Auf Irrfahrt in der Westsee - Anja Apostel - E-Book

Auf Irrfahrt in der Westsee E-Book

Anja Apostel

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Beschreibung

Mit welchem Geschick und Tricks man eine Hexenprüfung bestehen kann, ist in diesem Märchenband zu erfahren. Wird es der jungen Hexe gelingen die gestellten Aufgaben zu lösen? Wie sieht es aus mit den Geistern auf dem Dachboden? So einige Abenteuer kommen auf die Bewohnerin des Hauses zu. Vom Trank des Todes und den Sorgen des Adlerklans wird man hören. Kommt die Wahrheit ans Licht? Dämonen schleichen durch den Nebel des Waldes, werden sie die Reisenden aufspüren? Aura gerät in die Welt Andromedas, als Drachenreiterin erlangt sie bald große magische Fertigkeiten. Erst Stück für Stück erfährt sie mehr über ihr wahres Schicksal, ihre Herkunft. Warum schneit es nicht mehr? Ist Frau Holle womöglich etwas zugestoßen? Weite Irrfahrten und Abenteuer auf den Meeren sind zu bestehen. Wird es eine Rückkehr in die Heimat geben? Der Band enthält auch einige Fantasiegedichte und solche für Kinder.

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Seitenzahl: 714

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

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Hexenkessel

Cara war nervös. Bisher war sie ganz gut durch die Hexenprüfungen gekommen – allerdings nur dank der Hilfe des Dämons Meph, der mit ihr über einen verzauberten Edelstein kommunizieren konnte. Er flüsterte ihr die Lösungen ins Ohr und gab ihr wertvolle Tipps, ohne dass jemand anderes etwas davon mitbekam. Natürlich war das eine Schummelei und streng verboten, aber sie hatte keine Wahl. Alleine würde sie es nie durch die Prüfungen schaffen. Insbesondere Esmeralda, die Magistra von Efeuturm, hatte sie dabei auf dem Kieker und durfte keinen Verdacht schöpfen. Die junge Hexe kaute auf ihren Fingernägeln herum, blickte sich immer wieder um und wartete ungeduldig auf das Erscheinen des Dämons.

Und wenn er mich im Stich lässt?, fragte sie sich im Stillen. Dann war alles aus! Sie musste diese Prüfung bestehen! Unbedingt!

Hallo, da bin ich wieder? Hast du gut geschlafen?

Cara erschrak sich fast zu Tode, als Meph sie mit seiner Gedankenstimme, wie aus dem Nichts, ansprach. Wie alle anderen Prüflinge hatte sie sich am Morgen wieder in der großen Eingangshalle der Hexenakademie eingefunden. Sie löste sich aus dem Pulk der Adepten und stahl sich schnell in eine finstere Ecke, wo sie allein sein konnte. Hier stand eine große Sanduhr, die merkwürdigerweise immer rieselte, ohne dass sie jemand umdrehen musste. Zwischen ihr und einer alten Rüstung fand sie ein ungestörtes Plätzchen.

„Wo warst du so lange?“, zischte sie den Dämon an.

Habe ich ´was verpasst?

„Esmeralda hat einen Verdacht. Sie weiß, dass ich betrüge. Sie weiß nur nicht wie.“

Das habe ich dir doch gesagt. Meph lachte wieder sein meckerndes, schadenfrohes Lachen. Sie kriegt das nie raus. Nicht, wenn du dicht hältst.

„Sie wird mich beobachten. Dadurch wird es nicht leichter“, seufzte Cara.

Tatsächlich …, meinte der Dämon zögernd. Esmeralda Prinx ist eine der wenigen in Hexenwelt, die hier meine Präsenz spüren könnte. Wenn sie dir zu nahe kommt, werde ich verschwinden müssen.

„Heißt das, du lässt mich allein?“ Cara drohte in Panik zu verfallen. Ohne den Dämon und sein Wissen war sie verloren.

Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

„Wir … wir haben einen Vertrag!“ Caras Stimme zitterte.

Und den werde ich erfüllen. Meph wirkte beleidigt. Und dann wirst du deinen Teil erfüllen. Wenn ich nicht liefere, bist auch du an deine Verpflichtung nicht mehr gebunden. Glaube mir: Ich habe ein Interesse, dass du diese Prüfung bestehst.

„Ist schon gut.“ Cara wollte den Dämon nicht erzürnen. „Wir brauchen nur noch fünfundzwanzig Punkte.“

Fünfundzwanzig? Na, das schaffen wir! Worin bestehen die Prüfungen heute?

„Das wissen wir noch nicht“, gab Cara zu. „Irgendetwas mit Zaubertränken wird gemunkelt. Magistra Jhisilba wird ihren Anteil an den Prüfungen auch noch einbringen wollen.“

Oh, Zaubertränke sind meine Spezialität, meinte Meph selbstbewusst.

Was eigentlich nicht?, dachte Cara. Mephs Großkotzigkeit konnte einem schon gehörig auf die Nerven gehen. Bald war sie den Dämon los. Sie freute sich schon darauf.

Die Türen der großen Halle wurden geöffnet. Diesmal waren es Magicor Willem und Magicora Papita, die sie einließen. Die Magicora war blass, dünn, wie ein Strich, trug immer ein schwarzes, hoch geschlossenes Kleid und lächelte nie. Man sagte, damit man ihre spitzen Fangzähne nicht sah. Sie unterrichtete normalerweise das Fach „Kreaturen der Finsternis“. Willem dagegen war Lehrer für Drachenreiten, Fechten, Angriff- und Abwehrzauber und sehr beliebt. Seine schwarz-braune Löwenmähne, die kein Kamm bändigen konnte, war legendär.

Die Halle sah heute ganz anders aus, als zu den schriftlichen Prüfungen. In der Mitte waren Dutzende von schwarzen Kochkesseln aufgestellt, die bereits über grünlich lodernden Hexenfeuern vor sich hin köchelten. An der einen Wand hatte man Regale mit hunderten von kleinen Fläschchen, in allen Farben des Regenbogens, Kräutern, Tinkturen, Ölen und Essenzen aufgebaut. Die andere Wand beherrschten enge Alkoven aus dunklem Holz, die man mit einem Vorhang vor neugierigen Blicken abtrennen konnte. Die Vorhänge waren alle geschlossen. Willem griff in einen weißen Stoffsack und drückte Cara im Vorbeigehen ein schwarzes Plättchen in die Hand. Sie blickte das Plättchen an. Dort war in silbernen Lettern die Zahl XIII aufgemalt. Cara wunderte sich. „Was ist denn das?“ Sie hielt das Plättchen vor ihre Augen. „Ausgerechnet dreizehn.“

Ja, merkwürdig, raunte Meph. Das sieht Beichtstühlen in der Anderswelt sehr ähnlich. Aber zur Beichte werden sie euch sicherlich nicht zwingen. Das wäre für uns alle ziemlich peinlich, oder? Meph lachte wissend. Na, sie werden uns gleich einweihen. Wetten?

„Alle Adepten stellen sich vor ihre Kochkessel!“ Jhisilba führte natürlich den Vorsitz. „Auf jedem Kessel steht eine Zahl. Ebenso auf den Regalen.“

Die Prüflinge wuselten aufgeregt zwischen den Kochkesseln hin und her. Cara hatte ihre Nummer dreizehn schnell gefunden. Ihre Freundin Kartine stand nicht weit von ihr vor der Nummer sechzehn und reckte aufmunternd den Daumen nach oben. Dann hatten alle ihre Stationen erreicht und wandten sich neugierig dem Pult mit der Magicora zu.

„Auch die Alkoven tragen Nummern“, begann Jhisilba ihre Erklärung. „In diesen Alkoven wartet ein Patient auf euch. Eure Aufgabe ist es seine Krankheit zu diagnostizieren und zu heilen. Hierzu müsst ihr einen entsprechenden Trank brauen und ihn mit den passenden Zaubersprüchen versehen. Der Trank muss den Patienten vollständig heilen. Nebenwirkungen sind nicht gestattet. Es gibt zehn Punkte für die richtige Diagnose und zwanzig für den Trank und die Wirkung. Ist die Diagnose falsch, so gibt es keine Punkte. Also lasst euch Zeit mit der Untersuchung. Bevor ihr den Trank verabreicht teilt ihr mir eure Diagnose mit. Ist sie falsch, seid ihr disqualifiziert. Wir wollen doch nicht, dass ihr unsere Patienten umbringt, oder? Ihr habt vier Stunden Zeit.“

Sie klatschte in die Hände, was den Beginn der Prüfung anzeigen sollte.

Jede Krankheit, jedes Leiden

Die den armen Menschen plagt,

Wird euren Patienten meiden,

Wenn ihr euren Rat ihm sagt.

Dann könnt ihr mit eurem Wissen

Über Kraut und Arzenei,

Über Milbe, Floh und Nissen,

Und der rechten Hexerei,

Sein ein echter Heiler gar,

Wenn ihr heut euch könnt erinnern,

Was ihr einst hier habt gelernt

Bei der guten Jhisilba.

Ohne einen Reim ging bei Jhisilba nichts. Das kannten die Adepten schon. Cara atmete tief ein. Von der Heilmagie hatte sie nicht viel Ahnung, aber sie baute auf Meph. Schnell hatte sie den Alkoven mit der Aufschrift XIII gefunden. Langsam näherte sie sich.

Äääääääh. Heilung!, quäkte der Dämon in seinen Gedanken unzufrieden. Meine Stärke ist es eigentlich, den Menschen Krankheit und Pestilenz zu bringen. Nicht sie davon zu befreien.

Cara stoppte ihren Gang, „Heißt dass, du kannst das nicht?“, flüsterte sie so leise wie möglich, während ihr ein heißer Schreck durch die Glieder fuhr.

Beruhige dich. Natürlich kann ich das. Wenn ich die Menschen krank machen kann – und das kann ich richtig gut – dann kann ich sie natürlich auch wieder heilen. Das ist wie krank machen. Nur andersherum – irgendwie, denke ich.

„Na, wenn du meinst.“ Sehr überzeugend fand Cara diese Argumentation nicht. Aber sie hatte sowieso keine Wahl. Die anderen Prüflinge sprachen bereits mit ihren Patienten. Sie erreichte ihren Alkoven und klopfte an das Holz. „Äh, Entschuldigung. Darf ich eintreten?“

„Bitte“, kam es jammernd von der anderen Seite des Vorhangs. Ein süßlicher Eitergeruch stieg Cara in die Nase, die sie daraufhin kraus zog. Sie öffnete den Vorhang.

Im ersten Moment prallte sie vor dem Anblick zurück. Auf einem schmalen Bett lag ein älterer Mann, der nur über der Körpermitte mit einem Leinentuch bekleidet war. Sein Körper war über und über mit roten Pusteln bedeckt. Einige der Pusteln waren aufgeplatzt, und ein weißliches Sekret sickerte aus ihnen heraus. Daher musste der Gestank herrühren. Cara würgte.

„Bitte, Magicora.“ Der Mann öffnete die Augen. Die Regenbogenhaut war ganz trübe. Die Pupille ganz gelb. „Helfen Sie mir.“

Frag ihn nach seinem Namen, riet Meph. Das machen Ärzte immer so. Wahrscheinlich, damit sie wissen, wem sie die Rechnung schicken dürfen. Oder was sie später auf den Totenschein schreiben können.

Cara fand das gemein. Im Ergebnis war das aber wahrscheinlich kein schlechter Rat. Schließlich sollte sie doch zu ihrem Patienten ein Vertrauensverhältnis aufbauen. „Ich bin Cara“, sagte sie sanft und näherte sich vorsichtig. „Wie heißen Sie?“

„Ich … Mepel“, antwortete der Patient leise. „Mir … mir geht es nicht gut. Sehen Sie nur.“ Er hob den Arm. Auf ihm waren einige der dicken Pusteln schon aufgeplatzt.

„Hm.“ Cara legte ihm ihre Hand auf die Stirn und fühlte das Fieber. Dann kontrollierte sie seinen Puls und erschrak, als sie zuerst keinen fand.

Andere Seite, du Spezialist, wies Meph sie an.

Da war der Puls! Hektisch und unregelmäßig. Das fühlte sich nicht richtig an. „Was meinst du? Das sieht nicht gut aus, oder?“, fragte sie den Dämon.

„Das weiß ich auch“, antwortete Mepel, der sich angesprochen fühlte. „Können Sie mir helfen, bitte?“

Das ist irgendeine Pest, diagnostizierte Meph. Da bin ich sicher. Aber da gibt es so einige, und alle sind sich ähnlich. Jedenfalls ist sie bestimmt ansteckend. Hast du einen Schutzzauber gesprochen, bevor du ihn berührt hast?

Cara zog schnell die Hand von Mepels Stirn.

Oh Walpurgis, Turm und Trutz

Stelle Cara unter Schutz.

Diesen Spruch kannte jedes Kind. Normalerweise befielen die Krankheiten der Menschen die Hexen nicht, aber man konnte nie wissen. Und das, was den armen Mepel quälte, wollte Cara bestimmt nicht kriegen. Sie wandte sich ab und tat so, als dächte sie nach. „Was mache ich jetzt?“, flüsterte sie kaum hörbar.

Schau ihm unter das Tuch, befahl Meph. Lass uns nachsehen, ob an seinen Leisten besonders große Pusteln sind. Ich habe da einen Verdacht …

„Unter das …“ Cara wurde rot. „Das mache ich nicht.“

Hör mal! Der Dämon lachte. Du bist hier als Heilerin. Das ist doch nicht deine Hochzeitsnacht. Und außerdem: Da unten sehen alle Menschen gleich aus. Jedenfalls die männlichen. Zier dich nicht so. Das steht einem Heiler nicht gut zu Gesicht. Na los! Wir verplempern hier nur Zeit.

Cara nickte, näherte sich vorsichtig Mepels Körpermitte und hob langsam das Tuch an, so als könnte sie dort von etwas etwas gebissen werden. Tatsächlich erkannte sie besonders große rote Pusteln neben dem Geschlechtsteil, das neben den Krankheitsmerkmalen fast verschwand. „Sehr große“, sagte sie seufzend, als sie das Tuch wieder senkte. Mepel stöhnte laut.

Dreh ihn mal um, sagte Meph. Ich ahne, womit wir es hier zu tun haben. Auf jeden Fall eine richtig üble Sache. Kein Wunder! Er hat ja auch die Dreizehn. Das war noch nie eine glückliche Zahl.

Cara ging um das Bett herum und drehte den armen Mepel vorsichtig auf die Seite. Dabei stöhnte er erneut. Er hatte die Augen geschlossen. Cara kam es vor, als würde ihr Patient nicht mehr ganz wach sein.

Was kannst du auf seinem Rücken sehen?, fragte der Dämon.

Cara beugte sich vor. An den Schulterblättern, dem Gesäß und dem Hinterkopf zeigten sich dunkle Flecken. Die Pusteln auf dem Rücken waren fast alle schon aufgeplatzt. Es stank entsetzlich. Cara wurde schlecht. Sie ließ Mepel vorsichtig wieder zurück sinken. „Da sind Blutergüsse. Ziemlich schlimm!“

Das ist eindeutig die Regenpest. Die habe ich auch schon das eine oder andere Mal verteilt.

„Und, wie können wir das heilen?“, fragte Cara laut. Magicor Willem ging an ihrem Alkoven vorbei und linste neugierig ins Innere. Cara lächelte ihn an. „Ich spreche bei der Diagnose gerne mit mir selbst.“ Willem nickte sie an und ging weiter.

Nun … keine Ahnung, meinte Meph. Ich habe eigentlich immer geglaubt, die Krankheit wäre unheilbar. Aber da bin ich offensichtlich nicht mehr auf dem Laufenden.

„Was?“

Na, was glaubst du denn? Dass ich jeden Monat das hexenmedizinische Fachblatt lese?, antwortete Meph leicht genervt. Weißt du, wie langweilig das ist? Dafür habe ich doch meine Leute. Ah! Ich habe da eine Idee!

„Was machen wir denn jetzt?“ Cara zwang sich dazu nicht in Panik zu verfallen. Sie stand in der Ecke und murmelte sich etwas in den imaginären Bart. Sie hoffte, dass es so aussah, als wüsste sie, was sie tat. „Warum heißt sie Regenpest?“

Du kannst Fragen stellen. Wen interessiert das? Vielleicht weil sie über die Menschen kommt, wie der Regen. Oder weil ihre Pusteln bald so viel ekelhafte Flüssigkeit absondern, dass es scheint, als würde es Eiter regnen. Meph wirkte gehetzt. Hör zu, Cara. Ich muss jetzt verschwinden. Ich muss jemanden fragen, der sich mit so etwas auskennt. Das wird zwar etwas peinlich für mich, aber, wie du richtigerweise gesagt hast, haben wir einen Vertrag. Was tut man nicht alles, um den zu erfüllen? Ich bin rechtzeitig mit dem Rezept wieder da.

„Und wenn nicht?“

Dann fällst du durch und Mepel stirbt. Das wäre für euch beide bestimmt unangenehm. Also wünsch dir das nicht.

„Meph! Was mache ich in der Zwischenzeit?“ Cara bewegte sich wieder in Richtung des Bettes. Sie hob die Augenlider ihres Patienten. Wie sie vermutet hatte, war er nicht mehr bei Bewusstsein.

Hm, richtig. Du solltest mit dem Trank anfangen. Meph schwieg einen Moment. Nimm Camilla, das ist immer eine gute Basis, wenn Pusteln im Spiel sind. Und Teufelskraut. Das mögen wir nicht. Und schlimme Krankheiten auch nicht. Ansonsten schmeiß grüne Sachen rein. Das kann nicht schaden. Aber nimm nicht zu viel. Und schreib dir auf, was du genommen hast. Und wie viel.

„Meph! Ich kann das nicht!“ Cara fing an zu zittern. Ihre Haare wurden heller, wie immer, wenn sie Angst hatte. „Dieser arme Mann. Ich soll ihm doch helfen.“

Dann hättest du verdammt noch mal, selbst deine Nase in die Bücher stecken sollen. Meph seufzte schwer. Beruhige dich, Cara. Tue dein Bestes. Das mache ich auch. Ich bin bald wieder da.

Und dann war Meph weg. Wieder fühlte sich Cara schrecklich allein. Und das war sie wirklich. Sie tätschelte Mepel aufmunternd die Schulter. „Ich bin gleich wieder da.“ Sie verließ den Alkoven.

„Nun?“ Jhisilba fing sie ab. „Wie ist deine Diagnose, Fräulein Whal?“

„Regenpest!“, antwortete Cara knapp. Ihre finstere Miene war der Schwere der Krankheit und ihrer eigenen Situation angemessen.

„Sehr gut!“ Magicora Jhisilba holte ein Klemmbrett mit einem Pergament hervor und notierte mit einer kunterbunten Papageienfeder etwas darauf. „Zehn Punkte.“ Sie warf einen Blick auf den Patienten. „Ist er komatös?“, fragte sie.

Cara schaute sie verständnislos an.

„Ist der Patient noch bei Bewusstsein?“, wollte sie wissen.

Cara schüttelte den Kopf. „Nein! Ich fürchte nicht mehr.“

Jhisilba schob Cara in Richtung der Arzneien in den Regalen. „Dann bitte ich dich, jetzt mit dem Heiltrank zu beginnen“, sagte sie. „Ich fürchte, der arme Herr Mepel, hat …“ Sie warf einen Blick zur Sanduhr. „… keine drei Stunden mehr. Schnell! Schnell!“

Cara stand stocksteif vor dem Regal. „Da sind ja gar keine Beschriftungen dran“, stellte sie fest.

„Dass du nichts gelernt hast, hätte ich mir denken können“, gab Jhisilba missbilligend zurück. „Ihr müsst in der Lage sein, die Ingredienzien mit den Augen, der Nase und der Zunge zu bestimmen. Natürlich sind die Gläser nicht beschriftet. Nun schnell! Frisch ans Werk!“

Cara war am Boden zerstört. Nun spürte sie, welche Verantwortung mit dem Diplom verbunden ist, und warum man so viel lernen muss, um es zu erlangen. Sie schämte sich dafür, dass sie betrog, um es zu bekommen.

„Meph, bitte beeil dich“, flüsterte sie, während sie sich ein Bündel mit grünen Kräutern angelte, den sie nach einem Geschmackstest als Petersilie identifizierte und in ihren Topf warf.

„Teufelskraut, Teufelskraut …“ Sie roch an jedem Bündel. „Wie, zum Teufel, riecht Teufelskraut?“

Cara schwitzte Blut und Wasser. Na ja – zumindest das mit dem Blut nur im übertragenem Sinne. Ihre Haare wurden immer heller und zeigten jetzt ein strohblond, wie immer, wenn sie Angst hatte. Bei dem armen Mepel sah das allerdings anders aus. Die Regenpest machte ihrem Namen alle Ehre. Tatsächlich tropfte es schon ordentlich von der Liege. Cara wandte sich immer mal wieder ihrem Patienten zu, um ihm den Puls zu fühlen. Es ging ihm jedenfalls minütlich schlechter. Seine Stirn glühte. Diese verfluchte Krankheit zehrte ihn auf.

Irgendwann hatte sie das Teufelskraut gefunden – hoffte sie jedenfalls. Sie meinte sich erinnern zu können, dass es sehr bitter und leicht nach Lakritze schmeckte. Das hatte sie sich wohl gemerkt, weil sie selbst Lakritze sehr gern aß. Aber dieses Zeug war einfach ekelhaft.

Kamilla! Das ist Kamilla!, freute sie sich, als sie wieder eine Zutat fand. Sie puhlte die stark duftenden Blätter aus dem Glas und warf sie in ihren Topf.

„Da ist ja noch nicht besonders viel drin.“

Cara kannte die kratzige Stimme. Sie wirbelte herum, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Ihre Haarfarbe wechselte ins Weiße.

Esmeralda blickte in den Topf und anscheinend gleichzeitig in den Alkoven. „Deinem Patient geht es schlecht. Wenn er stirbt, bekommst du keine Punkte. Ich hoffe, das weißt du.“

„Sie werden ihn doch nicht sterben lassen?“ Cara leckte sich nervös die Lippen. „Doch nicht wegen mir. Sie kennen doch das Rezept.“

Die Magistra von Efeuturm lachte leise. „Nein, wir werden ihn nicht sterben lassen. Aber die Regenpest ist unberechenbar. Vielleicht kommen wir zu spät. Vielleicht kommst du zu spät. Es wird jedenfalls Zeit, dass du mit deinem Trank fertig wirst. Was hast du hineingetan?“

„Äh, Kamilla, Teufelskraut, Smaragdstaub, Waldmeister, Grünaugenessenz und Petersilie“, antwortete Cara.

„Petersilie?“

„Für den Geschmack?“ Kaum hatte Cara das gesagt, kam sie sich unsäglich dumm vor. Dort rang ein Mensch mit dem Tode und sie machte sich Gedanken über den Geschmack ihres Trankes.

Esmeralda schnaufte, was vielleicht eine Art Lachen darstellen sollte. „Geschmack!“ Sie wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen.

Hallo, ich bin … Ach, verflucht! Esmeralda!

So schnell, wie Meph erschienen war, war er auch schon wieder weg.

Esmeralda blieb stehen und blickte zurück. Ihre Augen standen dicht beieinander und fixierten Cara, die, um abzulenken und irgendetwas zu tun, einen Behälter mit schwarzen Bohnen aus dem Regal nahm und sie einfach in den Topf warf. Die Flüssigkeit wallte daraufhin auf und verfärbte sich dunkelgrün. Die Magistra verhielt noch einen Moment wartend, senkte endlich den Kopf und ging weiter, um sich die Fortschritte anderer Prüflinge anzusehen.

Puh! Das war knapp!, meinte Meph, als sich Esmeralda ein paar Reihen entfernt hatte.

„Meph! Walpurgis sei Dank!“, seufzte Cara. Augenblicklich wurden ihre Haare braun, wie ein Reh. Sie wiederholte schnell, was sie in ihrer Verzweiflung alles in den Topf gekippt hatte indem sie, wie zur Kontrolle, ihre Liste abhakte.

Waldmeister? Kaffee? Petersilie? Na, keine Ahnung, ob das nützlich ist. Meph lachte. Und wie geht es unserem Patienten?

„Schlecht! Wir müssen uns beeilen. Du hast mir gesagt, ich soll das Grünzeug reinwerfen.“

Habe ich? Nun gut! Pass auf: Meph sprach jetzt richtig schnell. Schreib am besten mit! Ein Scheffel Neunaugenaugen, Mumienblutpulver – davon eine Messerspitze. Schabenkot, eine Viertelunze.

Cara holte die Zutaten aus dem Regal, indem sie mit ausgestrecktem Arm langsam daran entlangschlich und Meph sie immer dann stoppte, wenn das richtige Glas direkt vor ihr stand. Sie krümelte alles in den Trank, der sich nun grünlich-gelb verfärbte.

Die Asche eines Fledermausbeins, im Mörser zerstoßen. Teufelskraut hast du ja schon. Wahrscheinlich zu viel, aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Nimm jetzt die Asche und sprich mir nach:

Wenn Dämonenhände kalt

Bringen dir nur Tod und Pein

Kommt die Hexenheilung bald

Denn du nimmst das Flederbein.

Gegen die Dämonenbrut

Hilft Schabendreck und Mumienblut.

Und zu guter Letzt dazu

Noch diesen Spruch

Und dann ist Ruh´.

Cara wiederholte den Zauberspruch und ließ den Inhalt des Mörsers dabei langsam in den Kochtopf rieseln. Der Trank blubberte und zischte, wurde rot und blau, wechselte noch einmal ins Hellgrüne, um dann klar wie Wasser zu werden.

Das ist es!, rief Meph erfreut aus. Wenn er durchsichtig wird, ist es gelungen. Und das trotz deiner komischen Petersilie. Ich hatte da so meine Bedenken …

„Heißt das, ich kann Mepel den Trank jetzt geben?“ Caras Haare wurden dunkelbraun.

Ihm einflößen, ihn damit einreiben, ihn darin ersäufen – was du willst, sagte Meph. Los jetzt, und rette diese armselige Kreatur von Mensch. Ich haue schnell ab, bevor Esmeralda mich erwischt. Du brauchst mich jetzt nicht mehr. Ich komme morgen wieder, wenn du dein Diplom hast. Viel Glück!

„Meph, ich …“, wollte Cara noch sagen, aber der Dämon war schon fort. Eigentlich hatte sie sich bei ihm bedanken wollen. Er hatte wirklich Wort gehalten. Sie hatte schon fast nicht mehr damit gerechnet.

„Und, fertig?“ Jhisilba hatte wohl mitbekommen, dass Cara ihren Spruch aufgesagt hatte. Sie kontrollierte die Zutatenliste, schnalzte bei der Petersilie mit der Zunge und warf zu guter Letzt einen Blick in den Topf. „Klar, wie frisches Quellwasser“, befand sie und gab den Trank für die Anwendung frei.

Cara ließ sich jetzt nicht mehr lange bitten. Sie schöpfte ihren Trank in eine große Kanne und eilte zu ihrem Patienten. Mepel sah furchtbar aus. Seine Haut war trocken, wie eine alte Dörrpflaume, und Cara fürchtete schon, dass alles umsonst gewesen war. Aber er atmete noch leicht und hatte auch noch so etwas Ähnliches wie einen Puls. Unter seiner Liege hatte sich eine ekelhafte Lache von dem Sekret der Pusteln gebildet, die entsetzlich stank.

„Hier, trinkt!“ Cara öffnete seinen Mund und goss ein wenig von der Flüssigkeit hinein. Der Trank roch frisch – nach Waldmeister und Petersilie. Hoffentlich wirkte er auch. Sie wiederholte die Prozedur mehrmals, murmelte dabei leichte Heilsprüche, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte und betete gleichzeitig zum heiligen Sankt Walpurgis, dass er diesen armen Menschen erretten möge. Dann war der Krug leer. Cara bemerkte, dass Mepels Haut nun wieder viel frischer und straffer wirkte. Auch beruhigte sich seine Atmung. Schnell rannte sie zum Topf zurück, füllte die Kanne wieder auf und goss Mepel den Zaubertrank über den ganzen Körper. Es zischte und brodelte, aber die klare Flüssigkeit löste das durch die Pusteln zerstörte Gewebe und ließ blasse aber gesunde Haut zurück. Cara holte weiteren Nachschub, ließ Mepel erneut trinken, wusch ihn und goss den Rest über die Lache auf dem Boden, um die üblen Säfte zu neutralisieren. Es war wie ein Wunder. Es war herrlich! So glücklich hatte sie sich noch nie gefühlt. Ihre Haare veränderten sich ins Pechschwarze. Cara konnte sich an dem Gefühl, diesen Menschen gerettet zu haben, regelrecht berauschen.

Mepel schlug die Augen auf. „Ihr habt mich von der Schwelle des Todes geholt, Magicora“, flüsterte er, noch ziemlich geschwächt. „Ich danke Euch.“

„Ich bin aber keine Magicora“, antwortete Cara leise. „Ich bin nur Adeptin.“

„Nein, nicht mehr.“ Jhisilba trat an sie heran. Zwei jüngere Adepten drängelten sich in den Alkoven, um sich nun um Mepel zu kümmern. „Du hast siebzehn Punkte! Du bist jetzt eine Magicora! Und du verdienst Respekt! Die Regenpest war die mit Abstand schlimmste Krankheit heute“, sagte sie. „Die Diagnose ist eigentlich nicht das Problem. Einige Symptome sind sehr charakteristisch. Das Heilmittel ist jedoch noch nicht lange bekannt. Manche glauben immer noch, dass die Regenpest unheilbar ist. Woher wusstest du, was du zu tun hattest?“

Cara gemahnte sich zur Vorsicht. Meph war zwar weg, aber sie könnte sich noch immer verplappern. „Stand dazu nicht etwas im hexenmedizinischen Fachblatt? Ich meinte erst kürzlich dazu einen Artikel gelesen zu haben.“

„Du liest das hexenmedizinische Fachblatt?“ Jhisilba hob erstaunt die Augenbrauen. „Bemerkenswert!“

„Habe ich wirklich siebzehn Punkte?“ Cara zählte kurz nach. Fünfundneunzig! Fünfundneunzig! Sie hatte es tatsächlich geschafft! Sie berührte unauffällig den kochendheißen Topf. Vielleicht schlief sie noch und träumte das alles. Nein! „Autsch!“ Sie verbrannte sich die Hand. Kein Traum! Alles wahr!

„Wirklich!“, bestätigte Magicora Jhisilba und verbeugte sich leicht. „Herzlichen Glückwunsch. Wer hätte das gedacht?“

Cara konnte ihr Glück kaum fassen. Auf einmal drehte sich alles um sie herum. All die Mühen, all die Ängste hatten sich doch gelohnt. Zwar würde sie Efeuturm verlassen müssen, aber wenigstens als echte Hexe.

„Juhuuuu!“, jubelte sie.

Esmeralda trat an sie heran. „Auch ich gratuliere dir, Cara“, krächzte die Magistra. „Ich weiß zwar nicht wie du es geschafft hast – jedenfalls nicht mit ehrlichen Mitteln. Da bin ich mir noch immer sicher.“ Bevor Cara protestieren konnte, hob Esmeralda die Hand, um sie zu unterbrechen. „Aber ich wurde meisterlich getäuscht, und allein das ist schon eine beachtliche Leistung.“

„Es betrübt mich, dass Sie so denken“, erwiderte Cara und machte ein beleidigtes Gesicht. Sie hoffte, dass sie überzeugend wirkte.

„Oh, ich mag Rätsel. Und hier habe ich eines, dass zu knacken eine Herausforderung zu sein scheint. Es wird mich sicherlich noch eine Weile beschäftigen. Hast du einen Berufswunsch? Ich habe da gewisse Verbindungen …“

Cara seufzte. Sie hatte sich schon gefragt, wie sie an eine Anstellung kommen sollte. Sie kannte ja niemanden außerhalb von Efeuturm. Da kam ihr das Angebot der Magistra gerade recht. „Jedenfalls keine Heilerin.“ Sie warf einen Blick auf Mepel, der sich schon aufgesetzt hatte und sie dankbar angrinste. „Das ist mir zu stressig!“

Esmeralda nickte. „Ich glaube, ich habe eine Idee. Sprich mich morgen nach der Diplomübergabe an.“

Cara nickte zurück. „Gerne! Danke!“ Sie konnte sich das Angebot ja wenigstens mal anhören. Es war jedenfalls besser als nichts.

„Danke mir, wenn du weißt, was ich für dich im Auge habe.“ Esmeralda lachte leise. „Übrigens, wenn du wissen willst, wo du Punkte verloren hast …“ Sie hob drei Finger in die Höhe. „Erstens: Du hast dir verdammt viel Zeit gelassen. Der arme Herr Mepel hätte fast den Lichtpfad genommen. Zweitens: zuviel Teufelskraut. Drittens: die Petersilie. Wer kommt denn auf die Idee, in den Heiltrank Petersilie hineinzutun? Für den Geschmack!“, äffte sie Cara nach. „Lächerlich! Du hast schließlich genug Teufelskraut hineingetan, um jeden Geschmack zu vernichten.“

Anja Apostel

Der Einhornbräutigam

Es war einmal eine Einhornprinzessin, die liebte Sonnenmann, der sie aber verließ. Aus Rache belegte sie seine Söhne mit einem Einhornfluch, der nur durch die Liebe eines Mädchens gebrochen werden konnte …

„Wemantin, ich habe einen Fisch gefangen!“, rief Orenda.

Eilig zog sie an ihrer Reuse und wollte sie schwungvoll in ihren Einbaum werfen, aber sie war zu schwer.

Wemantin paddelte durch das Treibeis zu ihr.

„Befindet sich in deinem Netz nicht nur ein Fisch, sondern eine Fischfamilie?“, scherzte er.

Gemeinsam holten die Geschwister die Falle langsam aus dem eisigen Wasser. Im Geflecht zappelte es unaufhörlich.

„Unglaublich!“, rief Wemantin. „Du hast eine Patchwork-Fischfamilie gefangen! Lachse, Aale, Barsche, Hechte und Forellen!“

„Wir sind gerettet!“ Orenda umarmte Wemantin. „Wir können uns satt essen und von dem Fischfang auch noch einen Anteil abgeben.“

Sie kniete nieder, streichelte die toten Fische und sagte leise: „Verzeiht mir!“

Verstohlen nahm sie eine weiße Feder mit türkisfarbenen Tupfern aus dem Fischkorb und versteckte sie in ihrem Fellmantel. Gebannt schaute sie auf das winterliche Morgenrot, aus dem sie ein schwarzes und ein blaues Auge inmitten eines jungen weißen Pferdegesichts, auf dessen Stirn ein goldenes Horn prangte, lächelnd ansahen. Die silberne Mähne zierte Federn, die türkis gepunktet waren.

Wemantin schaute zu den anderen Fischern, die auf dem Großen See ihre leeren Netze einholten, und schüttelte verwundert den Kopf.

„Welche Magie benutzt du? Du bist die Einzige, die wieder einen Fang gemacht hat. Auch mein Fischernetz ist leer.“

Orenda zögerte. „Siehst du nicht auch den himmlischen Schutzgeist, den uns Sonnenmann gesandt hat?“

Wemantin blickte verblüfft zum Himmelszelt.

„Nein! Erzähle es dem Schamanen! Vielleicht nimmt er dich in unseren Geheimbund auf.“

„Noch habe ich mit meinem Schutzengel nicht einmal Kontakt aufnehmen können!“, zauderte Orenda. „Komm, lass´ uns die Fische an Land bringen!“

„Mach´ du nur!“, rief Wemantin. „Ich versuche noch einmal mein Glück.“ Er paddelte in die Mitte des Großen Sees zurück.

„Hilf mir!“, piepste eine Stimme. Orenda schaute auf ihren Fischfang. Eine dicke Forelle zappelte noch in ihrem Fangnetz.

„Du lebst!“, rief Orenda.

„Nicht mehr lange, wenn du dich nicht beeilst! Es ist eiskalt! Ich bin der Häuptling aller Fische. Werfe mich ins Wasser zurück!“

„Einverstanden!“, antwortete Orenda und setzte die Forelle wieder in das Leben spendende Wasser.

Vorsichtig steuerte sie ihren schwer beladenen Einbaum entlang der Wasserreisfelder an das Ufer des Großen Sees. Schnell sprach sich ihr prächtiger Fischzug unter den Mitgliedern des Adlerklans herum, die herbeieilten und ihre erfolgreiche Fischerin jubelnd umringten.

Nur Orendas Cousin Askook gebärdete sich als Falschgesicht. „Ich weiß nicht, welchen Trick du benutzt hast!“, zischte Askook ihr ins Ohr. „Pauwau! Hexe! Ich komme noch hinter dein Geheimnis, weißes Mädchen! Eines Tages werde ich die Nachfolge von Großer Bär antreten, dann werde ich dafür sorgen, dass du deinen Rang als Edle verlierst! Du wirst dann mein Stinkard, besser noch, meine Sklavin sein! Schließlich bist du nur ein Bleichgesicht, das Großer Bär geraubt hat, weil Sternenfrau sich eine menschliche Erbin wünschte! Du bist nur angenommen, geduldet und gehörst nicht zu uns!“

Orenda war an seine Niedertracht gewöhnt, denn Askook legte Erdhörnchen, Pfeilgiftfrösche und Christophskraut zwischen die Bärenfelle ihrer Schlafstätte, wenn Tante Hausis nicht aufpasste. Sie knurrte leise und blickte ihn warnend mit ihren grünen Augen an. Langsam zog Askook sein Messer aus seinen Leggins.

„Askook will dir wohl helfen, deine Fische auszunehmen!“, rief Sternenfrau, die aus ihrer Sänfte stieg, herbeieilte und ihrer Ziehtochter liebevoll über den roten Haarzopf strich. „Gut gemacht, Orenda! Sonne, Mond und Sterne sind mit dir!“

Glücklich schaute Orenda sie an, während Großer Bär im Galopp vom Pferd sprang und ihr anerkennend auf die Schultern klopfte.

Als Auszeichnung für ihre Verdienste thronte Orenda am Mittwinterfest zwischen Sternenfrau und Großer Bär. Erstmals nahm sie am Adlertanz teil. Orenda wiegte sich im Rhythmus der Trommeln, bis sie in Trance verfiel. In ihrer Vision sauste sie als langhaariger roter Fuchs neben dem Haupt eines unbekannten Wesens über den Nachthimmel. Es glich dem Gesicht der Pferde, auf denen die Weißen während der Tagundnachtgleiche ins Dorf geritten waren; es ähnelte dem Haupt eines Wapitis, aber es trug kein Geweih, sondern ein goldenes Horn auf der Stirn. Gemeinsam hetzten sie über verschneite Wälder, zugefrorene Seen und mit Eisschollen bedeckte Ströme, ohne eine Spur tierischen Lebens zu erblicken. Zwei Haarschöpfe verwoben im Spiel des Nordwindes – der eine silbern mit Federn verziert, der andere rot und zersaust – zu einem einheitlichen Strang, an dem sich Orenda in ihrer menschlichen Gestalt am Ende des Fluges müde in ihr Langhaus abseilte und erschöpft in ihren Bärenfellen in einen erquickenden Schlaf versank.

Wenige Wochen später brach Orenda mit Wemantin im Morgengrauen eines verschneiten Vollmondtages verspätet auf, um ihre Biberfallen zu überprüfen.

„Wemantin, ich habe einen Biber gefangen!“, rief Orenda. Eilig stapfte sie zur nächsten Falle. „Ich habe wieder einen Biber gefangen!“, staunte sie.

Von dem anderen Flussufer eilte Wemantin über die Biberburg herbei. „Ich habe deine anderen Fallen überprüft. Du hast nicht nur einen, zwei oder drei Biber gefangen, sondern ein Bibervolk. Es sind so viele, dass wir sie nicht alleine enthäuten und verarbeiten können.“

„Wir sind gerettet!“ Orenda packte Wemantins Arm. „Wir können die Felle tauschen, uns satt essen und von den Fleischvorräten auch noch einen Anteil abgeben.“

Wemantin lächelte. „Ich hole Hilfe.“

Orenda kniete nieder, streichelte die toten Biber und sagte leise: „Verzeiht mir!“

„Rette mich!“, brummte eine Stimme.

Orenda schaute sich um. In einer Falle krabbelte noch ein älterer Biber.

„Du lebst!“, rief Orenda.

„Nicht mehr lange, wenn du dich nicht beeilst! Ich kann kaum noch atmen! Ich bin die Mutter aller Biber. Verschone mich!“

„Einverstanden!“, antwortete Orenda, öffnete die Tür und schenkte dem Biber die Freiheit, der eilends im eiskalten Wasser verschwand.

Glücklich nahm sie eine weiße Feder, die mit türkisfarbenen Tupfern verziert war, aus der Falle. Gebannt schaute sie in den wolkigen Schneehimmel, von dem sie kein schwarzes und kein blaues Auge inmitten eines jungen weißen Pferdegesichts, auf dessen Stirn ein goldenes Horn prangte, lächelnd ansahen. Enttäuscht blickte sich Orenda um. In dem Schnee zeichneten sich Hufspuren ab.

„Zeige dich, Schutzengel!“, rief Orenda.

Eine heftige Windböe strich durch die eisige Luft und wirbelte Schneeflocken in Orendas Augen.

„Nur Auserwählten ist es gestattet, mich zu erblicken!“, donnerte eine dunkle Stimme.

Orenda kniete nieder. „Verzeihe mir, guter Geist! Bitte erlaube mir, in deine Augen zu sehen!“

„Stehe auf! Dein Wunsch sei dir gewährt!“, ertönte es.

Vor Orenda stand ein Wesen, das sie mit einem schwarzen und einem blauen Auge inmitten eines jungen weißen Pferdegesichts, auf dessen Stirn ein goldenes Schneckenhaushorn prangte, streng ansah. Der Rumpf war unvollständig. Lediglich die weißen Beine, an denen silberne Hufe glänzten und ein weißer Fleck am Hinterteil, an dem ein silberner Schweif wedelte, waren zu erkennen. Die silberne Mähne zierte weiße und türkis gepunktete Federn.

„Wie heißt du? Woher kommst du? Wer bist du?“, fragte Orenda ungeduldig.

„Du stellst viele Fragen! Alles braucht seine Zeit. Nenne mich Achak!“, antwortete das magische Einhorn.

Orenda liebkoste Achak, sah zärtlich in seine Augen, streichelte sein Mähne und flüsterte „Danke!“ in sein linkes Ohr.

„Orenda, wo bist du?“, rief Wemantin.

Bedauernd schaute Achak Orenda an. „Auf Wiedersehen, Orenda!“, wieherte er, schlug mit dem linken Vorderhuf auf den Schnee, löste sich in Mosaik-Minis auf und verschwand spurlos.

Wemantin eilte mit Sternenfrau, Großer Bär, Askook und Waidmannsheil rufenden Trappern, die Stangenschleifen hinter sich herzogen, auf Orenda zu.

Wemantin schüttelte verwundert den Kopf. „Welche Magie benutzt du? Du bist die Einzige, die wieder einen Fang gemacht hat. Auch meine Fallen sind leer.“

„Mein Schutzengel Achak hat mir geholfen“, erwiderte Orenda.

„Eines Tages kenne ich dein Kimi, dein Geheimnis! Ich werde dafür sorgen, dass dein Zauber dich verlassen und sich mit meinem Schutzgeist vereinen wird! Ich werde unschlagbar sein!“, zischte Askook ihr erneut ins Ohr. Orenda knurrte drohend und blickte warnend in sein braunes Gesicht. Abrupt zog Askook sein Messer und seinen Medizinbeutel aus seinem Fellmantel.

„Askook will dir wohl helfen, deine Biber zu enthäuten!“, rief Sternenfrau, trat zwischen sie und küsste liebevoll die weiße Stirn ihrer Ziehtochter. „Gut gemacht, Orenda! Sonne, Mond und Sterne sind mit dir!“

Glücklich schaute Orenda sie an, während Großer Bär sie anerkennend auf seine Schultern hob.

Während des Ahornfestes thronte Orenda inmitten der Anführer des Adlerklans auf den enthäuteten Biberpelzen. Genüsslich naschte sie mit Ahornsirup bestrichene Fladen und hörte dem Klatsch und Tratsch über Sternenfraus himmlische Verwandte Sonnenmann und Mondfrau sowie dem höllischen Schattengeist zu. Beim rituellen Federtanz wiegte sich Orenda im Rhythmus der Trommeln, bis sie in Trance verfiel. In ihrer Vision lief sie als Wegekuckuck neben Achak, dessen silberner Schweif hin und her tanzte und Sternschnuppen in den Himmel schleuderte. Sie liefen über Prärien, Plains, entlang Pueblos bis hin zu bizarren roten Felsformationen, ohne auch nur ein einziges Tier zu erblicken. Zwei Läufer verwoben im Spiel mit dem roten Sandstaub, den der Ostwind um sie herumwirbelte, aus dem sich Orenda in ihrer menschlichen Gestalt am Ende der Jagd müde löste, in ihren Wigwam wankte und erschöpft in ihren Bärenfellen in einen erquickenden Schlaf versank.

Vor dem Maisaussaatfest nahmen Orenda, Wemantin und Askook ihre Pfeile und ihre Bögen und machten sich mit dem Aufgang der Sonne auf den Weg, um Elche zu jagen. Lange streiften sie vergeblich durch die stellenweise immer noch schneegekrönten Wälder und über gefrorene Wiesen, bis sie auf eine sonnige Lichtung stießen, auf der so viel Wild äste, dass Orenda und Wemantin wie verzaubert regungslos stehen blieben.

„Los! Tötet sie!“, rief Askook ungeduldig.

Er sprang aus seiner Deckung und schoss einen Pfeil nach dem anderen auf die Herde ab. Keiner der Pfeile traf auch nur ein einziges Tier.

„Dummkopf!“, rief Wemantin wütend. „Du verscheuchst sie!“

Die Herde hatte Askook wahrgenommen und wandte sich zur Flucht. Orenda, Wemantin und Askook setzen ihnen nach. Wemantin und Askook blieben hinter Orenda zurück. Plötzlich galoppierte neben ihr ein Einhorn in voller Größe.

„Guten Morgen, Orenda!“

„Achak!“, rief Orenda. „Du bist wunderschön! Dein Gesicht, dein Bauch, deine Beine schimmern so weiß wie Schnee, deine Haare und deine Hufe glänzen so silbern wie der Mond und die Sterne, dein Horn scheint so golden wie die Sonne und dein geschecktes Rückenfell leuchtet wie der Ahornsirup mal dunkel und mal hell. Deine Augen blinken so schwarz und so blau wie der Himmel in der Nacht und am Tage. Woher kommst du?“

Achak blickte Orenda liebevoll an.

„Danke für deine süßen Worte! Meine Familie lebte in dem fernen Schlaraffenland, in dem sie in ihrem Frieden immer wieder gestört wurden. Sie wollten der unermüdlichen Zwietracht zwischen den Weißen entgehen, schwammen über den Großen Teich und siedelten sich im Reich der Sonne, des Mondes und der Sterne an. Schnell! Steige auf meinen Rücken! Wir jagen die Elche!“

Wemantin und Askook, die keuchend aufgeschlossen hatten, waren verblüfft, als sich Orenda in die Luft schwang und blitzschnell davonraste.

Die meisten Elche waren entkommen. Sieben majestätische Tiere jedoch bildeten die Nachhut und wandten sich um, als sie Achak und Orenda im vollen Galopp erblickten.

„Wir sind bereit, der Jungfrau, der Keegsquaw zu helfen!“, brüllten sie. Die Elche stürzten sich auf Achak und attackierten ihn mit ihren Geweihen. Achak wich geschickt aus und Orneda erschoss einen Elch nach dem anderen bis nur noch einer übrig blieb.

„Warte!“, röhrte er. „Lass´ mich ziehen! Ich bin der letzte Enkel des Großvaters aller Elche.“

„Einverstanden!“, antwortete Orenda und ließ den Elch unbehelligt laufen.

„Du hast eine weise Entscheidung getroffen, Orenda!“, beglückwünschte sie Achak. „Wir sehen uns bald wieder.“ Achak verschwand so schnell wie er gekommen war, so dass Orenda wie ein Stein auf den schneebedeckten Waldboden fiel.

„Schwester, ist dir etwas passiert?“, rief der herbeieilende Wemantin.

„Nein!“, erwiderte Orenda mit ruhiger Stimme und steckte sich eine weiße Feder, die mit türkisfarbenen Punkten verziert war, in ihren langen Haarzopf.

Wemantin schüttelte verwundert den Kopf, als er die toten Elche erblickte. „Hat Achak dir geholfen?“

Orenda nickte. „Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft“, gestand sie und umklammerte Wemantins Hand. „Wir sind gerettet! Wir können uns satt essen und von dem Wildbret auch noch einen Anteil abgeben.“ Sie kniete nieder, streichelte die toten Elche und sagte leise: „Verzeiht mir!“

„Du bist wahrlich würdig, unsere Anführerin zu sein“, erklärte Wemantin.

„Welchen Trick hast du angewandt, durch die Luft zu fliegen?“, stichelte Askook, der Wemantin letzte Worte gehört hatte. „Hat Schattengeist dir geholfen? Schließlich wollen wir keiner Anführerin folgen, die mit den bösen Mächten in Verbindung steht!“

Orenda knurrte laut, fauchte, umkreiste Askook und blickte warnend in seine zusammengekniffenen schwarzen Augen.

„Orenda ist kein haben!“, rief Wemantin erbost und griff nach seinem Messer.

„Wahrlich brüderliche Liebe!“, spöttelte Askook und zog gleichfalls sein Messer. „Mal sehen, wer von uns der Stärkere ist!“

„Askook und Wemantin haben wohl den Verstand verloren!“, ertönte es. Sternenfrau trennte die beiden Streithälse mit ihrer Lanze. „Ihr könnt euch morgen früh im Wettkampf miteinander messen. Orenda, wenn ich eines Tages zurück ins Sternenreich gehe, wirst du meine Nachfolgerin sein!“, entschied Sternenfrau und küsste ihrer Ziehtochter respektvoll auf beide Wangen. „Gut, gemacht, Orenda! Es gibt keinen Zweifel, dass Sonne, Mond und Sterne mit dir sind!“

Glücklich schaute Orenda sie an, während Großer Bär sie anerkennend auf sein Pferd hob.

In ihrem Festgewand aus feinstem Elchleder, verziert mit gefärbten Stachelschweinborsten, thronte Orenda während des Maisaussaatfestes neben Sternenfrau in der Sänfte. Nachdem der Schamane Orenda in den Geheimbund der Maisstrohgesichter aufgenommen hatte, wiegte sich Orenda beim Maistanz im Rhythmus der Trommeln, bis sie in Trance verfiel. In ihrer Vision lief sie als geflügeltes Eichhörnchen auf Achaks Rücken, dessen silberner Schweif silberne Herzen in die Luft malte. Ohne eine Spur tierischen Lebens zu entdecken, kletterten sie gemeinsam auf Mesas, Hochplateaus und uralte Mammutbäume, von denen sie der Sonne, dem Mond und den Sternen zuwinkten, bevor sie sich in Windeseile von Baum zu Baum, von Ast zu Ast schwangen, sprangen und herunterkletterten. Zwei Körper verwoben im Spiel des Südwindes mit dem Laub des Waldes, aus dem sich Orenda in ihrer menschlichen Gestalt am Ende der Kletterei müde in ihr Tipi fallen ließ und erschöpft in ihrem Bärenfellen in einen erquickenden Schlaf versank.

Am nächsten Morgen saß Orenda fröstelnd zwischen Sternenfrau und Großer Bär und feuerte mit den Mitgliedern des Adlerklans die Wettkämpfer an, die trotz leichten nächtlichen Schneefalles auf dem feuchten Boden und im kalten Wasser gegeneinander kämpften. Gleichzeitig blickte Orenda immer wieder in den blauen Himmel zu Achak. Ob im Ballspiel, im Schwimmen, im Schießen mit Pfeil und Bogen, im Werfen mit der Lanze, dem Tomahawk und dem Messer – Askook und Wemantin blieben als die besten Wettkämpfer mit der gleichen Punktzahl übrig.

„Wer zwischen Askook und Wemantin im Ringen Sieger bleibt, darf im Rat der Ältesten mitreden“, versprach Großer Bär.

Wemantin und Askook attackierten sich heftig. Es gelang keinem, den anderen zu unterwerfen. Askook verlor die Geduld und begann, Wemantin zu verhöhnen. „Wemantin! Gib auf! Sonst wirst du gleich winselnd vor mir im Schnee liegen!“

„Großmaul!“, konterte Wemantin. Er vollzog einen Ausfallschritt, der Askook täuschte, so dass dieser auf den Bauch fiel. Flink sprang Wemantin auf Askooks Rücken und drückte ihn nieder. Askook konnte sich aus Wemantins Umklammerung nicht mehr befreien.

„Wemantin! Er hat gewonnen!“, rief Orenda.

Großer Bär blickte Sternenfrau an, die ihm zunickte.

„Orenda hat eine schnelle Zunge. Wemantin ist der beste Krieger des Adlerklans!“, verkündete Großer Bär.

Askook war wütend. „Mein Medizinbeutel, in dem sich die Kraft meines Schutzgeistes befindet, ist verschwunden! Kein Wunder, dass ich nicht gewonnen habe! Jemand hat ihn gestohlen, um mich zu schwächen!“

„Askook, irrst du dich auch nicht? Du hast eine schwere Anschuldigung ausgesprochen. Es ist ein unverzeihliches Verbrechen, einem Mitglied des Adlerklans auf diese Weise zu schaden“, fragte Sternenfrau eindringlich.

„Ich wiederhole meine Anschuldigung und verlange von dir, dass du den Auftrag gibst, den Schuldigen zu finden und zu bestrafen, wie es unsere Gesetze vorsehen!“, trotzte Askook.

Sternenfrau seufzte. „Großer Bär, Hausis, geht und durchsucht die Langhäuser!“

Großer Bär und Hausis eilten davon.

„Askook lügt! Er will seine Niederlage nicht akzeptieren“, flüsterte Orenda Sternenfrau zu.

„Askook scheint sich seiner Sache sicher zu sein. Siehe dir sein Lächeln an!“, beunruhigte sich Sternenfrau.

Orenda schaute fragend zu Achak, dessen Miene sich ebenso verdunkelte wie der Himmel.

Großer Bär und Hausis kehrten zurück.

„Sprich, Großer Bär!“, befahl Sternenfrau.

Großer Bär hielt ein Ledersäckchen in der Hand und fragte Askook: „Ist dies dein Medizinbeutel?“

Askook nickte.

„Wo hast du ihn gefunden?“, fragte Sternenfrau.

„Zwischen Wemantins Bärenfellen!“, antwortete Großer Bär.

Sternenfrau erblasste, Orenda schnappte nach Luft. Ein Raunen ging durch die Mitglieder des Adlerklans.

„Ich wusste es!“, schrie Askook. „Wemantin hat mir meine Zauberkraft genommen.“

Wemantin schaute völlig verdattert.

„Wemantin!“, sprach Sternenfrau und sah ihm fest in die Augen. „Hast du Askooks Medizinbeutel gestohlen?“

Wemantin schüttelte den Kopf. „Nein!“

„Er lügt! Pannoowau!“, keifte Askook. „Ich verlange, dass er am Marterpfahl stirbt!“

„Wenn Wemantin sagt, dass er deinen Medizinbeutel nicht gestohlen hat, spricht er die Wahrheit!“, fauchte Orenda.

„Beweise es!“, verhöhnte sie Askook.

Hausis mischte sich ein. „Die Würde meines Sohnes muss wieder hergestellt werden, Sternenfrau! Wie lautet dein Urteil?“

Sternenfrau berührte den gelb leuchtenden Stern auf ihrer Stirn.

Orenda schaute erneut fragend in Achaks zorniges Gesicht und sah, dass sein Schweif Blítze über den Himmel schleuderte.

„Askook ist der Geschädigte und kann zu Recht Bestrafung verlangen“, verkündete Sternenfrau.

Es begann zu regnen.

„Da aber nicht bewiesen ist, dass Wemantin der Täter ist, wird vorerst kein Todesurteil vollstreckt“, sprach Sternenfrau weiter.

„Ich will, dass Wemantin bestraft und mir eine Entschädigung gezahlt wird!“, verlangte Askook.

„Nenne deinen Preis!“, forderte Sternenfrau. „Er sei dir gewährt!“

„Ich möchte zum Nachfolger von Großer Bär ernannt werden!“

Es regnete noch stärker. Donner grollte und Blitze zuckten am Himmel.

„Nein!“, schrie Orenda. „Wemantin steht dieses Erbrecht zu.“

„Zugestanden!“, stimmte Sternenfrau Askook zu. „Höre meine Bedingungen: Ich werde einen Boten an meine Geschwister senden und um folgende Gegenstände bitten: den Gürtel von Sonnenmann, auf dem die Wahrheit geschrieben ist, die Kräuter des Lebens von Mondfrau, für denjenigen, der die Wahrheit gesagt hat und den Trank des Todes von Schattengeist für denjenigen, der gelogen hat.“

Askook nickte grinsend. „Wer ist dein Bote?“

„Orenda! Sie hat drei Tage und drei Nächte Zeit. Kommt sie nicht rechtzeitig wieder, wird Wemantin sterben!“, entschied Sternenfrau. „Bindet Wemantin an den Marterpfahl! Du, Askook, wirst in meinem Wigwam mein Gast sein! Folge Großer Bär!“

Es hörte auf zu regnen. Die dunklen Wolken lösten sich auf und die Sonnenstrahlen tanzten miteinander um die Wette.

Widerwillig begleitete Askook Großer Bär zu Sternenfraus Wigwam, während Orenda wie betäubt dastand. Wemantin ließ den Kopf hängen. „Anna! Mutter! Du hast mir eine unlösbare Aufgabe gestellt!“, sagte Orenda erschrocken.

Sternenfrau lachte. „Orenda, dein himmlischer Verehrer wird dir helfen!“

„Du kennst ihn? Du siehst ihn?“, freute sich Orenda.

„Natürlich! Er wartet vor dem Dorf. Eile dich! Du hast nicht viel Zeit. Grüße meinen Bruder Sonnenmann, meine Schwester Mondfrau und meinen Bruder Schattengeist!“

Orenda umarmte Wemantin. „Ich komme rechtzeitig zurück“, versprach sie und stürmte davon.

Achak tänzelte in seiner ganzen Schönheit ungeduldig am Ufer des Großen Sees auf und ab.

„Achak, wie soll ich Sonnenmann, Mondfrau und Schattengeist finden?“, fragte Orenda atemlos.

„Es gibt ein Loch im Himmelszelt. Wir müssen den eisigen Regenbogen, den du am Ende der Wasserwelt siehst, rechtzeitig erreichen und ihn hinauflaufen, bevor er sich auflöst“, antwortete Achak.

„Unmöglich! Wie sollen wir den glatten Regenbogen hinaufklettern?“, verzweifelte Orenda.

„Auf Schlittschuhen!“, piepste es, brummte es, röhrte es.

Forelle, Biber und Elch, denen Orenda das Leben geschenkt hatte, schwammen an das Ufer des Großen Sees und übergaben ihr und Achak Schlittschuhe und ein Floß aus Baumstämmen, verneigten sich und verschwanden.

„Die Kufen der Schlittschuhe hat die Forelle aus Fischknochen gespendet, der Elch hat das Leder für die Schuhe geliefert und der Biber hat ein Floß aus Baumstämmen gebaut, auf dem wir schneller das Ende der Wasserwelt erreichen“, erklärte ihr Achak.

Orenda und Achak bestiegen das Floß, das sich wie von Geisterhand sofort in Bewegung setzte und schnell wie eine Seeschlange über den Großen See glitt. In Sekunden ließen sie die vertraute Umgebung hinter sich und näherten sich blitzartig dem Ende der Wasserwelt. Kurz vor den tosenden Wasserfällen sprangen Orenda und Achak mit ihren Schlittschuhen auf den Regenbogen und skateten auf den schillernden farbigen Eisbahnen pfeilschnell in Richtung des Himmelsloches.

„Orenda, es wird immer steiler!“, rief Achak, „Halte dich an meinem Schweif fest!“

Orenda hielt sich an Achaks Schweif fest und ließ sich von ihm unaufhaltsam immer höher ziehen. Endlich erreichten sie die höchste Spitze des verblassenden Regenbogens und schlitterten durch das Himmelsloch. Sie standen auf einer durchsichtigen Eisfläche, die für die Erdbewohner nicht sichtbar war. Orenda dagegen konnte deutlich die Spielzeugwelt unter ihren Füßen erblicken.

„Du hast dir Zeit gelassen! Ich habe mir Sorgen gemacht!“, begrüßte Achak ein wunderschönes Mädchen mit gelockten langen weißen Haaren, einem schwarzen und einem blauen Auge. Auf der Stirn trug sie einen silbernen Mond.

„Orenda, darf ich dich mit meiner Cousine Mondkind bekannt machen! Mondkind, dies ist meine Freundin Orenda!“

Beide Mädchen umarmten sich.

„Achak, wieso bist du ein Einhorn und Mondkind hat eine menschliche Gestalt?“, wunderte sich Orenda. „Wer bist du?“

„Deine Frage kann ich dir vielleicht später beantworten“, wich ihr Achak aus. „Mondkind, wir müssen so schnell wie möglich zu Schattengeist, Mondfrau und Sonnenmann, um Wemantin, Orendas Bruder zu retten!“

Mondkind nickte. „Wir müssen beweisen, dass Wemantin unschuldig ist.“

Orenda lächelte Mondkind an.

„Wir müssen schneller sein als alle Winde, um die drei Häuptlinge aufzusuchen und rechtzeitig das Gewünschte in das Land der Großen Seen und Wasserfälle zu Sternenfrau zu bringen. Steigt beide auf meinen Rücken und haltet euch fest!“, befahl Achak.

Achak schlug mit dem rechten Vorderhuf auf das Eis und ehe sich Orenda versah, drehten sie sich gemeinsam wie ein Kreisel um die eigene Achse und wirbelten durch die Luft. In wenigen Himmelsminuten, die jedoch einen Erdentag ausmachten, hielten sie abrupt an. Sie standen am Abgrund eines tiefen Canyons, dessen Gestein wie Kupfer schimmerte.

„Wir müssen tief in die Schlucht des Todescanyons fliegen. Die Schatten werden versuchen, euch von meinem Rücken zu ziehen. Ruft „Nrohnie“, dann werden sie von euch lassen!“, befahl Achak. „Seid ihr bereit?“

Orenda und Mondkind nickten. Achak nahm Anlauf. Über den Abgrund schwebend fuhr er zwei Flügel aus, so dass sie wie ein Adler majestätisch kreisend durch die bizarre Schlucht flogen, die, je tiefer sie nach unten kamen, immer enger und dunkler wurde. Blitzschnell durchbohrte Achaks goldenes Schneckenhaushorn ein kunstvoll gesponnenes Spinnennetz. Die Gefährten steuerten unaufhaltsam auf den geöffneten Rachen einer Riesenklapperschlange zu. Skelette tauchten auf, fassten die Mädchen mit klebrigen Finger an und versuchten sie von Achaks Rücken zu ziehen. „Nrohnie! Nrohnie!“, hallte es von den Wänden. Augenblicklich ließen die Skelette von ihnen ab und Achak landete sicher auf der Zunge der Mundhöhle, deren Giftzähne sich bedrohlich senkten.

„Guten Abend, Onkel!“, wieherte Achak.

„Guten Abend, Neffe!“, ertönte es. Schattengeist trat aus einer grünen Giftwolke, schrecklich anzusehen mit seinem weißen Totenkopfschädel und seinem durchsichtigen Blut durchströmten Körper, in dem das schlagende Herz noch am schönsten anzusehen war.

„Welch´ ein seltsamer Besuch! Was ist euer Begehr?“, raunzte der Häuptling aller Schatten.

Orenda kniete nieder. „Mächtiger Mundoo! Ich überbringe Grüße von eurer Schwester Sternenfrau. Sie bittet euch, mir den Trank des Todes mitzugeben.“

„Was fällt meiner törichten Schwester ein! Der Trank des Todes darf nur einem Familienmitglied ausgehändigt werden!“, schnauzte Schattengeist Orenda an.

„Gib ihn mir!“, schlug Achak vor.

„Nein!“, schüttelte Schattengeist den Kopf. „Du bist nicht die von Sternenfrau gesandte Botin. Wir werden Sonnenmann um Rat fragen.“

„Wir müssen noch einen Abstecher zu Mondfrau machen“, rief Achak. „Wir treffen uns bei Sonnenmann.“

Achak schlug mit dem linken Hinterhuf auf den Zungenboden. Die drei Gefährten wirbelten wie ein Tornado mehrmals um die eigene Achse, bevor die Riesenklapperschlange sie spuckend nach oben aus den Canyon schleuderte. In wenigen Schattenreichminuten, die jedoch eine Erdennacht ausmachten, hielten sie erneut abrupt an. Sie standen am Rande einer Wolkendecke, aus denen in der Ferne die Spitzen der Kuppeln von Mondfraus Iglupalast wie Eiskristalle silbern glänzten.

„Wie schön!“, freute sich Orenda. „Die Wolken laden zum Verweilen ein.“

Achak schüttelte den Kopf. „Die Mondkinder werden versuchen, mit dir zu spielen. Lässt du dich darauf ein, vergisst du, wer du bist und was dein Ziel ist. Rufe „Reblis“! Die Kleinen kennen das Losungswort und werden dich in Ruhe lassen. Wir müssen so schnell wie möglich zu Mondfraus Iglu.“

Orenda nickte. „Wie kommen wir zu ihr?“, fragte sie.

„Lasst uns den Schlitten, der am Rande der Wolkendecke liegt, nehmen!“, schlug Mondkind vor.

Die Mädchen banden Achak vor den Schlitten und los ging die turbulente Fahrt über, unter und durch die Wolkendecke. Die Mondkinder sprangen auf Orendas Schoß, zerrten an ihren Armen und versuchten sie vom Schlitten zu ziehen. Sie bettelten: „Komm´, spiele mit uns!“ Orenda hätte fast nachgegeben. Aber sie dachte an Wemantin, der darauf vertraute, dass sie ihm das Leben rettete. „Reblis! Reblis!“, schrie Orenda. Sogleich verschwanden die Kleinen spurlos. Mondfraus Iglupalast tauchte auf. Achak konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten, so dass sie mitten durch den offenen Eingang fuhren und erst in Mondfraus Speisezimmer zum Stehen kamen. Ihr Erscheinen verursachte einen Aufruhr unter den Gästen, die sich an der Eisbar tummelten.

„Guten Morgen, Tante!“, murmelte Achak verlegen.

„Guten Morgen, Neffe! Mondkind, Tochter, wie schön dich zu sehen! Gegrüßt seist du, Erdenkind! Wollt ihr an meinem Blutmondfest teilnehmen?“, ertönte eine lachende Stimme. Eine Frau mit grauen gelockten langen Haaren, einem roten Mond auf der Stirn und einem schwarzen und einem blauen Auge trat aus dem Kreise ihrer Gäste – eine blendende Erscheinung, deren Kleid über und über mit Eisblumen bestickt war.

Orenda machte einen vollendeten Knicks. „Verzeiht unser Eindringen, holde Mondfrau! Ich überbringe Grüße von eurer Schwester Sternenfrau. Sie bittet euch, mir die Kräuter des Lebens mitzugeben.“

„Ich würde dir gerne helfen, aber es ist unmöglich! Weiß meine Schwester nicht, dass ich die Kräuter des Lebens nur einem Familienmitglied mitgeben kann?“, bedauerte Mondfrau.

Orenda stiegen die Tränen in die Augen.

„Mutter, gib mir die Kräuter des Lebens!“, bat Mondkind. „Ich werde sie meiner Tante bringen.“

Mondfrau schüttelte den Kopf. „Mondkind, du bist nicht die auserwählte Botin.“

„Mondfrau!“, sprach Orenda. „Sternenfrau ist meine Mutter. Sie hat mich als kleines Kind adoptiert. Gehöre ich damit nicht zur Familie?“

„Fragen wir Sonnenmann um Rat!“, schlug Achak vor.

Mondfrau nickte. „Einverstanden!“

„Werden wir rechtzeitig bei ihm sein?“, fragte Mondkind. „Die Reise dauert einen Erdentag und eine Erdennacht.“

„Wir müssen schneller sein als der Blitz“, erwiderte Achak. „Macht Euch bereit!“ Er schlug mit dem rechten Hinterhuf auf das Eis. Ein Ruck ging durch das Iglu, dass sich wie ein Schneeball um die eigene Achse zu drehen begann. Sie flogen an blinkenden Sternen vorbei, bis ihre Schutzhöhle anfing zu schmelzen und sich in Wassertropfen aufzulösen. Bevor sie den Boden unter ihren Füßen verloren, landeten sie unsanft im Heu. Mondfrau, Mondkind, Achak und Orenda rappelten sich benommen, aber unbeschadet auf. Von der Sonne golden angestrahlt, standen sie inmitten einer blühenden Wiese. Büffel, Elche, Karibus und Gabelantilopen ästen friedlich nebeneinander. In den Flüssen tummelten sich Biber, Lachse, Aale, Barsche, Hechte und Forellen. In der Luft ertönte munteres Vogelgezwitscher.

„Kein Wunder, dass im Land der Großen Seen und der Wasserfälle und in meinen Visionen keine Tiere mehr zu finden sind. Sie flohen in dieses Paradies“, erkannte Orenda.

„Wir befinden uns in Sonnenmanns Glücklichen Jagdgründen“, erklärte Achak. „Eluwilussit! Sonnenmann hält sich während der Winterzeit in den heiligen schneebedeckten Bergen auf. Werft vier meiner Federn in die Luft und wir werden wie die Schmetterlinge flattern! Aufgepasst! Sonnenmanns Plagegeister, die Stechmücken, werden euch angreifen. Haltet euch fest an den Händen, egal wie sehr es brennt und juckt! Wir dürfen uns nicht trennen! Um sie abzuwehren, ruft „Liefp!“, wies sie Achak an.

Kaum hatten sie die vier Federn in die Luft geworfen, erhoben sich ihre Körper und sie flatterten in Richtung der heiligen Berge, deren Gipfel mit Zuckerwatte überzogen schienen. Die Stechmücken setzten ihnen so zu, dass Orenda fast Achak, Mondkind und Mondfrau losgelassen hätte. Aber sie dachte an Wemantin, der sich auf ihre Hilfe verließ. „Liefp! Liefp!“, schrie sie so laut sie konnte. Augenblicklich ließen die Stechmücken von ihnen ab und sie landeten vor einem unscheinbaren Tipi auf einem Hochplateau, von dem sich ihnen ein atemberaubender Blick in alle Himmelsrichtungen bot.

„Guten Abend, Häuptling! Annawan!“, wieherte Achak.

„Guten Abend, Achak!“, erwiderte Sonnenmann. Umgeben von einer Eisbärenfamilie erhob sich würdevoll ein rundlicher Krieger mit ergrautem Haupt, das mit einer Adlerfeder geschmückt war. Obwohl sein schwarzes und blaues Auge Orenda durchdringend anblickten, erwärmte sein Lächeln Orendas Herz ebenso wie die leuchtende goldene Sonne auf seiner Stirn.

„Erst hast du meinen Geburtstag verpasst! Jetzt störst du mich in meiner Meditation! Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen? Wo hast du dich wieder herumgetrieben?“, wollte Sonnenmann von Achak wissen.

„Bitte, Großer Chief, gebt Achak nicht die Schuld!“, verbeugte sich Orenda. „Er hat sich meinetwegen verspätet. Ich überbringe Grüße von eurer Schwester Sternenfrau. Sie bittet euch, mir den Gürtel, auf dem die Wahrheit geschrieben steht, mitzugeben.“

„Den Gürtel kann ich nur Mitgliedern meiner Familie anvertrauen“, bedauerte Sonnenmann.

„Genauso wie die Kräuter des Lebens!“, ergänzte Mondfrau.

„Genauso wie den Trank des Todes!“, erklärte Schattengeist, der sich aus dem Nichts zu ihnen gesellte.

„Wemantin wird sterben, wenn ihr, Sonnenmann, nicht einen Ausweg wißt!“, verzweifelte Orenda.

„Annanwan, reicht es nicht aus, dass Orenda Sternenfraus Adoptivtochter ist?“, wollte Achak wissen.

Sonnenmann schüttelte den Kopf. „Es bedarf noch engerer Bande. Orenda bist du bereit, meinen tapfersten Krieger, meinen Sohn als deinen Gefährten zu wählen?“

Orenda erschrak. „Sonnenmann, ich kenne euren Sohn nicht! Wenn ich frei wählen könnte, würde ich Achak wählen! Er ist für mich die Sonne meines Herzens, das edelste und tapferste Einhorn, das ich kenne, und ich möchte für immer an seiner Seite bleiben. Bitte findet einen Weg, um Wemantin zu helfen, ohne dass ich Achak verliere!“, flehte Orenda.

Blitz und Donner zuckten und grollten über die heiligen Berge. Achak begann, sich vor Orendas Augen in Konfetti aufzulösen

„Achak!“, schrie Orenda. „Bleibe bei mir!“

Vergeblich! Achak umgaben rote Nebelschwaden, von denen er komplett eingehüllt wurde. Das letzte, was Orenda von ihm sah, waren seine Augen.

„Achak!“, schluchzte Orenda. „Komme zurück!“

Mondkind legte einen Arm um Orenda.

„Weine nicht!“, flüsterte sie: „Warte und siehe, was passiert!“

Orenda wischte die Tränen aus ihren Augen. Die roten Nebelschleier begannen, sich aufzulösen. Es zeichnete sich die Silhouette eines Kriegers mit langen silbernen Haaren, geschmückt mit zahlreichen weißen und türkisfarbenen Federn, und einem jungen Gesicht mit einem schwarzen und einem blauen Auge und einer goldenen Sonne auf der Stirn ab. Er lächelte Orenda an, eilte auf sie zu, kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand.

Orenda riss verblüfft die Augen auf.

„Wer bist du? Wo ist Achak? Was ist passiert?“

„Mein Name ist Silberpfeil. Ich bin der jüngste Sohn von Sonnenmann. Es ist das Schicksal der Söhne der Sonne, als Männer in Einhörner verwandelt zu werden. Nur die Liebe eines irdischen Mädchens kann uns erlösen, so dass wir sowohl unsere menschliche als auch unsere tierische Gestalt annehmen können. Orenda, du hast mein Herz gewonnen! Willst du bei mir bleiben für immer und ewig?“

Orenda fiel Silberpfeil um den Hals. „Natürlich will ich!“

Sonnenmann räusperte sich. „Nun da du noch enger zur Familie gehörst, erhältst du von mir den Gürtel der Wahrheit, von Mondfrau die Kräuter des Lebens und von Schattengeist den Trank des Todes. Bringe diese Gaben zu Sternenfrau! Silberpfeil und Mondkind werden dich begleiten und ...“

„Ich werde euer unsichtbarer Gefährte sein, um den, der ein böses Herz hat, in mein Reich zu holen“, unterbrach ihn Schattengeist.

„Howgh!“, bekräftigte Sonnenmann.

Ehrfürchtig nahm Orenda den Gürtel der Wahrheit, ein mit Wasser und den Kräutern des Lebens gefülltes Trinkhorn, hergestellt aus dem Horn eines Einhorns, und eine Kürbisflasche mit dem Trank des Todes entgegen.

„Als Belohnung, dass du Achak als Einhornbräutigam gewählt hast, hast du einen Wunsch frei, Tochter“, lächelte Sonnenmann

„Vater, Noshi, was sagt der Gürtel der Wahrheit über meine Herkunft aus?“, fragte Orenda. „Hat mich Großer Bär meinen Eltern geraubt?“

„Nein!“, Sonnenmann schüttelte den Kopf. „Großer Bär war auf der Bärenjagd, als er auf eine Wagenburg der Weißen stieß, die überfallen worden war. Niemand hatte überlebt. Nur du! Er hat dich zu Sternenfrau gebracht und beide haben dich als ihr Mukki und damit als ihre Tochter, angenommen.“

Orenda atmete erleichtert auf. „Danke!“, flüsterte sie.

„Ihr habt nicht mehr viel Zeit – nur noch eine Erdennacht!“, drängelte Mondfrau. „Ihr müsst so schnell wie möglich auf die unsichtbare eisige Himmelsdecke zurück.“

„Meine Sonnenstrahlen werden euch befördern!“, entschied Sonnenmann.