die Menschen zogen festlich gekleidet durch die Straßen. Gasthöfe hatten schon beizeiten geöffnet. Viele Biergärten am Wegrand luden nicht nur die Radwanderer zum Verweilen ein. So brauchte ich bisher nicht zu verdursten.

Ich erinnere mich an das gerollte „Grrrüß Gott“, so wie es mir der eisenbahnbegeisterte Mann mit der roten Mütze heute Mittag zugerufen hatte. Es ist schon eigenartig, wie mannigfaltig sich die Menschen in den verschiedenen Regionen begrüßen. Im Norden gibt es das typische „Moin, Moin!“. Ich bin in Thüringen mit dem höflichen „Guten Tag“ und dem vertraulichen „Grüß dich“ aufgewachsen. Deshalb muss ich mich zuweilen etwas überwinden, eine mir fremdartige Grußformel auszusprechen. Bei „Grüß Gott“ fällt mir gleich die Antwort „Wenn du ihn siehst!“ ein. Mittlerweile habe ich aber begriffen, dass es zur Höflichkeit gehört, mit dem jeweils landläufigen Gruß zu antworten – also hier mit „Grüß Gott“.

Oder man zelebriert selbst zuerst das „Grüß Gott“. Allerdings sollte man dabei sehr überlegt vorgehen: Gestern wechselte ich mehrmals die Uferseite des Mains. Dabei überschritt ich wahrscheinlich auch eine Grußgrenze: Rechtsseitig war fränkisches Gebiet, aber links war Baden-Württemberg. Freudig schmetterte ich, von Franken kommend, in einem baden-württembergischen Bäckerladen mein „Grüß Gott“. Prompt verzogen einige Kunden das Gesicht. Die Bäckersfrau tat gereizt.

Hoppla!, dachte ich, das ist wohl jetzt doch nicht der passende Gruß gewesen. Vermutlich lag es an meiner unperfekten Aussprache, die mich als Fremdling entlarvte.

Offenbar existieren da kleine Feindseligkeiten. Nachdem ich meine zwei Brötchen bezahlt hatte, verabschiedete ich mich kleinlaut mit „Auf Wiedersehen, Tschüss!“ Nur zweihundert Meter entfernt, auf der anderen Uferseite, wurde mein Gruß freundlicher aufgenommen.

Im Augenblick radle ich auf fränkischem Gebiet, da ist „Grüß Gott“ wieder angesagt. Weil ich während des Radfahrens genug Zeit habe, versuche ich, eine kleine Übungsstunde in Sachen „Grußformeln“ einzulegen. Zunächst möchte ich das lang gezogene gerollte „R“ üben. Dazu sammle ich etwas Spucke im Mund und versuche nach einigen Sekunden, den Buchstaben „R“ zu gurgeln. „Rrrrrrrrrr, … Rrrrrrrrr.“ Ich bin zufrieden mit mir und spreche jetzt volltönend: „Grrrüß, … Grrrrrrrüß.“

„Das war nicht schlecht“, lobe ich mich laut. Vorsichtshalber blicke ich zur Seite und nach hinten. Niemand soll mich bei meinen unvollendeten Sprechübungen belauschen können. „Rrrrrrrrrr … Grrrrrrrr … Grrrrrrrüüüüüß!“ Leider verschlucke ich mich im Verlauf meiner Sprachakrobatik so heftig, dass ich beinahe vom Weg abgekommen wäre. Ich halte an, um ein paar kräftige Schlucke aus meiner Mineralwasserflasche zu nehmen. Es sind die letzten Tropfen, die Flasche ist nun leer.

Dann fahre ich weiter und verwerfe die Gurgelmethode. Schließlich kann ich nicht vor jedem „Grüß Gott“ zunächst einen Schluck Wasser trinken. Ich versuche es jetzt mit der Zungenflattermethode und spreche einige „Rrrr“-Laute. Dabei bilde ich den Ton mit der Zunge im vorderen Mundbereich. „Rrrr … Grrr.“ Nach einiger Übung flattert mir das herbeigewünschte Wort fröhlich aus dem Mund heraus. „Grrrrüüüß Gott!“ Mein „Grrrüüß Gott“ klingt jetzt wunderbar. Ich bin stolz auf mich. So schnell erlernt man Fremdsprachen.

Nun gehe ich direkt zu Lektion Nummer zwei über. In unterschiedlich großen Abständen stehen Bäume am Wegesrand. Ich beschließe jeden vierten Baum im Vorbeifahren zu grüßen:

Erster Baum.

„Grrr.“

Vierter Baum.

„Grrüß Gott. “

Achter Baum.

„Grrüß Gott. “

Begeistert zähle ich lauthals die Bäume.

„Neun, … zehn, … elf, … zwölf.“

Ab und zu grüße ich laut, manchmal auch verhalten:

„Grrüüüßß Gott! … Grrüß Gott!“

Nach 64 Bäumen habe ich genügend Selbstvertrauen.

Ich will mich an echten Menschen ausprobieren.

Der Radweg verläuft jetzt nahezu geradlinig und parallel zum Main. Nur etwa fünfzig Meter sind es bis zum Ufer. Zahlreiche Bäume spenden Schatten. Leider ist kein Mensch zu erblicken. Ich erhöhe mein Fahrtempo in Erwartung einer Person, die ich mit meinem Gruß beglücken kann. Endlich, nach drei Minuten, zeigt sich am Horizont eine offene Landfläche mit einer Wiese. Zwei kleine Häuser verwandeln sich beim Näherkommen in Imbissbuden mit einem Biergarten. Auf der Wiese vor dem Biergarten hat es sich eine Radlergruppe bequem gemacht. Sechs Leute belegen die einzigen fünf Holzbänke. Hier an dieser Stelle hat man einen schönen Mainblick.

Ich verlangsame mein Tempo und gehe gedanklich noch einmal die Grußformel durch. Im Heranfahren erkenne ich drei Männer und drei Frauen, alle im Alter um die Vierzig. Sie beißen vergnügt in ihre Schnitten und unterhalten sich dabei angeregt.

Ich nähere mich, mein Fahrrad schiebend, langsam der Gruppe.

„Grrüß Gott“, sage ich fast virtuos.

„Griiiis Godd!“, tönt es mir laut von der vorderen Bank entgegen.

„Tach“, erwidert mir eine andere Stimme.

Zwei Frauen, die gerade kräftig von ihren Wurstbrötchen abbeißen, nicken mir freundlich zu. „Iss worm hait, un kei Lüftl weht“, sagt kauend die dritte Frau, mit Blick auf mein verschwitztes Gesicht. Sie scheint selbst wie verrückt zu schwitzen. Schweißperlen kullern aus ihrem knallroten Käppi über ihre Wangen. Oh Gott, das klingt nach Sachsen! Ob die meinen perfekten Gruß würdigen können? Eher nicht.

„Mir sinn aus Rodewisch“, erklärt mir einer der Männer auf meine Nachfrage.

„Aus`m Vogdland“, ergänzt ein zweiter von der hinteren Bank. Seine gelbe Schirmmütze sitzt schief auf seinem roten, erhitzten Kopf. Das karierte Hemd hängt weit über die kurze Hose. Aus den Sandalen wachsen rote Strümpfe bis hoch zu den Knien. So gleicht er mehr einem Zirkusclown als einem Radler.

„Kinner, reimt eier Gelump wag, de Jung will sich fai eweng setz. Mo muss sich ja bluß schame.“

Eine Frau zieht daraufhin einen Rucksack auf der Bank ein wenig zur Seite. Ich gebe mich als Thüringer zu erkennen und freue mich, hier am Main „Ost-Landsleute“ anzutreffen. Das ist so wie im Jahr 1990. Da haben sich die Autofahrer aus dem Osten, wenn sie im Westen unterwegs waren, mit Lichthupe gegrüßt. Trabant und Wartburg waren schon von Weitem auszumachen. Das „Griiis Godd“, von einem sächsischen Vogtländer ausgesprochen, hört sich ja wirklich „gräuslich“ an, wie der Franke zu sagen pflegt. Wie mögen sich diese sechs armen Geschöpfe mit ihrer Sprache hier in Bayern präsentiert haben? Aber so ist das nun einmal mit der verräterischen Spracheinfärbung. Es kommt wohl auf den Menschen an und nicht auf seine Herkunft oder sein Aussehen, sinniere ich. Trotzdem – beim Anblick der drolligen Truppe muss ich mir das Grinsen unterdrücken. Angespannt versuche ich, nicht mehr auf die bunten Mützen meiner Gesprächspartner zu achten.