Auf finsteren Pfaden - Thomas Heidemann - E-Book

Auf finsteren Pfaden E-Book

Thomas Heidemann

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Beschreibung

n dieser Sammlung historischer Horrorgeschichten begegnen die Protagonisten dem Unaussprechlichen, Albträume werden Realität. Mal heiter gruselig, mal blutrünstig, dann wieder düster und entsetzlich. Begleiten Sie die Charaktere dabei, wie sie die Grenze des Fassbaren übertreten und sich offenen Herzens dem Bösen gegenüberstellen. Fiebern Sie mit, wenn aus alltäglichen Herausforderungen ausweglose Situationen werden, und erleben Sie hautnah, wie sich aus Menschen Monstren entwickeln. In 18 Geschichten wird das Mittelalter in seinen finstersten Facetten zum Leben erweckt. Grausige, phantastische, schwarze Unterhaltung pur!

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Seitenzahl: 420

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Auf finsteren Pfaden

Horrorgeschichten aus dem Mittelalter

1. Auflage

1. Auflage | 2015

ISBN 978-3-943531-30-5 (Epub)

ISBN 978-3-943531-23-7 (Print-Ausgabe)

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Alfred-Nobel-Str. 39 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat, Korrektorat: Tatjana Stöckler, Jana Hoffhenke

Satz, Gestaltung: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung, Coverillustration: Detlef Klewer

www.burgenweltverlag.de

www.facebook.de/burgenweltverlag

Inhaltsverzeichnis

1 - Der dunkle Wanderer | Vanessa Betti

2 - De Profundis | Detlef Klewer

3 - Hunger | Thomas Heidemann

4 - Der Löwe | Julia Annina Jorges

5 - Die Belagerung | Tino Fremberg

6 - Zweierlei Blut | Sabrina Železný

7 - Über die Finsternis | Diandra Linnemann

8 - Der Andere | Michael Edelbrock

9 - Gott hat sie gerichtet | Maria Rhein

10 - Der Pfad des Tieres | Markus Cremer

11 - Kindbett | Lena Carl

12 - Ein Duft wider die Pest | Karsten Beuchert

13 - Der schwarze Bulle | Dominik Seiberth

14 - Das Loch in der Krypta | Jutta Ehmke

15 - Fressrausch | Pascal Klein

16 - Der Pakt | Atir Kerroum

17 - Aegidius | Simon Kahnert

18 - Eine Nacht auf Pengersick Castle| Anja Dreier

Lesetipps

Der dunkle Wanderer

Von Vanessa Betti

Wilhelms Blick glitt an den Baumspitzen hinunter zu dem zitternden Mondlicht über der Saar. Bartstoppeln kratzen an seinen Handinnenflächen, als er sich das müde Gesicht rieb. In der Ferne erkannte er bereits die ersten Lichtpunkte, zuckende Kugeln auf dem Weg zu seiner Burg. Sie zogen zu dem kleineren Kastell weiter oben; die matten Gemäuer der geschleiften Montclair fielen ihnen, so Gott wollte, erst später ein. Dem Grafen blieb also genug Zeit, seinen Bericht abzuschließen. Hoffentlich. Sein Herz verkrampfte sich beim Gedanken an die blinde Wut, die sie hinauftrieb. Seine gesamten Aufzeichnungen würden der dörflichen Verständnislosigkeit zum Opfer fallen, ohne dass jemand die Warnung dahinter wahrnähme.

Während er zurück an seinen Arbeitstisch schlurfte, betrachtete er nochmals den leblosen Frauenkörper. Die hellen Locken hatten jegliche Strahlkraft verloren, wie abgestorbene Baumwurzeln überzogen sie den Steinboden und erinnerten ihn an all die finsteren Pfade, die er in den letzten Wochen betreten hatte – angestoßen durch Liebe, angefeuert durch Ehrgeiz, angekommen in Entsetzen. Liebe … das Wort floh von seinen Lippen und ließ ihn kurz aufhorchen.

Er stöhnte auf, als das Seziermesser seinen Oberschenkel berührte und tief in sein Fleisch schnitt. Die Stille der Kemenate durchbrach danach nur noch das Kratzen seines Federkiels, aus dem die Schuld in blutigen Lettern auf die letzten Seiten strömte.

---

Kurz nach dem letzten Frost fiel Wilhelms Entschluss, als er nach langen Stunden aus dem Arbeitszimmer zu seiner Frau in das Schlafgemach kam.

»Hattest du wieder Ärger bei Handelsgeschäften?«, fragte ihre sanfte Stimme, während sie sich unter den Fellen näher an ihn drückte. Stumm umfasste er ihre Schultern und genoss den Rosenduft ihrer Haare. Von Nacht zu Nacht schien ihr Körper zu schrumpfen, als entwickle sie sich zurück zu einem Kind, um sich dann vor seinen Augen aufzulösen.

Kurz darauf fühlte er ihren bebenden Husten an der Brust. Die Entscheidung fiel in derselben Minute. Was nutzte ihm die Macht, der Reichtum und das Land, wenn er seine Liebe, für die er alles riskiert hatte, verlor?

Gleich am nächsten Tag traf er die nötigen Vorkehrungen: Er verlagerte sein Arbeitszimmer in die unbewohnte Montclair. Vor Jahrzehnten hatte einer seiner Vorfahren den Zorn des Erzbischofs auf sich gezogen. Diese Belagerung hatte ihre Zeichen hinterlassen: Rußgeschwärzte Türme blickten hinter einer Schutzmauer hervor, die an mehreren Stellen eingefallen war. Von einem der Türme reichte eine Brücke einige Meter weiter ins Leere, doch das Hauptgebäude war glimpflich davongekommen und passte gut zu seinem Vorhaben.

Gemeinsam mit seinem Kammerdiener Ulrich fing er sofort an, Phiolen, Gläser und Mineralien einzuräumen; selbst ein Ofen musste in die alte Ruine geschafft werden. Drei Nächte dauerte der Umzug, sechs Wochen die Experimente an den Wildtieren, die Suche nach dem ersten Opfer neun Nachmittage in der Stadt.

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Der Graf ließ den Federkiel in das Tintenfässchen zurückgleiten und griff in die Schublade des abgewetzten Arbeitstisches. Mit dem Daumen glitt er über die goldenen Rinnsale auf dem Stein. Feuriger Glanz ging von den Furchen aus, sodass sie sich wie pulsierende Adern über den Klotz zogen. Dabei handelte es sich um ein alchemistisches Experiment, Macht über die Gestalt der Materie zu gewinnen und damit die nächste Stufe des Wissens zu erreichen. Scharf atmete er die Luft zwischen den Zähnen, bevor er den Stein gegen die Wand warf. Er spürte heiße Tränen auf seinen Wangen. Wieder setzte er seinen Kiel an, wieder sog das Papier die Blutperlen ein.

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Nicht lange, nachdem er die Arbeit in die alten Ruinen verlegt hatte, fing er an, darüber Buch zu führen – über Fortschritte, doch meistens über Rückschläge. Dass die ersten Seiten seines Journals bereits den Untergang besiegelt hatten, wer vermochte das zu diesem Zeitpunkt schon zu erahnen?

Sobald es dämmerte, verzog er sich nun jeden Tag in die neue Arbeitsumgebung; den Fußmarsch zur alten Burg nutzte er stets zum Nachdenken. Das Gemäuer war feucht und zugig, doch das Ziel klar vor Augen saß er Nacht um Nacht in dieser Kemenate.

Die Erleuchtung brachten ihm nach all den Misserfolgen die verbotenen Schriften. Verschrien und verdammt – de Rais hatte trotzdem Recht: Nur Leben bringt Leben hervor. Tote Materie blieb tot, egal wie sehr man sie aufkochte, pulverisierte, destillierte und auflöste. Der Tod gab nichts zurück, er nahm sich alles unerbittlich.

Ulrich stand ihm bei seinem Vorhaben stets als treuer Begleiter zur Seite. Ohne Kritik und ohne Nachfragen half er bei jeglichen Versuchen, baute geeignete Fallen und kümmerte sich um die Entsorgung der Überreste.

All die Tage kehrte Wilhelm erst weit nach Mitternacht zu seiner Frau zurück. Im Mondlicht wirkte ihre Haut wie frischer Marmor, kalt, glatt und doch so zerbrechlich. In den ersten Sonnenstrahlen des Morgens erkannte er die Müdigkeit in ihrem Gesicht, die Krankheit, und beschloss, noch härter zu arbeiten – noch erbarmungsloser.

Zurück in seiner Kemenate sperrte er jegliches Mitgefühl in den hintersten Winkel seines Gemüts.

---

Dort, wo es nun hervorbrach.

Die verängstigten Augen, welche die seinen gefangen hielten bis zum bittersten Ende, hatten sich in sein Hirn eingebrannt. Selbst jetzt, wo er alles niederschrieb, trieben sie ihm noch Fausthiebe in die Magengrube. Erneut setze er das Seziermesser an, nun an dem anderen Schenkel, und das Blut floss in sein Tintenfässchen.

Vögel erwiesen sich als komplett untauglich. Selbst die stattlichen Auerhähne brachten nicht genug Blut hervor. Hinzu kam der mangelnde Überlebenswille, der sie die Prozedur nicht überstehen ließ. Ein Schauer überkam ihn. Diese starren Augen der Vögel blinzelten nicht einmal im Angesicht des Todes, sondern blickten leer in den Raum, ziellos. An ein aqua vitae war hiermit nicht zu denken.

Füchse zeigten sich besser geeignet. Nachdem Ulrich jedoch beim ersten Experiment eine böse Bisswunde davongetragen hatte, fixierten sie die Tiere in einer Art Schraubstock. Wilhelm erinnerte sich noch genau an die Zeichnung davon. Er blätterte trotzdem zurück. Der Anblick weckte neue Bilder. Gehetzte Augen schossen Blicke zu den Menschen, voller Wut, dennoch erfüllt von Angst. Die Körper bebten, spitze Zähne schnappten in letzter Hoffnung nach seiner Hand. Er hatte gedacht, Tiere seien dem Menschen im Fühlen nicht ebenbürtig, jedoch belehrten ihn die Experimente etwas Besseren. Er hatte sich oft gewünscht, er müsste sie nicht töten, doch um Julie zu retten, ging er jeden Weg, selbst über sein Gewissen hinweg.

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Sein Zeigefinger strich über das dazugehörige Rezept. Wie einen Gral hielt er damals die Phiole mit dem Seelensud in das hereinfallende Mondlicht.

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Noch in derselben Nacht rüttelte er Julie wach.

»Was ist los?«, stottere sie in die Dunkelheit. Sie wich etwas zurück, als sie seinen Blick auffing.

»Trink davon, Liebes, neue Medizin.«

»Woher hast du die, Wilhelm? Woher kommst du überhaupt mitten in der Nacht?« Julie zog die Decke enger um die Schultern. Vorsichtig roch sie an dem Gefäß.

»Ich habe sie extra für dich aus Frankreich holen lassen, von den besten Ärzten, Spezialisten in der Herstellung moderner Medizinen. Der Bote ritt tagelang, mein bestes Pferd hat er zerschunden, nun trink, Liebes.«

Er schürzte die Lippen und beobachtete jeden ihre Trinkzüge. Als sie absetzen wollte, hielt er den Behälter höher, damit sie ja den letzten Tropfen aufnähme.

Mit geweiteten Augen leerte sie aus. Den Rest der Nacht lag er hinter ihr, lauschte ihren Atemzügen und war sich sicher, dass der Husten schon nachließ. Er ersehnte sich den Morgen herbei, um ihr belebtes Gesicht endlich anzusehen. Sanft strich er schließlich durch ihre Haare, bis er selbst einschlief in der Gewissheit, ein Held zu sein.

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Ein Held – allerhöchstens der Held der Schatten, die sich nun frei in den Gemäuern herumtrieben. Dieser Morgen hätte ihm die Augen öffnen und ihn stoppen sollen, doch der Ehrgeiz saß ihm bereits im Nacken und trieb ihn tiefer in eine Finsternis jenseits menschlichen Verständnisses.

Julie ging es durch seine Medizin nicht besser, im Gegenteil. Am anderen Morgen musste er ihr in die Waschkammer helfen und hilflos dabei zusehen, wie ihr Leib beim Erbrechen vor Krämpfen zitterte. Der Tod verhandelte nicht, er handelte nur, unaufhörlich.

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Der Federkiel hielt inne. Eine Brise trug die ersten dumpfen Stimmfetzen heran. Der Weg hinauf schreckte die Meute nicht mehr, nicht, nachdem sie diese Überreste gefunden hatten. Ein tiefer Seufzer entfuhr seiner Kehle. Ihm war selbst das Verständnis für seine Taten abhandengekommen, nun, wo er vor den Trümmern seiner Entscheidungen stand. Er schluckte das Schluchzen zusammen mit den Tränen hinunter, als er den Druck auf seiner Schulter spürte. Sofort wandte er den Blick wieder hinunter zu der Schrift, um die Klauen nicht zu sehen.

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An diesem Tag traf Wilhelm seinen Handlanger Ulrich bereits mittags bei den Stallungen.

»Der Herr, eine Idee«, erwiderte der Diener auf den flüchtigen Gruß seines Herrn. Ulrich rieb sich die Hände und versuchte, dem Blick des Grafen auszuweichen. Erste Fältchen bildeten sich um die tiefbraunen Augen, trotzdem umgab den Knecht etwas Kindliches. Nach langen Sekunden beendete Wilhelms kratzige Stimme die Stille:

»Dann sprich.«

»Unschuld, Herr«, brach es aus Ulrich heraus.

Ein gesunder Menschenverstand hatte noch niemandem geschadet, nicht einmal einem Kammerdiener. Er hatte schon alles vorbereitet: In der Kemenate hockte ein verängstigtes Kitz in einem Holzkäfig.

Lange betrachtete der Graf den zitternden Leib des Rehs. Das feine Fell glänzte, als hätte man es mit besten Seidentüchern geglättet. Dieser Fang durfte nicht mit herkömmlichen Experimenten verschwendet werden.

Er fügte eine neue Überschrift in sein Notizbuch ein: Kapitel 2 – Beschwörungen.

Das Wimmern hallte seitdem in seinem Kopf wider, ein grausames Echo der Versuche. Unter Schmerzen klagten Tiere wie Kleinkinder, das wusste er nun. Seit dieser Nacht verachtete er sein Spiegelbild. Die tiefe Scham darüber, sich über alle Gebote hinweggesetzt zu haben, umgab ihn wie ein eisiger Schleier, den er stets mit sich herumtrug.

Das Reh vergoss Tränen, als er den vorderen Beinstumpf ausbrannte, ohne jedoch die Hoffnung zu verlieren. Und als er nach Tagen erst den finalen Schnitt setzte, krochen die tiefschwarzen Augen in seine Seele und suchten nach einem Funken der Güte.

An seinem Unterarm stellten sich die Härchen auf, als blicke er gerade wieder in die glänzende Schwärze dieser Augen. Wie weit würde es ihn noch hinab führen? Er blickte herüber zu Julie, unter deren nackten Füßen noch immer der Drudenfuß auf dem kalten Stein zu erkennen war, den er damals mit dem dampfenden Blut hingeschmiert hatte.

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»Sie kommen, mein Freund, beende deine Schrift. Du hast noch einen entscheidenden Schritt vor dir«, raunte eine tiefe Stimme. Klauen umfassten erneut seine Schulter. Noch einen Moment hielt er inne, bevor er den Federkiel wieder eintauchte und weiterschrieb.

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In diesem Pentagramm hatte der Graf gesessen, das Papier mit den verbotenen Zeilen in der Hand. Die blutige Zeichnung auf dem Steinboden fing an zu leuchten, erst schwach, doch je entschlossener er die Verse betete, umso gleißender wurde das Licht, umschloss ihn, umfing ihn mit einer Wärme, wie er sie selbst im Sommer noch nie gekannt hatte. Als er das Herz des Rehs in dieses Strahlen hineinwarf, verschwand es wie ein Blitz. Zurück blieb lediglich ein fauliger Geruch.

In der Kammer rührte sich nichts. Kalte Enttäuschung breitete sich in seiner Magengegend aus, die zuvor vor Aufregung geschmerzt hatte. Gebeugt begab er sich zu seinem Tisch zurück, als ihn ein seltsames Kratzen vom Ofen her aufhorchen ließ.

Eine gebeugte Gestalt hockte dahinter, nicht größer als ein Zwerg, doch an Hässlichkeit kaum zu übertreffen. Ihre Haut wirkte wie altes Leder, jedoch viel faltiger. In ihren knochigen, langen Fingern hielt sie das Herz und nagte daran wie eine Ratte. Krampfartig zog sich Wilhelms Magen bei dem Anblick zusammen. Nur mit Mühe schluckte er die saure Flüssigkeit wieder hinab, um nicht zu erbrechen. So wie er sich ekelte, faszinierte ihn das Geschöpf in der düsteren Ecke, erfüllte ihn mit einer Art Vaterstolz – und unbändiger Freude.

Als er näher trat, fauchte die Gestalt ihn an und schob sich weiter hinter das heiße Metall des Ofens. Aufgeregt winkte Wilhelm seinen Diener herbei. Unschlüssig warf dieser einen Blick auf das Wesen, rutschte einige Schritte näher. Mit einem Besen versuchte er, es aus dem Versteck herauszutreiben, doch dieser verschwand mit einem Ruck hinter dem Ofen. Ein abgebrochener Stil flog heraus, traf den Diener am Kopf und ließ ihn taumeln. Wilhelm fasste schnell nach Ulrichs Schultern, um ihn zu stützen.

»Wie behandelt Ihr einen Fürsten, Sterbliche?«, raunte es plötzlich durch den gesamten Raum. Größer als zuvor stolzierte das fremde Tier aus seinem Versteck. Unsanft stieß Wilhelm gegen den massiven Tisch. Er tastete nach der Tischkante, schob sich daran vorbei, weiter nach hinten, bis die kalte Mauer ihm kein weiteres Zurückweichen mehr ermöglichte.

»Schaut mich nicht so an! Glaubt Ihr, der Höllenfürst persönlich würde sich Eurem – sagen wir mal – Novizenopfer hingeben? Ich bin Fene, der Wanderer. Mein Hoheitsgebiet findet sich in den hinteren Kreisen.«

Der Dämon starrte von Wilhelm zu Ulrich hinüber.

Noch ehe Wilhelm den Mund auftat, spürte er den aufziehenden Nebel. Wie eine Krankheit breiteten sich dunkle Schwaden in seinem Kopf aus, die zuerst seine Gedanken, dann seine stotternde Zunge lahmlegten, bevor sie seinen Körper beherrschten.

Als er wieder wach wurde, wärmten breite Sonnenstrahlen sein Gesicht. Sein Rücken und seine Glieder schmerzten, als sei er tagelang geritten, ohne dass er die Burg verlassen hätte. In seinem Kopf hingegen erschien klar sein Auftrag. Nur einen kurzen Moment zögerte er, dann schüttelte er die Zweifel ab. Für Julie, flüsterte er, für die Liebe, in Ewigkeit.

Ulrich sandte er zurück in die hellen Gemäuer der neuen Burg. Er sollte die Herrin beruhigen und alles Nötige in die Wege leiten, während der Graf in die Stadt ritt.

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Wilhelms Blick glitt wieder in die undurchdringbare Dunkelheit vor dem engen Fenster. Es schien, als breite sie eine Decke über die verfallene Burg, die ihren Namen nun sicher nicht mehr verdiente. Das Schnauben im Hintergrund trieb ihn wieder an das Journal. Der Wanderer stand am anderen Ende der Kemenate und saß ihm gleichzeitig im Nacken. Er blickte in die Schrift, überwachte seine Feder, während er stumm dasaß mit diesen geblähten Nüstern und tiefschwarzen Augen. Wilhelm musste sich nicht umdrehen, um die Fratze zu sehen, denn es gab keinen Augenblick, in dem sie ihn nicht begleitete.

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Die ersten Nachmittage unten in der Stadt waren ungewohnt. Das Treiben in den überfüllten Gassen, das Geschnatter und Quieken, Handeln und Feilschen machten ihn nervös. Wilhelm konnte zwar in den Massen untertauchen, fiel jedoch trotzdem auf wie ein bunter Hund. Er spürte die argwöhnischen Blicke der Marktleute, wenn er näher trat. Einige Kaufleute maßen die noble Kleidung von oben bis unten, sie würden sich bei Untersuchungen bestimmt an den Edelmann in der Stadt erinnern. Bereits am zweiten Tag lieh er sich die Kleidung seines Kammerdieners aus.

Ständig bei seinen Stadtbesuchen strich er über die Köpfe der Buben, welche sich zwischen den Erwachsenen durchquetschten in der Hoffnung, eine Münze zu erwischen, doch keiner wollte die Vorgaben erfüllen. Und wie sollte er ihn zur Burg befördern? Selbst am großen Markttag bot sich ihm keine Gelegenheit, eines der Kinder wegzulocken.

Jeden Abend ritt er wieder hoch zur Burg, die Schultern tiefer, das Haupt gebeugt, denn Enttäuschung erntete er in beiden Häusern. Während Julie immer trauriger schien, blühte ihr Gast in der alten Kemenate stetig auf, nährte sich an den Tieren, welche Ulrich unermüdlich beschaffte, doch forderte ständig mehr.

Die Haut des Dämons glättete sich, auch wenn sie ihren fahlen, grauen Ton nicht verlor. Die gebeugte Haltung verschwand ebenfalls zusehends, aber der Wunsch Wilhelms, die Genesung seiner kranken Ehefrau, hing nicht von der Kraft seines Gastes ab, sondern von dessen Willen – doch zuerst mussten seine Gelüste befriedigt werden.

Und diese krochen in Wilhelms Gedanken umher, wie Würmer wanden sie sich in seinem Kopf, drängten Bilder hoch, immer stärker, immer durchdringender, sodass er gehetzt über die Plätze der Stadt lief. Manchmal dachte er, sein Kopf würde zerspringen, denn selbst die Sehnsucht nach Julie konnte diese Bilder nicht durch ihr Antlitz ersetzen. Wollte er sie, die Gedanken an ihre Schönheit, zurück, musste er den letzten Schritt gehen.

Am neunten Tag kam der Moment. Gerade als er wieder niedergeschlagen hochreiten wollte, erblickte er den dreijährigen Knaben. Er saß mit einigen Gänsen unten an der Saar neben einem Wäschekorb, offenbar nur für eine Minute alleine gelassen. Die Hände griffen unbeholfen nach dem Treibstock und ließen die Tiere wütend aufschnattern.

Schnell sah Wilhelm sich um, ließ eine Handvoll Münzen ans Ufer fallen, schnappte das Kind und trieb den Schimmel hinauf zur Burg.

Sofort krochen die Bilder in seinen Kopf zurück, machten einem Flüstern Platz, das ihn rief und lockte. Er drückte seine Schenkel fester gegen den Pferderumpf, sodass die Hufe noch härter, noch schneller gegen den trockenen Waldboden schlugen.

Ulrich feuerte gerade den Ofen an, als der Graf die Tür aufstieß. Der Dämon saß in der dunklen Ecke quer gegenüber, ragte noch in dieser Position einen Kopf über den Kammerdiener. Wilhelm drehte sein Gesicht vor dem heißen Geruch des verdorbenen Atems weg.

Er konnte hören, wie der Dämon vor ihm die Luft einsog; wie ein Hund schnupperte er an dem Kind, das sich verängstigt gegen die Beine des Grafen presste. Seelenqualen durchfuhren Wilhelm, trotzdem schob er das Kind weiter in den Raum. Das Grauen, das er in dieser Nacht erlebte – Folter, Verstümmelung, das Fressen – der Tod war ein verlässlicher Vater mit grässlichen Dienern.

---

Das war vor einer Woche gewesen. Sieben Tage des Friedens lagen hinter ihm, sieben Tage voller Wonne, Liebe und Wiederfinden seines Glücks. Träumerisch starrte Wilhelm hinaus in die Nacht. Ein Lächeln durchbrach die verhärmten Gesichtszüge, bevor die harte Klaue ihn wieder traf. Schnell tauchte er seine Feder in die purpurne Tinte.

---

Elend und müde kehrte der Graf mit Ulrich zur Montclair zurück. Von Weitem konnte er die getünchten Mauern sehen, wie sie ihm Willkommen versprachen. Selbst in tiefster Nacht schienen sie ihren Glanz nicht zu verlieren, während die Ruinen hinter ihnen von Schatten bedeckt waren.

Stumm ritten die beiden Männer den gesamten Weg nebeneinander her. Keiner wollte an diesem Abend etwas zu den Geschehnissen sagen, über sie diskutieren oder auch nur darüber nachdenken. Ulrich saß gebeugt auf dem Pony, riss immer wieder Blätter von den Bäumen, bis er das Tier auf einmal anspornte und vortrabte.

Wilhelm wandte nichts ein, sondern schloss sich an. Trotz der Gräueltaten, zu der die Ausgeburt der Hölle sie angetrieben hatte, fiel jegliche Sorge von seinen Schultern, als er sein Schlafgemach betrat.

»Wo warst du wieder so lange?«

Erste Sonnenstrahlen flossen in den Raum, legten sich auf das Bett und bewunderten die Schönheit seiner Frau. Jegliche Krankheit schien von ihr abgefallen, sodass sie wieder in ihrer Jugendlichkeit erstrahlte. Um ihre Nase spielten einige Sommersprossen, die er nun küsste, wie er es so lange begehrt hatte. Er wollte sie mit Liebkosungen überschütten, um seinem hämmernden Herzen Linderung zu verschaffen. Seine Hände umschlossen ihre Taille, glitten über ihre weiblichen Formen, die zurückgekehrt waren. Während der ganzen Arbeit hatte er dieses Gefühl fast vergessen, es zusammen mit dem Mitleid verdrängt, doch in diesem Moment fiel alle Schwere von ihm ab.

»Lass es egal sein … alles soll uns nun egal sein, meine Liebe«, wisperte er, während er sie mit Küssen und Tränen überschüttete.

Am ersten Tag führte er seine Frau durch den Garten, den er durch die Hausdiener hatte weiterpflegen lassen. Er ließ ihr Rosen schneiden, als sie auf der Bank saßen, genau wie sie es sonst zu tun pflegten. In den nächsten Tagen genossen sie die Sonne an der Saar, vergnügten sich bei einem Fest im großen Saal und er ließ ihr eine Nachtigall fangen, um sie noch glücklicher zu machen. Er selbst war erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit, wie er sie seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gespürt hatte. Allein ein Blick in ihre aufgeweckten Augen, die neugierig durch den Garten streiften, reichte, um ihn vor Freude strahlen zu lassen.

In den Nächten zog er nicht mehr fort, sondern schloss seine Geliebte in die Arme, als könne er sie jeden Moment wieder verlieren.

Wie konnte er nur geglaubt haben, der Knecht des dunklen Herrn gönne ihnen eine Verschnaufpause?

Trotz des Flüsterns, trotz der aufziehenden Nebelschwaden und der Bilder, die ihn schon nach kurzer Zeit wieder beherrschten, blieb er standhaft bei Julie und genoss sein Glück, bis sein Kopf erneut zu zerspringen drohte.

Am siebten Tag bedrängte ihn Ulrich zurückzukehren. Bereits im Eingangsbereich der Montclair war das Poltern im oberen Stockwerk deutlich zu vernehmen.

Wilhelm wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Kemenate betrat. Der Dämon ließ einen Stuhl quer durch den Raum fliegen, sodass dieser an der Mauer zerbarst. Seine Augen leuchteten wie die einer Katze aus der Ecke hervor, bevor er nach vorne sprang und den Kammerdiener umwarf.

»Undankbarkeit zahlt sich nicht aus, Herr Graf«, zischte es ihm von der Seite entgegen. Das Wesen schien überall zu sein, und trotzdem nirgendwo. Ungewollt wurde Wilhelm in die Dunkelheit des Raumes gezogen.

»Für deine Abwesenheit musst du zahlen, mein lieber Herr, denn mein Hunger wurde größer und größer, bis er mich fast in den Wahnsinn trieb.«

»So wie du mich fast in den Wahnsinn treibst, Teufel?«, entfuhr es Wilhelm. Er drehte sich im Kreis, völlig orientierungslos. Die Stimme kam von links, dann unten, von hinten, schien ihn zu umfließen. Grässliche Dunkelheit umgab ihn. »Was willst du, damit du wieder gehst?«

»Es ist zu spät, Wilhelm, viel zu spät. Du willst nur das Glück – ohne die Arbeit, die damit verbunden ist. Selbstsüchtiger kleiner Tor! Doch Er schenkt nichts, nichts ist umsonst.«

Wilhelms Augen schmerzten, ständig zuckten sie durch die Dunkelheit, die nur schwärzer wurde, anstatt sich der Dämmerung zu beugen. Seine Hände tasteten nach der Tür, doch fanden nur Leere.

Auf einmal stieß etwas ihn zurück ins Licht. Er befand sich erneut in der Kemenate, die nichts mehr von der Zerstörungswut des Dämons aufwies, sondern aufgeräumt und warm um ihn lag.

Etwas weiter vor ihm lag ein Flugblatt. Eine dämonische Fratze lachte ihm davon entgegen. Erst als er es in den Händen hielt, erkannte er sich selbst darin. Die Überreste des Jungen waren offenbar aufgetaucht und man suchte den Mörder.

Im Gang hallten die schweren Tritte von Männern. Stimmengewirr drang herauf zu seiner Kemenate, es verriet ihm, dass es nun soweit war. Scharf sog er die Luft durch die Nase ein. Tiefes Grauen wühlte in seiner Magengrube, wenn er an die wutverzerrten Gesichter dachte, die sich zu ihm hochkämpften.

Ein Strick legte sich um seinen Hals, als er die letzten Worte niederschreiben wollte: Es tut mir …

Mit einem harten Ruck wurde sein Körper nach hinten gerissen. In der Ecke stand Julie, eine durchsichtige Gestalt hinter ihrer leblosen Hülle, die sie einst mit unvergesslicher Schönheit erblühen ließ. Nun fixierte ihn ihr hartes Gesicht, das sich angewidert abwandte. Trostlose Leere breitete sich in ihm aus. Seine Füße zuckten noch kurz, bevor alles um ihn verschwand.

---

Die Feder setzte wie von Geisterhand erneut an, beendete die Schrift: Es tut mir nicht leid.

***

Über die Autorin

Vanessa Betti wurde 1988 geboren und lebt gegenwärtig in einer kleinen Stadt im Süden Luxemburgs. In ihrem Brotberuf als Deutsch- und Geschichtslehrerin an einer Gesamtschule begegnet sie jeden Tag vielen unterschiedlichen Charakteren, die sie abends beim Schreiben und Malen immer wieder inspirieren. Sie interessiert sich vor allem für Phantastik und Werke mit Zügen dunkler Romantik.

De Profundis

Von Detlef Klewer

»Ich fragte nach dem Ursprung des Bösen,

doch es fand sich kein Ausweg.«

Augustinus (Confessiones 7,7,11)

Der Gang wand sich eng und schwarz. Die Hitze in diesem düsteren Labyrinth tief unter der Erde ließ Atmen zur Qual werden. Ihm war heiß. Angstschweiß bedeckte seinen Körper und verströmte einen Geruch, der seine Verfolger magnetisch anzog. Sie geradezu in Raserei versetzte: der Geruch eines panischen Menschen. Sie … holten auf.

Weiß Gott, er hasste die Dunkelheit. Flackernder Fackelschein tanzte beunruhigend nahe über erdige Wände. Seine Verfolger waren dicht hinter ihm.

Eine hervorstehende Wurzel riss ihm die Haut auf. Die Wunde begann zu bluten – in seiner Angst bemerkte er es nicht. Der Lichtschein hinter ihm kam stetig näher, während die Finsternis vor ihm noch undurchdringlicher zu werden schien.

Der Erdtunnel wurde niedriger. Er sank auf die Knie und kroch rasch auf allen Vieren weiter.

Der Gang nahm nun eine abrupte Biegung, die ihn erneut gegen rieselnde Erdwände taumeln ließ. Wieder riss Wurzelwerk blutende Verletzungen in seine Haut. Er stürzte. Erschöpft keuchend rappelte er sich auf.

Bei Gott, sie … hatten ihn fast eingeholt …

Als er aus dem Augenwinkel Fackeln auftauchen sah, wollte er vor Entsetzen schreien, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst, und so blieb er stumm.

Stumm wie die grausigen Schatten hinter ihm, die ihn hetzten wie ein Tier.

Dann … endete der Gang.

Seine wie rasend nach einem Ausweg suchenden Hände ertasteten eine undurchdringliche Wand aus Wurzelwerk und Erde.

Vor Angst wimmernd versuchte er zurückzukriechen, doch schon spürte er schaudernd eine Berührung auf seiner nackten Haut. Etwas wie kalter, rauer Stein griff nach ihm.

Eisiges versuchte seine Gliedmaßen auseinanderzuspreizen, sodass sein Körper in die Form eines Pentagramms gezwungen wurde: eines fünfzackigen Sterns, dessen Spitzen seine Extremitäten bildeten. Ein Opfersymbol. Er schluchzte nun hemmungslos, wandte sein tränenblindes Gesicht und sah voller Grauen das Herannahen der blakenden Flammen – hinter ihnen dunkle Schemen. Augenlose Konturen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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