Auf Nacht folgt Tag - Tessa Millard - E-Book

Auf Nacht folgt Tag E-Book

Tessa Millard

4,8

Beschreibung

"Wir werden dir helfen", sagt die junge Frau zu ihren Füßen. "Helfen wobei?" Schlaftrunken richtet Edwina sich auf und erkennt augenblicklich die nur allzu bekannten Gesichter. Sie atmet tief ein, um nicht die Fassung zu verlieren. Keinen Fuß wollte sie mehr in dieses Haus setzen. Was ist aus diesem Plan geworden? Edwina entspricht zu einhundert Prozent dem typischen Bild eines Teenagers nach dem Schulabschluss: furchtbar unzufrieden, absolut orientierungslos und vollkommen davon überzeugt, dass jeder Ort der Welt besser ist als das verschlafene Städtchen, in dem sie lebt. Doch als eine neue Familie in die Stadt zieht, die seltsam anders zu sein scheint, und sie sich mit den neuen Mädchen anfreundet, wittert sie ihre große Chance auf einen perfekten letzten Sommer in Scherinburg. Doch es ist keineswegs Zufall, dass die neuen Freundinnen gerade jetzt in der Stadt auftauchen: Edwina ist ihre letzte Hoffnung.

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil 2

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil 3

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

TEIL 1

Kapitel 1

„Was wirst du jetzt tun?“ Er sieht Edwina erwartungsvoll an und bemerkt ihren Moment der Unsicherheit. Nur kurz ist das winzige Zucken in ihrem Augenwinkel zu sehen und es wäre ihm durch das Leuchten ihrer grünen Augen und den hellen Schimmer des Sonnenlichts auf ihrer Haut fast entgangen.

Die Folie, in welche das Sofa, auf dem sie sitzen, noch immer gehüllt ist, knistert und raschelt, als sie unruhig darauf hin und her rutscht. Das Sonnenlicht fällt durch die großen Fenster in den kargen Raum hinein. Weiße Wände, heller Laminatboden, spärliche Möblierung. Es wird noch eine Weile dauern, ehe er sich vollkommen eingerichtet hat. Allein ein Koffer mit Kleidung und eine Kiste mit Geschirr stehen auf dem Boden herum und warten geduldig darauf, ausgepackt zu werden.

„Ich werde bei meiner Tante arbeiten“, antwortet sie und verdreht ihre Augen, die ihm so gut gefallen.

„Echt? Das ist doch gut.“ Wenigstens hat sie eine Stelle gefunden.

„Ich hätte mir schon etwas Zukunftsweisenderes gewünscht“, sagt sie und nestelt an ihrem Armband.

„Wie lang wirst du noch hier bleiben?“ Er weiß, dass sie nicht bleiben wird. Sie wird ihr Leben nicht in diesem öden, verschlafenen Städtchen verbringen. Vielleicht würde sie ihm zuliebe bleiben, aber das ist nicht, was er will.

„Bis das Semester anfängt.“

Es ist die Erleichterung, die ihm ein kleines Lächeln über die Lippen huschen lässt. Bis das Semester anfängt. Den ganzen Sommer. Sie wird den ganzen Sommer über in Scherinburg bleiben.

„Und hast du schon eine Ahnung, wo die Reise hingehen soll?“

Allein ihr kritischer Blick trifft ihn. Wenn er sie nicht bereits vor zwei Tagen danach gefragt hätte, würde sie ihm antworten. Natürlich weiß sie es nicht. Wie auch? Sie weiß ja nicht einmal, was sie will. Und ohne Ziel einfach in die Welt hinauszuziehen, scheint selbst ihr zu kopflos.

„Ich finde, wir sollten unseren letzten gemeinsamen Sommer richtig genießen. Was schlägst du vor?“, fragt sie ihn.

Sie sieht ihm ins Gesicht und bemerkt den starren Ausdruck in seinen dunklen Augen. Es ist ihr letzter Sommer.

„Lass uns zu Steffis Party gehen“, sagt er ganz direkt und sieht ihr tief in ihre smaragdgrünen Augen. Zu gern möchte er sich in ihnen verlieren.

„Was?“ Entsetzt rückt sie ein Stück von ihm ab und zieht die Augenbrauen hoch, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Lass uns zu Steffis Party gehen“, wiederholt er und sein verschmitztes Grinsen wird von Sekunde zu Sekunde breiter. Es ist niedlich, wie sie immer wieder versucht, ihm etwas auszuschlagen und schlussendlich niemals dagegen ankommt.

„Meinst du das ernst? Ich meine, hast du in den letzten Monaten geschlafen oder hast du Drogen genommen oder was ist mit dir los? Hallo? Erde an Jeremy?“, lacht sie und wedelt ihm mit der flachen Hand vor den Augen herum, als will sie ihn aus einem Tagtraum wecken. Doch so recht empören kann sie sich nicht über ihn. Den Magen dreht es ihr allerdings wirklich herum, wenn sie an diese Schlange von Freundin denkt.

„Was kann ich denn jetzt dafür, wenn du nicht da warst? Ist doch nicht meine Schuld, wenn du nicht aufpasst!“

Wir stehen mitten auf dem Hauptkorridor der Schule. Direkt vor der Cafeteria. Steffi schreit herum, als ginge es um ihr Leben.

„Kannst du vielleicht etwas leiser sprechen? Muss ja nicht jeder mitkriegen.“

„Ist mir doch egal. Wenn du nicht so ein Streber wärst, wäre das ja auch gar nicht passiert. Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann bitte dir selbst.“

Steffi dreht sich um und stolziert davon. Sich selbst die Schuld geben. Die hat sie ja nicht alle! Eine schöne beste Freundin ist das, wenn sie gleich mit meinem Freund in die Kiste hüpft, sobald ich mal drei Tage nicht in der Stadt bin. Das darf doch alles nicht wahr sein.

„Das solltest du dir vielleicht anschauen.“

Es ist Jeremy, der mir die neueste Ausgabe der Schülerzeitung vor die Nase hält. Das sind seine ersten Worte seit Monaten. Ich bin so überrascht und so erleichtert, dass er mit mir spricht, dass ich den Artikel in seiner Hand gar nicht beachte.

„Was ist das?“, stammle ich schließlich und erkenne es im selben Moment. Ich habe es tatsächlich auf die Klatschseite geschafft?

„Ich denke, das reicht aus für einen Schulverweis.“

Schulverweis? Was zum Teufel? Ich reiße ihm das Blatt aus der Hand. Schulausflug. Übernachtung. Gemeinschaftsbad. Herr Lewinski. Das kann nicht sein. Ich habe ihr das im Vertrauen erzählt. Von Freundin zu Freundin. Das war doch nur eine lustige Geschichte wie jede andere auch. Woher sollte ich denn wissen, dass auch die Lehrer unsere Badezimmer mitbenutzten? Es hieß, sie hätten eigene Badezimmer auf ihren Zimmern. Und dann hatte er nicht mal abgeschlossen. Als wäre das Absicht gewesen. Meine Güte. Ich muss sofort mit Herrn Lewinski sprechen. Der arme Mann. Das wird ihn seinen Job kosten.

Ich erkenne Steffi im Gewühl vor der Essensausgabe. Das Blut kocht in meinen Adern. Alles was ich noch höre ist das Rauschen in meinen Ohren. Mein Herz trommelt heftig gegen meine Brust. Erst als ich schon vor ihr stehe und gerade gegen ihr Tablett mit der heißen Suppe schlagen will, merke ich, wie mich jemand zurückhält und aus der Cafeteria führt.

„Jetzt beruhige dich erst mal wieder. Das bringt doch nichts.“

Jeremy legt mir freundschaftlich den Arm um die Schultern und hält mich so davon ab, umzukehren. Wie kann man nur so verlogen sein?

„Danke“, murmele ich und ertrinke in meiner eigenen Scham. Nicht auszudenken, dass ich fast meinen besten Freund wegen ihr verloren hätte. Einen so heftigen Streit hatten wir noch nie. Und das nur wegen eines bescheuerten Typen, von dem ich dachte, dass er der absolute Traummann ist und dieser sogenannten Freundin.

„Nicht der Rede wert.“

„Ach komm, du kannst ihr nicht für immer aus dem Weg gehen und es wird ihr den Abend verderben, wenn du nur einen Fuß in diesen Club setzt.“

Sie überlegt einen kurzen Moment und will ihm gerade widersprechen, als er mit heroischer Stimme und ausschweifender Handbewegung hinzufügt: „Willst du dich etwa von ihr vertreiben lassen? Willst du für immer, bis ans Ende deiner Tage, vor ihr davonlaufen, Edwina Lautermann?“

Sie muss unwillkürlich lachen. Wie schafft er das nur immer? Und er hat Recht. Sie sollte sich von diesem Biest nicht das Leben schwer machen lassen. Schon viel zu lange ist es her, dass sie etwas getan hat, was man in ihrem Alter eben tut.

Sie legt ihre Hände auf seine Schultern und sagt mit ernster Stimme: „Du bist der Beste!“ Und sie fragt sich im selben Moment, wie seine Augen nur so unfassbar dunkel sein können.

Ruhe. Als wäre mein Kopf vollkommen leer. Als würde sich kein einziger Gedanke, keine noch so kleine Sorge darin herumtreiben. Wie der leichter Sommerwind, der alles in so weite Ferne geraten lässt. Als wäre ich vollkommen bei mir. Als wäre mein Verstand so klar wie die Luft nach einem Regenschauer. Völlige Ruhe. Nur das rhythmische Geräusch meines Herzschlags.

Jeremys Herz schlägt höher, als er das zarte Lächeln auf ihren Lippen sieht. Die Berührung ihrer warmen Hände auf seiner Haut tut ihm gut und er will gerade seine Augen schließen, als sie plötzlich von ihm abrückt, aufsteht und ihre Tasche von der Fensterbank nimmt.

„Ich muss jetzt los. Sonst komme ich noch zu spät und du weißt ja, wie Geraldine es mit der Pünktlichkeit hält.“ Das ist die einzige nervige Angewohnheit ihrer Tante. Kein Problem wenn es unordentlich ist oder Edwina eine schlechte Note bekommen hat oder wenn sie einen Zuschuss zum Taschengeld braucht. Aber Schande über sie, wenn sie die Zeit vergisst, wenn sie zur verabredeten Zeit nicht am richtigen Ort ist.

Jeremy erhebt sich schwerfällig vom Sofa, noch immer gefangen in diesem schönen Tagtraum.

„Soll ich dich fahren?“

Edwina stürzt auf ihn zu, gönnt ihm den kurzen Moment einer freundschaftlichen Umarmung und sagt: „Ach, Quatsch. Ich nehme den Bus. Tut mir leid, dass ich weg muss.“ Sie deutet auf die verpackten Möbel und die Kartons.

„Kein Problem“, antwortet er. „Aber was ist jetzt mit der Party?“

„Kannst du mich um 10 abholen?“, ruft sie beim Schließen der Wohnungstür mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht. Natürlich holt er sie ab. Ein bisschen wie ein großer Bruder, der immer auf sie aufpasst.

Edwina hüpft beschwingt das Treppenhaus hinunter. Wieso ist Jeremy eigentlich der einzige Mensch in ihrem Leben, mit dem sie ihre Gefühle und ihre Ängste teilen kann? Sicher, sie kennen sich seit dem Kindergarten, weil sich ihre Eltern vom ersten Tag an gut verstanden haben. Vielleicht ist es wirklich diese lange Zeit, die sie zusammenschweißt. Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie während ihrer gesamten Schulzeit immer unter sich geblieben sind. Viele haben sie belächelt. Oft hat man sie überreden wollen, doch auch mal nur mit Mädels auszugehen. Wozu?, hat sie sich stets gefragt. Jeremy ist ihr bester Freund. Und selbst wenn er eine beste Freundin vielleicht nicht ersetzen kann, ist er doch alles was sie braucht. Er tratscht wenigstens nichts weiter oder betrügt sie wie gewisse andere Menschen. Es läuft ihr schon wieder kalt den Rücken hinunter, wenn sie an den bevorstehenden Abend denkt. Mit einem Kopfschütteln verscheucht sie den Gedanken, während sie in den Bus einsteigt. Sie nimmt auf einem der vielen freien Sitze Platz. Edwina schaut aus dem Fenster auf die leergefegten Straßen von Scherinburg. Wie kann ein Ort nur so öde sein? Auch wenn Jeremy, und sie kann es verstehen, es sehr begrüßt, dass sie den Sommer über noch bei ihrer Tante wohnen wird, sie selbst wäre lieber woanders. An einem aufregenden Ort mit neuen Leuten, die sie nicht nach dem beurteilen, was andere über sie sagen. Es ergibt keinen Sinn in dieser Stadt zu bleiben. Wohin auch immer die Reise gehen wird, sie hofft inständig, dass es einen besseren Ort gibt als diesen. Dass es einen Ort gibt, der besser zu ihr passt. Allein Jeremy tut ihr leid, aber auch er ist kein kleiner Junge mehr. Es ist nicht mehr wie früher, als sie ihn vor den Rottweilern der Nachbarn retten musste oder ihm half, von seinem Baumhaus herunter zu kommen. Nein, Jeremy ist erwachsen genau wie sie und kommt auch ohne sie zurecht. Zumindest hofft sie das und erwischt sich dabei wie ihr ein kleines Lächeln über das runde Gesicht tanzte. Wie hilflos er in dieser Eiche gehangen hatte. Keine Bewegung wollte er mehr machen, aus Angst herunterzufallen. Sie war hinaufgeklettert, hatte ihm ihre Hand gegeben und gezeigt wohin er seine Füße bewegen sollte, um den besten Halt zu finden. Von diesem Tag an hatte er immer behauptet, Bäume würden ihm Angst machen.

Sie steigt an der nächsten Haltestelle aus, schlendert ein paar Straßen entlang und erreicht schließlich zur verabredeten Zeit den Bioladen ihrer Tante. Geraldine ist gerade dabei die Körbe vor dem Laden mit frischem Obst und Gemüse zu befüllen. Wenn ihre Mutter das doch nur sehen könnte. Stets behauptet sie felsenfest, dass Geraldine es niemals schaffen würde einen Laden zu führen, geschweige denn davon zu leben. Inzwischen genießt Geraldines Lädchen jedoch großes Ansehen im Ort. Sie holt ihre Produkte schließlich aus der Region. Nicht wie die Supermarktketten.

„Hallo, Tantchen.“ Sie klopft Geraldine freundschaftlich auf die Schulter.

„Hallo“, begrüßt sie diese und schaut prüfend auf ihre Armbanduhr. „Du kannst dich mit Amalia bekannt machen. Sie ist drinnen und räumt irgendwelche Regale um.“ Geraldine muss ein wenig schmunzeln. Jetzt lässt sie sich von den Aushilfen schon sagen, wie die Regale am besten sortiert werden.

„Ich sehe mal nach.“ Edwina betritt den gerade einmal sechzehn Quadratmeter großen Laden und ist augenblicklich geblendet von der Ordnung und Sauberkeit.

„Ich habe mal ein bisschen aufgeräumt“, sagt die junge Frau und kommt zwischen den Auslagen hervor. „Ich bin Amalia.“

Erst im vollen Licht, das durch die Schaufensterscheiben dringt, offenbart sich ihre ganze Schönheit und Edwina ist sich nicht sicher, ob sie jemals einen schöneren Menschen gesehen hat. Ihr karamellfarbenes Haar reicht knapp bis zu ihren Schultern und betont in wundervoller Weise ihr schmales Gesicht mit den stechend grünen Augen. Die ebenmäßige, blasse Haut wirkt so zart und weich, dass es ein bezaubernd schönes Gefühl sein muss, sie zu berühren. Und der frische Duft nach Wildblumen und Sommerregen ihres Parfums erfüllt Edwina sofort mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Ausgeglichenheit.

„Ja, das Aufräumen war auch dringend nötig. Auf mich hört sie ja nicht“, lacht Edwina. „Kann ich dir noch irgendwie zur Hand gehen?“

„Wenn du magst, können wir uns noch das Lager vornehmen“, schlägt Amalia vor und entblößt mit ihrem Lächeln ihre perfekt weißen Zähne.

„Das Lager. Ja, da muss auch dringend aufgeräumt werden. Manchmal frage ich mich, wie sie hier überhaupt noch etwas findet.“

„Na, ihr zwei? Habt ihr was zu tun?“, fragt Geraldine als sie den leeren Obstkorb hinter der Tür abstellt.

„Ist das ein Scherz? Wir sind gerade dabei dein ganzes Chaos aufzuräumen.“

Ein schallendes Lachen dringt aus Geraldines rot bemalten Mund, während sie ihren typischen Haarhut, wenn man dieses eigenartig auftoupierte Vogelnest so nennen kann, zurecht zupft. „Ihr seid ja hoch motiviert. Ich will euch auch gar nicht weiter von der Arbeit abhalten, aber ihr könnt auch ruhig einen Kaffee trinken gehen, wenn ihr wollt. Macht euch nur keinen Stress.“

„Ich denke wir räumen erst mal das Lager auf. Dazu brauchen wir bestimmt noch ein paar Tage.“ Edwina zwinkert ihrer Tante zu und geht mit Amalia zusammen nach hinten.

„Wo kommst du her?“, fragt sie Amalia, als diese dabei ist, die leer geräumten Regale auszuwischen. Es ist beeindruckend mit welcher Eleganz sie selbst diese völlig banale Tätigkeit ausführt.

„Meine Schwestern und ich sind aus Schweden hergezogen. Wir haben die alte Villa im Südviertel gemietet.“

Natürlich ist die Villa jedem ein Begriff. Spätestens nachdem sie monatelang das Stadtgespräch Nummer eins war, als es hieß, es würde dort spuken. Edwina fallen jedoch noch viele andere Gründe ein, dieses Haus als Wohnort auszuschlagen. Es gibt beispielsweise keinen Strom- oder Wasseranschluss. Außerdem ist die Anbindung schlecht. Aber das muss wohl jeder selbst wissen.

„Was ist mit deinen Eltern?“ Edwina öffnet einen schwarzen Filzstift und beschriftet die Kisten und Regale.

„Meine Eltern sind früh gestorben. Seitdem kümmert sich unsere älteste Schwester Leopolda um alles. Aber was ist mit dir? Geraldine sagte, dass du bei ihr wohnst. Ist sie deine Mutter?“

„Meine Tante. Meine Eltern wohnen außerhalb der Stadt. Das war wegen der Schule immer etwas unpraktisch.“ Eine glatte Lüge, aber Edwina hat sich so sehr an diese Ausrede gewöhnt, dass es ihr kaum noch auffällt.

„Wirklich? Ein etwas merkwürdiger Grund, oder?“

Amalia wirkt misstrauisch. Sie fixiert Edwina mit ihrem starren Blick, bis diese achselzuckend sagt: „Ja, etwas seltsam, aber so ist es eben.“

Amalia nickt entschlossen und räumt dann weiter ihren Teil der Regale ein. Sie hat ein eigenartiges Gefühl. Nichts Negatives, nur so ein Bauchgefühl. Eine Art Anspannung.

„Kannst du das kurz für mich halten?“, fragt sie schließlich und wirft Edwina eine Packung Reis hinüber noch bevor diese sich überhaupt zu ihr umgedreht hat.

Edwina ist überrascht, fängt die Packung jedoch ohne Probleme und fragt: „Was ist denn damit?“

„Ich wollte nur deine Reaktion testen“, lacht Amalia und kommt herüber, um sich das Päckchen wiederzuholen. „Nicht schlecht gefangen.“

Auch Edwina muss lachen und verfrachtet kopfschüttelnd den letzten Karton in das erste aufgeräumte Regal. Bereits halb sechs ist es inzwischen. Die beiden Frauen machen sich auf den Weg nach vorn, um nachzusehen, ob sie Geraldine noch helfen können.

„Hast du heute Abend etwas vor, Edwina?“, fragt diese, während sie das Geld in der Kasse zählt.

„Ich gehe mit Jeremy zu Steffis Party, warum?“

„Ich dachte, du könntest Amalia vielleicht ein bisschen die Stadt zeigen. Aber möglicherweise kann sie ja auch mit zu der Party gehen“, schlägt Geraldine vor und Edwina weiß genau, worauf sie hinaus will. Mit Sicherheit ist sie auch zu einem Teil daran interessiert, ihrem neuen Schützling die Ankunft hier in Scherinburg zu erleichtern, aber viel mehr zielt sie darauf ab, dass ihre Nichte dann doch endlich mal eine beste Freundin findet. Eine, mit der man auch mal über Frauenkram reden kann. Mal jemand anderen als Jeremy.

„Ja, wieso eigentlich nicht. Das wird bestimmt lustig“, willigt Edwina ein und versucht sich nichts anmerken zu lassen.

„Das wäre großartig. Wir waren noch nie aus, seit wir hier wohnen. Ist es in Ordnung, wenn ich meine Schwestern mitbringe?“ Amalia ist ganz aus dem Häuschen und wippt nervös auf und ab.

„Klar, aber erwartet lieber nicht zu viel. Es ist nur eine kleine Feier in einem alten, modrigen Keller.“

Hastig kritzelt sie die Adresse auf einen kleinen Notizzettel. Sie verabreden sich für halb elf direkt vor dem Club.

Kapitel 2

Es klingelt an der Wohnungstür als Edwina gerade mit einem umgebundenen Handtuch aus dem Badezimmer stolpert.

„Kannst du aufmachen? Es ist bestimmt Jeremy“, ruft sie Geraldine zu, die die letzten Reste des Abendessens beseitigt und verschwindet in ihrem Zimmer. Das jadegrüne Cocktailkleid liegt schon auf dem Bett bereit. Es ist Ewigkeiten her, dass sie es getragen hat. Wenn sie so darüber nachdenkt, kann sie sich kaum noch erinnern, wann das war. Sie schlüpft hinein und kriecht in die dunkelgrünen Ballerinas, die ebenfalls schon lange im Schrank vor sich hingammeln. Es klopft an der Zimmertür.

„Kann ich reinkommen?“, fragt Jeremy durch den winzigen Türspalt.

„Klar.“ Sie zieht den Reißverschluss zu und verstaut ihre Schlüssel in der kleinen Handtasche.

„Das hattest du ja ewig nicht an“, stellt Jeremy fest und mustert sie von oben bis unten.

„Ja, das habe ich auch gedacht.“ Erstaunlich, dass er sich in ihrem Kleiderschrank so gut auskennt.

„Hast du schon was gegessen oder wollen wir noch irgendwo anhalten?“

„Ich habe schon gegessen. Aber im Kühlschrank steht noch ein Rest Lasagne.“ Edwina sieht Jeremy an der Nasenspitze an, dass er jeden Moment umfällt vor Hunger. Und da Lasagne sein Leibgericht ist, kann er dieses Angebot wohl kaum ausschlagen.

„Aber die kann ich nicht hier essen. Geraldine quatscht mich immer so zu, dass ich gar nicht zum Essen komme“, lacht er. „Vielleicht kannst du fahren, damit ich im Auto essen kann?“

Edwina nickt ihm lächelnd zu. Sie gehen zusammen in die Küche, wo Edwina die Schüssel aus dem Kühlschrank nimmt. Geraldine ist zum Glück gerade im Badezimmer, sodass sie die beiden nicht überreden kann zu bleiben, bis Jeremy alles verspeist hat. Die Lasagne brodelt kurz in der Mikrowelle, solange Edwina sich verabschiedet und Jeremy beobachtet ganz genau jede Umdrehung der Schüssel im Heizgerät.

„Warum hast du denn nicht zu Hause gegessen?“, fragt sie ihn auf dem Weg nach unten. Er hat sich bereits drei Happen in den Mund geschoben, seitdem sie die Wohnung im Dachgeschoss verlassen haben.

„War bisschen stressig.“

Das sagt er immer, wenn seine Eltern sich gestritten haben. Seit Jahren schon ist ihre Beziehung nicht mehr das, was sie eigentlich sein sollte. Durch die vielen Nachtschichten von Jeremys Vater und den Dickschädel seiner Mutter wird es allerdings nicht besser. Edwina weiß, dass Jeremy ihnen mehrfach gesagt hat, sie sollten sich doch endlich trennen. Doch sie wollen nicht, weil sie ihm zuliebe versuchen, eine heile Familie zu sein. Nicht gerade das, was Jeremy sich wünscht.

Edwina weiß nicht mehr, was sie dazu noch sagen soll. Sie will nicht immer wiederholen, dass es ihr leid tut. Natürlich tut es ihr leid. Sie weiß ja selbst wie es ist, eine verkorkste Familie zu haben. Sie wünscht es niemandem.

Jeremy wirft ihr die Autoschlüssel zu, als sie am Wagen ankommen. Es ist eine einzige Schrottlaube. Überall ein bisschen Rost. Eine Lampe ist auch etwas altersschwach. Die Scheibenwischer funktionieren nur, wenn sie es wollen. Keine elektrischen Fensterheber. Aber es fährt und bisher konnten sie sich immer darauf verlassen. Trotzdem ist Edwina immer etwas mulmig, wenn sie fahren muss. Eine Panne würde sie sich gern ersparen.

„Du kannst am Marktplatz parken. Dann laufen wir das Stückchen bis zum Club.“ Es ist keineswegs die Angst um sein Auto, sondern viel mehr die Scham und das Gelächter, das er ihnen ersparen möchte. Die wenigsten ihrer Mitschüler sind so auf dem Boden geblieben wie sie und geben sich mit einem alten Auto zufrieden, das sie von ihrem Großvater geschenkt bekommen haben. Wenn es keinen Markennamen trägt, ist es kein Auto.

Edwina fährt über die Hauptstraße, welche im Ort eine weitläufige Schleife um den Stadtkern bildet. Nur wenige Autos kreuzen ihren Weg. Kein Wunder. Es ist Donnerstagabend. Jeremy verschlingt neben ihr die Lasagne, als hätte er wochenlang nichts gegessen.

Ein tiefschwarzer, auf Hochglanz polierter Wagen überholt sie hupend direkt auf einer Kreuzung. Sie erkennen im letzten Moment das hämische Grinsen auf dem Gesicht des Fahrers.

„Was will der denn hier?“ Edwina beobachtet den Wagen bis er mit ungeheurer Geschwindigkeit um eine Kurve schlittert.

„Ich dachte, der wäre schon weg.“ Jeremy bereut es fast, Edwina überredet zu haben, mit ihm auf die Party zu gehen. Wenn er gewusst hätte, dass Paul auch kommt, hätte er es ihr niemals vorgeschlagen. „Wir können umkehren, wenn du willst.“

„Nein, ich habe der neuen Aushilfe meiner Tante versprochen, dass ich sie mitnehme. Ich kann sie jetzt nicht sitzen lassen.“ Sie blinkt und biegt auf die Marktstraße ein.

„Wie du meinst.“ Er mustert sie gründlich.

„Irgendwann musste der Tag ja kommen.“ Edwina zuckt die Schultern, nachdem sie eingeparkt und den Schlüssel abgezogen hat.

Jeremy nickt gedankenverloren und versucht dann, seine Tür zu öffnen. Er hat ganz vergessen, dass sie klemmt. Inzwischen ist es so schlimm, dass man sie nur noch von außen öffnen kann. Edwina kommt herüber und bemüht sich mit aller Kraft ihn zu befreien, doch sie rutsch immer wieder ab. Jeremy guckt sie durch die Scheibe mit einem Dackelblick an und presst die Hände und die Nase gegen die Scheibe. Sie muss so lachen, dass sie erst recht keine Kraft hat, die Tür zu öffnen. Er bedeutet ihr, einen Schritt zur Seite zu treten, hält dann den Türöffner gezogen und tritt kräftig gegen die Tür, sodass sie mit einem lauten Krachen aufschlägt.

„Nicht schlecht“, bemerkt Edwina und gibt ihm lachend den Schlüssel zurück.

Es ist nur ein kurzer Weg bis zum Club, den Steffi für ihre Party gemietet hat. Edwina weiß nicht einmal, was eigentlich gefeiert wird. Aber wahrscheinlich ist es nur eine dieser sinnlosen Saufpartys, auf die alle Welt so abfährt. Ihr wird allmählich bewusst, dass sie nicht darüber nachgedacht hat, worauf sie sich hier einlässt. Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass sie nicht bereit ist, irgendwen dieser Leute wiederzusehen. Weder Steffi noch Paul oder sonst jemand. Am liebsten würde sie tatsächlich umkehren und einfach wieder nach Hause fahren. Sie bleibt unvermittelt stehen und schaut zurück zum Auto, das allein und verlassen im Schein der Straßenlaternen steht.

„Alles klar?“ Jeremy legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Das wird schon.“

Sie schaut ihm einen Moment in seine tiefschwarzen Augen. Er hat Recht. Ein entschlossenes Nicken und sie gehen weiter.

Schon von Weitem erkennt Edwina die sagenhaft schönen Gestalten, die sich um eine schwarze Limousine versammelt haben. Es sind vier zauberhafte Mädchen und ein junger Mann. Amalia natürlich, die ein wunderbar beerenfarbenes Kleid trägt. Neben ihr steht ein noch sehr junges Mädchen. Edwina schätzt sie auf maximal sechzehn Jahre. Ihr weißblondes Haar strahlt in der Nacht wie der Mond am Himmel. Und die beiden Zwillingsschwestern, deren Beine so lang sind, als wollen sie in den Himmel reichen, sind nur damit beschäftigt sich gegenseitig die Frisuren herzurichten. Der Mann trägt einen vornehmen Anzug und sein dunkelblondes Haar ist streng nach hinten gekämmt. Wie es scheint, ist er ihr Fahrer.

„Hallo“, winkt Amalia freudig und ist ganz aufgeregt. Sie fällt Edwina sofort um den Hals und begrüßt auch Jeremy mit einer herzlichen Umarmung. „Das sind meine Schwestern Nives, Clamor und Georgiana. Diabolo ist unser Fahrer. Er wird uns nachher wieder abholen.“ Sie legt ihren schlanken Arm um die Taille des Mannes und lehnt ihren Kopf an seine breite Schulter.

Edwina ist sofort klar, in welcher Beziehung die beiden stehen und auch wenn man heutzutage einem Diamantring am Finger einer Frau nicht mehr besonders viel Bedeutung beimessen kann, so denkt sie doch mit ihrer Vermutung einer bevorstehenden Hochzeit richtig zu liegen.

Nach der Vorstellungsrunde betreten alle gemeinsam den Club, der viel mehr ein stickiger Keller ist als alles andere. Er ist ziemlich überfüllt. Edwinas Laune sinkt augenblicklich auf einen Tiefpunkt. Niemanden dieser Leute wollte sie jemals wiedersehen. Was tut sie hier eigentlich? Amalia sucht eine Sitzecke aus. Sie ist gerade groß genug, dass alle darin Platz finden. Aus sicherer Entfernung beobachtet Edwina das wilde Treiben. Es ist noch nicht besonders spät. Es wundert sie, dass so viele schon ordentlich einen in der Krone haben. Immer wieder werden ihr hämische Blicke von vorbeigehenden Personen zugeworfen. Sie kennt nicht einmal alle von ihnen. Doch der Zeitungsartikel und das Gerede haben Edwina so bekannt gemacht wie einen bunten Hund. Mit einem Mal taucht auch noch Steffi höchstpersönlich an ihrem Tisch auf und schenkt Jeremy eine übertrieben herzliche Umarmung.

„Hallo, Jeremy“, säuselt sie ihm ins Ohr. „Ich wusste ja gar nicht, dass du noch jemanden mitbringst.“ Sie wirft Edwina einen abwertenden Blick zu und mustert kritisch ihr Kleid. Es hat die gleiche Farbe wie ihres.

„Ist doch kein Problem, oder?“ Jeremy zuckt unschuldig die Schultern.

Edwina entgeht nicht das kleine, verschmitzte Grinsen, das über sein Gesicht huscht.

„Hättest du mich gefragt, wüsstest du, dass es nicht erwünscht war, jemanden mitzubringen“, schreit sie durch die lärmende Musik hindurch, schlägt mit beiden Fäusten auf den Tisch und beugt sich tief zu Jeremy herunter, der mühelos ihrem wütend funkelnden Blick standhalten kann.

„Sicherlich wäre die Party auch etwas langweilig, wenn niemand jemanden mitbringen würde.“

Steffi fährt herum und sieht dieser unverschämten Person, die sich so unverhohlen in ihr Gespräch einmischt, direkt ins Gesicht und obwohl sie Amalia noch nie in ihrem Leben gesehen hat und sie sich niemals von irgendwem etwas sagen lässt, macht sie nach einem langen und tödlichen Blick einen Abflug, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sie gesellt sich zu ihren Freundinnen und verschwindet im Getümmel.

Edwina und Jeremy sehen Amalia ungläubig an. Hat sie das gerade wirklich gesagt?

„Stimmt doch, oder?“

Edwina muss lachen. Wie einfach es doch sein kann, wenn man niemanden kennt. Amalia und ihre Schwestern plagen keine Sorgen um ehemalige Freunde und ihr ruinierter Ruf eilt ihnen nicht voraus. Zumindest nicht hier in Scherinburg. Wer weiß aus welchen Gründen, sie aus Schweden weggezogen sind.

Mit der Zeit füllt sich der Keller immer mehr, die Musik wird immer lauter und immer mehr seltsame Gestalten meinen, sich auf der Tanzfläche zum Besten geben zu müssen. Und auch wenn Edwina normalerweise nicht zu der Sorte Mensch gehört, die sich in solchen Situationen in den Alkohol flüchten, so wünscht sie doch, dass sie nicht fahren müsste.

„Soll ich dir irgendetwas mitbringen?“ Sie muss sich nah zu Jeremy hinüberbeugen, damit er sie über die Musik hinweg verstehen kann.

„Warte, ich komme mit“, antwortet er sofort und ist schon dabei aufzustehen.

„Musst du nicht, Jeremy“, gibt Edwina ihm zu verstehen. „Ich schaffe das schon.“ Sie legt ihm kurz die Hand auf die Schulter, bevor sie aufsteht und zur Bar hinüber geht.

Es ist ein furchtbares Gedränge. Gefühlte Stunden vergehen, ehe sie überhaupt in der Nähe des Tresens gelangt. Natürlich an einem Ende, an dem kein Barkeeper steht. Edwina schlägt sich weiter nach vorn durch. Die Bar biegt an dieser Stelle in eine kleine Nische ein und so liegt die Sitzecke nicht mehr in ihrem Blickfeld. Jeremy ist nicht mehr zu sehen und sie weiß nicht recht wieso, aber es jagt ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Vor ihr stehen noch immer Massen von Leuten, die ihre Getränke bereits erhalten haben und einfach an Ort und Stelle stehen bleiben. Nur mit Mühe kann sie sich an ihnen vorbeiquetschen, ohne die Getränke zu verschütten.

„Einen Whiskey und eine große Cola“, schreit sie dem Barkeeper zu.

Er versteht sofort und überreicht ihr kurze Zeit später die eiskalten Gläser.

„Hey“, hört sie plötzlich eine Stimme an ihrem Ohr sagen.

Edwina fährt erschrocken herum und weiß nicht, was sie zuerst denken soll.

„Was willst du?“, fragt sie genervt, als sie Paul erkennt und dreht sich wieder zum Barkeeper, um ihm das Geld zu geben.

„Ich will mich nur ein bisschen mit dir unterhalten, fragen was du so machst, wie es dir geht?“ Er grinst herablassend und stützt sich mit einem Arm auf dem Tresen ab, sodass sie ihm nicht entkommen kann.

„Lass es einfach!“ Edwina nimmt die Gläser vom Tresen.

„Wieso? Ist doch alles prima. Ich verstehe gar nicht, was eigentlich dein Problem ist. Habe ich dir irgendwas getan?“

„Du hast genug getan“, fährt sie ihn an und kann ihre Wut über diese Dreistigkeit kaum noch im Zaum halten.

„Du meinst, nur weil ich was mit Steffi hatte? Ist nicht dein Ernst.“ Er lacht laut auf und rückt ein Stück näher an sie heran.

„Du bist wirklich zum Totlachen.“ Sie quetscht sich an ihm vorbei, darauf bedacht, möglichst nichts zu verschütten und jede Art von Körperkontakt mit diesem Ekel zu vermeiden.

Ein plötzlicher Stoß trifft ihre Schulter und sie taumelt gegen ein anderes Mädchen, das gerade seine Bestellung aufgibt. Die Getränke landen direkt auf Edwinas Kleid und lassen das hübsche Grün zu einem dreckigen Braun werden.

„Ups“, sagt Paul und zuckt grinsend die Schultern. Entsetzt sieht Edwina an sich herab. Das Glas mit Whiskey ist noch halb gefüllt. Ehe er sich versehen kann, platscht ihm der Rest ins Gesicht. Edwina geht, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, obwohl sie zu gern noch ein wenig sein entsetztes Gesicht betrachtet hätte. Sie ist sich bewusst, wie sehr Whiskey in den Augen brennt.

Ohne Getränke kehrt sie zu den anderen zurück und bemerkt Jeremys Blick, der fragend auf ihr liegt. Aber er sagt nichts. Er betrachtet sie von oben bis unten und entdeckt dabei die Flecken auf ihrem Kleid. Er hätte es besser wissen sollen.

„Lass uns tanzen gehen, Edwina“, ruft Amalia aufgeregt herüber und schnappt Edwina schneller als sie es realisieren kann am Handgelenk.

Ehe sie sich versieht, steht sie zwischen Unmengen von Leuten dicht gedrängt auf der viel zu kleinen Tanzfläche. Amalia und ihre Schwestern wirbeln herum. Es scheint, als schweben sie geradezu über den Boden. Nives' weißes Haar schimmert in tausend Facetten im Licht der Scheinwerfer. Edwina ist so fasziniert davon, dass sie gar nicht bemerkt, dass sie sich langsam von den anderen entfernen. Immer mehr Leute drängen auf die Tanzfläche. Sie kann sich kaum mehr bewegen, muss regelrecht darum kämpfen, dass ihr noch ein Stück Freiraum bleibt. Die Blicke der anderen machen sie zusätzlich nervös. Jeder von ihnen starrt sie an. Jeder von ihnen glaubt diesem bescheuerten Artikel der Schülerzeitung. Bis heute.

Sie erkennt im letzten Moment, wie Nives in der Menge verschwindet. Eigentlich macht sie einen erwachsenen Eindruck. Edwina überlegt, ob sie ihr nachgehen soll. Vermutlich ist sie alt genug. Kann auf sich selbst aufpassen. Oder? Vielleicht ist es ihr Pflichtbewusstsein, das ihre Beine in Bewegung setzt. Oder ihr sechster Sinn. Mit Mühe schlängelt sie sich zwischen den Tänzern durch. Keiner weicht auch nur einen Millimeter zur Seite. Selbst wenn er könnte. Doch Edwina ist völlig darauf fixiert, die leuchtende Haarpracht nicht aus den Augen zu verlieren. Sie kann Nives gerade noch in einem Seitengang verschwinden sehen. Ein ungutes Gefühl breitet sich in ihr aus. Edwina beginnt fast zu rennen und erreicht gerade rechtzeitig die düstere Ecke.

„Was soll das werden?“ Ihre Stimme ist so gewaltig, dass sie sich selbst erschreckt.

Es sind vier junge Männer. Möglicherweise gerade so alt wie sie selbst. Edwina kennt sie nur vom Sehen, doch sie weiß, dass selten etwas Gutes geschieht, wenn sie ihre Hände im Spiel haben. Ihr kocht das Blut in den Adern, als sie bemerkt, wie eng sie Nives eingekreist haben.

„Wir wollen nur ein bisschen Spaß haben. Uns nett unterhalten“, sagt der eine, kommt auf sie zu und öffnet dabei unschuldig seine Arme.

„Sehr witzig.“ Edwina lächelt gezwungen und schnappt Nives am Arm, bevor diese überhaupt richtig versteht, was vor sich geht. „Sucht euch jemanden in eurem Alter!“ Sie schiebt Nives vor sich her, um sie so schnell es geht aus dieser dunklen Ecke herauszubringen.

Doch die Männer denken nicht daran, sie gehen zu lassen. Sie folgen ihnen. Einer ruft etwas. Edwina kann es nicht verstehen. Die Musik ist zu laut. Etwas zieht an ihren Haaren, doch sie marschiert einfach weiter. Näher zu den Leuten. Näher irgendwohin, wo man sie sieht.

Eine starke Hand legt sich um ihren Unterarm. Sie wird herumgewirbelt. Ein Schlag ins Leere. Er hält sie zu fest. Sie ist nicht stark genug, sich gegen ihn zu wehren. Wild fuchtelnd versucht sie sich loszureißen. Bis ein harter Schlag sein Gesicht trifft. Seine Zähne knirschen so laut, dass sie es trotz der Musik hören kann. Er lässt ihren schmerzenden Arm los und taumelt rückwärts in die Arme seiner Gefährten.

Stille. Keine Musik. Nur ein entferntes Rauschen, dass meine Ohren kaum mehr wahrnehmen. Mein Blick so klar wie der Morgen. Als hätte jemand all den alten Staub entfernt, der darauf lag. Ich sehe nur seine Augen. Sie sehen mich an. Sehen geradezu in mich hinein. Unfassbar dunkle Augen. So tief wie die Nacht. Und erfüllt mit unbändigem Zorn.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Es ist Jeremys Stimme, die sie aus ihren Gedanken schreckt.

„Ja, es ist alles gut“, stammelt sie und schüttelt den Kopf. Suchend schaut sie sich um. Er ist weg. Der Mann, der sie gerettet hat, ist weg.

Kapitel 3

Die Sonne steht hoch am Himmel und taucht den Vorplatz der städtischen Universität in ein angenehmes Sommerlicht. Die Menschen schwitzen in der Hitze, die schon seit Wochen über der Stadt liegt. Ungewöhnlich für diese Region. Edwina kann sich an kein Jahr erinnern, in dem es jemals so lange so heiß gewesen ist. Und auch wenn sie selbst genau wie alle anderen unter der erdrückenden Wärme leidet, ist es ihr lieber als ein Sommer, der nur Regenwetter und eisige Temperaturen bereithält. Wenigstens ist es ein Sommer.

Sie ist mit Jeremy verabredet und ausnahmsweise ist sie die erste am Treffpunkt. Das geschieht zugegeben nicht allzu oft. Seit einer halben Stunde fast wartet sie auf ihren Freund. Sie haben sich seit der Party vor drei Tagen nicht mehr gesprochen.

Der Grund für ihr Treffen an diesem sonnigen Sonntagmorgen ist der Tag der offenen Tür an der Universität. Obwohl Jeremy sich längst für einen Studiengang entschieden und eingeschrieben hat, möchte er unbedingt dabei sein und weil er ungern allein irgendwohin geht, hat er Edwina schon vor Wochen dazu überredet, ihm Gesellschaft zu leisten. Besonders euphorisch ist sie nicht. An dieser Uni, so bequem es auch wäre, gibt es nicht einen Studiengang, der sie wirklich interessiert. Das mag wohl daran liegen, dass es eine vor allem wirtschaftliche Hochschule ist, die für ihre künstlerische Ader und ihre unbändige Kreativität nichts übrig hat. Hier geht es nur um Zahlen, Genauigkeit und darum, sich an die Regeln der Gesellschaft zu halten. Vermutlich wohnt sie einfach schon zu lang bei ihrer Tante, die immer viel Kritik übt am System, der Gesellschaft, dem Staat und den Menschen, um dem Ganzen etwas Attraktives abgewinnen zu können. Außerdem hatte sie noch nie etwas übrig für Finanzen, Mathematik und Wirtschaftskram.

„Tut mir leid, ich war noch bei meinem Vater.“ Jeremy springt aus seinem Auto.

„Keine Panik, ich hab die Sonne sehr genossen“, entgegnet Edwina und schenkt ihm ein strahlendes Lächeln.

„Wollen wir rein gehen?“ Aufgeregt knittert und dreht und rollt er das Programmheftchen in den Händen.

„Du bist der Boss.“

Gemeinsam betreten sie das riesige Gebäude durch eine moderne Glastür, die nach Edwinas Meinung zu einem Bürogebäude passt, aber nicht zu einem mehrere hundert Jahre alten Bildungszentrum. Dahinter öffnet sich eine Vorhalle mit vielen Schaubildern und Tafeln an den Wänden, künstlichen Lichtquellen und einigen Statuen, die hinter einem Absperrseil stehen und von den meisten Studenten keines Blickes gewürdigt werden.

Nach Jeremys Plan gehen sie einen langen Gang hinunter, der gesäumt wird von Ölgemälden und Aushängen. Nach einer fünfminütigen Wanderung durch die Gänge erreichen sie einen gigantischen Hörsaal, ausgestattet mit modernster Bild- und Tontechnik und bis zum Rand gefüllt mit wild durcheinander wuselnden Menschen. Von alt bis jung ist alles dabei. Jeremys Augen strahlen bei diesem Anblick. Immer wieder dreht er sich zu Edwina um, die ihm in dem Gewimmel kaum folgen kann. Sie setzen sich auf einen Treppenabsatz und dann verdunkelt sich der Raum durch elektrische Rollläden und die Show beginnt.

Mit einem überheblichen Trailer startet die Vorführung über die Geschichte der Universität, ihre Entwicklung und die Namen berühmter Menschen, die ohne die Universität niemals zu Ruhm gekommen wären. Alle starren gebannt auf die Leinwand. Alle außer Edwina. Sie beobachtet die vielen Leute mit ihren staunenden Gesichtern, wie sie sich gegenseitig etwas zuflüstern und dann von einem der Aufseher ermahnt werden. Vielleicht sitzt ihr geheimnisvoller Retter jetzt auch in diesem Raum? Sie kann ihn nirgendwo entdecken. Ihr Blick fällt schließlich auf Jeremy, der vor ihr auf einer tieferen Treppenstufe sitzt. Sie sieht sein kleines Tattoo unter seinem Shirt hervorblitzen. Immer wieder vergisst sie, dass er eins hat.

Es folgt die Vorstellung unterschiedlicher Lehrkräfte, die ausführlich ihre Fachgebiete erörtern und immer wieder abschweifen vom eigentlichen Thema hin zu ihren persönlichen Forschungsarbeiten und der Begeisterung für ihr Fach. Edwinas Augenlider werden schwer.

Jeremy hingegen verfolgt das Theater aufmerksam. Ständig macht er sich Notizen. Jeder Name, jede Email-Adresse, jeder Ansprechpartner wird notiert. Selbst über die Geschichte der Einrichtung hat er eine kleine Abhandlung verfasst. Er ist wirklich sehr enthusiastisch und Edwina ist verblüfft von der Faszination dieser Menschen für eine solch banale und in ihren Augen langweilige Sache, aber wenn Jeremy mit zu einem Tag der offenen Tür an ihrer Traumuni kommen würde, die höchstwahrscheinlich noch nicht einmal gebaut wurde, ginge es ihm vermutlich genauso, weil er sich mit keiner Faser seines Körpers für Kunst, Musik oder Schauspiel interessiert.

Und so vergehen die nächsten drei Stunden in einem stickigen, überfüllten Hörsaal mit Vorträgen, Filmsequenzen und kleinen Spielen. Als es endlich vorbei ist, kann Edwina ihr Glück kaum fassen. Sie will schon zurück zum Haupteingang laufen, als Jeremy ihr eröffnet, dass dies doch gerade einmal die erste Veranstaltung gewesen sei und jetzt der spannende Teil erst richtig losginge. Sie verdreht die Augen, als er nicht hinsieht und folgt ihrem Freund widerspruchslos durch die Gänge. Mit einem Plan navigiert er sie durch das Gebäude. Hier einmal links, dann rechts und wieder links. Danach ein Stück geradeaus, vorbei am Rektorat und wieder links, dann rechts. Schon nach wenigen Kreuzungen, weiß keiner von beiden mehr, wo sie hergekommen waren.

„Meinst du es ist normal, dass hier keiner außer uns ist?“, fragt Edwina, als sie mutterseelenallein in einem schmalen Gang stehen. Es ist unangenehm still. Und die kahlen weißen Wände strahlen eine ungeheure Kälte aus.

„Aber nach meiner Berechnung müssen wir eigentlich ...“ Er dreht den Plan hin und her, die Stirn in Falten gelegt und versucht ihren Standpunkt auszumachen.

„Kann es vielleicht sein, dass wir uns verlaufen haben?“ Das ist keinesfalls ein Vorwurf. Eigentlich ist dieses Labyrinth einer Universität das Aufregendste an der ganzen Sache und Edwina ist endlich aus ihrem Halbschlaf erwacht, der sie die letzten Stunden in einem tranceähnlichen Zustand hielt.

„Oh, nein! Das ist der Plan“, er zeigt durch das Fenster auf einen Neubau auf der anderen Straßenseite, „für das Gebäude dort drüben.“

Jeremy wirft den Kopf in den Nacken und schmeißt das Prospekt auf den Boden.

Edwina hebt das zerknitterte Papier auf und streicht es glatt. Es ist niemand zu sehen, den sie nach dem Weg fragen könnten.

Sie beschließen ein Stück zurück zu gehen, doch je weiter sie laufen, umso mehr scheinen sie sich im Netz aus Gängen, Hörsälen und Bibliotheken zu verstricken. Nach fünf Minuten stehen sie an einem anderen Fenster und sehen draußen nichts mehr von ihrem Ziel. Nur ein Innenhof ist in Sicht, der von Holzbänken umringt wird. In der Mitte steht eine hübsche Baumgruppe, in deren Kronen unzählige Vögel ihre Lieder zwitschern. Edwina erkennt sofort die Gruppen von Mädchen, die sich soeben von ihren Plätzen erheben und bald darauf in einem der umliegenden Eingänge verschwinden. Alle haben zu ihr hinaufgesehen, als hätten sie gewusst, dass sie dort steht.

Plötzlich schießt ein stechender Schmerz in ihren Kopf. Sofort hebt sie die Hände an die Schläfen, presst sie so fest sie kann gegen ihren Schädel, doch der Schmerz wird schlimmer. Viel schlimmer. Langsam sinkt sie in die Knie. Ihre Hände beginnen zu zittern. Sie schließt die Augen, konzentriert sich ganz auf den Schmerz. Tränen schießen ihr in die Augen. Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn. Jeremy ist sofort an ihrer Seite. Er sagt etwas, doch sie kann ihn nicht verstehen. Nur ein undeutliches Murmeln dringt an ihr Ohr. Eine kalte Hand liegt auf ihrer Schulter. Ein unheimliches Schwindelgefühl überfällt sie. Alles verschwimmt, sobald sie die Augen öffnet. Der Boden ist hart und kalt. Eisige Schauer jagen ihren Rücken hinunter. Das Zittern durchzieht ihren ganzen Körper. Sie sackt in sich zusammen, fällt hart mit dem Oberkörper auf den Boden. Sie hört Jeremy etwas rufen, bevor alles schwarz wird, alles still wird.

Das gleißende Licht der Deckenlampe strahlt durch ihre Augenlider hindurch und verbrennt ihre Augen, als sie sie öffnet. Der Schmerz frisst sich tief in sie hinein und das Karussell beginnt sich erneut zu drehen. Es wirbelte herum und schleuderte sie in eine neue Ohnmacht, die sich wie ein erholsamer, tiefer Schlaf anfühlt.

Als sie erneut aufwacht, setzt sie sich auf und sieht sich um. Ein Stechen fährt in ihren Hinterkopf.

Das Zimmer ist vollkommen weiß. Klinisch weiß. Allein die Vorhänge leuchten in einem sanften Gelbton. Ein anderes Bett steht in einiger Entfernung. Gleiches Modell. Gleiche Bettwäsche. Frisch gemacht.

Neben ihrem Bett befindet sich ein unbequem aussehender Holzstuhl in einem satten Gelbton, passend zu den Vorhängen. Jeremy sitzt darauf mit verschränkten Armen, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen. Edwina kann das leise Schnarchen deutlich hören. Es dauert keine zwei Sekunden, bis er aufwacht. Er rückt ein Stück näher mit dem Stuhl an ihre Bettkante heran und mustert sie gründlich.

„Wie fühlst du dich?“

„Wo sind wir?“

„Im Krankenhaus.“

„Wieso?“

„Wir waren in der Universität, haben uns verlaufen und dann bist du einfach zusammengebrochen und mit dem Kopf auf den Boden geschlagen. Geht es dir gut?“

Ja, sie kann sich erinnern. Die Universität. Die vielen Gänge. Das Fenster. Der Innenhof.

„Ich werde den Arzt rufen. Er wollte mit dir sprechen, sobald du aufwachst“, meint Jeremy und springt auf.

„Wie lang bin ich schon hier?“ Edwina bemerkt, dass es draußen dunkel ist.

„Seit sieben Stunden. Du warst immer mal wieder wach zwischendurch.“ Er verschwindet auf dem Flur.

Sie kann sich an die Stille erinnern und an das sagenhafte Schwarz um sie herum. Und an den Innenhof. Was war mit dem Innenhof?