Auf dem roten Teppich - Erinnerungen an Frieda Goralewski -  - E-Book

Auf dem roten Teppich - Erinnerungen an Frieda Goralewski E-Book

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Beschreibung

Erinnerungen an Frieda Goralewski, 1893 – 1989, herausgegeben von der Goralewski-Gesellschaft, Berlin, 2018 www.goralewskigesellschaft.de Viele, die "Auf dem roten Teppich" bei Gora das Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen probiert haben, würden sagen, dass sie ihr nicht viel weniger als das Leben verdanken. Den Boden unter den Füßen, die Leichtigkeit im Alltag, die Mitte. Sie selbst, aus der Schule von Elsa Gindler kommend, nannte ihre Arbeit schlicht "Turnen". Das jedoch mit der Entdeckung des Körpers und der Entfaltung des Atems auch ein Sich-Ordnen der Seele und Freiwerden schöpferischer Kräfte verbunden war, konnten viele derjenigen erleben, die Goras schlichten und nüchternen Anleitungen zum Spüren des Körpers folgten. Ein Geschehen, dass dem Zugriff der Sprache oft entzogen blieb. Ein Buch, das an Frieda Goralewski erinnert, muss darum vielstimmig sein: indem Schülerinnen und Schüler erzählen, was Gora ihnen bedeutete und was sie persönlich "Auf dem roten Teppich" erlebt haben, wird fassbar, wer sie war und wie sie wirkte. Ihre Fröhlichkeit, ihre Güte, ihre Bescheidenheit, ihre Klarheit. Die Erinnerungen erzählen von wiedergefundener Beweglichkeit, von neuen Einsichten für die eigene Kunst, Musik, Tanz, Malerei, von der "schwebenden Leichtigkeit" im Alltag, vom Wachwerden. Gora selbst kommt auch zu Wort mit einer Erzählung von ihren Anfängen und Auszügen aus ihren Stunden. So wird Gora nicht nur für diejenigen gegenwärtig, die sie gekannt haben. Alle, die sich für Körperarbeit interessieren, werden in dem Buch wichtige Anregungen finden. Und vielleicht überhaupt alle, die sich nach mehr Lebendigkeit sehnen. Angelika Obert

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

Irene Sieben: Für Frieda Goralewski

Ernst Zivier: Rückblick im Jahr 2000

Leonore Quest: Liebe Gora!

Dorothea Florian: „Da müssen Sie hin!“

Marianne Schwandt im Gespräch mit dem Bildhauer Heinz Willig: Aufmerksamkeit für den Körper

Bignia Corradini: Zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren

Frank Frey: Lernen mit Gora

Marianne Schwandt: Der rote Teppich

Ursula Müller: Gora, ach ja, Gora

Auszüge aus einem Gespräch mit Eike Steinmetz: Gegen den Strom

Thomas Niering: Was an Erinnerung bleibt

Lisa Fehrenbach: „Jeden Morgen und Mittag und Abend“

Virginia Fermanian: Mein Weg zu Gora und die Zeit mit ihr

Wolfgang Lindner: Geben, was Gora gab

Gabriele M. Franzen: „Bedanken Sie sich beim Leben“

Heidemarie Fitzi-Theobald: Das ganz Konkrete

Gora erzählt, einundneunzigjährig: Transkript von einer Stunde aus dem Jahre 1984

Gunter Stallmann: Spaziergänge

Antoinette Becker: Grabrede

ANHANG

Fotos

Briefe

Dokumente

Auszüge aus den Ausbildungskassetten

Gabriele M. Franzen: Gora im Umfeld der Arbeit in der Tradition von Elsa Gindler

Literatur

Autorenverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Nun sind 13 Jahre vergangen, in denen dieses Buch viele Menschen in die Hand genommen und sich daran gefreut haben. Jedenfalls erreichten uns immer wieder positive Rückmeldungen.

Das hatten wir, die „Buchgruppe“, kaum zu träumen gewagt – und wir möchten hiermit noch einmal allen danken, die mit so viel spürbarer Freude uns damals von ihrem Erleben mit Gora schrieben und damit das Entstehen des Buches überhaupt möglich gemacht haben.

Es ist ein guter Botschafter unserer Arbeit geworden – im Wacher- und Lebendigerwerden für das, was uns umgibt und fordert.

So ist es sehr zu begrüßen, dass die Goralewski-Gesellschaft eine zweite Auflage auf den Weg gebracht hat.

Leonore Quest und Thomas Niering, Berlin im Herbst 2018

Einleitung

Sehr viele von denen, die hier geschrieben haben, lernten Gora kennen, als sie schon über siebzig Jahre alt war. Die früheste Erzählung über Goras Tätigkeit in Berlin stammt von Alice Aginski. Sie kam, 93jährig, zur Einweihung der Heinrich Jacoby – Elsa Gindler – Stiftung aus Frankreich nach Berlin.1 Von 1928 an, nach ihrer Ausbildung bei Elsa Gindler, besuchte sie weiter die Kurse von Elsa Gindler und auch die von Gora.2 Zu dieser Zeit war Gora 35 Jahre alt. Alice Aginski sprach mit großer Achtung und Freude von Gora. Sie konnte sich sehr gut an sie erinnern.

An die Zeiten vor und während des Zweiten Weltkrieges erinnert Ernst Zivier, als er, noch ein Kind, mit seiner Mutter bei Gora „turnte“.

Interessante Anmerkungen fanden wir in den biografischen Erzählungen der Schauspielerin Ursula Herking.3 So schreibt sie in ihrem Buch, dass sie „arge Kopfschmerzen“ hatte, die dank Gora verschwanden. Seit 1938 kannte sie Gora schon und gehörte somit zu ihren ältesten „Auf-dem-Teppich-Liegerinnen“.

Ihr Arzt hatte ihr geraten: „Hör auf mit deinen strammen sportlichen Leistungen. Das verkrampft dich nur. Und das ist weder für dich noch für dein Kind gut. Wenn du dein Kind leicht und gut bekommen willst, geh zu Gora.“

Sie schreibt weiter, dass sie einen Horror vor Gymnastik jeder Art hatte, „auf dem Teppich liegen, sich entspannen usw.“. Und doch sei sie bis heute, dank Gora, „auf dem Teppich“ geblieben.

Müdigkeit, schlechte Laune, sogar handfester Kummer, alles rückte sich auf dem Teppich zurecht. Goras Wohnungen wechselten, die Teppiche wechselten, aber immer schenkten ihr die anderthalb Stunden bei Gora diese beglückende, schwebende Leichtigkeit.

„Man brauchte ihr nichts zu erzählen. Sie sieht, sie begreift, sie hilft. Sie ist Güte, ohne den leisesten Beigeschmack von Sektierertum, Sentimentalität oder gar Verlogenheit. Sie bringt es fertig, dass man sich nie unbequem oder verlegen in ihrer Schuld fühlt. Sie ist so selbstverständlich, dass man diese Selbstverständlichkeit dankbar entgegennimmt.

Mir kommt es vor, als habe sie sich in all diesen Jahren nicht verändert. Gewiss, die kurzen Haare sind grau geworden, aber die Augen sind dieselben geblieben, zärtliche, zugleich wach beobachtende Augen. Die leise, aber ganz und gar bestimmte Stimme mit dem hannoveranischen ,st‘ weiß sich in einem Rudel ausgelassener Kinder, aber auch in einem plötzlich ausbrechenden Geschwätz eines Pulks auf dem Teppich liegender Erwachsener durchzusetzen. Dann herrscht Stille.

Man denkt, man tut hier ja gar nichts, aber wenn man lange nicht da war, hat man am nächsten Tag einen Muskelkater, der sich gewaschen hat.“

Wir waren sehr erstaunt, in dem biografischen Roman der Schriftstellerin Barbara Noack4 „Jennys Geschichte“, eine Notiz über Gora aus den Kriegsjahren zu finden: „Am Morgen nach so einem Angriff fuhren Gestapo-Leute durch Straßen mit schweren nächtlichen Bombenschäden auf der Suche nach ,Lemmingen‘, den bisher versteckten, inzwischen schutzlos umherirrenden Juden. Meist hatten sie keinen Erfolg dank Menschen wie Lilli Schönberg und der Gymnastiklehrerin Gora, die einen Freund bei der Gestapo hatte, der sie rechtzeitig unterrichtete, wenn eine ,Aktion‘ bevorstand. Gora hatte einen gut funktionierenden Nachrichtendienst eingerichtet, durch den innerhalb kurzer Zeit alle Untergetauchten rechtzeitig gewarnt werden konnten.“

Alle anderen uns bekannten Begegnungen stammen aus der Zeit nach dem Krieg.

Dorothea Florian ging in den 50er Jahren zu ihr. Es folgen die Schüler der sechziger Jahre wie Antoinette Becker, Heidemarie Fitzi-Theobald, Eike Steinmetz und Irene Sieben. Aus den siebziger und achtziger Jahren berichten Marianne Schwandt, Heinz Willig, Frank Frey, Gunter Stallmann, Ursula Müller, Leonore Quest, Gabriele Franzen, Lisa Fehrenbach, Virginia Fermanian, Thomas Niering, Wolfgang Lindner und Bignia Corradini. Gora selbst erzählt aus ihrem Leben in einer Stunde im Jahr 1984. Sie lernte in den frühen zwanziger Jahren bei Elsa Gindler und erhielt von ihr die Lehrberechtigung. Weil es aus dieser Zeit so wenig Zeugnisse gibt, mögen Goras eigene Erzählung und die der anderen das Wichtige veranschaulichen.

Warum liegt uns das Buch am Herzen? Es hilft erinnern. Erinnerung braucht Stärkung.

Erinnern werden sich diejenigen Menschen, die noch bei Gora gelernt haben, und die Menschen, die sie persönlich nicht mehr kennenlernen konnten, aber in der Tradition ihrer Arbeit stehen.

Dieses Buch kann eine Anregung für Menschen sein, die sich interessieren für das weitgespannte Angebot an Körpertherapien.

Auch für uns, die wir die Beiträge gesammelt haben, gab es viele bereichernde Begegnungen. Aus den verschiedenen handgeschriebenen, gedruckten und auf Kassetten gesprochenen Texten ist diese Auswahl entstanden.

Leider stand uns wenig Bildmaterial zur Verfügung. Genauso sieht es mit anderen Zeugnissen aus. Vom Stadtarchiv in Hildesheim, ihrer Geburtsstadt, erhielten wir Angaben zu ihrer Familie. Einige Briefe von Gora wurden uns überlassen. Diese Briefe, Fotos, Dokumente sowie Auszüge aus den Ausbildungs-CDs finden sich im Anhang.

Unser Dank gilt allen, die bei der Erstellung dieses Buches mitgearbeitet haben.

Katrin Denizart, Gabriele Franzen, Leonore Quest, Marianne Schwandt, Ina Schwebes und Elisabeth Trautmann

Wenn etwas mir vom Fenster fällt

(und wenn es auch das Kleinste wäre),

wie stürzt sich das Gesetz der Schwere

gewaltig wie ein Wind vom Meere

auf jeden Ball und jede Beere

und trägt sie in den Kern der Welt.

(...)

1 Im Mai 2000 eröffnete die Heinrich Jacoby-Elsa Gindler-Stiftung ihre neuen Räume in der Teplitzer Straße in Berlin. Es war das erste Mal seit ihrer Emigration 1933, dass Alice Aginski Berlin wieder besuchte.

2 Alice Aginski: Sur le Chemin de la detente, Guy Tredaniel Editeur, Paris 1994, S. 20.

3 Ursula Herking: Danke für die Blumen, Bertelsmann Verlag, München 1973, S. 194 f.

4 Barbara Noack: Jennys Geschichte, Langen Müller Verlag, München 1999, S. 292.

Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1966, Bd. I, S. 76 f.

Irene SiebenFür Frieda Goralewski

Sie war eine Institution in Berlin. Alle nannten sie Gora, die Künstler ebenso wie die Kinder. Auf ihrem roten Teppich räkelten und regenerierten sich über ein halbes Jahrhundert lang mehrere Generationen, von werdenden Müttern bis zu den Sprösslingen, die unter ihren gütigen, wachsamen Augen groß und schließlich auch grau wurden. Unzähligen Babys verhalf sie zu einem leichteren Weg auf diese Welt. Suchenden und Sorgenvollen zeigte sie den Schlüssel für ein tieferes Verständnis ihres Seins, die Wahrheit des Augenblicks.

Regisseur Fritz Kortner, Schauspieler wie Klaus Kammer, Gudrun Genest, Heidemarie Theobald und Ursula Herking, Musiker wie Aurèle Nicolet und Gerty Herzog-Blacher, die Schriftsteller Antoinette Becker und Hans Nowak, die Tänzer Frank Frey und Tana Herzberg gehörten zu ihren prominentesten Schülern. Hier lernten auch sie loszulassen, ihre Sinne zu sensibilisieren, aufrecht zu stehen, harmonisch zu gehen und dem Atem als Quelle des Lebens zu vertrauen – „Alltäglichkeiten“, die vielen den Weg wiesen zu mehr Lebensqualität und Kreativität.

Am 6. Januar 1989 ist Frieda Goralewski im Alter von 95 Jahren gestorben. Die Geschicke ihrer Schule für Atem, Stimme und Bewegung am Oberhaardter Weg, in der sie noch zwei Tage vor ihrem Tod unterrichtete, lenkte seit fünf Jahren schon Michel Benjamin, in dessen Familie sie, die mit bedingungsloser Liebe für andere gelebt hatte, Geborgenheit fand. Doch Gora blieb – trotz wachsender Behinderung durch ein Hüftleiden – das Herzstück, die zärtliche und zuletzt sogar strenge Hüterin ihres Hand- (und Fuß-)werks.

Hunderte folgten ihrem Sarg, Jung und Alt, Kinder und Schwangere, jede, jeder mit einer eigenen, sehr persönlichen Gora-Geschichte. Denn das gehörte zu den Eigenheiten dieses menschlichsten aller Menschen: Sie konnte, ohne viel zu sagen und während sie mit ihren „zuverlässigen spachtelförmigen Fingern“ (Zitat aus Ursula Herkings Autobiografie „Danke für die Blumen“) irgendeine Hartnäckigkeit wegknetete, ihrem Gegenüber das Gefühl uneingeschränkter Aufmerksamkeit, Liebe und grenzenlosen Verständnisses geben. „Ich habe gedacht, sie lebt ewig“, trauerte einer ihrer Schüler. Er spricht vielen, denen ein Leben ohne Gora unvorstellbar scheint, aus der Seele. Jeder wusste, wie alt sie war, und dennoch schien sie alterslos, mal Kind, mal weise Frau, nie aber Greisin.

Frieda Goralewski, in Hildesheim geboren und in Danzig zur Volksschullehrerin ausgebildet, hat ihr Tun nie benannt oder zur Methode entwickelt. Sie folgte damit ihrer Lehrerin Elsa Gindler, deren ganzheitliche Arbeitsweise in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts völlig unspektakulär die Wurzel für alle Körper und Geist vereinigenden Lehren und Techniken der Selbstfindung pflanzte. Viele Jahrzehnte lang stand an Goras Tür (in der Pariser, der Nachod- und der Nassauischen Straße) nur schlicht Goralewski. Sie hat nie für sich geworben. Manchmal nannte sie es „Turnen“, was sie vermittelte, dabei war es kurioserweise genau das Gegenteil, denn mit Können, Leistung und zielgerichtetem Lernen hatte es überhaupt nichts zu tun. Spüren, wahrnehmen, geschehen lassen, über diesen Weg führte sie ihre Schüler zur inneren Balance. Die Entscheidung, Atem- und Bewegungslehrer heranzubilden, stammt aus jüngster Zeit, seit ihre Schule einen Namen hat, Michel Benjamin und Leonore Quest ihre Partner wurden.

Die Schülerinnen von Elsa Gindler retteten den Reichtum ihrer „Versuche“ (so nannte sie die experimentelle Arbeit an der Persönlichkeitsbildung), jede auf ihre ureigene Weise, in die Gegenwart hinüber.

Die Gindler-Nachkommen scheinen selbst von diesem Jungbrunnen wunderbar profitiert zu haben, denn sie erreichten ein biblisches Alter. Sophie Ludwig5 – Nachlassverwalterin von Elsa Gindler – starb 1997 in Berlin im Alter von 96 Jahren. Charlotte Selver6, die als Emigrantin der Gindler-Arbeit in den USA den Namen „Sensory Awareness“ gab und ihr zu mehr Ansehen verhalf, als es in Deutschland je geschah, wurde wie Sophie Ludwig 1901 geboren. Sie durfte 102 Jahre alt werden. Elfriede Hengstenberg7 – in Berlin vor allem wegen ihrer vorbildlichen Kinderpädagogik bekannt – lebte von 1892–1992. Alle unterrichteten bis ins hohe Alter.

Was Gora sich aus diesem Gindler-Erbe herausgefiltert und vermittelt hat, ist höchst persönlich und entzieht sich jeglichem Prinzip. „Eine sehr subjektive Arbeit“, sagt Claudia Feest, Tänzerin, Choreografin und Lehrerin der Tanzfabrik in Berlin. „Spüren, erleben und geschehen lassen, das sind wohl die wesentlichen Elemente, nicht die technischen Bewegungsabläufe. Gora war keine schulische Lehrerin, vielmehr eine Lehrerin in der Art, wie Zen-Schüler von ihrem Meister sprechen. Für mich bedeutete die Ausbildung eine Möglichkeit der Selbstfindung.“

Auch ich, die Autorin dieses Nachrufes, habe als Tänzerin mit massiven körperlichen Problemen vor fast zwanzig Jahren unter Goras warmem Schutz ein völlig verändertes Verständnis für meinen Körper (und meine Seele) gefunden. Ich habe beim Balancieren auf Keulen, Strick und Schwebestange zusehen können, wie meine Füße durchlässig wurden. Ich habe gelernt zu „lassen“ statt zu „machen“, zu üben, ohne zu üben. Das Phänomen Schwerkraft erschloss sich bei diesen einfachen Übungen, die so gar nichts Gymnastisches oder Kompliziertes an sich hatten, als nie endendes Lehrstück für die Gesetze unseres Seins auf diesem Planeten.

Mit der Spannung, die aus meinen Muskeln und Gelenken wich, mit dem Atem, der alle von Anstrengung, Ehrgeiz und Frustration verkrampften Zellen neu belebte, zeichnete sich ein neuer Lebensweg ab, als Bewegungslehrerin. Dass es nicht „Technik“ ist, sondern Liebe und innere Heiterkeit, womit man die Menschen erreicht, für diese Erkenntnis legte sie den Samen. Und dafür danke ich ihr in jeder Stunde, die ich gebe.

Zuerst erschienen in: tanz aktuell 2 – 1989, S. 34 f., überarbeitete Fassung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

5 Sophie Ludwig, 1901–1997.

6 Charlotte Selver, 1901–2003.

7 Elfriede Hengstenberg, 1892–1992.

Ernst ZivierRückblick im Jahr 2000

Ich war schon als Kleinkind mit meiner Mutter bei Gora. Meine Erinnerungen daran sind dunkel, und was man mir später darüber erzählt hat, betrifft eher mein eigenes Verhalten als den Unterricht.

Da meine Mutter nicht im Schwangerenkurs war – ich habe sie später danach gefragt –, nehme ich an, dass die Verbindung durch einen Freund meines Vaters hergestellt wurde, den Schriftsteller Hans Nowak. Er litt an Morbus Bechterew (versteifende Wirbelentzündung) und Gora konnte ihm durch Übungen und Massagen Erleichterung verschaffen. Hans Nowak ist übrigens der Einzige, von dem ich mich entsinne, dass Gora ihn als ihren Freund bezeichnete. Von einem anderen Bekannten meiner Eltern, dem Schriftsteller und Rundfunkintendanten Ernst Hardt, ist mir der Ausspruch überliefert worden, Gora habe magische Hände.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum letzten Mal als Kind bei Gora war. 1939 begann der Krieg, und bald darauf kam ich zur Schule. Meine Mutter und ich gingen seltener und später gar nicht mehr in die Kurse. Vielleicht lag das auch an der Verfolgungssituation, der wir alle ausgesetzt waren. Mein Vater war Jude – da meine Mutter aber „arisch“ war und ich christlich getauft wurde, blieb uns das Schlimmste erspart. Aber der Druck und die Angst wuchsen ständig. Abgesehen davon, dass mein Vater als Schriftsteller nichts veröffentlichen durfte – er schrieb zusammen mit Hans Nowak Bücher, die unter dessen Namen erschienen –, wusste man nie, ob die Verfolgungsmaßnahmen nicht in vollem Umfang auf die „privilegierten Mischehen“ ausgedehnt werden könnten.

Auch Gora wurde von den Nazis mit Misstrauen beobachtet und in ihrer Tätigkeit behindert, obgleich sie nicht jüdischer Abstammung war und sich auch nicht politisch betätigt hatte. Wahrscheinlich passte ihre Art des Turnens nicht in das Programm der nationalsozialistischen „Leibeserziehung“, vielleicht bestand auch Verdacht gegen einen Teil ihrer Schüler oder gegen die Schule von Elsa Gindler, aus der sie stammte. Wenn ich den Bericht, den sie selbst auf Band gesprochen hat, richtig verstanden habe, konnte sie ihren Unterricht nach einer Zeit der vollkommenen Unsicherheit mehr oder weniger inoffiziell weiterführen.

Ich weiß es nicht, aber vielleicht hat all dies dazu beigetragen, dass meine Mutter und ich immer seltener zu Gora gingen. Ab 1942/43 war ich nicht mehr in Berlin.

Mindestens einmal in dieser Zeit hat Gora uns besucht. Meine Mutter hat mir davon berichtet und vor allem eine Bemerkung wiedergegeben: Sie (Gora) könne sich gar nicht vorstellen, wie man lebt, ohne zu „turnen“.

Ich erwähne dies vor allem deshalb, weil Gora in ihrer bescheidenen und doch so bestimmten Art immer dieses einfache Wort verwendete, das so gut passte und trotzdem jemanden, der ihre Kurse nicht kannte, vollkommen in die Irre führen konnte. Aber von Modewörtern hielt sie nichts.

Es ist ja schwer oder unmöglich, mit wenigen Worten zu erklären, worum es bei Gora und ihren Nachfolgern geht ...

Man kann sagen, dass sie aus der Schule von Elsa Gindler kam und deren Methoden selbständig weiterentwickelt hat – mit einem Tonfall und einem Gesichtsausdruck, als ob damit alles klar wäre. Man kann ein paar Sätze über Atem- und Entspannungsgymnastik murmeln oder man verwendet Bezeichnungen, die von Goras Nachfolgern und von nahestehenden Richtungen eingeführt worden sind. Am treffendsten ist meiner Ansicht nach das Wort „Körperbewusstsein“ (body awareness).

Alle diese Erklärungen sind aber nur von begrenztem Wert, weil es Erkenntnisse gibt, die sich nicht verbal übermitteln lassen, die sich also jeder, der sich ernsthaft dafür interessiert, selbst erarbeiten muss – zumeist unter der Anleitung eines Lehrers oder „Meisters“. Was Gora und ihre Nachfolger tun, ist indessen alles andere als irrational.

Zurück zu meinen persönlichen Erinnerungen. Ich selbst ging nach dem Krieg, also im Alter zwischen 13 und 17 Jahren, noch ein paarmal in die Stunden für die „großen Kinder“. Aber in dieser Zeit fehlte mir die Konsequenz. Zeitweilig befasste ich mich überhaupt nicht mit „Turnen“, wahrscheinlich durch die „Leibesübungen“ in der Schule abgeschreckt, zeitweilig interessierte ich mich im Fahrwasser meiner Schulkameraden für sensationsträchtigere Sportarten.

Zur dritten und entscheidenden Begegnung kam es während meiner Referendarzeit, etwa im Jahr 1958, als meine Freundschaft mit Eva begann. Wir besuchten einen Studienkollegen, Hans Schüßler, und er erzählte voller Begeisterung, dass er eine wunderbare Gymnastiklehrerin gefunden habe, die seine schweren – anlagebedingten – orthopädischen Leiden heilte. Er nannte den Namen: Goralewski, und ich lachte: „Bei der war ich ja schon als kleines Kind.“

Eva und ich gingen dann regelmäßig zu den Kursen – in dieser Zeit noch streng nach Frauen und Männern getrennt. Gora hat mir einmal gesagt, warum: Nicht etwa, weil sie oder irgendjemand gemeinsames „Turnen“ als anstößig empfunden hätte. Sie hatte es einmal mit gemischten Kursen versucht; die daran teilnahmen, hatten sich ständig gegenseitig korrigiert („Hast du nicht gehört, was Frau Goralewski gesagt hat?“). Da bei den Schülern die Frauen weit in der Überzahl waren, war ich in den Männerstunden manchmal der Einzige. Gora massierte mich dann etwa 30 Minuten lang und ließ mich in der übrigen Zeit „turnen“. Ich genoss nicht nur diesen Einzelunterricht, sondern auch die neidischen Blicke der Frauen, die in großer Zahl zur folgenden Stunde kamen.

Organisatorisch – soweit man das Wort auf die Kurse in dieser Zeit überhaupt anwenden kann – hatte sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Alle Stunden waren „offen“ (abgesehen von der Trennung nach Frauen, Männern, Schwangeren, Kindern usw.). Man kam so oft man wollte und schätzte sich für die monatlichen Zahlungen selbst ein. Gora machte um Weihnachten/Neujahr für etwa zwei Wochen Urlaub, abgesehen davon fanden die Stunden das ganze Jahr über statt, zur gleichen Zeit an den gleichen Wochentagen. Der Umzug von der Nachod- in die Nassauische Straße änderte daran nichts.

Als wir ein Kind erwarteten, ging Eva zu den Schwangerschaftskursen und parallel dazu zu den normalen Stunden für Frauen. Sie hat noch kurz vor der Geburt unseres Sohnes Ezra eine Übung mitgemacht, die sie als „Krakowiak-Tanzen“ bezeichnete (d. h. hinhocken und abwechselnd die Beine ausstrecken). Auch Ezra ging dann als Kleinkind und Kind zu Gora.

Zu organisatorischen Änderungen kam es erst in den 70er Jahren. Gora war im „Stattbuch“ erwähnt worden, einer Art alternativem Berlin-Führer. Eines Tages, kurz bevor die Stunde anfing, klingelte es noch einmal – irgendjemand ging zur Tür und sagte: „Da sind noch furchtbar viele Leute draußen.“ Ich ergänzte zum Spaß: „Das ganze Treppenhaus ist voll“ – und ahnte nicht, dass dieser Scherz bald von der Wirklichkeit eingeholt werden sollte.

Gora wäre den organisatorischen Aufgaben, die jetzt auf sie zukamen, nicht mehr gewachsen gewesen. Es war eine glückliche Fügung, dass Michel Benjamin in dieser Zeit begonnen hatte, mit ihr zusammenzuarbeiten – zuerst als eine Art Meisterschüler, dann als Assistent und zweiter Lehrer und schließlich als Goras Arbeitgeber. Er übernahm die Schule (oder das Institut, wie er es später nannte), und Gora wurde als Lehrerin bei ihm eingestellt – was natürlich prompt dazu führte, dass zwei Herren von der BfA in eine Stunde platzten, um zu ermitteln, was es mit einer über 70jährigen Arbeitnehmerin auf sich hatte.

Mit der – unvermeidlichen – Organisation begann auch die Zeit der Änderungen. Die strenge Trennung nach Männern und Frauen war schon etwas früher aufgegeben worden. Die Räume in der Nassauischen Straße wurden zu eng – Michel und Gora suchten verzweifelt nach einer passenden Unterkunft für die Schule und fanden schließlich die Villa im Oberhaardter Weg im Grunewald.