Auf der Zunge - Jennifer Clement - E-Book

Auf der Zunge E-Book

Jennifer Clement

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Beschreibung

Eine Frau streift durch Manhattan. Mit jedem Schritt weiter weg von einem Zuhause, in dem die Liebe blass, der Ehemann sprachlos geworden ist, trotz der langen schönen Zeit. Auf ihren Streifzügen entlang der Brownstones und den emporragenden Feuertreppen begegnen ihr Männer, wie aus der Phantasie entstiegen: der Dichter, der Astronaut, der Räuber, der Löwenbändiger … In diesen Momenten findet sie etwas, das sie für immer verloren glaubte. Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Mut, die Spuren unmissverständlicher Gegenwart. Was muss sie tun, damit diese Gefühle nie wieder fliehen? Damit sie nicht verloren geht, wie die Menschen um sie herum, wie der Charakter dieser Stadt, die vom ganzen Geld der Welt für sie so still geworden ist, wie der Ehemann, der jeden Abend fragt: »Wo bist du gewesen?«

Jennifer Clement hat eine Sehnsuchtshymne geschrieben. Mit Auf der Zunge beschwört sie das Aufbäumen einer Frau gegen den Verlust der Träume und der Leidenschaft. In sanft-lyrischen, in brutal-ehrlichen Bildern erschafft sie ein Denkmal für einen geliebten Ort, eine geliebte Zeit im Leben.

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Seitenzahl: 127

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Titel

Jennifer Clement

Auf der Zunge

Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner

Suhrkamp Verlag

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagfoto: Patrick Miller

eISBN 978-3-518-77222-5

www.suhrkamp.de

Motto

O, stürmisch Volk, in Dir wohnt keine Treue.

Geoffrey Chaucer

Die Canterbury-Erzählungen, ›Die Erzählung des Klerk‹

Und wenn ich träume, dass du mein bist, bist du mein,

Denn all unsere Freuden sind bloß Fantasie.

John Donne

Elegy X: The Dream

Auf der Zunge

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

Die Frau

Der Rechtsanwalt

Der Arzt

Der Dichter

Der Polizist

Der Soldat

Der Astronaut

Der Musiker

Der Schlachter, der Bäcker, der Kerzendreher

Der Wissenschaftler

Der Räuber

Der Banker

Der Löwenbändiger

Der Maler

Der Verrückte

Informationen zum Buch

Textnachweis

Die Frau

Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffsmanns.

Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.

An ihrem Körper klebt der Geruch vom Zug des Zugmanns und vom Feuer des Feuerwehrmanns.

Die Frau läuft und sieht hoch in einen Wald aus Feuertreppen. Die Metallleitern sind draußen an den Häusern montiert und führen vom Bürgersteig hoch, am Haus hoch, bis hoch zum Dach. Die schwarzroten Gerüste, die Stufen und waagerechten Podeste aus Stahlgittern, werfen Schatten an die Mauern.

An einem der Absätze hängen drei Paar Jeans und ein Paar rote Socken über dem rostigen roten Geländer. Auf einem anderen stehen Blumentöpfe. Grün gefleckte schwarze Stöcke, die in ein paar Monaten Blätter und Blüten tragen, stecken in der Erde.

Das Geflecht aus stählernen Treppen umringt und überragt sie, und auch die Tauben, Amseln und Schwalben nisten und hocken im Schatten des Metalls.

Die Frau will die Leitern hoch in den Himmel klettern.

Unter den geriffelten Schatten der Feuertreppen führt ihr Weg sie auf und ab durch die Straßen der Insel.

Während sie das Kreuzundquer der bebuchstabten Avenues und nummerierten Straßen kreuzt, spricht sie mit Fremden. Unbekannte Hände berühren ihre Hände, berühren ihre Wange, berühren ihr Haar, und unbekannte Münder hauchen auf ihr Haar, ihre Wange, ihre Hände.

Jeden Abend, wenn sie spät nach Hause kommt, fragt ihr Mann: »Wo bist du gewesen?«

An ihrem Körper klebt die Erinnerung an das Verbrechen des Verbrechers.

An ihrem Körper klebt der Geruch vom Feuer des Feuerwehrmanns.

Sie ist das Fleisch des Schlachters.

Sie ist der Klang der Gebete des Ablasspredigers.

Ihre Ehe endete an einem Tag in einer Woche in einem Monat in einem Jahr. Es war ein Moment, und sie wurde eins – ein Mensch statt ein Teil von zwei. In jenem Moment schloss sie die Augen und erinnerte sich an ihre Stimme am Tag ihrer Trauung, als sie sagte »Ja« und »Ich will!«.

»War es wirklich an einem Tag? In einem Moment? War das möglich? Kann man das Ende einer Liebe sehen, wenn es so weit ist, oder nur im Rückblick?«

Ihre Ehe endete im Frühling, als die ersten Aprilschauer auf die Stadt fielen und die Regentropfen auf den Feuerleitern rot vom Rost waren. Es war ein Tag, an dem die Stadt sich im neuen Frühling krümmt und knarrt und splittert.

An diesem Tag wusste sie, sie würde die Kerzen neben den Vorhängen brennen lassen, würde barfuß laufen, mit Streichhölzern spielen, an Wände malen, die Finger in die Steckdose stecken, falschen Alarm schlagen, die Haustür offen lassen, über Rot gehen, im Dunkeln das Haus verlassen, mit einem Stift in der Hand laufen, falschen Alarm schlagen, Süßigkeiten von Fremden annehmen, falschen Alarm schlagen, hinter einem Pferd herlaufen und vor Anbruch des Tages das Haus verlassen.

Die Frau denkt an ihren Hochzeitstag, sie läuft durch die Straßen und schaut in den blauen Himmel zwischen den Häusern. An jenem Tag hat sie alles richtig gemacht und Unglück und Neid und den Zorn der Geisterwelt abgewehrt. Sie trug einen Schleier und in der Hand eine Kerze, um die Dämonen zu verscheuchen, die das Licht fürchten.

Am Hochzeitsmorgen stand sie unter der Chuppa, die Schutz und Obdach verspricht. Siebenmal umkreiste sie ihren Bräutigam, lief immer wieder um ihn herum wie um einen Baum, um Gott zu zeigen, was für eine wichtige Rolle ihr Mann in ihrem Leben spielt.

Die Frau hörte die Sieben Segnungen und sagte: »Gesegnet seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums.«

Als sie dort unter dem Baldachin stand, dachte die Frau, ein Stück Stoff kann ein Stück Himmel sein kann ein Schleier sein kann ein Tempel sein kann eine Wolke sein. Sie hörte die Worte »Der Du alle Dinge zu Deiner Herrlichkeit erschaffen hast … der Du den Mann erschaffen hast … der Du den Mann nach Deinem Ebenbilde erschaffen hast … der Du Freude und Glück erschaffen hast … der Du den Bräutigam mit der Braut erfreust.«

Am Ende der Hochzeit zertrat ihr Mann das Weinglas, und obwohl er es in ein Taschentuch gewickelt hatte, flogen die Scherben in alle Richtungen. Ein paar Splitter und Scherben landeten auf ihren weißen Satinslippern. Die Frau wusste, sie war eine Braut, die durch die Ruine des Tempels lief.

Der Rechtsanwalt

Der Anwalt ist ein Mann mit einem Heer von Kleidern. Zwei Schränke und eine große Eichentruhe voller Hosen, Jacketts und Mäntel aus Leinen, Wolle und Baumwolle und blauen und weißen und blauweiß gestreiften Hemden. In einem der Schränke hängen zwei Krawattenhalter mit mehr als fünfzig Krawatten. Ein Smoking steckt in einem langen schwarzen Kleidersack.

Die Frau sieht sich die Sachen von weitem an. Wer in diesem Heer von Kleidungsstücken ist tapfer und ehrenwert? Wer sind die Krieger, die Soldaten und die Ritter? Welche Seiten hassen einander? Hassen die Dinner-Jackets die Sportsakkos? Wer von ihnen trinkt zu viel? Und wer ist der Junge, der zu jung für Whisky ist, aber alt genug zu töten? Wer singt das Kampflied? Und welcher ist der Dichter, der irische Dichter, der die Inschrift für den Grabstein schreibt?

Der Anwalt ist der Mann der Frau.

Wenn sie den Schrank öffnet, weht ihr ein kalter Luftzug entgegen, von Pullovern, die nicht umarmen können, Mänteln, die nicht marschieren und sie vor dem Feind beschützen können, Hemden mit Ärmeln, die niemals die Ärmel ihrer Blusen berühren. Er besitzt alle möglichen Stoffe, die ihrer beider Haut vor Berührung schützen.

Sie sieht die leeren Kleider über den Platz marschieren.

Die Frau ist Bibliothekarin. In einem Buch kann sie durch eine Straße an der Lower East Side in Manhattan laufen und ist in einem Moor, allein in der Abenddämmerung. In einem U-Bahn-Wagen sitzt sie im Salon. Auf dem Bürgersteig ist sie im Schlafzimmer und wird geliebt, und der Teppich ist die Heide, und die Bäume sind Männer, die sie lieben und sagen: »Ich werde dich durch das brennende Haus tragen.«

In Büchern sprechen die Schatten miteinander. In Büchern wächst Gras auf dem Küchenfußboden, eine Kerze ist ein Stück Mond, und in ihrem Apfel ist eine Wolke.

In Büchern wechseln die Jahreszeiten, als würde das Leben im Zeitraffer vorbeiziehen. Die Blätter werden braun und fallen, Blüten öffnen sich und verwelken. Es schneit. Es regnet. Die Sonne strahlt über ihr.

In einem Buch kann sie Feuer löschen und Verlorenes wiederfinden. In einem Buch kann sie noch mal die ersten Seiten lesen, bevor bestimmte Dinge passieren. Sie kann jederzeit zurück zu Seite 25 gehen und Seite 50 vergessen.

Sie denkt: »Ich muss nicht jedes Wort bezeugen.«

Die Frau arbeitet ehrenamtlich in der Ottendorfer Library an der 2nd Avenue.

Ihr Mann ist Anwalt. Sie stammen beide aus jüdischen Familien mit ukrainischen Wurzeln. Sie lernten sich als Studenten in der Bobst Library der NYU kennen. Tagelang sahen sie sich über den dreidimensional gemusterten Marmorboden kommen und gehen. Und sie verliebten sich auf einer Bank im Washington Square Park, während sie von weitem den Schachspielern in einem Krieg zwischen zwei Farben zusahen.

Während die Frau durch die Straßen läuft, weiß sie, dass er durch andere Straßen auf der Insel läuft. Seine Brogues treffen auf den Asphalt, sein Wintermantel flattert und wirbelt die Kälte auf. Er läuft an der Ecke auf und ab und wartet auf ein Taxi. Er holt den Chapstick aus der Tasche und schmiert sich die trockenen Lippen ein. Er presst die Hände zusammen und schaut auf seine Armbanduhr, die Armbanduhr seines Großvaters.

Wie oft hat sie die Reste vom Kerzenwachs aus den Kerzenhaltern geholt und ihm Salzwasser und bittere Kräuter hingestellt?

Wie oft hat sie den Neumond begrüßt und die Scharniere an den Türen geölt?

Sie denkt an ihr Schlafzimmer: ein Zimmer voller Stimmen, die über zwei Jahrzehnte miteinander sprachen. Ein Zimmer voller Herzschläge, Zellen und Atem. In einem Zimmer mit Türmen von Büchern zeugten sie ihre Tochter, wurden älter, waren krank.

Der Anwalt spricht über Rechtsfälle, das geltende Recht und die Geschichte des Rechts. Er interessiert sich für die Mitzwot, die mit dem Prozedere vor Gericht zu tun haben, und liest ihr die einzelnen Gebote vor.

Sie schließt die Augen und hört ihn lesen: »Ihr sollt in der Rechtsprechung kein Unrecht tun. Du sollst weder für einen Geringen noch für einen Großen Partei nehmen und vor niemandes Person dich scheuen. Du sollst das Recht des Fremdlings und des Waisen nicht beugen.«

Sie heirateten im Jahr des Klaus-Barbie-Prozesses in Lyon. Der Anwalt verfolgte die Verhandlung aufmerksam und war voller Bewunderung für Serge und Beate Klarsfeld. Es war außerdem das Jahr, in dem zum ersten Mal ein Täter mit Hilfe von DNA-Spuren verurteilt wurde.

»Beweismittel, die vorher unsichtbar waren, sind jetzt sichtbar: Hautzellen, Haare, Speichel. Es gibt kein Entkommen mehr«, sagte ihr Mann.

Die Frau fragt sich: »Wann genau wurde ich zur Lügnerin? Wann haben die Wörter ihre Herkunft verloren, gleich einem Aderlass, und wurden hohl und ohne Geschichte. Was passiert, wenn man den Wörtern die Bedeutung austreibt und sie nur noch leere Töpfe auf dem Herd sind, die das Haus mit Rauch erfüllen?«

Sie weiß, dass wenn man »Sorry« sagt, dann bedeutet das, ich bin im Schmetterlingskescher, und wenn man sagt, »Vergib mir«, bedeutet es, »Ich werde es wieder tun«.

»Wird er den Lügendetektor einsetzen? Wird er den Fachmann in den Gelben Seiten finden?«, fragt sie sich.

Die Wahrheit zu hören, kostet fünfhundert Dollar. Durch die Fingerspitzen misst der Lügendetektor Blutdruck, Puls und Atmung.

Sie stellt sich das Gerät auf dem Küchentisch vor. Während der Befragung wird sie »Liebe« sagen, aber ihr Körper wird ohne Liebe schreien.

Sie antwortet immer: »Ja, ich liebe dich.« Aber innerlich hört sie das Wort »Alarm«.

Beim Familientag in der Bibliothek las sie den Kindern vor, wie Pinocchios Nase jedes Mal wuchs, wenn er sagte: »Ich bin nicht aus Holz. Ich bin ein echtes Kind.« Der Junge war Ast, Stamm und Zweig, und durch ein Herz aus Bäumen floss kein Blut.

Jeden Freitag geht sie mit ihrem Mann abends essen. Sie sieht zu, wie er den blauen Büroanzug aus Merinowolle auszieht. Er sucht ein sauberes Hemd heraus und zupft dabei an seinen dichten schwarzen Ringellocken. Er zieht die Hose und das Jackett aus und hängt sie sorgfältig auf. Vor dem Hintergrund des Schrankes und den Reihen von Anzügen steht er flankiert von einem Regiment von Kleidern.

Der Anwalt setzt sich auf den Bettrand, schnürt die Schuhe auf, zieht sie aus und schlüpft in ein bequemeres Paar Loafer. Dann geht er in die Küche und gießt sich ein Glas Wasser ein. Er ist fast so groß wie der Türrahmen.

Die Frau sitzt auf der Bettkante und betrachtet die Büroschuhe des Anwalts, die schwarz glänzenden Schnür-Oxfords. Sie beugt sich vor und steckt die Hände in das warme Leder.

»Wo geht er hin?«

Sie tastet mit den Fingern das Innere der Schuhe ab.

»Lass uns los«, ruft der Anwalt aus der Küche.

Die Frau und der Anwalt gehen die Stufen hinunter und durch die Haustür nach draußen. Ihre Füße berühren den Bürgersteig der 7th Street zwischen 1st Avenue und Avenue A. Sie haben eine Wohnung in der Lower East Side gekauft, bevor es so teuer wurde. Es war das Jahr, als die Prozesse gegen die New Yorker Mafiosi Anthony »Fat Tony« Salerno und Carmine Peruccia auf allen Titelblättern waren.

Es ist ein Vorfrühlingsabend, und obwohl die Luft nur leicht kühl ist, steckt in den Häusern um sie herum und im Bürgersteig unter ihren Füßen noch der Frost aus den Wintermonaten.

Sie laufen zusammen Hand in Hand, wie Pferde, die seit vielen Jahren zusammen einen Karren ziehen. Sie marschieren im Gleichschritt, dabei schaukeln ihre Beine rhythmisch aufeinander abgestimmt durch die Luft. Diese Körper sind schon oft zusammen gelaufen, zur Ecke, zum Laden, zur Synagoge, ins Kino, auf den Horizont zu in Richtung Krankheit und Tod.

Ihre Schatten treffen auf den Boden oder auf die Mauern, es sind Schatten, die sich berühren, um an die Haut zu erinnern, die sich berührte.

Die Frau und der Anwalt laufen in Richtung Osten, vorbei an Boutiquen und einem großen Hund, der an einer Parkuhr angebunden ist. Ein Feuerwehrwagen rast vorbei, die Sirene heult und hallt zwischen den Brownstone-Häusern hin und her.

»Er fährt nach Osten, zum East River«, sagt der Anwalt, und sein Blick folgt dem leuchtend roten Feuerwehrwagen.

»Nach dem Essen könnten wir an den Fluss laufen«, erwidert die Frau. »Das haben wir ewig nicht getan.«

Die Frau sieht sich die Eingänge der Häuser an der Lower East Side an. Sie sieht die dicken Nägel, alt und verbogen, an denen früher die Mesusot hingen. Ein paar sind noch da, übermalt von Jahrzehnten von Farbe. Das Holzkästchen mit der Schriftrolle liegt darunter begraben. Manchmal, wenn die Frau allein unterwegs ist, geht sie zu einer Tür und berührt sie und küsst dann ihre Finger. Auf dem Papier stehen die Worte »Höre Israel! Der Ewige, unser Gott, der Ewige ist eins.«

Sie laufen zum Tompkins Square Park, vorbei am Odessa, wo der Geruch nach Ei vom Schabbat-Brot und nach Kohl und Kaffee aus dem Restaurant dringt.

Draußen auf dem Bürgersteig sitzen zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen, aneinandergelehnt mit einem Schild auf dem Schoß, auf dem steht: Hungrig. Sie sind dreckig und auf Drogen. Das Mädchen hat Shorts und ein ärmelloses T-Shirt an. Mehrere aufgeklappte Seiten der New York Times bedecken ihren Rücken und ihre nackten Schultern.

Der Anwalt bleibt stehen und gibt ihnen Geld. Der Arm des Mädchens, eine lange weiße Ranke, kommt unter der Decke aus Zeitungen hervor, sie hält die Hand auf, und die Frau sieht ihre blassblaue Handfläche.

»Danke«, sagt sie und schließt die Finger um den Zehn-Dollar-Schein. »Danke, Daddy«, flüstert sie noch.