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Julian ist 17 Jahre alt als er versucht den "Eisernen Vorhang", der einst West- und Osteuropa trennte, zu überwinden. Das ist aber alles andere als einfach. Er wird mehrmals erwischt, gefoltert, eingesperrt und verhöhnt bevor es ihm gelingt, dem Land des Diktators Ceausescu zu entkommen. Schmerzlich muss er erfahren, daß seinem Traum von der Freiheit Grenzen gesetzt sind, und daß es vor den Herausforderungen des Lebens kein Entrinnen gibt.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Siegfried Chambre
Auf und davon
oder
Der Traum vom roten Flugzeug
edition texpresso
Für meine Söhne, Benjamin Timon und Raffael Julian.
Chambre, Siegfried
Auf und davon oder der Traum vom roten Flugzeug
2. Auflage by edition texpresso Oktober 2015
Umschlaggestaltung: Nils Hertig, clicdesign, Bern
Korrektorat: Michaela Girardelli, Bregenz
© edition texpresso, Bern
ISBN-13: 978-1518618215
ISBN-10: 1518618219
Flucht. Ein aktuelles, brisantes Thema. Doch das war es immer schon. Im Strom der Geschichte gab es immer wieder Menschen, die ihre Heimat verlassen wollten oder mussten. Dazu gehöre auch ich. Meine Flucht begann vor 35 Jahren als es den sogenannten Eisernen Vorhang noch gab, der Europa in zwei Teile spaltete. Er sollte die Menschen beim Verlassen ihrer Länder hindern. Heute gibt es ihn wieder, diesen Vorhang aus Stacheldraht. Aber heute soll er Menschen nicht beim Aus- sondern beim Einreisen hindern. Er war damals vergeblich und wird es auch heute sein. Der Wunsch nach Freiheit und einem lebenswerten Leben lässt sich nicht aufhalten. Wir wissen es alle: Erst das Ende von Kriegen und wirtschaftlichem Niedergang wird der Anfang einer Welt sein, in der Flucht nicht mehr nötig ist. Wir könnten aus der Vergangenheit lernen. Der Blick zurück kann auch ein Blick in die Zukunft sein.
Die zweite, leicht überarbeitete Auflage dieses 1994 im Rex-Verlag erschienen Buches entstand, weil viele Lesende es sich gewünscht haben.
Siegfried Chambre
Heimat ist eine Sehnsucht. Dahin wo alles anfing.
Die Spucke
Hansi war ein wenig grösser als alle anderen und hatte bessere Trefferchancen. Er stand am linken Ende der Reihe und hielt die Hände auf dem Rücken. Zehn Augenpaare fixierten die Leinwandrolle, die etwa einen Meter vor uns über der Wandtafel hing. Darüber lächelte das Bild des jugendlichen Ceausescus mit Siegesblick in den Klassenraum. Das Portrait des Conducators war aus keinem Klassenzimmer wegzudenken, in keiner Schule Rumäniens, schon gar nicht bei uns, an der deutschsprachigen Volksschule Nr.23 in Engelsbrunn, wo der Direktor persönlich Staatsbürgerkunde unterrichtete.
Simon, Georg, Daniel, Michael, Dieter, Peter, Manfred, Stefan und ich standen also in einer Reihe, die Köpfe nach links verrenkt und blickten gespannt auf Hansi. Sein Unterkiefer kreiste langsam im Uhrzeigersinn, wie bei der wiederkäuenden Kuh, die für den Käse warb, den es nur im Laden der Securitate und Parteibonzen gab. Dann ging alles blitzschnell. Hansi spuckte einen nassen Strahl genau in die Mitte der Leinwandrolle, blickte triumphierend zu mir herüber und sagte: «Mach das mal nach! Aber beeil dich, die Pause ist gleich vorbei.» In diesem Moment ertönte auch schon die Glocke und die Mädchen stoben auf ihre Schulbänke zu. «Diese Schweine», maulte Tamara im Vorbeirennen, «die spielen schon wieder ihr ekliges Spuckspiel.»
In zwei Sätzen war ich bei ihr, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und stand Sekunden später wieder vor der Leinwand. «Das wird meine Treffsicherheit erhöhen», sagte ich mit einem selbstbewussten Blick hin zu Hansi und setzte zum Spucken an. Vielleicht war es mein Übermutspegel oder vielleicht nur die Tatsache, dass Tamara wegen des Kusses nicht protestiert hatte. Auf jeden Fall spuckte ich zu hoch und Nicolae Ceausescu, dem geliebtesten Sohn unseres Vaterlandes, mitten ins Gesicht. Da stand der Lehrer in der Tür und sah zu, wie die Spucke dem Conducator über Wange und Jacke hinunter auf den Bilderrahmen rann. Die plötzliche Stille in der Klasse hing schwer und bedrohlich über mir. Meine Schuhe schienen am Parkett zu kleben. Ich wackelte hin und her, und es sah aus, als versuchte ich, die Schuhsohlen vom Fussboden zu lösen. Vergeblich. Nach fünf eisigen Sekunden hob ich langsam den Kopf und liess meinen Blick den Lackschuhen entlang über die gewittergraue Faltenhose, das weisse Hemd und die fahnenrote Krawatte in das dunkle Gesicht des Lehrers gleiten. Als ich seine Augen sah, war meine Gesichtshaut nicht weniger grau als seine Hose, unter der ein nervöser Oberschenkel zuckte. Es war kein Geringerer als der Direktor selbst, Johann Geissler, der uns im Staatsbürgerunterricht so oft schon erklärt hatte, dass der, den ich da gerade versehentlich bespuckt hatte, eine der grössten Persönlichkeiten unseres ganzen Planeten sei, wenn nicht die grösste überhaupt.
Geisslers linke Hand näherte sich langsam meinem Gesicht, wurde grösser und breiter, bis das Klassenzimmer mit den verdutzten Gesichtern dahinter verschwand. Die Hand griff nach meinem Ohr, klemmte es wie in einem Schraubstock fest und zog daran. Geissler liess aber sofort wieder los und schüttelte erstaunt seine Finger. An seiner Hand klebte der Kaugummi, den ich mir hinters Ohr geklebt hatte, bevor die Spuckerei begonnen hatte. «Diese dekadenten, ekligen Gummis», brüllte der Direktor, als er zum Papierkorb eilte und den Kaugummi mit einem Papier abstreifte. Im Eilschritt kam er zurück und packte nochmals zu. Ein brennender Schmerz schoss in mein Ohr. Ich kniff die Augen zu. Die glotzende Schülerschar verschwamm in meinem Tränenwasser. Auf Zehenspitzen, das Ohr noch immer in der Fingerklemme, führte mich Geissler aus der Klasse zwei Stockwerke hinab in sein Büro vor den Schreibtisch, der bei uns Katheder hiess, und liess es dort endlich los. Das Ohr kochte. Ich zitterte. «Auf die Knie!» jaulte der Direktor in einem niederschmetternden Ton. Ich sank auf das knarrende Parkett und blickte hinauf zum Direktor. Der hatte inzwischen mir gegenüber Platz genommen, unter dem Bild von Ceausescu, das auch hier hing. «Sag nichts», schrie er ganz und gar unnötig, denn ich hatte nicht im Geringsten vor, irgend etwas zu sagen. «Solche von deiner Sorte kenne ich, die lügen jedesmal wie gedruckt, wenn sie den Mund aufmachen.» Ich biss die Zähne zusammen und sagte nichts. «Warum hast du das getan?» Während ich noch unschlüssig überlegte, ob ich nun doch etwas sagen müsse, flog die Antwort schon über den Tisch und klatschte an mein anderes, noch kaltes Ohr. Sofort wurde auch das glühend heiss. Auf der Hand des Direktors blieb ein roter Fleck abgezeichnet und mir war, als würde er mein Gehör mitnehmen. Da, wo ich kurz zuvor das Brüllen des Direktors vernommen hatte, blieb nur ein mächtiges Sausen zurück. Durch dieses Sausen hindurch horte ich meine Stimme: «Es war nur Spass, äh. . . wir haben nur die Leinwand bespuckt. . .»
«Wir? Wir? Wer, wer hat mitgespuckt?»
«Die haben alle getroffen, nur ich war daneben.»
«Richtig, du bist immer daneben. Man muss ja nur in deinen Notenkatalog sehen, alles miserable Noten. Du solltest lieber mehr lernen und nicht solchem Blödsinn nachgehen. Einfach in der Klasse herumspucken und unseren Führer beleidigen! Oder meinst du, ich wüste nicht, dass auch du so ein Verräter bist, der in den Westen will?»
Von daher wehte also der Wind. Ich fragte mich nur, woher der Direktor von den Ausreisebemühungen meiner Eltern wusste. Ich jedenfalls hatte es nie erwähnt. Nicht einmal Tamara wusste Bescheid. Geissler erhob sich, schlenderte mit langen Schritten und dunkler Miene um das Katheder, lief mit den Händen auf dem Rücken vor mir hin und her und war offenbar unschlüssig darüber, was mit mir anzufangen sei. Er wischte sich nervös mit einem Taschentuch einen Rest Kaugummi von den Fingern, als sich die Tür öffnete und mein Klassenlehrer eintrat. «Machen Sie die Tür zu, Klatschmeier, und sehen Sie sich diese Leuchte an», bellte Geissler. Meine Ohren glühten immer noch, meine Knie inzwischen auch. «Ich habe diesen kleinen Nichtsnutz dabei erwischt, wie er das Bild des Genossen Nicolae Ceausescu bespuckt hat. Ich fordere Sie auf, etwas zu unternehmen. Es müssen Massnahmen ergriffen werden, sofort!» Ich zitterte zwar bis hinunter zu den kleinen Zehen, spürte bei dem Wort Massnahmen jedoch einen Anflug von Stolz. Massnahmen war ein beliebtes Wort in Rumänien. Es wurde immer dann gebraucht, wenn man nicht mehr weiter wusste. Zum Beispiel, wenn der Fünfjahresplan wieder nicht in viereinhalb Jahren erfüllt wurde, und das wurde er nie! Nicht einmal in sechs! Wenn die Unzufriedenheit der Leute wuchs, und sie wuchs täglich. Wenn wie zumeist leere Versprechungen gemacht wurden. Und nun mussten wegen meiner Spucke auf einem alten Bild Massnahmen ergriffen werden. Ich war fast ein wenig ergriffen.
Aber nicht lange, denn nun fiel auch Klatschmeier keine andere Massnahme ein, als nach meinem Ohr zu greifen und daran zu reissen. Probleme wurden immer so gewalttätig gelöst und stets von oben nach unten. Ohren hatten auf Erzieherinnen und Erzieher eine magnetische Wirkung. Das fing an, als ich mit drei Jahren zum ersten Mal den Kindergarten besuchte. Weil ich ins Bett gepinkelt hatte, zog mich die Kindergärtnerin so fest am linken Ohr, dass es einriss. Die Narbe ist bis heute geblieben.
«Und schreib dir das hinter die Ohren», grunzte Geissler mit zusammengekniffenen Augen: «Mit dir werden wir schon noch fertig!»
Sommersonnenwende
Am Horizont, wo der stahlblaue Himmel die endlosen Getreidewogen berührt, verloren sich zwei Gestalten im Sommer. Der Wind streichelte das grüne Weizenmeer, strich ihm zärtlich über die jungen Ähren, die sich sanft an den blutroten Klatschmohn schmiegten. Tausend Kornblumen sahen gelassen zu, zwei blaue Zentimeter über den Weizenköpfen. Ein Heer von Bienen summte ein Liebeslied, die Mücken Tenor, die Hummeln den Bass. Klatsch, da schlug ich mit der Hand ans linke Bein. Die Stechmücke fiel ins Korn. Ich kratzte die Einstichstelle und schielte zu Tamara, die versunken in den Anblick der Landschaft einen leichten Seufzer hauchte. Ich war gerade fünfzehn und neugierig auf das Leben. Liebe war für mich ein Kribbeln unter der Haut, und die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht lagen noch vor mir. Hier im Westen Rumäniens, im Banat, wo seit zweihundert Jahren eine deutschsprachige konservativ‐katholische Gesellschaft lebte, war das sommerliche Weizenfeld ein idealer Ort für Erlebnisse dieser besonderen Art. Es gab zwar noch Schmusepartys, bei uns Hausbälle genannt, wo Teenies sich beim Tanzen aneinanderdrückten und sich so auf die eine oder andere Art näherkamen.
Ich stand sehnsüchtig neben Tamara und hoffte auf die geringste zuneigende Regung bei ihr, doch nichts dergleichen war zu spüren. Da dachte ich aus meiner aufkeimenden, pubertären Männlichkeit heraus, dass Frauen halt so seien: romantisch wie die Kornblumen und leider auch so kühl und abweisend. Wie schön wäre Tamara als feurig roter Klatschmohn, süss und berauschend.
«Was werden sie nun mit dir machen?» Tamara sah mir so direkt in die Augen, dass ich weiche Knie bekam.
«Ich weiss nicht. Wollen wir uns nicht setzen?» Wir machten es uns im Weizenfeld bequem.
«Ich habe dich ja gleich vor diesem blöden Spuckspiel gewarnt.»
Ich zuckte mit den Schultern.
«Aber sie haben doch eine Sitzung angesagt. Der ganze Verband der Kommunistischen Jugend unserer Schule wird anwesend sein.»
Ich stierte auf ihren T-Shirt-Ausschnitt.
«Der VKJ ist mir egal.»
«Sollte er aber nicht, ohne ihn kannst du nicht auf die Hochschule.» Für eine Vierzehnjährige war Tamara ganz schön entwickelt. Ich rutschte ein wenig näher. «Ich will gar nicht auf die Hochschule.»
«Das kannst du jetzt noch gar nicht entscheiden. Du solltest dir auf jeden Fall die Chancen nicht verbauen.»
«Und wie soll ich das machen?» Ich rutschte noch ein wenig näher, um einen Blick in den Ausschnitt zu erhaschen.
«Versuch’s doch mal mit Bitten, Schmeicheleien, Versprechen, rede mit Direktor Geissler oder mit dem Präsidenten des VK]...»
So nah bei Tamara fühlte ich, wie Legionen von Ameisen in meinen Bauch krochen und dort die Mittagssuppe durchquirlten.
«Meinst du, das funktioniert?»
Nun war ich ganz dicht dran, Oberschenkel an Oberschenkel, Arm an Arm. Ihre Wärme schoss zu mir herüber und verwandelte die Ameisen in meinem Bauch in eine Wiese flatternder Schmetterlinge. Tamara verwirrte mich nach dem Kuss im Klassenzimmer jetzt zum zweiten Mal. Sie musste meine aufdringliche Nähe spüren, und trotzdem blieb sie sitzen, rutschte keinen Millimeter vom Fleck. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich begann zu schwitzen, mein Atem ging kurz und stockend, und meine Hand kratzte nervös am Mückenstich. In meiner Phantasie hatte ich sie schon längst erobert. Ich sah mich siegessicher ihre Haare streicheln, mit dem Finger langsam ihre Lippen berühren, auf meinem Gesicht ein überlegenes Kinoheldenlächeln. Ich sah, wie die Luft vibrierte, überzeugt, dass es nicht die Sommerhitze, sondern Liebesfunken waren, die hin und her sprangen.
Ein Marienkäfer landete auf ihrem Knie. Er drehte sich nach Orientierung suchend im Kreis und krabbelte dann flink dem Bein entlang unter ihr Kleid. Ich stellte mir vor, es wäre meine Hand. Der Käfer kroch wieder hervor auf das grüne Kleid und daran hoch bis zum Ausschnitt. Wie ich ihn beneidete! Als die Stille peinlich und Tamaras Augen Fragezeichen wurden, fasste ich Mut und öffnete den Mund. Meine Gedanken rotierten wie ein Ringelspiel, suchten nach einem Halt, nach einem erlösenden Satz: «Willst du mit mir gehen?»
Tamara blinzelte in die Sonne, blickte leicht irritiert auf den Boden und antwortete unschuldig und mit einer Engelsmiene: «Wohin?»
Mein Ringelspiel drehte sich rasend wie eine Wäschetrommel. Und in der Wäschetrommel sass ich und wurde so solange geschleudert, bis jeder Tropfen heraus war und nur noch ein Fetzen übrigblieb, trocken und in sich zusammengesackt. «Ist dir nicht gut? Bist du krank?» Tamara tat besorgt. Da verlor ich die Beherrschung, stand abrupt auf, murmelte ‘blöde Kuh‘ und eilte, mit den Schuhen das Korn zerfetzend, davon. Es war der erste heisse Nachmittag dieses Jahres, und noch ahnte ich nicht, dass es nur eine Ankündigung für das war, was noch kommen sollte.
Tamara
Tamara Kanter war so alt wie ich, wir sind zusammen in den gleichen Kindergarten gegangen und in dieselben Schulklassen. In all dieser Zeit war sie für mich uninteressant. Bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Dann verliebte ich mich in sie. Die Schönste im Dorf war sie nicht, doch die Begehrteste. Das lag sicherlich an ihrer gewinnenden Art. Tamara sprühte vor Lebenslust und Fröhlichkeit. Ihr Reden war immer begleitet von einem Lächeln. Sie war stets freundlich und offen. Ihr gewinnendes Naturell aber, gebrauchte sie als Waffe. Sie bezirzte viele Jungen, schenkte ihnen Blicke die viel versprachen und wenig oder gar nichts hielten. Sie beherrschte die Kunst des unverbindlichen Umwerbens perfekt. Die meisten Jungen waren in sie verknallt, sie aber setzte sie ein wie Schachfiguren, als Marionetten für ihre Interessen. Dass dabei auch mal die Fetzen flogen kam schon vor. Burschen die ihr fast hörig waren, die alles für sie taten, ihr alles erlaubten und alles verziehen, verachtete sie. Trotzdem war sie zu schlau, um solche Bauern aus ihrem Schachspiel zu entfernen.
Wehe, wenn ihr jemand in die Quere kam, jemand, der ihr Spiel durchschaute und versuchte es zu stören. Dann war sie gnadenlos. Wenn sie ihn nicht erniedrigen konnte, kam es meistens viel schlimmer: sie gewann ihn für sich. Ich war diesbezüglich ihr letztes Opfer, und ich gebe zu, dass ich es gerne war. So wollte es das Schicksal. Und Tamara glaubte an die Bestimmung des Schicksals.
Die Religionsstunde
Der Pfarrhof war ein Stein des Anstosses. Er war rundherum von wildwachsendem Flieder umzäunt, der sich ungehindert ausbreitete. Eine wuchernde Wildnis, im Dorf abschätzig Gestrüpp genannt. «Jedem das Seine», pflegte Pfarrer Erwin Pabst zu sagen, «für mich ist es das Paradies.»
Als er irgendwann den grossen Speisesaal ausräumte, in dem der Bischof bei seinem jährlichen Pastoralbesuch zu speisen pflegte und darin später einen Turnsaal für die Jugend einrichtete, stand die dörfliche Welt vollends kopf. Von nun an war das Pfarrhaus ein Bienenstock, in dem es unablässig summte. Bezahlen mussten wir für diese Grosszügigkeit mit unbedingtem Gehorsam was den Gottesdienstbesuch betraf. Kein Sonntag ohne Heilige Messe, darauf achtete Pabst peinlichst genau. Unentschuldigte Absenzen wurden mit Pfarrhausentzug nicht unter einer Woche bestraft. In harten Fällen drohte der Pfarrer, uns nicht zu verheiraten oder unsere Kinder nicht zu taufen, wenn es einmal soweit sein würde. Beim Thema Kirche verstand Pabst keinen Spass. Sein meist braungebranntes Gesicht wurde nicht andächtig, aber ernst, wenn es um kirchliche Angelegenheiten ging. Ein Anflug von Bestimmtheit lag dann in seinen grünen Augen, die keinen Widerspruch gestatteten. Und wenn er sagte: «Die Katholische Kirche ist die perfekteste Gesellschaftsordnung, die es gibt», legte sich seine Stirn in Falten bis hinauf zur Vollmondglatze. Er vertrat kompromisslos die Lehren des Papstes in Rom, besonders dessen Sexualmoral. Sexualität war einzig Mittel zum Zweck der Fortpflanzung. «Die Kirsche ist rot, um den Spatz anzulocken, nicht, weil sie den armen Vogel ernähren will. Sie trachtet danach, sich fortzupflanzen. Sie will, dass der Spatz den Kern verschlingt, um ihn anderswo auszuscheiden, damit ein neuer Kirschbaum wachsen kann.» So versuchte er nun mal zu sein, logisch bis zum Kern der Sache. Trotzdem war Pabst nicht katholischer als der Papst. Er war der erste und einzige Pfarrer weit und breit, der auch Mädchen ministrieren liess. Viele seiner Kollegen hatten Vorbehalte, einer meinte sogar, es sei unschicklich, junge Frauen, denen die Brust schwillt, vor den Altar zu lassen. «Na, dann lassen Sie halt die Knaben alleine da stehen, aber glauben Sie nicht, dass es denen nirgendwo schwillt», entgegnete Pabst.
Pfarrer Pabst verpasste jeder Jugendgruppe im Dorf einen Beinamen. Es gab die Libellenläufer, weil viele von ihnen sich im Café Libelulla trafen. Es gab die Nachtschwärmer, zu denen ich gehörte, weil sie sich fast wöchentlich zu Knutsch-Hausbällen trafen, und es gab die Kartenklopfer, die Schnapslöcher, die Rauchfahnen.
Pabst hatte viele Steckenpferde, die er ausgiebig und mit Genuss ritt. Eines Vormittags im Bus - er sass inmitten einer Schar junger Mädchen - blickte er von diesen zu den älteren Frauen, die gleich daneben tratschten und sagte mit einer Unschuldsmiene: «Man sollte nicht meinen, dass aus so schönen, jungen Mädchen einmal so hässliche, alte Weiber werden.» Am selben Tag sah ich den Pfarrer in Arad auf dem Boulevard der Republik. Seine Schirmmütze sass verkehrt auf der Glatze. «Gelobt sei Jesus Christus», grüsste ich höflich und machte ihn auf die Mütze aufmerksam. «Das ist ein Experiment», sagte Pabst gelassen. «Ich wette, das macht Schule. Die Menschen sind wie Affen. Wenn man ihnen etwas lange genug vormacht, glauben sie, das sei schön, und machen es nach.» Bezüglich der Schirmmützen hatte er recht. Sie verkehrt zu tragen ist Mode geworden.
Nebst der Katholischen Kirche hatte Pfarrer Pabst nur noch eine Leidenschaft: den Sport. Aber nicht irgend einen Sport, nur Leichtathletik, Schwimmen und Kulturistik, was nicht etwa ein kulturelles Muskelschwingen, sondern nichts anderes als Bodybuilding war. Schwimmen gehörte zu seinen Lieblingsthemen.
Im Religionsunterricht, an jenem Samstagnachmittag vor vielen Jahren, besprachen wir das wundersame Wandeln Jesu auf dem See Genezareth. Da wir keine neuen Bibeln hatten, weil sie in Rumänien verboten waren, las Pfarrer Pabst uns die Geschichte aus der eigenen, uralten Bilderbibel vor, die er von seiner Grossmutter geerbt hatte. Es kam die Stelle, wo Petrus dem Heiland auf dem Wasser entgegenschreitet, dann aber samt seinem Glauben ins Schwanken gerät und laut um Hilfe ruft.
«Fällt euch etwas auf?» fragte Pabst lauernd. Nach einer kurzen, erwartungsvollen Pause antwortete er gleich selbst: «Hätte der Idiot schwimmen können, hätte er nicht um Hilfe rufen brauchen!» Uns war nicht sofort klar, wer mit dem Idioten gemeint war, denn dass ein Heiliger zugleich auch ein Idiot sein konnte, war für uns neu. Oder war es vielleicht doch kein Zufall, dass meine Grossmutter meinem Grossvater, der auch Petrus hiess und auch nicht schwimmen konnte, manchmal ‘du heiliger Idiot‘ nachrief? «Des Menschen Tage sind wie Gras. Er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin, den Platz, an dem sie stand, kennt keiner mehr.» Pfarrer Pabst las wieder aus der Bibel seiner Grossmutter vor und blickte uns wichtig in die Augen. Links stand ein Stativ, auf dem ein Bild befestigt war. Das Bild zeigte symbolisch Werden und Vergehen des Menschen. Auf der linken Seite des Bildes war ein Kleinkind in Windeln zu sehen, dann ein Kind mit fünf Jahren, mit zehn Jahren, mit fünfzehn
Jahren. Es folgte ein erwachsener junger Mann, ein Mann Mitte Vierzig, ein älterer Mann, ein alter Mann und schliesslich ein Greis von hundert Jahren. Der Greis war krumm und bucklig und glich eher einem Gespenst als einem Menschen. Der Pfarrer zeigte auf das Gespenst und sagte zynisch lachend: «So werden wir alle, das ist das Schicksal des Menschen. Es gibt kein Entrinnen bis zum Jüngsten Tag. Dann werden die Posaunen hallen und die sieben Engel des Herrn herabsteigen. Es wird Feuer vom Himmel fallen, die Gräber werden sich öffnen, und die Toten werden auferstehen. Und Gott wird Gericht halten über alle Toten, sitzend auf einem grossen, weissen Thron. Er wird in einem dicken Buch lesen. Wer darin nicht verzeichnet ist, wird in den Feuersee geworfen.» Pfarrer Pabst hielt an, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten.
«Heute noch glauben wir jung und stark zu sein, doch schon morgen kriecht uns der Tod in die Knochen, lässt uns alt und müde werden und alle Glieder erschlaffen.» Während der ganzen Zeit, in der Pfarrer Pabst sprach, hielt Michael, der gleich neben mir sass, seine rechte Hand in der Hosentasche. Sein Atem rasselte leicht, ein Geburtsfehler, der Michael sein Leben lang begleiten sollte. Als der Pfarrer vom Erschlaffen aller Glieder sprach, begann Michael zu kichern, nicht laut, aber laut genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. «Was kicherst du Fettsack dort hinten?» rief der Pfarrer dem ein wenig zu dick geratenen Michael zu. «Steh auf, wenn ich mit dir rede, und nimm deine Hand aus der Hosentasche. Wir sind hier im Unterricht, nicht in einem Faulenzerladen. «Der dicke Michael stand auf, nahm die Hand aus der Tasche und liess die Arme schlaff hängen. Die Hose stand genau zwischen den Beinen stracks nach vorne, als hätte er einen Stock darin versteckt.
«Warum hat uns Gott erschaffen?» fragte der Pfarrer den dicken Michael, der auf diese Katechismusfrage keine Antwort wusste. Er rollte seine dunklen, leuchtenden Augen, kratzte sich verlegen am Bein und hielt die rechte Hand linkisch vor die sich langsam senkende Wölbung in der Hose. Die runden, sonst roten Backen waren weiss wie die gekalkte Sakristeiwand und seine Lippen schmal und spitz wie ein Hühnerarsch. «Warum also hat Gott uns erschaffen?» wiederholte Pfarrer Pabst. «Nur zum Fressen wohl kaum, was? Siehe im Katechismus auf Seite eins nach und lies laut vor!» Der dicke Michael nahm seinen Katechismus von der Sitzbank, schlug ihn auf und las langsam und deutlich: «Gott hat uns erschaffen, damit wir ihn lieben, ihm alleine dienen und einst in den Himmel kommen.» Michael blickte verdutzt in die Runde. Man sah ihm an, dass er jetzt genau so gescheit war wie vorher. «Schreib dir das hinter die Ohren, Fettsack.» Michael war zwar plump, aber nicht dumm. Nun fühlte er sich eindeutig provoziert, und das konnte er nicht ausstehen. Mit einem frechen Blick musterte er den Pfarrer von den Lackschuhen und der Minoritensoutane bis hinauf zur Glatze, die in der Samstagnachmittagssonne glänzte, als wäre jemand mit einer Speckschwarte darüber gerutscht. «Mein Grossvater sagt immer, gescheite Haare verlassen den dummen Kopf.» Pfarrer Pabst erstarrte auf dem kleinen Holzpodium wie die Salzsäulen von Sodom und Gomorra. Selbst Lazarus, der nach vier dunklen Tagen von den Toten auferweckt wurde, wäre nicht so sprachlos gewesen wie er. Weiss der Herrgott, oder vielleicht der Teufel, woher Michael den Mut hatte, so was Unerhörtes zu sagen. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Die Spannung im Raum drohte zu bersten. Nach endlosen Sekunden schien Pfarrer Pabst entschlossen, den Jüngsten Tag nicht in dieser starren Haltung zu erwarten. Er machte zwei Schritte nach vorn, packte Michael an einem Haarbüschel und schleifte ihn in die Kirche. Nur der Allerhöchste und der kniende Michael wussten, wie viele ‘Vater unser‘ und ‘Gegrüsst seist du Maria‘ nötig waren, um diese Schuld zu sühnen. Jedenfalls kam Michael an jenem Samstag eine Stunde später vom Religionsunterricht nach Hause. Bei den Mädchen aber war der dicke Michael von nun an ‐ Fettsack hin oder her ‐ ein Held.
Pfarrer Pabst erschien am Sonntag wohlgelaunt zur Nachmittagsvesper. Ich hatte Ministrantendienst. Draussen schien die Sonne, ich wollte zum Baden und wartete deshalb ungeduldig auf den Ausklang der Vesper. Pfarrer Pabst stand neben mir vor dem Hochaltar, seinen Rücken den Frauen zugewandt, die in den hintersten Bänken aus zittrigen Kehlen ‘Ich bete an die Macht der Liebe‘ sangen. Ihre schrumpeligen Gesichter schimmerten bleich und schal aus der pechschwarzen Kirchenkluft. Die Rosenkranzhände lagen ineinander verschränkt im Schoss und dreissig Paar Daumen drehten sich wie Gebetsmühlen umeinander. Auf dem Relief des Hochaltars tummelten sich nackte Englein auf weissen Wolken.
«Irgendwas stimmt bei dem grossen Engel auf dem Altar nicht. Siehst du es?» fragte Pfarrer Pabst mich mitten in den andächtigen Liebesgesang der alten Weiber hinein. Es war Ferienzeit, meine Freunde waren beim Baden oder streckten ihre Bäuche in die Sonne, und ich sollte herausfinden, was an dem grossen, fetten Engel auf dem Hochaltar nicht stimmte! Ich sah ihn lange an, konnte jedoch zunächst nichts Ungewöhnliches entdecken. Ist er vielleicht zum Fliegen zu fett, dachte ich, oder kann der auch nicht schwimmen, wie der Heilige Petrus? Oder ist er gar zu nackt? Ich sah ihn mir nochmals genau an: das blondgelockte Haar, die rosaroten Pausbacken, die Speckwülste an Bauch und Oberschenkel, das weisse Lendentuch, die schwabbeligen Beine. Mir wollte einfach nichts Ungewöhnliches auffallen. Als zehn Minuten später die St. Josefs-Litanei durchgerattert und das ‘Bitt’ für uns‘ der Frauen verhallt war, setzte der Kantor zum Schlusslied an: ‘Vom Himmel hoch da komm ich her‘. Da, plötzlich, als wäre dies das Stichwort für den Hochaltarengel, fiel mein Blick auf dessen Bauch und ich bemerkte den Fehler. Nach der letzten Liedzeile stiess ich den Pfarrer mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: «Der Engel hat einen Nabel.» Pabst lächelte zufrieden, drehte sich um, tauchte die Weihwasserspritze in die Kanne und schwenkte den Segen über die scheinheiligen Köpfe.
«Ich fahre zum Kanal», flüsterte er beim Hinausgehen. «Kommst du auch?» Das hatte ich sowieso vor. Während wir auf unseren Fahrrädern über einen Feldweg die fünf Kilometer zur Pumpstation strampelten, fragte Pfarrer Pabst, um ganz sicher zu gehen: «Und warum haben Engel keinen Nabel?»
«Weil sie von keiner Mutter geboren wurden, sie sind Geistwesen.»
«Du hast im Unterricht gut aufgepasst», meinte Pabst sichtlich zufrieden. Für ihn war das Problem damit gelöst, für mich aber fing es gerade erst an: «Wenn Engel keine Mutter haben, wie werden sie dann geboren?» Pfarrer Pabst begann schneller zu radeln. Ich konnte nur mit Mühe mithalten. Nach einer grossen Kurve sagte er schliesslich etwas müde: «Es sind Kopfgeburten.» Wir waren fast am Ziel, man konnte schon die Badenden bei der Pumpstation erkennen. Pabst stieg ab und schob sein Fahrrad den kleinen Hügel zum Bewässerungskanal hinauf. Noch bevor ich fragen konnte, aus wessen Kopf die Engel geboren werden, stürzte sich Pabst ins Wasser und liess mich mit den Kopfgeburten am Ufer stehen.
In jener Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich war alt wie das Gespenst auf dem Bild des Pfarrers in der Religionsstunde. Ich starb und wartete vor Gottes weissem Thron auf den Richterspruch. Der Heilige Petrus blätterte in einem grossen Buch. Ich erkannte ihn mit seinem grossen Schlüssel und dem schwankenden Gang. (Er hatte das Wellenreiten noch immer nicht gelernt.)
«Ich kann dich nicht finden», sagte er stirnrunzelnd. «Wer bist du?» Er blätterte nervös vor‐ und rückwärts. Nichts. «Schade», sagte er. «Weisst du nicht mehr, wie du heisst, wer du bist?» wiederholte er ungläubig. Doch ich konnte mich einfach nicht erinnern. Da schlug er das Buch mit einem lauten Knall zu und sagte zum weissen Thron gewandt: «Er ist im Buch der Gerechten nicht aufgeführt.»
Ich schwitzte unheimlich, als spürte ich unter mir schon die schwelende Hitze des Feuersees, in dem die Verdammten auf ewig brennen. Ein Donnergrollen schallte vom Thron herab. Am ganzen Körper zitternd, versuchte ich mich zu erinnern. Doch es war alles dunkel in meiner Vergangenheit. Meine Zeit schien verloren, ungenutzt verstrichen.
«Du musst dich erinnern», sagte der Heilige Petrus, «das ist deine einzige Chance. Du musst dich erinnern!»
Banwart Schwallie
Als ich aufwachte, spürte ich eine unbeschreibliche Leere in mir, als wäre ich ein Gefäss ohne Inhalt. Ich sprang aus dem Bett und trat hinaus in den Morgen. Endlich hatte ich Schulferien. Der Tag dampfte träge vor sich hin, wie die Pfützen der Landstrasse nach einem kurzen Sommerregen. Ich schob den Traum beiseite und überlegte, wie ich den Tag verbringen könnte. Irgendwie stand mir der Sinn nach Schrägem.
In der Küche strich ich mir ein wenig Pflaumenmus auf eine Scheibe Weissbrot und machte mich damit auf den Weg zu Michael. Ich fand ihn im Gras liegend, neben Schwallies Barbierstube. Kaum hatte ich neben Michael Platz genommen, kam Banwart Schwallie aus seinem Laden und schlurfte mit schweren Schritten an uns vorbei. Wir grüssten höflich, doch er murmelte nur etwas Unverständliches.
«Der hat vielleicht einen Kunden geschnitten», lachte Michael.
Ich verzog verächtlich das Gesicht: «Mir hat er letzte Woche in der Sakristei eine geklebt.»
«Hast du in der Kirche gefurzt?»
«Nein, nur ganz harmlos geflucht, weil Schwallie uns das Lachen untersagt hatte.»
Banwart Schwallie war Dorfbarbier, ein stirnglatziger Riese mit hervorquellenden Froschaugen, der den kurzen Weg von seinem Haus zur Rasierstube mit Anderthalbmeterschritten in wenigen Minuten schaffte. Über der hohen, hellbraunen Tür seines Bartkratzerladens hing ein Schild. Auf dem stand: Frizarie, Frisörladen. Unzählige Spinnen hatten das Schild während vieler Jahre dicht umsponnen. Man hätte glauben können, die Spinnweben würden es dort oben festhalten und nicht der Haken, an dem es aufgehängt war. Nachts glitten die Spinnen an dünnen Fäden hinab und sponnen feine Netze vor den Eingang. Morgens hatte Schwallie ein Fadensieb an der Mütze, weil er schlecht sah und beim Öffnen der Tür ganz nahe ans Schlüsselloch musste.
Banwart Schwallie war auch Sakristan. Jeden Morgen um sieben Uhr half er dem Pfarrer ins Messgewand und erbat sich dann während der halbstündigen Messe beim Herrgott einen schönen Tag. Die Ministranten waren immer den Launen Schwallies ausgesetzt. War ihm eine Laus über die Leber gekrochen und er schlechter Laune, wurde es unangenehm. Beim kleinsten Unfug, welchen wir in der Sakristei machten, griff Schwallie ein. Meistens mit den Händen. Etwas dagegen zu unternehmen war unmöglich. Bis zu jenem Tag, an dem Michael und ich gelangweilt vor Schwallies Laden im Gras lagen.
Michael drehte sich umständlich auf den Bauch. «Scheisse», sagte er und rümpfte die Nase. Vor ihm lag ein tellergrosser, brauner Kuhfladen, auf dem ein Dutzend Schmeissfliegen ihre Mittagsmahlzeit genossen. Vorsichtig rutschte Michael näher, griff nach einem Stecken und schlug damit mitten in den Kuhmist, dass es nach allen Seiten spritzte. «Guten Appetit!» sagte er zufrieden. Doch die Fliegen liessen sich nicht verjagen. Schon nach ein paar Sekunden krabbelten sie wieder über ihre Mahlzeit. Michael kratzte sich die Spritzer mit einem Stück Baumrinde von Hose und Schuhen und schmierte den Kuhdung an einen weissgekalkten Maulbeerbaum. Plötzlich hielt er inne und fragte: «Willst du Schwallie die
Ohrfeige heimzahlen?» Dagegen war nichts einzuwenden. «Dann komm heute Abend um acht zur grossen Akazie vor Schwallies Haus.»
Michael wartete schon. In der rechten Hand hielt er eine Plastiktüte, in der eine dunkle, zähflüssige Masse schwamm. Er öffnete die Tüte vorsichtig und hielt sie mir unter die Nase. Ein penetranter Geruch schlug mir entgegen. Es war frischer Kuhmist. Michael grinste breit: «Wir warten, bis es völlig dunkel ist.»
Eine halbe Stunde später war es soweit. Das Haus lag nun völlig im Dunkeln. Wie meistens war auch heute der Strom irgendwann am Nachmittag ausgefallen. Staatliche Sparmassnahmen. Wir schlichen uns vorsichtig durch das Gassentor in den Hof. Aus Banwart Schwallies Wohnzimmertür schimmerte der schwache Schein einer Petroleumlampe. Er war also noch wach. Michael huschte zur Tür, öffnete die Tüte und leerte den Inhalt über die Türklinke. Ein Teil der Kuhscheisse platschte hinab auf den Gang. Den Rest verteilte Michael auf dem Korridor vor der Tür. Dann eilten wir zurück auf die Strasse. Michael hielt die hohle Hand vor den Mund und rief mit verstellter Stimme:
»Schwallie, kumm raus,
im Garte vor deim Haus
do wartet de Teiwl,
hat Scheissdreck am Leiwl.
Schwallie, kumm raus!»
Wir lugten durch eine Ritze im Holzzaun. Stille. Michael wiederholte den Reim ein zweites, nach einer Weile noch ein drittes Mal. Da endlich erschien ein grosser Schatten in der Tür! Schwallie stand wuchtig auf dem Gang. Er knallte die Tür zu, ohne an die Klinke zu fassen, lief durch den Kuhdreck in den Hof und brüllte grimmig: «Ihr Saukerle, macht, dass ihr davonkommt, bevor ich euch meinen Halbschuh in den Arsch trete!»
Wir verkrochen uns schleunigst hinter den Akazienbäumen vor dem Haus. Banwart Schwallie streckte seine Nase über das Gassentor, äugte in die Dunkelheit und schimpfte über den Stromausfall. Dann verschwand er schlurfend im Haus. Wir eilten zurück zur Zaunlücke, neugierig auf das, was geschehen würde. Schwallie bemerkte, dass etwas auf dem Fussboden war. Er bückte sich, strich mit den Fingern über den Boden und roch daran. Da dämmerte ihm, was an seinen Händen klebte. Er wollte eilig in die Wohnung, vermutlich um eine Lampe zu holen, fasste an die Türklinke und rutschte daran ab: «Herrgottscheissnochmal, Donnersakrament, verflixte Lümmel!» brüllte er und schüttelte die Hände, als hätte er sie gerade ins Feuer gehalten. Als er die Tür schliesslich aufbekam, und das Licht der Petroleumlampe auf den Korridor fiel, entdeckten wir, dass er keine Schuhe an den Füssen hatte und mit den Socken mitten in der Scheisse stand. Er sah ziemlich hilflos aus, trippelte hin und her und konnte sich nicht entschliessen, mit den stinkenden Socken ins Zimmer zu gehen. Schliesslich bückte er sich, zog eine Socke aus und hüpfte auf dem anderen Fuss zur Türschwelle. Da stellte er den nackten Fuss ab, zog sich die zweite Socke vom Fuss und wischte sich damit die Hände. Er verschwand im Haus, kam wenig später mit einem Eimer Wasser und einem Besen und begann den Korridor zu schrubben. Dabei brummelte er unablässig Flüche vor sich hin. Als alles sauber war, kam er nochmals auf die Strasse, hob die Petroleumlampe hoch und blickte angestrengt in die Nacht. Wir hatten uns hinter der Tabakscheune im Garten verkrochen und warteten. «Ich werde euch erwischen», rief er in die Nacht hinaus. «Verlasst euch drauf! Dann werde ich mal mit euren Eltern reden oder mit dem Pfarrer oder mit euren Lehrern oder mit allen zusammen, und das nächste Mal werdet ihr den Dreck mit der Zunge auflecken!»
«Er rechnet mit einem nächsten Mal», kicherte Michael. «Den Wunsch können wir ihm gleich jetzt erfüllen.» Michael verschwand für einige Minuten und kam mit einer vollen Tüte wieder. Er schlich nochmals in den Hof und leerte die Tüte auf den Gang. Diesmal aber liessen wir Schwallie schlafen. Er würde die Bescherung am Morgen entdecken. Am nächsten Sonntag vor der Messe hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ob Schwallie uns vielleicht doch erkannt hatte?
Hannahs Zwinkern
Einige Tage später, während meines Dauerlaufs, traf ich im Kreuzstätter Tal, einer kleinen Senke am westlichen Dorfausgang, unerwartet auf Hannah. Hannah war zwei Jahre jünger als ich und, wie mir auf den Hausbällen aufgefallen war, sehr neugierig auf das andere Geschlecht.
Sie tauchte auf, als ich gerade die Senke hinunterlief, in Turnschuhen, T‐Shirt und knappen Shorts, die vor allem hinten äusserst freizügig waren. Ich grüsste knapp. Sie zwinkerte mit dem rechten Auge und rümpfte die sommersprossige Nase. Als sie merkte, dass ich keine Anstalten machte anzuhalten warf sie die blonden Locken ins Genick und schaute mir nach. Ich trabte auf der anderen Seite des Tälchens, das kaum zwanzig Meter breit war, hinauf. Oben drehte ich mich um. Wir schauten uns einige Sekunden lang an. Dann lief ich den Hang wieder hinunter. Hannah kam auf mich zu. In der Talsohle standen wir uns lachend gegenüber. Um uns herum zitterten die Kornhalme im Frühsommerwind. Ich wollte etwas sagen, als Hannah wieder zwinkerte, diesmal mit dem linken Auge. Da war mir plötzlich klar, dass Worte jetzt unangebracht, ja überflüssig waren. Ich tat einen Schritt auf sie zu, ganz nahe, bis ich ihren Atem auf meinem Kinn spürte. Sie sah mich mit leicht geöffneten Lippen herausfordernd an. Mein Blick glitt nach unten und meine Hände folgten ihm wie von selbst bis in ihre Hose. Hannahs Augen wurden gross wie Suppenteller, und ihre üppigen Lippen öffneten sich noch weiter. Sie war so überrascht, dass sie keinerlei Widerstand leistete und auch kein Wort hervorbrachte. Nach einigen Sekunden riss sie sich los und sah mich unschlüssig an. Doch dann wurden ihre Augenschlitze schmäler, wie Raubkatzenaugen, bereit zum Angriff. Hannah machte einen Schritt auf mich zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihren Mund heftig auf den meinen. Doch kein Kuss war es, den ich auf den Lippen spürte, eher ein Pfropfen, der mir den Mund verschloss. Und da langte Hannah zu, zielsicher und ohne Scheu. Ich erstarrte. Das war zuviel für mich. Dass ein Mädchen sich benahm wie ein Junge, damit hatte ich nicht gerechnet. Reflexartig klemmte ich die Beine zusammen und versuchte gleichzeitig, nach hinten auszuweichen. Dabei stolperte ich und taumelte rückwärts, noch bevor Hannah ihre Hand aus der Hose hatte. Im Fallen hörte ich ein hässliches Ratschen. Ich sass auf dem Hintern und blickte auf einen grossen Riss in meinen Boxershorts, vom linken Bein bis hinauf zum Nabel. Verwundert sah Hannah auf die Shorts, die den Blick auf einen Körperteil freigaben, den ich in dieser demütigenden Situation lieber verborgen hätte. Hannah hielt sich eine Hand vor den Mund und begann zu kichern. Sie zwinkerte, drehte sich wortlos um und lief davon.
Ich sass benommen auf dem Boden, hatte einfach vergessen aufzustehen. Fragen gingen mir durch den Kopf. Wie war es dazu gekommen? Warum hatte ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen? Was faszinierte mich an Hannah? War es wirklich Hannah, die mich faszinierte oder nur einer ihrer reizenden Körperteile? Oder wollte ich gar Michael und Peter nacheifern, zur Clique der Frauenhelden gehören? Langsam krabbelte ich auf die Knie, stand auf und versuchte die Situation zu überblicken. Mit dem Riss in der Hose konnte ich unmöglich durchs Dorf laufen. Ich sah verstohlen um mich, ob niemand den Vorfall beobachtet hatte, doch da war nur grünes Korn und Ackerboden.
An jenem Tag schlich ich im weiten Bogen um das Dorf, quer durch den Garten in den elterlichen Hof, die Hand schützend vor den zerrissenen Shorts.
Am Abend war Hausball bei Michael. Zu ihm gingen wir besonders gern, denn sein Vater war meistens nicht zu Hause oder lag mit fröhlich‐alkoholisiertem Gemüt im Bett. Sturmfreie Bude also.
Ich ging diesmal früh und half Michael und Peter bei den Vorbereitungen: Recorder und Kassetten mit den Schnulzen, Stühle und Polster bereitstellen und das Tuch über die Kontrollampe der Kühltruhe legen. Es sollte völlig dunkel im Zimmer sein. Dann sassen wir zu dritt im Hof unter den Reben, die sich an dünnen Drähten über den ganzen Platz rankten. Die Weinstöcke filterten einen guten Teil der letzten Sonnenstrahlen weg. Im Hof setzte schon um acht, kurz nach Sonnenuntergang, die Dämmerung ein.
Michael lehnte ans Regenwasserfass, er schien guter Laune. «Warst du schon beim Ministrieren?» fragte er. «Ja.»
«Und?»
«Nichts. Banwart Schwallie hat keine Ahnung, wer ihm die Scheisse beschert hat.»
Michael nickte zufrieden. «Hast du Lust auf eine Wette?» fragte er plötzlich seinen Bruder. Peter grinste unsicher. «Kommt drauf an.» Ich blickte von einem zum anderen. Sie führten etwas im Schilde, nichts Harmloses, wie mir ihre Gesichter verrieten. Diesmal schien es sogar etwas ganz Besonderes zu sein. «Eleonore kommt heute auch», sagte Michael kichernd.
«Na und? Die kommt immer! Und die gehört zu der Sorte Frauen, die man bekommt, wenn man nur will.»
«Eben!» Michael hielt sich die Hände auf den Bauch, dann auf den Mund, pustete zwischen den Fingern hindurch und wiederholte ein paarmal: «Eleonore kommt immer.»
«Was willst du von Eleonore, die tut es doch mit jedem, von der kannst du doch nicht ernsthaft etwas wollen.»
«Ernsthaftes will ich auch nicht.» Michael schluckte zweimal, bevor er zur Pointe ausholte: «Ich behaupte, dass ich heute abend öfters mit Eleonore vögle als du!» Das war genau die Behauptung, die Peter am meisten provozierte. Er war seinem Bruder in manchem unterlegen, aber nicht beim Thema Frauen - das bildete er sich zumindest ein. Er sah sich selbst als wahren Casanova. Nichts konnte seine Eitelkeit mehr anstacheln als eine Behauptung wie gerade diese. Dass eine solche Übung ziemlich stupide war, störte Peter nicht im Geringsten. Michael auch nicht. Für sie war es einfach ein Streich, ein toller Zeitvertreib. Das Leben war für uns zu jener Zeit ein einziger Hausball. Wir nahmen das Wenige, was es hergab, ohne Gewissensbisse und Reue, ohne Scham, hemmungslos. Michael hatte seine Gummis immer dabei. Sexuelle Erfahrungen sammeln war das eine, Kinder kriegen aber etwas ganz anderes. Soweit wenigstens reichte sein Verantwortungssinn. Es gab auch andere Gründe für den Gummi. Aids war noch unbekannt, doch gab es genug andere Krankheiten, die man sich in einem Casanovaleben holen konnte. Besonders bei Mädchen wie Eleonore.
«Abgemacht», sagte Peter. Die Brüder schüttelten sich die Hände und baten mich, Zeuge zu sein. Um neun trafen die ersten Mädchen ein, auch Hannah war dabei. Kaum hatte sie mich gesehen, lächelte sie mir zu, blinzelte wie am Nachmittag und warf mir ein herausforderndes Ciao entgegen. Ich fühlte plötzlich einen Kloss im Bauch. Ob Hannah es wirklich auf mich abgesehen hatte? Das konnte gefährlich werden. Schon sah ich Tamara kommen und winken. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Vielleicht könnte ich mit einer der beiden unauffällig verschwinden. Aber mit welcher? Tamara war mir wichtiger, doch Hannahs wippendes T-Shirt brachte ich nicht aus dem Kopf.
«Ich war heute wieder im Kornfeld», sagte Tamara, als sie mich begrüsst hatte.
«In welchem Kornfeld?» fragte ich betont gelassen. «Da, wo du mich unlängst sitzengelassen hast.» Ich versuchte cool zu bleiben.
«Ich habe da einen seltsamen Platz entdeckt, wo die Weizenhalme alle geknickt sind, so, als hätte ein starker Windstoss sie umgedrückt.»
«Das ist nicht seltsam, das gibt es oft nach Regen und Sturm.»
«Es hat aber weder geregnet noch gestürmt.»
Sie kann doch unmöglich..., dachte ich.
«Könnte auch sein, dass da zwei Verliebte sassen», sagte Tamara, räusperte sich und fügte spitz hinzu: «Oder lagen.»
«Ach, Quatsch.»
«Könnte doch wirklich sein!»
«Wahrscheinlich bildest du dir das nur ein.»
Das klang nicht sehr überzeugend, und ich fügte deshalb hinzu: «Und wenn schon, was hast du dagegen einzuwenden?»
«Ich dachte nur, das wäre unser Platz. Ist doch komisch, wenn sich andere denselben Platz ausgesucht haben, wo das Kornfeld bis zum Horizont reicht, nicht?» Darauf wusste ich keine Antwort. «Wenn du es nicht glaubst, so komm mit, ich zeige es dir.» Eigentlich hatte ich wenig Lust, kurz vor dem Eindunkeln auf der Suche nach geknickten Halmen im Kornfeld herumzulaufen. Andererseits wollte ich mit einer der beiden das Weite suchen. Tamara nahm so die Entscheidung vorweg. Vielleicht wollte sie ja nur mit mir allein sein, um da wieder anzusetzen, wo wir aufgehört hatten, als ich weglief. «Wie du meinst. Gehen wir.»
Draussen zeigte Tamara zur Kreuzstätter Strasse, in die Richtung, wo ich Hannah getroffen hatte. «Ach, da laufe ich doch immer vorbei, wenn ich jogge, gibt es da geknickte Weizenhalme?» sagte ich ablenkend. Tamara fasste bestimmt nach meiner Hand und zog mich fort. Widerstand schien zwecklos. Wir gingen zum Dorf hinaus, hinunter in die mir wohlbekannte Senke. Nach etwa sechs Metern schubste mich Tamara ins Korn, genau an der Stelle, wo ich am Nachmittag mit Hannah gestanden war. Auf einer zehnmal zehn Schritte grossen Fläche lagen die noch grünen Weizenhalme flach auf dem dunklen Ackerboden. Die Umrisse ergaben ein Herz, was mich sehr beruhigte, weil ich sicher war, dass es nicht von mir oder Hannah sein konnte.
«Was soll das bedeuten? Warum hast du das hier gemacht?»
«Das war nicht ich.»
«Na, wer denn sonst, wenn nicht du?»
«Vielleicht eine gute Fee, eine Schicksalsfee.»
«Ach, hör doch auf mit dem Quatsch. Ich glaube nicht an Feen.»
«Na, dann war es vielleicht Hannah!» Nun klang Tamaras Stimme hoch und scharf. Bei mir läuteten alle Alarmglocken. Nur nicht durchdrehen, dachte ich. Sie kann es nicht wissen, sie darf es einfach nicht wissen. Natürlich war es lustig mit Hannah, doch Tamara war mir viel wichtiger, ich wollte sie nicht verlieren.
«Was meint die Schicksalsfee mit diesem Herz?» fragte ich so unschuldig, wie ich konnte. «Das nächste Mal werde ich ihr auflauern und sie fragen!» antwortete Tamara schnippisch. War das eine Warnung? Hatte sie die Szene mit Hannah tatsächlich beobachtet? Sollte ich meine Dauerläufe verlegen, auf eine andere Wiese vielleicht, wo keine Schicksalsfeen herumlungerten? Wir machten uns wieder auf den Rückweg. Der Neumond schimmerte matt zwischen den Wolken, als wolle er sein Gesicht nicht offen zeigen. Tamara sagte den ganzen Weg kein Wort mehr. Und als wir bei Michael ankamen, ging sie hinein und verschwand mit einem der Kerle im dunklen Tanzzimmer, wo das Tuch über der Kontrollampe der Kühltruhe hing. Ich spürte zum ersten Mal, wie glühende Eifersucht in mir hochstieg und mich richtig krank machte.
Michael kam gerade zur Tür herein, schielte siegesgewiss zu Peter hinüber, der wartend in einer Ecke sass und sagte triumphierend: «Zwei zu zwei.» Worauf Peter wortlos nach draussen verschwand. Ich folgte ihm und sah ihn gerade noch in die Scheune huschen, als mir jemand sachte auf die linke Schulter klopfte. «Wo warst du denn», hauchte Hannah mir ins Ohr. Ich drehte mich um, und da mir nichts anderes als die Wahrheit einfiel, sagte ich: «Im Kornfeld.» Hannah schien über diese Auskunft überhaupt nicht erstaunt. «Wenn ich das gewusst hätte», sagte sie nur, fasste nach meiner Hand und zog mich zum Gassentor. Mir war nicht nach Eskapaden zumute, die Eifersucht wegen Tamara hatte sich durch meinen Magen gebohrt, wie ein ekelerregender Wurm. Hannah zog mich weiter auf die Strasse, ich wehrte mich sachte: «Lass das, Hannah, ich mag jetzt nicht.» Worauf sie die Beleidigte mimte und wieder im Haus verschwand.
Peter kam aus dem Schuppen und klopfte mir auf die Schultern: «Drei zu zwei.» Er ging zurück ins Zimmer und holte Michael, der müde zum Schuppen schlich. «Ich muss mal», sagte Peter, und wir stellten uns gemeinsam vor das Scheunentor. Er pisste in hohem Bogen an die Bretter, drehte beschwingt das Becken und machte ein paar Schritte nach rechts. Als er fertig war, schimmerte ein grosses nasses E im Mondschein. Namen oder Zeichen an die Wand pinkeln war eine Gewohnheit, die wir uns schon im Kindergarten angeeignet hatten. Das Pissoir war dort ein kleiner Raum mit einer Rinne im Betonboden, durch welche die Ausscheidungen zu einem faustgrossen Loch in einer Bretterwand flossen und in der Grube verschwanden. Manchmal stand eine ganze Reihe Knaben auf Zehenspitzen vor der Bretterwand, das Becken nach vorne gekippt, um den nassen Strahl möglichst weit hochzuziehen. Der höchste nasse Fleck auf der Wand markierte den Gewinner. Die Wand war allerdings nicht sehr hoch und oben beim Dachstuhl klaffte ein handbreiter Spalt. Peter, der Kindergartenpissmeister war, hatte einmal soviel Druck angesammelt, dass es in einem überschwenglichen Bogen zwischen Bretterwand und Dachstuhl hinausspritzte und die Kindergärtnerinnen erwischte, die dort am Plaudern waren. Die Strafe dafür war hart. Peter musste fortan immer aufs Plumpsklo, wie die Mädchen. Sein Ansehen bei den Kindergartenjungen hatte dadurch enorm gelitten.
Michael kam wenig später durchs Scheunentor, stellte sich neben uns und wollte die Hose öffnen, merkte aber, dass sie noch offen war. Er grinste und begann heftig zu drücken, als könne er sich nur mit Mühe erleichtern. Dann, als ein dritter nasser Fleck die Scheunenwand verzierte, zog Michael den Reissverschluss hoch und sagte: «Drei zu drei. Du bist dran.»
Peter kratzte sich am Oberschenkel. «Es ist also Gleichstand?» fragt er. «Gleichstand», bestätigte Michael.
«Dann lassen wir es momentan dabei bewenden», sagte Peter. «Ich habe keine Lust mehr.»
Viel ist an diesem Abend nicht mehr passiert. Der Alte Schwab hatte von der ganzen Sache nichts mitgekriegt, er war nicht zu Hause. Wahrscheinlich trank er irgendwo in einem Wirtshaus oder war bei Freunden beim Kartenspiel. Er wunderte sich nur über die sechs Präservative, die er am nächsten Tag hinter der Tabakscheune fand.
Fünf Tage später. «Schach und matt», sagte Andreas, lehnte sich gemütlich im Strassengraben zurück, zupfte einen langen Grashalm aus und steckte ihn zwischen die Zähne. «Noch ein Spiel?» Ich hatte keine Lust dazu. Auf der Grasfläche neben dem Strassengraben spielten ein paar Freunde Fussball. Doch das hatte mich nie wirklich interessiert, auch wenn ich hin und wieder mitspielte.
Der Fünfuhrbus war gerade eingefahren, und ich sah Hannah mit einem Plastiksack in der Hand auf dem Heimweg. Sie wohnte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, den wir zum Fussballspielen benutzten. Als sie mich entdeckte, winkte sie mir zu. Ich winkte zurück. Dann verschwand sie im Haus, war aber zehn Minuten später wieder da, in T‐Shirt und Shorts. Sie sagte «Servus», den bei uns üblichen Gruss und setzte sich neben mich in den Strassen graben.