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Der Stasi-Auflöser: Heinz Engelhardt über das Ende des DDR-Geheimdienstes Er war nicht nur der jüngste General der Stasi, sondern auch der letzte im Dienst des MfS. Heinz Engelhardt wurde von der DDR-Regierung beauftragt, das Ministerium für Staatssicherheit aufzulösen. Unter seiner Regie wurden Anfang 1990 zehntausende hauptamtliche Mitarbeiter abgewickelt und mindestens so viele inoffizielle, IM geheißen. Er kümmerte sich um die Sicherung der Stasi-Akten und um andere Hinterlassenschaften des Sicherheitsdienstes, der im Herbst in "Amt für Nationale Sicherheit"(AfNS) bzw. Nasi umbenannt worden war. Doch der Sturm auf die MfS-Zentrale am 15. Januar 1990 beendete alle Planungen: Die Stasi, in welcher Form und mit welchem Namen auch immer, musste weg. Heinz Engelhardt, Jahrgang 1944, berichtet erstmals und damit exklusiv über die letzten Monate der Stasi in der DDR. Er weiß mehr, als in den Akten steht. Er erzählt über Menschen, Schicksale, An- und Abwerbungsversuche in letzter Minute, über Verräter und aufrechte Charaktere. Niemand steckte so tief im DDR-Geheimdienst wie Heinz Engelhardt. Er ist ein Zeitzeuge, der bisher schwieg. Nach dreißig Jahren lüftet er letzte Geheimnisse des DDR-Geheimdienstes.
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Seitenzahl: 272
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die Fotos stammen aus den Archiven Engelhardt, edition ost und Robert Allertz
edition ost im Verlag Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage
ISBN E-Book 978-3-360-51046-4
ISBN Print 978-3-360-01889-2
1. Auflage dieser Ausgabe 2019
© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
www.eulenspiegel.com
Über das Buch
Engelhardt sollte der erste Verfassungsschutzpräsident der DDR werden und bekam stattdessen den Auftrag, das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit aufzulösen. Im Herbst 1989 wechselte der jüngste General des Nachrichtendienstes von Frankfurt an der Oder nach Berlin und übernahm einen Job, um den er sich nicht bemüht hatte. Nach drei Jahrzehnten spricht er hier erstmals ausführlich darüber. Und über das Innenleben des MfS einschließlich über Personen, mit denen er während des Dienstes zu tun hatte. Ein Insiderbericht ohne Scheu und falsche Rücksicht, dessen Offenheit verblüfft.
Über die Autoren
Heinz Engelhardt, geboren 1944 in Ostpreußen, Abitur im Vogtland, Angehöriger des MfS von 1962 bis 1990, Diplomjurist. Letzter Dienstgrad: Generalmajor. Im Dezember 1989 mit der Bildung eines Verfassungsschutzes der DDR, im Januar 1990 mit der Auflösung des AfNS/MfS beauftragt, danach Berater der letzten DDR-Regierung. Anschließend Umschulung zum kaufmännischen Angestellten und Tätigkeit bei einem Reiseunternehmen.
Peter Böhm, geboren 1950, war einst im Internationalen Pressezentrum in Berlin tätig und recherchiert seit Jahren zum Thema Geheimdienste. Er legte vielbeachtete Bücher über die Spione Hans-Joachim Bamler, Hans Voelkner und Horst Hesse vor. Zuletzt publizierte er den Band »Der Überzeugungstäter«, ein Gespräch mit dem letzten Chef der DDR-Aufklärung Werner Großmann.
Die Vergangenheit ist ein anderes Land,
aber bei denen, die einmal dort gelebt haben,
hat sie ihre Spuren hinterlassen.
Eric Hobsbawm »Gefährliche Zeiten«
Inhalt
Werner Großmann: Vorwort
Aus großer Fallhöhe
Von Ostpreußen ins Vogtland
Karl-Marx-Stadt: Der Beginn einer Karriere
Kreisdienststelle Reichenbach
Auf dem Weg nach oben: Karl-Marx-Stadt
Zeremonienmeister in Honeckers Wahlkreis
Zwischenstopp auf dem Weg nach oben
Frankfurt an der Oder – der Countdown beginnt
Der Neue Tag berichtet – die West-Presse macht mobil
Das letzte Gefecht
Schlussakkord
Das Kreuz mit der Kirche
Vorwort
Die Wege von Heinz Engelhardt und mir kreuzten sich spät, obwohl wir beide bis dato unser gesamtes Berufsleben lang im Ministerium für Staatssicherheit tätig waren – ich in der Hauptverwaltung Aufklärung, Heinz Engelhardt in verschiedenen Diensteinheiten der Abwehr im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Kurz zuvor war er zum Leiter der Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) berufen worden. Anlass unseres Zusammentreffens war seine Ernennung zum Generalmajor. Er war gerade einmal 43 Jahre alt, ein junges, frisches Gesicht zwischen uns altgedienten Generalen, die der kleinen Feierstunde im Ministerium in der Berliner Normannenstraße im September 1987 beiwohnten. Er war in Berlin weitgehend unbekannt, was wohl auch dazu führte, dass Minister Erich Mielke ihn mit dem zwölf Jahre älteren Kommandeur des Wachregiments »Feliks Dzierzynski« verwechselte.
Das zweite Mal begegnete mir der Name Engelhardt im Mai 1988. Die Hamburger Tageszeitung Die Welt und der Westberliner Tagesspiegel schrieben, dass der »SSD-Chef des Bezirkes Frankfurt (Oder), Generalmajor Heinz Engelhardt« gefordert habe, »der Beseitigung von Alltags-Ärgernissen noch größere Aufmerksamkeit zu widmen«. Das war ein unerhörter Vorgang in den Augen unserer Oberen: ein leitender Mitarbeiter des MfS als Kronzeuge für Alltagserschwernisse und Versorgungsmängel in DDR – und das auch noch in der Westpresse! Hans-Joachim Hertwig, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Frankfurt, wurde dafür von Erich Honecker persönlich wie ein Schulbub abgekanzelt. Dabei hatte Heinz Engelhardt nur über einen Teil seiner täglichen Arbeit in seinem Redebeitrag auf einer SED-Delegiertenkonferenz berichtet: nämlich die Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung im Bezirk Frankfurt zu sammeln und zu analysieren. Doch diese wollte am Werderschen Markt, dem Sitz des Zentralkomitees der SED, längst keiner mehr hören.
Im November 1989 erhielten Heinz Engelhardt und ich den Auftrag der Modrow-Regierung, unter Leitung von Generalleutnant Wolfgang Schwanitz das Amt für Nationale Sicherheit als Nachfolgeinstitution des Ministeriums für Staatssicherheit (AfNS) aufzubauen. Dabei lernte ich Engelhardt, der einen DDR-Verfassungsschutz konzipieren, aufbauen und leiten sollte, als kreativen, engagierten und verlässlichen Partner kennen, dem vor allem das Schicksal seiner Genossen, der Mitarbeiter des ehemaligen MfS, am Herzen lag. Wie er in diesem Buch berichtet, wurde der neue Verfassungsschutz der DDR nicht mehr aktiv, denn die Ereignisse jener Tage zeitigten andere Ergebnisse: die Zerschlagung und den Ausverkauf der DDR. Damit blieb uns nur noch die Aufgabe, unsere Mitarbeiter und schließlich uns selbst aus dem Dienst zu entlassen.
Das war für uns beide eine nervenaufreibende, teilweise deprimierende Zeit, in der wir mit ansehen mussten, wie Tausende einstige Staatsdiener der DDR von ihrer eigenen Regierung ins soziale Abseits gedrängt und moralisch diskreditiert wurden.
Werner Großmann und Heinz Engelhardt, 2019
Heinz Engelhardt hat diese Kampagne gegen das MfS, die vor allem in Medien und Parlamenten sowie vor den Gerichten der neuen Bundesländer um sich griff, nie akzeptiert. Er hat mit Temperament und wachem Verstand stets gefordert, die Geschichte des MfS als Geschichte der wechselseitigen Aktionen beider deutscher Staaten zu verstehen, und nicht als die Laune eines Schattenboxers, der ohne Gegenpart nach Lust und Laune agiert. In diesem Zusammenhang müssen wir, die ehemaligen Mitarbeiter des MfS, uns unserer Verantwortung stellen – nicht einem pauschal verhängten Schuldspruch. Auch das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Wortmeldungen. Das oft herangezogene Täter-Opfer-Klischee, wie es vor allem die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen permanent strapaziert, ist für den Versuch, die Geschichte zu erklären, völlig ungeeignet. Nicht Diskriminierung, Diskreditierung und Ausgrenzung sind gefragt, sondern ein politischer Diskurs, an dem sich auch die ehemaligen Angehörigen des MfS beteiligen.
Dies ähnelte bisher und ähnelt zum Teil noch heute dem Kampf gegen Windmühlenflügel. Kein Gerücht, keine Spekulation, keine Hetze war widersinnig und infam genug, um nicht mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Ob es die Erfindung der »Roten Hand«, einer Geheimorganisation ehemaliger Offiziere der Staatssicherheit war, die angeblich Rache für die Auflösung des MfS üben wollten, oder die infame Behauptung, die Staatssicherheit hätte bei Gefangenen mittels Röntgenstrahlung gezielt Blutkrebs erzeugt, oder der große Nazihunde-Schwindel, dem auch das Dresdner »Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung« aufsaß. Vor keiner Diffamierung schreckte man zurück.
Wenn es heute Zeichen des Umdenkens gibt, so kann man hoffen, dass die von uns schon immer geforderte offene, sachliche und kritische Geschichtsaufarbeitung nach nun fast dreißig Jahren endlich in Gang kommt.
Als einen Beitrag zu diesem Diskurs verstehe ich das Buch von Heinz Engelhardt, das im Gespräch mit dem Berliner Journalisten Peter Böhm, den ich durch unsere Zusammenarbeit kennen und schätzen gelernt habe, entstanden ist. Ich bin sicher, dass es einen wichtigen Beitrag zu einer konstruktiven Aufarbeitung der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und darüber hinaus leisten kann.
Werner Großmann
Generaloberst a.D.
Berlin, im Februar 2019
Aus großer Fallhöhe
In Ihren Papieren habe ich einen interessanten Brief vom September 1990 gefunden. Da gab es noch, jedenfalls formal, die DDR. Verfasser des Briefes war Georg Mascolo, damals bei Spiegel TV. Der damals knapp 26-jährige Journalist schlägt Ihnen vor, gemeinsam ein Buch zu machen über Ihre persönliche Geschichte, über die Vorwürfe gegen das MfS und über dessen Auflösung, an der Sie maßgeblich mitgewirkt haben, sowie über die Zukunft der »Ehemaligen«, wie auch Sie in vielen Briefen sich selbst und Ihre einstigen Genossen bezeichneten. Warum wurde nichts aus diesem Buchprojekt?
Bitte bedenken Sie die Stasi-Hysterie, die 1990 und auch in den folgenden Jahren herrschte. Alle Probleme der DDR – von den Kinderkrankheiten bis zu den Tagen des Altersstarrsinns – wurden dem MfS angelastet. Die Geschichte der DDR wurde losgelöst von der deutschen und der internationalen Geschichte betrachtet: von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und seinen Folgen im Kalten Krieg, und auf die Tätigkeit unseres Ministeriums reduziert. Dazu wurde das Ganze noch dargestellt, als hätte der DDR-Nachrichtendienst außerhalb der Systemauseinandersetzung ohne reale Gegner BRD, BND und Konsorten agiert. Vergessen wurde, dass US-Präsident Truman die Eindämmung des Kommunismus nach 1945 zur Staatsdoktrin erhoben hatte. Hauptfeind der USA wurde der Kommunismus und damit die Sowjetunion. Der Spiegel begann im Februar 1990 eine Artikelserie unter dem Titel »Schild und Schwert der Partei« …
… zu der Sie in einem kurzen Interview beitrugen …
… nun, »beitragen« würde ich das nicht nennen. Ich habe dafür plädiert, dass vernünftig mit den ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit umgegangen wird und sie nicht als universelle Buhmänner der untergegangenen DDR an den Medienpranger gestellt werden. Die Spiegel-Serie verfolgte allerdings genau das Gegenteil: Das MfS und seine Mitarbeiter wurden zu den Hauptakteuren des »Unrechtsstaates« DDR gemacht. Ich wurde zwar einige Male zitiert, jedoch stets als einer, dem nicht zu trauen ist. Wenn ich erklärte, dass die Abhöranlagen des MfS außer Betrieb seien, wurde sofort hinterhergeschoben: »Doch Experten sind sicher, dass immer noch mitgehört und mitgeschnitten wird.« So etwas wurde am 12. Februar 1990 ernsthaft behauptet.
Eine differenzierte Sicht auf die Vergangenheit zu vermitteln war nicht möglich, das war erkennbar auch nicht gewünscht. Im Spiegel wurden die inhaltlichen Schwerpunkte vorgegeben, wie das Thema im Weiteren abzuhandeln sei. Dabei suggerierte man dem Leser, der Autor sei exklusiver Augenzeuge des beschriebenen Ereignisses gewesen. Hans Magnus Enzensberger meinte schon vor Jahren, der Spiegel sei gar kein Nachrichtenmagazin, sondern ein Story-Magazin. Wer Geschichten erzählt, braucht jedoch Helden, Konflikte, Motive, kurz: eine Dramaturgie. Das verführt zwangsläufig zu »kreativem Schreiben«. Wohin das führt, sehen wir ja gerade am Fall Relotius.
Ich als alter Lichtenberger fand es immer besonders »kreativ«, wenn man dem MfS unterstellte, an der Normannenstraße ein Areal von 30 Hektar okkupiert zu haben. Wer die Gegend kennt, weiß, dass es gerade mal zehn Hektar waren. Gemessen an den 68 Hektar des BND in Pullach ein Klacks!
Und wie der Zufall es will: Die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes in der Berliner Chausseestraße umfasst auch ziemlich genau zehn Hektar – allerdings nur der BND, dazu noch in bester Citylage.
Der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom bemerkte, dass eine Vielzahl von Publikationen zum Thema MfS unter der Einseitigkeit leidet, den ostdeutschen Geheimdienst als Schattenboxer darzustellen, der auf einen eingebildeten Gegner eingeschlagen habe.
Da hat er durchaus recht. Mit Vorsatz oder aus Unwissenheit wird ignoriert, dass von Anfang an der Westen auch mit geheimdienstlichen Mitteln gegen die sogenannte Ostzone operiert hat. Vergessen, dass Kurt Schumacher, Vorsitzender der SPD in den Westzonen, von seiner Partei verlangte, in der Sowjetischen Besatzungszone ein weitverzweigtes Netz illegaler Organisationen zu schaffen. Diese Organisationen sollten, so Schumacher, Vertreter – illegal, versteht sich – in allen Bereichen der neu gegründeten SED, in Verwaltungen, Betrieben, Gewerkschaften und anderen Organisationen platzieren. Ziel war eine umfassende Sammlung von Nachrichten, die man den Westalliierten übergeben wollte. Am 18. September 1947 war die Central Intelligence Agency (CIA) als Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten gegründet worden – laut der 2006 veröffentlichten Selbstdarstellung: »Die CIA ist ein ziviler Geheimdienst. Im Gegensatz zu einem Nachrichtendienst, dessen Aufgabe die reine Gewinnung von geheimen Informationen ist, gehören zu den Aufgaben der CIA nicht nur Spionage, Beschaffung und Analyse von Informationen über ausländische Regierungen, Vereinigungen und Personen, um sie den verschiedenen Zweigen der amerikanischen Regierung zur Verfügung zu stellen, sondern auch Geheimoperationen im Ausland. Nicht selten bedient sich die CIA, so wie andere Geheimdienste auch, der Desinformation und illegaler Mittel, um die internationale Politik, die öffentliche Meinung und die Repräsentanten der Vereinigten Staaten zu beeinflussen.«
Ab 1950 begannen die USA die Wiederaufrüstung West-Europas. Mit dem sogenannten Marshallplan hatten die USA einen Kontrollapparat in Europa installiert, und mit der CIA einen Geheimdienst, dessen vorrangiges Ziel erklärtermaßen darin bestand, »kommunistische Elemente« – und was darunter zu verstehen war, definierten sie selbst – entschieden zu bekämpfen. Weil dadurch die »freie Welt«, heute nennt man das »nationale Sicherheitsinteressen«, bedroht wurde. Die USA handelten nie uneigennützig, weder bei den Aufbauhilfen noch beim Einsatz der »Rosinenbomber«, mit denen 1948/49 Westberlin »gerettet« wurde. Es galt stets »America first«, auch wenn es erst Jahrzehnte später ausgesprochen werden sollte.
Gerade in den ersten Jahren der Blockkonfrontation, also in den 1940er und 1950er Jahren, ging es den westlichen Diensten mitnichten nur darum, in der DDR Informationen zu sammeln. Da kam das ganze Arsenal sogenannter »verdeckter Aktionen« zum Einsatz. Im Kalten Krieg waren ihnen alle Mittel recht.
Damit ist wohl vor allem Sabotage gemeint.
Genau das ist damit gemeint.
Lösen wir uns mal aus der Abstraktion, bringen Sie Beispiele.
Am 19. September 1951 wurden am gerade fertiggestellten ersten Hochofen in Eisenhüttenstadt …
… damals noch Stalinstadt …
… damals noch Stalinstadt, Sprengkabel gefunden. Kurz vorher brannte auf dieser Baustelle die Heide. Ursache: Brandstiftung. Auch im Jahr 1951 sollte die Autobahnbrücke bei Finowfurt, ein hölzerner Notbehelf, abgebrannt werden. Dieses Vorhaben war Ergebnis einer regelrechten Vorkriegsstimmung, die zu jener Zeit in Westberliner Geheimdienstkreisen herrschte. Glücklicherweise schlug auch dieser Anschlagsplan fehl. Ein besonders infames Vorhaben war die geplante Sprengung einer Eisenbahnbrücke im Wald bei Erkner. Hier verkehrte der sogenannte »Blaue Express« zwischen Berlin und Moskau. Er wurde vornehmlich von sowjetischen Militärangehörigen und ihren Familien genutzt. Deren Tod wurde billigend in Kauf genommen. 1954 brannten im Kreis Bernau Scheunen. Auch hier handelte es sich um Brandstiftung.
Konnten denn die Terroristen – so würde man solche Leute heute wohl bezeichnen – ermittelt werden?
Ja, das konnten die Sicherheitsorgane, übrigens mit aktiver Unterstützung der Bevölkerung, letztlich aufklären und verhindern.
»Letztlich« heißt?
Für den Anschlag im Wald bei Erkner war zwar der Plan fertig und der Sprengstoff geliefert. Doch das Fluchtfahrzeug fehlte. So planten die Saboteure neu. Beim Versuch, stattdessen eine Brücke bei Stahnsdorf zu zerstören, wurden sie »letztlich« erwischt.
Waren das Einzeltäter, mit denen es die Sicherheitsorgane der DDR zu tun hatten?
Mitnichten! Der Anschlag auf den »Blauen Express« zum Beispiel wurde von der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) vorbereitet. Diese Terrororganisation wurde aktiv von der Organisation Gehlen, der Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes, und von der Westberliner Dependance der CIA unterstützt. In jener KgU war auch Heinz Wiechmann aktiv, der von 1953 bis 1965 Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Westberlin war.
Obwohl sich die von der Alliierten Kommandantur lizenzierte KgU 1959, nachdem die CIA den Geldhahn zugedreht hatte, auflöste, wirft der Verein noch immer lange Schatten bis in die Gegenwart.
Ja, Rainer Hildebrandt, seinerzeit Spiritus rector der KgU und einige Jahre auch ihr Frontmann, hinterließ der Stadt Berlin und der Welt das Mauermuseum am Checkpoint Charlie. Im Mai 1992 durfte er sogar im Neuen Deutschland die Mär von seiner humanistischen Gesinnung ausbreiten, ohne dass die Redaktion Hintergrundinformationen geliefert oder mit einem Kommentar die Sache vom Kopf auf die Füße gestellt hätte.
Sehen Sie es nach, die Zeitung war auf dem Weg vom Zentralorgan zur Großen unter den Linken, da wurde oft das, was bis gestern schwarz war, plötzlich zu weiß.
Na, bevor wir nun auch noch dieses Thema anschneiden und den Eindruck ziellosen Parlierens vermitteln, will ich zum Ausgangspunkt zurückkehren: zum misslungenen Versuch, beim Rückblick auf die DDR – was gemeinhin als »Aufarbeitung« bezeichnet wird – ein objektives Bild vom Ministerium zu vermitteln und seinen Mitarbeitern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich hatte dem Organ seit 1962 angehört, war zur Wendezeit Generalmajor und damit der jüngste General im MfS gewesen und hatte dieses im Frühjahr 1990 aufgelöst. All meine Bemühungen, ein differenziertes Bild der DDR und der Tätigkeit des MfS zu vermitteln, wurden in der Folgezeit brüsk zurückgewiesen. Bei Foren, Podiumsgesprächen und öffentlichen Diskussionen, an denen ich teilnahm, schlug mir eine Propaganda entgegen, die mich an die frühen Zeiten des Kalten Krieges erinnerte. Der Missionierungseifer, mit dem das MfS in die Schmuddelecke gestellt wurde, hat viele von uns, die an einer sachlichen Diskussion interessiert waren, abgestoßen. Es ging nicht um Wahrheit, sondern um Rechthaberei, nicht um Fakten, sondern um gezielte Manipulation. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Geändert hat sich jedoch das Publikum. Inzwischen gibt es eine junge Generation, für die die deutsche Zweistaatlichkeit ein historisches Faktum ist, mit dem sie keine persönlichen Erfahrungen gemacht haben. Sie sind also frei vom Ballast der Rechtfertigung oder des Verurteilenmüssens. Und viele von dieser Generation – nicht alle, denn bei der Entpolitisierung der Gesellschaft ist man gut vorangekommen – stellen Fragen, wie das so war zwischen 1945 und 1990. Und sie stellen auch deshalb Fragen, weil sie berechtigte Zweifel an der offiziellen Darstellung der Vergangenheit haben. Was, im Westen sollen nur die Guten und im Osten die Bösen gesessen haben? Wenn die DDR im Fernsehen behandelt wird, kommt kein Film ohne »Stasi« aus.
Mascolo arbeitete, als er Ihnen das Angebot machte, im Spiegel-Verlag in Hamburg. Das galt damals als Leitmedium. Die Sicht des Spiegel wurde zur Sicht aller, zumindest in den Redaktionen. War das für Sie keine Herausforderung, es »denen« mal zu zeigen?
Das war doch ein Kampf von Don Quijote gegen Windmühlenflügel. Außerdem: Ein Buch zu schreiben schien mir in meiner aktuellen Situation unmöglich: Nachdem ich meinen ersten und bislang einzigen »Arbeitgeber« aufgelöst hatte, stand ich als dessen letzter Mann praktisch vor dem Nichts. Ich war Familienvater und hatte drei Kinder zu versorgen. Etwas anderes als »Geheimdienst« hatte ich nicht gelernt. Ich weiß: Es gab ja auch noch andere Geheimdienste. Aber ich habe dem meinigen 28 Jahre lang aus Überzeugung gedient, ich war – wie mein Freund Werner Großmann, der seine Erinnerungen als Chef der Hauptverwaltung Aufklärung auch so überschrieben hat – ein Überzeugungstäter. Und Überzeugungen wechselt man nicht wie ein Hemd, man verrät sich doch nicht selbst. Also musste ich etwas ganz anderes machen. Aber eben kein Buch.
Das Thema »Staatssicherheit« lag Ihnen sicher auf der Seele. Doch auf der anderen Seite, Sie sprachen ja bereits von der Hysterie, mit der das Thema in den Medien behandelt wurde, musste es in der Öffentlichkeit dazu herhalten, von anderen Problemen abzulenken.
Das war so. Wie ich mich um meine persönliche Perspektive sorgte, bereitete mir auch die gesellschaftliche Entwicklung einige Sorge. Als politischer Mensch, zu dem ich in der DDR erzogen worden war, beschäftigte mich zudem, was in der Sowjetunion vor sich ging. Es ließ mich nicht kalt, was beim großen Bruder geschah. Dann der Krieg am Golf, den die USA im Januar 1991 lostraten. Und innenpolitisch: die sozialen Verwerfungen im Osten aufgrund der Liquidierung der Industrie, der Abwicklung gesellschaftlicher Institutionen, die Ausgrenzung und Diskriminierung beachtlicher Kreise aus der Gesellschaft, die wachsende Kriminalität …
Aber Ihre Meinung dazu wollte man Anfang der 90er Jahre nicht hören.
Doch, es gab Menschen, die zu Recht auf eine Entschuldigung von mir, von uns gewartet haben.
Warum?
Zunächst hatten und haben wir uns – als Mitglieder der SED und Angehörige des MfS – dafür zu entschuldigen, dass wir unkritisch und in falsch verstandener Parteidisziplin die fehlerhafte Sicherheitsdoktrin der Partei- und Staatsführung mittrugen und mit umsetzten. Ein Ergebnis dieses doch letztlich verhängnisvollen Sicherheitsdenkens war ein überdimensionierter Sicherheitsapparat, der auch zur Überwachung bestimmter Teile der eigenen Bevölkerung diente. Eine zentrale Aufgabenstellung lautete »Wer ist wer?«. Auch waren wir daran beteiligt, dass soziale und ökonomische Probleme mit Mitteln des Strafrechts gelöst wurden. Unser vorrangiges Anliegen bestand zwar darin, ein realistisches Bild von den Stimmungen und Problemen der Menschen in unserem Land zu erarbeiten und zu vermitteln. Doch als diese Informationen in wachsendem Maße bei der politischen Führung immer weniger Beachtung fanden, haben wir das achselzuckend hingenommen und uns gefügt.
Gerade das wurde dem MfS von ehemaligen Spitzenfunktionären der Partei abgesprochen. Honecker selbst meinte dazu, dass er den Eindruck gehabt habe, Sie würden aus der Westpresse abschreiben, weil das, was ihm das MfS mitteilte, aus den BRD-Medien längst bekannt sei.
Ich will nicht darüber diskutieren, wer da von wem abgeschrieben hat. Fest steht eines: Auf die von uns vorgelegten Informationen und Analysen wurde immer weniger und zum Schluss gar nicht mehr reagiert, zumindest haben wir davon nichts gemerkt. Doch wir sollten uns davor hüten, die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Überwachung der eigenen Bürger zu reduzieren, wie es immer wieder geschieht. Wir dürfen bitte nicht außer Acht lassen, dass sich die DDR während der ganzen Dauer ihrer Existenz realer Angriffe von außen zu erwehren hatte. Es war erklärtes Ziel der Bundesrepublik, die »Zone« – denn so nannten sie die DDR bis in die 60er Jahre – zu »befreien«. Heute nennt man das »regime change«, wenn man nicht genehme Regierungen wegputscht. Das Bestreben der DDR, geheimdienstliche und andere Angriffe auch mit geheimdienstlichen Mitteln abzuwehren, war nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Nicht zu vergessen, dass das MfS auch große Anstrengungen unternahm, Nazi- und Kriegsverbrechen aufzudecken, um die Täter einer Bestrafung zuzuführen. Nicht wenig Kräfte wurden eingesetzt, um die Aktivitäten gegnerischer Dienste gegen die auf dem Territorium der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte zu unterbinden. Die DDR war bekanntlich der vorgeschobene Posten des Warschauer Vertrags, des militärischen Beistandspaktes sozialistischer Länder unter Führung der Sowjetunion. Die Staatsgrenze West der DDR war zugleich auch die Westgrenze des Bündnisses zur der NATO.
Ich will noch einmal auf die theoretische Option des Seitenwechsels nach der Auflösung des MfS zurückkommen. Pullach oder Köln waren für Sie nie eine Überlegung wert?
Nein, das kam für mich überhaupt nicht in Frage. Wie schon gesagt: Ich habe der DDR aus politischer Überzeugung gedient. Ich musste etwas Neues, etwas anderes machen.
Zwar forderte man 1989/90 auf der Straße: »Stasi in die Produktion!«, aber dort wollte niemand diese Leute haben, zumal es kaum noch Produktion gab. Es blieb meist nur Versicherungsvertreter oder Sicherheitsdienst.
Falsch, ganz falsch! Es gab für unsereinen auch andere Optionen, nicht nur diese. Aber ich spreche jetzt nur für mich. Nach dreijähriger Ausbildung legte ich 1993 vor der IHK Berlin die Prüfung zum Reiseverkehrskaufmann ab. Ich hatte nun einen »ordentlichen« bürgerlichen Beruf.
Dann nehme ich das Bild mal auf und bitte Sie, mich qualifiziert auf der Reise durch Ihr Leben zu begleiten!
Na, dann los!
Von Ostpreußen ins Vogtland
Die Reise beginnt am 9. Februar 1944 in Angerapp. Das heißt heute Osjorsk und liegt im Oblast Kaliningrad in Russland. Groß geworden sind Sie im vogtländischen Klingenthal, was man auch deutlich hört. Was verbindet Sie heute mit Ihrem Geburtsort?
Wenig, um nicht zu sagen: nichts. Der einzige aus unserer Familie, der das vormalige Ostpreußen im Rahmen einer touristischen Reise besuchte, war mein Onkel Horst, der Bruder meines Vaters. Die Tour ging nach Königsberg, heute Kaliningrad. Dort nahm er ein Taxi und fuhr in den Ort seiner Kindheit, nach Ebenrode – bis 1938 Stallupönen und heute Nesterow. Er wollte das Haus, in dem er bis Ende 1944 gelebt hatte, die alte Volksschule und das ehemalige Gymnasium noch einmal sehen. Die letzten deutschen Einwohner verließen im Oktober 1944 den Ort. Horst war Jahrgang 1932 und lebte, nachdem wir nach Klingenthal gekommen waren, in unserer Familie. Seine Mutter war in Königsberg gestorben, der Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Ihr Wohnhaus in Nesterow – es war die Hälfte eines Doppelhauses – befand sich bei seinem Besuch in einem guten Zustand und wurde von einer älteren Russin bewohnt. Russen sind mit fast 90 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe in dieser Stadt. Horst hatte den Eindruck, dass sie fürchtete, er wolle das Haus wiederhaben.
So viele Jahre nach dem Krieg?
Man soll die Empfindungen vieler, zumal älterer Menschen, die nach 1945 in den nördlichen Teil Ostpreußens – seither Kaliningrader Gebiet – umgesiedelt wurden, nicht unterschätzen. Dieses von Deutschen nahezu entvölkerte Gebiet war in Potsdam der Sowjetunion zugeschlagen worden: Zweimal – 1914 und 1941 – waren von dort deutsche Truppen Richtung Osten marschiert. Das sollte sich nicht wiederholen. Die sowjetischen Menschen, die sich dort niederließen, lebten gefühlsmäßig unverändert auf gepackten Koffern. Sie waren nicht von der Endgültigkeit dieser Entscheidung überzeugt. Und Moskau betrachtete seine Exklave zwischen Polen und Litauen auch mehr als Militärstützpunkt im Westen denn als Territorium, das auch wirtschaftlich zu entwickeln war. Es heißt, zumindest las ich davon, dass Gorbatschow der Bundesregierung gegenüber die Bereitschaft habe anklingen lassen, Ostpreußen für einen angemessenen Preis – die Rede war von 40 Milliarden D-Mark – zu verhökern. Oberst Stepan Nesterow, nach dem Ebenrode 1947 benannt worden ist, und die 100000 Soldaten der Roten Armee, die 1944 beim Vorstoß der sowjetischen Truppen auf Königsberg gefallen sind, hätten sich wohl im Grabe umgedreht, wenn dieses Geschäft zustandegekommen wäre.
Warum ist aus diesem Deal nichts geworden?
Die Bundesregierung hatte wohl mit der Einverleibung der DDR schon genug zu tun. Auf der anderen Seite: Wer wäre schon aus Deutschland dorthin gezogen? In unserer Familie jedenfalls gab es niemanden, der jemals auch nur entfernt daran gedacht hätte, dies zu tun. Für uns gehörte Ostpreußen seit 1945 zur Sowjetunion.
Natürlich machten mich die Erzählungen meiner Eltern und meines Onkels neugierig, jeder Mensch beginnt sich irgendwann für seine Herkunft zu interessieren. Mein Vater war Elektriker. Gleich nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurde er schwer verwundet, sein Panzer erhielt einen Volltreffer. Er verlor seinen linken Arm, und das mit gerade einmal zwanzig Jahren. Vor dem Überfall auf die Sowjetunion hatte er bereits die Feldzüge in Frankreich und Jugoslawien mitgemacht. Als Einarmiger konnte er in seinem erlernten Beruf nicht mehr arbeiten. So wurde er Schaltmeister im Umspannwerk Angerapp, wo ich 1944 geboren wurde. Die wenigen Monate, die ich dort zubrachte, reichten nicht aus, besondere heimatliche Gefühle zu entwickeln. Meine Heimat ist das Vogtland. Ich war noch kein Jahr alt, als meine damals 21-jährige Mutter mit mir in Klingenthal strandete.
Man hört es: Sie sprechen nicht das – inzwischen wohl ausgestorbene – Ostpreußisch, sondern vogtländisches Sächsisch.
Meine Eltern habe sich immer bemüht, Hochdeutsch zu sprechen, auch um nicht als Flüchtlinge aus dem Osten aufzufallen. Doch der ostpreußische Dialekt kam besonders bei meinem Vater immer wieder durch. Hochdeutsch zu sprechen war jedoch selbst auch schon ein besonderes Merkmal. In einer Personenbeschreibung meiner Großmutter, die im Jahre 1895 geboren worden war, wurde vom Roten Kreuz unter »Besondere Kennzeichen« angemerkt: »Spricht Hochdeutsch!« So fiel ich in der Schule doch als Auswärtiger auf, denn den Dialekt, den alle sprachen, beherrschte ich eben nicht. Ich habe noch heute Probleme, wenn Dialekt gesprochen wird, alles zu verstehen. Doch für Außenstehende werde ich sofort verortet. Meine sächsischen Wurzeln kann und will ich natürlich nicht verleugnen.
Vater Kurt Engelhardt als Wehrmachtssoldat
Millionen Deutsche – von 14 Millionen ist die Rede – verließen gegen Ende des von den Nazis losgetretenen Krieges ihre Heimat, wurden deportiert oder flohen, weil sie fürchteten, die Soldaten würden sich für die Grausamkeiten rächen, die Deutsche in der Sowjetunion verübt hatten. In einem dieser unzähligen Trecks floh auch Ihre junge Mutter ins Reich, wie man damals sagte.
Nach den Schilderungen meines Onkels, der damals zwölf Jahre alt war, erfolgte die Evakuierung Hals über Kopf. Nazi-Gauleiter Koch, ein Durchhaltekrieger, hatte sie viel zu spät genehmigt. Die Flucht war darum auch eine solche, sie verlief unorganisiert und chaotisch unter Verlust sehr vieler Menschenleben und der Aufgabe von Hab und Gut. Alle wurden in Viehwaggons gestopft. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, auch die Versorgung, wenn man überhaupt von »Versorgung« sprechen kann. Meine Mutter hat später nie mit mir darüber gesprochen. Leider habe ich sie auch nicht gefragt, als ich sie noch hätte fragen können. Sie schwieg wohl auch deshalb, weil diese Flucht für sie traumatisch war. Ich kann nur ahnen, was für Ängste sie ausgestanden hat. Weihnachten ’44 sind wir dann im Vogtland gestrandet. Der Zug, in den wir gesteckt worden waren, sollte eigentlich eine andere Richtung nehmen. Doch die Kriegswirren stellten die Weichen in Richtung Sachsen. Und so landeten wir eben in Klingenthal. Mutter wurde ein Quartier im Gliersteig 3 zugeteilt, das Haus wurde von einer Familie Werner bewohnt, der Mann war beim Militär, also war Platz. Willkommen waren wir Flüchtlinge aus dem Osten nicht. Es gehört zu den Lebenslügen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, dass sich die Einheimischen solidarisch gezeigt, aus christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit die Fremden freudig aufgenommen hätten. Ich will ja nicht ausschließen, dass es dies auch gegeben haben kann – aber für uns galt das nicht. Als der Hausherr aus dem Krieg wiederkehrte, mussten wir weiterziehen. In der Auerbacher Straße bezogen meine Mutter, mein Onkel Horst und ich in einem Bretterverschlag Quartier. In dieser Enge wurde im September 1945 meine Schwester Christa geboren. Sie sollte nur sechs Jahre alt werden, Leukämie raffte sie dahin. Von der Auerbacher Straße ging es weiter in ein Hinterhaus in der Markneukirchener Straße nahe der tschechischen Grenze. Das war eine fürchterliche Behausung ohne alle sanitären Einrichtungen, die Wände waren nass und kalt. Es war die erste, an die ich mich dunkel erinnern kann. Von hier aus ging mein Vater oft mit der Milchkanne über die Grenze in die ČSR, um Milch für seine Kinder zu organisieren.
Der Vater? Wo kam der plötzlich her?
Er hatte, da er zwangsverpflichtet war, nicht mit uns fliehen können und kam in letzter Minute mit einem Schiff über die Ostsee »ins Reich«. Mit Hilfe des Roten Kreuzes fand er uns im Vogtland und schlug sich zu uns noch 1945 durch.
Außer dieser ersten Erinnerung an diese Wohnung: Gab es auch Personen, die Eindruck hinterließen?
Ich kann mich an Gustav Gruhle erinnern, einen Hufschmied, dessen Schmiede sich in der Markneukirchener Straße befand. Im Winter, der in Klingenthal sehr kalt sein konnte, glitzerte an den Wänden das Eis. Dann zogen mein Vater und mein Onkel in den Wald, um Holz zu besorgen. Das bekam der alte Gruhle mit und hat uns ab und an einen Eimer von dem Koks vor die Tür gestellt, der ihm als Hufschmied zugeteilt wurde. Wenn die Bauern der umliegenden Dörfer ihre Pferde bei ihm beschlagen ließen, zahlten sie in Naturalien. Gruhle und seine Frau gehörten zu den guten Menschen, die unser Elend lindern halfen. Vor allem um uns Kinder haben sie sich gekümmert, die wir ständig hungerten, die Eltern natürlich auch. Leider weiß ich nicht, was aus dem Hufschmied Gruhle geworden ist.
Es gab auch Klingenthaler, die es lieber gesehen hätten, wenn wir wieder verschwunden wären. Wir waren für sie »Polacken«.
Als die DDR gegründet wurde, waren Sie fünfeinhalb Jahre alt. Können Sie sich daran noch erinnern?
Nur sehr dunkel. Vater arbeitete im Lager des Klingenthaler Elektrik-Werkes, das später zum VEB Kraftfahrzeugelektrik Karl-Marx-Stadt gehörte. Das verschaffte ihm Zugriff, wenn auch nicht immer ganz legal, auf bestimmte Elektroartikel, die er oder sein Bruder auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel eintauschte. Mein Onkel Horst erzählte einmal, dass er mit dem Zeug im Rucksack zehn, fünfzehn Kilometer zu Fuß über Land zog und mit Kartoffeln und Gemüse wieder nach Hause kam. Das hat natürlich ein bestimmtes Bild vom Bauernstand bei Vater und Onkel geprägt. Mein Vater hat später oft gemeint, dass sich die Bauern durch das Elend der Städter und der Umsiedler eine goldene Nase verdient hätten, durch unser Elend hätten sie sich im übertragenen Sinne die »Kuhställe mit Teppichen auslegen können«.
Das ist ein oft strapaziertes Bild und wie jedes Bild überzeichnet!
Sicher ist es übertrieben. Doch ich frage mich – auch mit Blick auf die Kriegsflüchtlinge etwa aus Syrien, die in jüngster Vergangenheit zu uns kamen –, warum Menschen, die in Wohlstand und Sicherheit leben, derart ablehnend und unsolidarisch reagieren? Ich sehe da gewisse analoge Verhaltensmuster. Der Krieg hatte in Klingenthal keine sichtbaren Spuren hinterlassen, es war nicht eine Bombe gefallen. Sicherlich trauerten Menschen um Angehörige und Freunde, um Männer, Väter oder Brüder, die im Krieg starben. Aber materiell ging es den Menschen, gemessen an dem Elend ringsum, relativ gut. Und trotzdem waren sie bis auf Ausnahmen nicht bereit zu teilen. Noch heute ekelt es mich, wenn ich daran denke, was ich alles aß, essen musste, um nicht zu verhungern. Fettes Fleisch und Lebertran waren da noch das Harmloseste. Besser, allerdings in sehr bescheidenem Rahmen, ging es uns erst nach Gründung der DDR, also Anfang der 50er Jahre. Wir hatten endlich mehr zu essen und ein festes Dach über dem Kopf, eine trockene Wohnung!
Horst hatte sich gleich nach Gründung der Freien Deutschen Jugend dort engagiert. Die FDJ baute in Klingenthal eine ehemalige Fabrikantenvilla zur Jugendherberge aus und in ein Schulungszentrum um. Später wurde mein Vater dort Hausmeister. Es fiel einiges in dieser Einrichtung für unsere fünfköpfige Familie ab. Meinem Onkel sei Dank. Und für uns Kinder bot ein großer Garten mit Springbrunnen beste Spielmöglichkeiten.
Uns Kinder?
Wir waren damals drei: Christa, Bruder Horst, der 1948 zur Welt gekommen war, und ich, der Älteste. Von diesen dreien lebe nur noch ich. Horst kam nach der »Wende« bei einem tragischen Unfall ums Leben.
Wo standen Ihre Eltern politisch?
Mein Vater war 1945 in die SPD eingetreten, weil er etwas gegen Krieg und Elend tun wollte. Er war einen schweren Weg der Erkenntnis gegangen. Sein Vater, mein Großvater, war ein kleiner Beamter, in Ebenrode hatte er beispielsweise die Kohlenkarten zu verteilen. Das war nicht staatstragend, doch schon was Besseres. Er erzog seinen Sohn staatstreu, der wurde Soldat aus Pflichterfüllung gegenüber seinem Vaterland. Dann sorgte dieses Vaterland dafür, dass er einen Arm verlor. Da begann Vater zu grübeln.
Im April 1946 vollzog er die Vereinigung von SPD und KPD zur SED mit – freiwillig und aus Überzeugung, dass die Einheit der beiden Arbeiterparteien notwendig und richtig sei. Er war mit Herz und Seele Genosse, weshalb er später an seiner Partei zu leiden begann. Als Vorsitzender des FDGB-Kreisvorstandes Klingenthal bekam er es mit dem zunehmenden Widerspruch zwischen politischem Anspruch und gesellschaftlicher Realität in unserem Land zu tun. Bevor er daran zerbrach, gab er die Funktion ab, offiziell nahm er aus gesundheitlichen Gründen seinen Hut. Ich sorgte dafür, dass er ein Objekt der Abteilung XV in Karl-Marx-Stadt, also der Aufklärungsabteilung der Bezirksverwaltung, als eine Art Hausmeister betreute.
Einschulung 1950 – der Ernst des Lebens beginnt