Domina Domini - Siegfried Chambre - E-Book

Domina Domini E-Book

Siegfried Chambre

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Beschreibung

Werbeagenturen, Kirchen, Wahrsager: In diesen Milieus der Stadt Bern muss sich der etwas naive Kommissar Fritz Matter zurechtfinden, um herauszufinden, welcher Zusammenhang zwischen zwei skurrilen Morden besteht. Eine hochspannende Aufdeckungsgeschichte mit unerwarteten Wendungen.

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Heimkehr

 

Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit. Der Chianti ist auch nicht mehr das, was er einmal war, dachte Theophil Glatz. Er stieg schwankend und gebeutelt aus dem Zug und eilte, so gut es sein elender Zustand erlaubte, durch das unterirdische Labyrinth des Bahnhofs zum Ausgang. Draussen brannte die Julisonne auf den Platz, dem ein Bagger ein neues Gesicht verpasste. Die Luft stank nach Teer, oder war es Schwefel? In Theopihl Glatz‘ Bauch war die Hölle los. Er fühlte die Elemente wie Vorboten von Tod und Verderben. Nervös zerrte er an seinem Kragen, der ihm den Hals zuschnürte, und versuchte ihn zu lockern. Seine Füsse fanden den Weg über den Zebrastreifen, an der Heiliggeistkirche vorbei, die Spitalgasse hinunter. Die Sutane schlug wie schwerer Teig um seine Beine. Bei jedem Schritt stachen ihm tausend Nadeln durch den Bauch. Verschwitzte Menschen hasteten an ihm vorbei. Die Kramgasse, nun war es nicht mehr weit. Die Arztpraxis lag zwei Strassen weiter. Mit beiden Händen strich sich Glatz über die aufgedunsenen Wangen, die sich anfühlten wie ein voller Schwamm. Er war schon ein Stückchen an der Rathausapotheke vorbeigelaufen, als er auf die Uhr schaute. 16.00 Uhr, in einer halben Stunde müsste er in seinem Büro sein. Der Seelsorge-Chat wartete. Er griff zum Handy und wählte die Nummer der Arztpraxis. Niemand nahm ab. Ärzte, dachte Glatz, wenn man sie am dringendsten braucht, sind sie nicht zu erreichen. Er machte kehrt, ging kurz entschlossen die paar Schritte zurück und öffnete die Tür zur Apotheke. Der Raum war schattig und kühl. Verlassen stand der Tresen da. Dahinter, fein säuberlich geordnet, Porzellantöpfe in den Regalen. Ascorbinsäure, Paracetamol, Rosmarin, Thymian, Arsen... riecht wie eine Alchemiewerkstatt, dachte Glatz. Und sieht aus, als wäre es die Kapelle des Heiligen Rochus von Montpellier, dem Pesthelfer. Der Gedanke an die Pest war jetzt nicht besonders förderlich. Schon fühlte Glatz einen schweflig-faulen Geruch durch seine Nase strömen. Wenn es den Placebo-Effekt wirklich gibt, sollte ich lieber an den Heiligen Blasius denken, redete er sich ein. Bei dem hat man es wenigstens nur mit Halskrankheiten zu tun.

„Grüessech1”, empfing ihn die Apothekerin in gemächlichem Stadtberner Dialekt. Sie trat aus einer Seitentür über der die Äskulapschlange seit langer Zeit den Eingang zum Laboratorium bewachte.

"Gelobt sei Jesus Christus“.

„Ja?!“ Die alte Dame hob gelangweilt eine der fünf überdimensionierten Runzeln auf ihrer Stirn an. „Was hätten Sie denn gerne?”, fragte sie mit tiefer Stimme. „Rote Haut, Schweissausbrüche, erweiterte Pupillen. Nehmen Sie Drogen?“ Das Lachen der Apothekerin wummerte wie ein Bass.

„Ich brauche etwas gegen Übelkeit, hab wahrscheinlich Salmonellen erwischt auf der Italienreise”, erwiederte Glatz ungeduldig. Beim Wort Italien hellte sich die Miene der Apothekerin auf. Die Runzeln auf der Stirn verschwanden wie von Zauberhand und ihre Augen waren plötzlich die eines jungen Mädchens vor dem ersten Kuss. „Sie kommen gerade aus Italien?“

Dem Vikar triefte der Schweiss in solch enormen Schüben von der Stirn, als stünde er immer noch vor seinen Gläubigen in Rom auf dem St. Petersplatz unter der erbarmungslosen italienischen Sommersonne.

„Es war eine Pilgerreise... eine Wallfahrt nach... nach Rom”, sagte er hechelnd, „keine Vergnügungsreise“.

„Sie waren in Rom nur zum Pilgern?“ Die Apothekerin staunte.

Glatz nickte schicksalsergeben. „Geben Sie mir jetzt etwas gegen Übelkeit?“

„Gegen alles ist ein Kraut gewachsen, Herr Pfarrer.....Warten Sie doch mal kurz.“

Sie eilte ins Labor und begann Flüssigkeiten aus verschiedenen Fläschchen in einem Messglas zu mischen. „Gegen alles, nur nicht gegen Dummheit”, murmelte sie dabei vor sich hin, schreib „Vomix“ auf einen Klebezettel, den sie um das Fläschchen haftete und stand zwei Minuten später wieder im Verkaufsraum.

„Je zwanzig Tröpfchen drei mal am Tag vor dem Essen.“

„Hinterher würde es auch nichts nützen”, murrte Theophil Glatz und dachte an die letzten zwei Tage, in denen er fast nichts bei sich behalten hatte.

„Ich kann Ihnen auch Zäpfchen geben, falls Sie die Tröpfchen wieder erbrechen“. Sie schob Glatz ein Päckchen hin. „Aber wenn es morgen nicht besser ist, gehen Sie zum Arzt!”, rief die alte Dame dem Vikar hinterher, der einen Geldschein auf die Kasse gelegt hatte und zum Ausgang ging. „Wiederluege”, sagte er noch und verschwand.

„Muss nicht sein”, brummte die Alte, eilte zur Tür und schloss ab. Es war Samstag, der 11. Juli 2014, 18.30 Uhr. Die Apothekerin machte Feierabend.

 

Sakrileg

 

Es gibt eindeutig zu viele Ampeln in Bern, dachte Theophil Glatz. Nervös hämmerte er auf den Melder. Grün. Na endlich. Er hastete über die Fahrbahn, die Taubenstrasse hinunter, und da, wo abends die Nutten stehen, schaute er für einen kurzen Moment gehetzt über die linke Schulter nach hinten, als wäre er auf der Flucht. Diese unerträgliche Hitze, dachte Glatz und freute sich, als der Schatten der Dreifaltigkeitskirche ihn aufnahm, wie die Oase einen in der Wüste verirrten. Theophil Glatz stolperte über den Hof, betrat durch einen Seiteneingang die Kirche, beeilte sich am Hochaltar vorbei und drehte kurz vor der Sakristei nochmals um, weil er vergessen hatte, sich vor dem Allerheiligsten zu verneigen. Und genau hier kam er auf die Idee, die ihn ins Verderben führte. Denn als er sich knapp vor dem Tabernakel verbeugte, fiel ihm plötzlich ein, dass kein Medikament der Welt ihm besser helfen konnte als der Leib Christi.

Mit grossen Schritten eilte er in die Sakristei, warf sich die Stola um den Hals, stieg dann die Altartreppen hoch, suchte unter der Altardecke nach dem Schlüssel für die Tabernakeltür, fand ihn, schloss auf und holte die Monstranz heraus. Er öffnete das kleine Glasfenster, hinter dem sich die heilige Hostie befand. Noch eine Kniebeuge, dann neigte sich Theophil Glatz vor, um nach der rettenden Oblate zu greifen. Da passierte das Sakrileg. Es würgte sich blitzschnell aus seinem Magen hoch und schoss aus seinem Mund direkt auf die Monstranz. Theophils Herz raste vor Schreck. Zitternd wühlte er in der Tasche seiner Soutane nach einem Taschentuch, begann dabei zu röcheln und nach Luft zu schnappen. Noch bevor er dazu kam, die Monstranz zu säubern, fühlte er einen heftigen Schmerz in der Brust. Sein Herz hüpfte wild, der Raum drehte sich und wankte, und schliesslich senkte sich ein grauer Schleier über seinen Blick. Theophil Glatz sackte auf die Knie. Dann kippte er seitlich um, auf die unverdauten Reste seiner letzten Mahlzeit, die vom Altar getropft waren. Seine Blicke irrten suchend durch den Kirchenraum, hin zur Muttergottes, dem Heiligen Antonius von Padua, dem Heiligen Benedikt von Nursia und blieben schliesslich an der fast nackten, von Pfeilen durchbohrten Gestalt in der Mitte des Kirchenraumes hängen. Als wäre die seine letzte Rettung, rappelte sich der Vikar nochmals auf und kroch auf allen Vieren die Treppen hinunter. Vor der Statue fiel Glatz auf sein Gesicht, zuckte noch ein paarmal und blieb dann regungslos liegen. Nur seine Lippen bewegten sich fast unmerklich: Empti enim estis pretio magno!2.....non mea voluntas... 3

Ein leises Röcheln noch, dann war es still. Glatz lag im Kirchenschiff, seine weit aufgerissenen, Augen starrten ungläubig auf den Heiligen.

 

Zwei Tage später stand Hauptkommissar Fritz Matter von der Berner Kriminalpolizei im Kirchenraum und betrachtete das Standbild an der linken Seitenwand. Die Frauengestalt wirkte zerbrechlich wie Porzellan. Unter dem hauchdünnen Kleid war deutlich ein wohlgeformter Körper zu erkennen. „Welche Anmut”, sagte Matter fasziniert. Sigrist Peter Hugentobler, ein schweigsamer, introvertierter Rentner, stand etwas ratlos daneben. Im Angesicht des Unglücks, das hier geschehen ist, empfand er den Spruch des Kommissars leicht deplatziert. Zumal der tote Vikar vor dem Heiligen Sebastian gelegen hatte, bevor er, Hugentobler ihn fand, und nicht vor der Heiligen Maria, die der Kommissar gerade so unverhohlen bewunderte. Aber seine anerzogene Zurückhaltung gegenüber Autoritäten liess ihn dezent schweigen. Zudem: Was versteht ein Reformierter schon von katholischen Heiligen! Da fühlte sich Hugentobler, trotz allem Respekt, haushoch überlegen.

„Und wer ist der da?“ Der Kommissar deutete auf den Heiligen Benedikt. Hugentobler drehte sich langsam um und sah hinauf zur Statue.

„Sind Sie hier, um etwas über Heilige zu lernen?"

Hauptkommissar Fritz Matter trat einen Schritt näher. „Ich bin hier, weil man bei der Obduktion Gift in der Leiche von Vikar Theophil Glatz gefunden hat”, sagte er laut und deutlich. „Wir wurden vom obduzierenden Arzt informiert und leider nicht sofort von der Kirche. Sonst wäre ich schon früher hier eingetroffen. Schliesslich handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um Mord! Und Sie, Herr Hugentobler, haben den Vikar unter dieser Statue gefunden.“

„Gift? Ich dachte, es war das Herz?“

„Das Herz? Wie kommen Sie auf das Herz?“

Hugentobler begann in seiner Hosentasche zu wühlen. Er zog eine Zigarette hervor, steckte sie sich in den Mund und wartete unschlüssig. „Machen Sie das öfters?“ fragte der Kommissar. Hugentobler sah ihn fragend an.

„Sich eine Zigarette in den Mund stecken, ohne anzuzünden.“

„Das hilft mir beim Nachdenken... und in einer katholischen Kirche darf man nicht rauchen.“

Einige Sekunden verstrichen, ohne dass Hugentoblers Nachdenken ein Resultat gezeitigt hätte. Schliesslich nahm er die Zigarette aus dem Mund und sagte: „Pfarrer sind oft sehr einsam.“

„Aber an Einsamkeit ist dieser nicht gestorben.“

„Und wenn sie einsam sind, kommen sie auf schräge Gedanken“, fuhr Hugentobler unbeirrt fort.

Die Zigarette wanderte wieder in den Mund.

„Also raus damit, Hugentobler. Was für schräge Gedanken?“ Peter Hugentobler dachte nicht daran, sich zu beeilen. Man war schliesslich in Bern.

„Sie nehmen dann etwas, das ihre Einsamkeit mildert.“ Der Sakristan machte mit der Hand vor dem Mund eine unmissverständliche Kippbewegung.

„Der Vikar hat getrunken?“

Nun stand Hugentobler auf. „Jeweils eine Flasche Chianti zum Essen”, sagte er und starrte vor sich hin. „Und dann ein Schnäpschen.“ Er nahm die Zigarette aus dem Mund. „Oder zwei...manchmal einen Corretto... einen Kaffee Luz. Oder, wenn er erkältet war, einen Tee. Mit Rum. Ja, und geraucht hat er auch noch.“ Hugentobler schielte griesgrämig auf seine Zigarette, nahm sie aus dem Mund und steckte sie weg.

„Und woher wissen Sie das alles? Kannten Sie den Vikar so gut?“

„Ach, das spricht sich halt herum, Herr Kommissar. So was bleibt nicht geheim.“

Fritz Matter wandte sich wieder der Heiligenstatue zu. Und da fiel ihm plötzlich etwas auf. „Ich erinnere mich gerade, dass die Vier vor einem halben Jahr noch nicht hier standen. Hier gab es überhaupt keine Statuen.“ Hugentobler verstand nicht sofort, wen der Kommissar mit den Vieren gemeint hatte. „Ach so”, sagte er plötzlich. „Die Heiligen. Der Vikar war ein glühender Verehrer des Heiligen Sebastian.“

Hugentobler dreht sich zu einer der Statuen hin. Ein hageres Gesicht mit Vollbart und durchdringendem Blick, darüber eine Glatze mit Haarkranz. Schwarze Tunika von oben bis unten, darüber ein schwarzes Skapulier mit Kapuze und die Flocke – ein langer schwarzer Mantel. In der Hand befand sich ein geöffnetes Buch.

„Das da ist aber nicht der Heilige Sebastian. Das da ist Benedikt von Nursia, der Vater des westlichen Mönchtums”, sagte Fritz Matter.

Hugentobler war platt. Aber der Kommissar wusste noch mehr über den Heiligen. „Der hat doch den Benediktiner Orden gegründet. Unten in Italien, Montecassino, wenn ich mich recht erinnere.“ Wenn Hugentobler die Zigarette noch im Mund gehabt hätte, wäre sie ihm spätestens jetzt herausgefallen. „Was schauen Sie so? Auch Polizisten haben eine Ahnung von Heiligen.“

„Montecassino? Italien?“

„Ja, Hugentobler, wieso erstaunt Sie das?“

„Da war doch der Vikar auf Pilgerreise.“

„In Montecassino?“

„Ja, so hiess es, glaube ich... ähm, und in Rom.“

„Wie lange war er da?“

„Eine Woche. Er ist wahrscheinlich direkt vom Bahnhof hierher gekommen und dann... .“

„Schon gut, Hugentobler. Der Heilige Sebastian ist also der dort hinten, der mit den Pfeilen im Fleisch?“ Hugentobler nickte. „Ja, und hier habe ich auch den Vikar gefunden, ganz in der Nähe der Statue.“ Hugentobler deutete beflissen auf die besagte Stelle. „Gab es sonst noch etwas Auffälliges im Kirchenraum?“ Hugentoblers Kinnlade hing nach unten, als wolle er den Gedanken, die sich gerade anbahnten, den Weg durch den Mund nach draussen so leicht wie möglich machen. So stand er eine Weile da, bis Matter ihn drängte: „Hugentobler? Also, war da noch etwas?“

Nun klappte die Kinnlade zu. „Ähm, ja, wie soll ich sagen. Auf dem Altar war .... Erbrochenes.“ Matter stutzte. „Sie meinen, der Vikar hat sich auf den Altar erbrochen?“ Hugentobler nickte. „Das sagen Sie mir erst jetzt? Und wo ist das Erbrochene jetzt?“ Der Sakristan stand da, wie ein nach einem Streich ertappter Schuljunge. „Im WC”, sagte er, „ich habe es weggeputzt und ins WC gekippt, jetzt ist es im WC.“ Matter schüttelte verständnislos den Kopf. „Damit haben Sie Beweise vernichtet, ist Ihnen das eigentlich klar?“ Verdattert stand der Sigrist mit weit aufgerissenen Augen da. Matter liess ihn stehen und ging nach vorne zum Hochaltar. Hugentobler folgte ihm wie ferngelenkt. „Wo genau befand sich das Erbrochene?“

„Hier”, antwortete der Sakristan und deutete auf die Mitte des Altartisches. „Es lief runter und tropfte auf den Boden. Und die Monstranz war auch voll damit. Ich habe alles weggeputzt.“ Matter nickte. Er konnte sich vorstellen, wie der brave Katholik beim Anblick einer besudelten Monstranz, in der sich laut katholischem Glauben der Heiland selbst befand, in Panik geriet und schnellstens alles wegputzte. Deshalb verkniff er sich weitere Schelte, griff in seine Jackentasche, holte Notizblock und Kugelschreiber hervor und notierte etwas.

„Hugentobler?“

„Ja, Herr Kommissar?“

„Gibt es hier eine Bibliothek?“

„Das ganze Arbeitszimmer des Vikars ist eine Bibliothek.“ Hugentobler grinste. Er grinste tatsächlich.

„Na dann bringen Sie mich mal da hin.“

„Wie Sie wollen”, sagte Hugentobler, nahm den Seitenausgang, marschierte mit schweren Schritten über den Hof, eine Treppe hinauf, bog rechts um die Ecke und stand vor einer Tür mit der Aufschrift «Theophil Glatz, Vikar».

„Hier ist es.“

Der Raum war quadratisch, ziemlich gross, aber nicht all zu hoch. An den Wänden ringsum Büchergestelle, überladen mit Büchern, fein säuberlich alphabetisch geordnet. Fritz Matter ging einmal rund um den Raum, blieb dann vor der Etikette mit dem H stehen und griff nach dem Heiligenlexikon. Er blätterte eine Weile darin, fuhr mit dem Zeigefinger über eine bestimmte Stelle: „Hmmm...“.

Hugentobler räusperte sich. „Woher wussten Sie, dass die vier Statuen in der Kirche neu sind, Herr Kommissar? Kommen Sie öfters hierher?“ Hugentobler beäugte Matter mit einem lauernden Seitenblick. „Gut kombiniert, Herr Hugentobler. Aber so aussergewöhnlich ist das gar nicht. Ich habe beruflich öfters mal mit den Damen zu tun, die da draussen in der Gegend herumstehen. Und da schaue ich hin und wieder hier herein. Die Ruhe verschafft mir einen klaren Kopf.“

Bezüglich der Damen schien Hugentobler den Kommissar missverstanden zu haben, denn er sagte: „Ja ja, die können einem ganz schön den Gring verdrehen.“ Dann nickte er anerkennend und schmunzelte lüstern vor sich hin. Als der Kommissar hüstelte, schaute ihn Hugentobler erschrocken an. „Aaaaber...”, setzte er gedehnt an „... das bleibt doch unter uns oder?“

„Was soll denn unter uns bleiben, Hugentobler?“

Erst jetzt merkte der Sigrist, wie ungeschickt er sich verraten hatte. „Es ist aber nur einmal passiert, ausnahmsweise...“

„Schon gut, Hugentobler, das ist Ihre Privatangelegenheit.“ Von nun an wurde Hugentobler kleinlaut. Die weiteren Fragen beantwortete er knapp und nichtssagend, so dass der Kommissar ihn wenig später entliess.

 

Fritz Matter

 

Fritz Matter lief unruhig durch den Raum, die Hände auf dem Rücken. Es roch ziemlich muffig, fast wie in einer Gruft. Die dicken Steinwände hielten die Raumtemperatur relativ konstant, die Feuchtigkeit wohl auch. Und bei den vielen alten Büchern, die sich auf den Regalen türmten, hatten es die Schimmelpilze leicht, sich zu vermehren. Matter sah an einem der Regale hoch. Der Lesestoff, der hier herumstand, würde für ein ganzes Theologiestudium reichen. Unvermittelt dachte er an die Zeit vor vielen Jahren, als er an der Uni Freiburg selbst Theologie studiert hatte. Im dritten Semester hatte er Marianne getroffen. Sie studierte Sozialwissenschaften. Im vierten Semester, als ihnen klar geworden war, dass ihre Zuneigung weiter ging, als bis zur Bettkante, studierten beide daran herum, wie ihre gemeinsame Zukunft aussehen könnte. Für einen katholischen Theologiestudenten mit Ambitionen auf das Priesteramt, kann ein unverhofft eingetretener glückseliger Gemütszustand, allgemein als Liebe bekannt, verheerende Folgen haben. Denn zwischen Gott und seiner Angebeteten steht die Kirche seit über tausend Jahren mit dem Zölibat. Die Entscheidung war ihnen alles andere als leichtgefallen. Matters Gedanken waren beim Priesteramt gewesen, seine Gefühle bei der Frau. Wenn Intellekt und Gefühl miteinander im Clinch liegen, gewinnt bekanntlich meistens das Gefühl. Welcher Mann kann schon einer Frau widerstehen, die ihm wie die Nymphe Calypso aus Homers Odyssee erscheint: Mit dunklen Haaren, so lang und dicht, dass sie wie ein Mantel um ihren Körper fielen, wenn sie nach den Vorlesungen auf den Stufen beim Ausgang der Uni sass. Mit stechend grünen Augen, die jedes Wort, das er sagen wollte, überflüssig machten. Und mit einem Mund, der lockte, auch (oder vor allem) wenn er schwieg. So kam es, dass Fritz Matter im vierten Semester Marianne Grossenbacher heiratete und anstatt Priester Ehemann wurde.

Hugentobler hatte sich also geirrt, als er annahm, dass Fritz Matter, wie die meisten Berner, reformiert sei. Und Matter hatte ihn nicht korrigiert, ging ja auch niemanden etwas an. Seinen Drang, Grenzen zu überwinden, seine Faszination für die menschliche Psyche, konnte er auch bei der Polizei ausleben, bei der er nach einem Studium der Rechtswissenschaften und der Kriminalistik gelandet war. Von daher kam auch seine Vorliebe, sich bei der Aufklärung der ihm anvertrauten Kriminalfälle, auf seine Menschenkenntnis zu stützen und erst in zweiter Linie auf recherchierte Fakten. Waren seine Verdächtigen erst mal in die Enge getrieben, packten sie meistens von alleine aus. Es gab im Polizeidienst also genug, was Geist und Intellekt in Schwung hielt. Und seinem heimlichen Wunsch, als Autorität durchs Leben zu gehen, als jemand, dem man Respekt und – wenn auch gespielte – Achtung zollte, kam dieser Beruf auch entgegen. Nur seine Faszination für Mystik und Spiritualität konnte er bei der Kripo nicht ausleben. Dieser Fall roch aber förmlich danach. Und dementsprechend eifrig machte sich Matter an die Arbeit. Die Entscheidung für Marianne und gegen das Zölibat hatte er niemals bereut. Ausser ihr wusste kaum jemand, dass Kommissar Fritz Matter fast Hochwürden Fritz Matter geworden wäre.

In Gedanken versunken drehte er sich zum Schreibtisch hin, und sein Blick fiel auf den Computer. Welch ein Kontrast, dachte Matter. Modernste Technik im Zentrum eines Raumes, der nach Mittelalter mieft.

Matter ging zum Schreibtisch und setzte sich auf den Bürostuhl. Erst jetzt fiel ihm die kleine Statue auf, die neben dem Computer stand. Noch ein Heiliger, dachte er und startete den Rechner. Das Gerät begann zu rauschen, die Betriebssoftware wurde aufgebaut. Matter wartete geduldig. Endlich erschien das Desktop-Bild, und Fritz Matter staunte nicht schlecht. Es war die Statue, die neben dem Computer stand. Sankt Isidor von Sevilla, Schutzpatron des Internet, stand darunter. Matter schnappte sich noch einmal das Heiligenlexikon. Sein Zeigefinger glitt suchend über die Blätter. Da war er: «Sankt Isidor, Bischof von Sevilla, ca. 560 bis 636 n.Chr., hat die vielleicht erste Enzyklopädie der Geschichte erarbeitet sowie eine Grammatik und Rhetorik verfasst. Gedenktag: 4. April.»

Matter klappte das Buch zu und griff nach der Maus. Rechts auf dem Bildschirm befanden sich zwei Ordner. Predigten stand auf dem einen, Internetseelsorge auf dem anderen. Darunter war ein Symbol, das aussah wie eine Peitsche. Muss wohl eine Geissel sein, überlegte der Kommissar. Tut Busse und glaubt an das Evangelium. Im Predigtenordner waren die Predigten von fast einem Jahr gespeichert. Matter überflog ein paar, fand nichts Ungewöhnliches, und klickte den Ordner wieder zu. Der Ordner mit der Geissel fragte nach dem Passwort. Matter versuchte es mit «Benedikt», dann mit «Dominikus». «Isidor» und «Sebastian», aber der Zutritt wurde ihm verweigert. Auch «Maria» und «Muttergottes», «Papst» und «Engel» brachten ihn nicht weiter. Letztlich versuchte er es mit «Teufel666». Doch es half nichts. Matter stand auf, legte die Hände auf den Rücken und schlenderte rund um den Schreibtisch. Er hatte die folgenden Fakten: Der Priester Theophil Glatz pilgert nach Montecassino, zur Wirkstätte des Heiligen Benedetto von Nursia, macht einen Abstecher nach Rom, kommt nach einer Woche zurück nach Bern und stirbt in der Dreifaltigkeitskriche an einer Pilzvergiftung unter der Statue des Heiligen Sebastian, und zwar am 11. Juli, dem Gedenktag des Heiligen Benedikt. In seiner Tasche befindet sich ein Präparat gegen Übelkeit, das er am selben Tag in der Rathausapotheke gekauft hatte, sowie eine Schachtel Zäpfchen. Auf seinem Computer befindet sich ein Kommunikationstool, für das man ein Passwort braucht. Es scheint so etwas wie ein virtueller Beichtstuhl zu sein. Coprin, das Pilzgift an dem Glatz wahrscheinlich gestorben ist, wirkt nur, wenn man es zusammen mit Alkohol zu sich nimmt – bei Vikar Glatz also praktisch immer. Sollte er doch von einem Unfall ausgehen? Hatte der Vikar ein Pilzgericht gegessen, ohne zu wissen, dass er dazu keinen Alkohol trinken darf? Oder wurde er gezielt vergiftet? Dafür sprach die hohe Dosis Coprin, die man in dem Leichnam fand. Die hätte einen Ochsen getötet. Demnach hätte der Vikar mindestens zwei Kilogramm Faltentintling gegessen. In seinem Magen fand man aber nur winzige Reste von Eierschwämmli4. Der Rest des Mageninhalts, soweit noch vorhanden, deutete – nebst grösseren Mengen Chianti und ein paar Reiskörnern - auf eine Vorspeise aus «crostini alla rustica», als Primi «maccheroni con broccoli alla siciliana» und dann als Hauptgang einen «abbacchio al forno», Lammbraten aus dem Ofen mit einer Eierpilzsauce. Damit hatte es Glatz aber nicht bewenden lassen. Offensichtlich fand er auch noch ein Plätzchen für ein «Tiramisù» in seinem Magen, als würdiges Finale sozusagen. Und hätte er vor seinem Tod nicht erbrochen, wer weiss, was bei der Obduktion noch alles zum Vorschein gekommen wäre. Diese Angaben waren aber sehr unsicher, denn durch das viele Erbrechen fand man nur winzige Mengen der erwähnten Speisen im Magen. Auch mussten sie nicht zwangsweise von ein und derselben Mahlzeit stammen.

Über den Heiligen Sebastian fand Matter folgende Angaben im Heiligenlexikon: Gedenktag 20. Januar, nicht gebotener Gedenktag. Der Name Sebastian bedeutet «der Verehrung Würdige». Geboren in Mailand (oder Narbonne?), gestorben 288 (?) in Rom. Sebastian war nach dem Zeugnis des Kirchenvaters Ambrosius Mailänder, möglicherweise aber auch in Narbonne geboren, so eine Legende im Umfeld eines Sebastiangrabes in Rom. Danach war er Hauptmann der Prätorianergarde am kaiserlichen Hof Diokletians. Er lebte dort, ungeachtet des Verbotes, seinen christlichen Glauben, und bekehrte viele zum Christentum. Seine Stellung erlaubte ihm, seinen Glaubensgenossen in den Gefängnissen Roms beizustehen, ihnen Mut zuzusprechen und immer weitere Römer zu bekehren. Der Legende nach liess der römische Kaiser Diokletian Sebastian zur Strafe an einen Baum binden und von numidischen Bogenschützen erschiessen. Er wurde jedoch von den Pfeilen nicht getötet. Die Witwe des Märtyrers Castulus namens Irene nahm sich seiner an und pflegte seine Wunden. Als er sich wieder erholt hatte, trat er dem erstaunten Kaiser öffentlich entgegen, um ihm die grausame Sinnlosigkeit seiner Verfolgungen vorzuhalten. Diokletian liess ihn daraufhin im Circus von Rom zu Tode peitschen und die Leiche in die "Cloaca Maxima" werfen. Sebastian erschien der Christin Lucina im Traum und wies ihr den Ort; sie holte den Leichnam heraus und bestattete ihn an der Apostelkirche an der Via Appia, unter der heutigen Kirche San Sebastiano ad Catacumbas.

Und dann war da noch dieser Eintrag im Heiligenlexikon unter Benedetto di Nursia. Fritz Matter schlug das Lexikon nochmal auf und las: «Vater des Abendlandes .... Helfer bei Vergiftungen und Zauberei». Matter klappte das Buch zu, sagte „aha”, und verliess den Raum.

 

Die Agentur

 

Nickname, Enter-Taste. Passwort, Enter-Taste. Fünf Leute in der Warteliste. Theophil Glatz‘ Namenszug war rot, nicht blau. Und das bedeutet in der virtuellen Welt, dass er offline, also abwesend war. Sie sah auf die Uhr. Eine Zigarette, zwei, drei tiefe Züge. Die Sonne brannte auf die Terrasse. Um sechs hatte sie noch einen Termin. Noch eine Zigarette. Nichts. Theophil Glatz blieb rot. Nach fünf Minuten stand sie auf und knallte die Bürotür hinter sich zu. „Rebecca, hast du einen Moment Zeit?“

„Jetzt nicht, Kurt, Präsentation.“ Sie lief den Gang entlang. Felix Bringold, der Juniortexter kam ihr lächelnd entgegen: „Ach, Frau Affolter, Sie sind ja wieder aus Mailand zurück. Ist alles gut gelaufen bei den Arbeiten für den Spot?“ Die Werberin nickte kurz. „Alles bestens. Was haben Sie denn hier?“ Bringold hielt ihr ein Blatt hin. „Könnten wir den Text für die Rivella-Inserate besprechen?“

„Heute nicht mehr, Herr Burri.“ Sie hielt inne. „Zeigen Sie doch mal.“ Sie überflog die Zeilen. „Sehr gut, Herr Burri, abgesegnet.“ Sie drückte ihm das Blatt in die Hand. „Schönen Feierabend wünsch ich.“

„Danke, Frau Affolter, gleichfalls.“

Rebecca Affolter öffnete die Tür zum Sitzungszimmer. Vier Herren standen auf und grüssten höflich. Händeschütteln. Sie ging zum Notebook, startete und öffnete das Präsentationsprogramm.

„Geschätzte Herren. Leiterin einer Werbeagentur zu sein ist spannend. Man muss immer mit Überraschungen rechnen. Und welche bieten. Hier sind die Vorschläge für den TV-Spot.“

Eine halbe Stunde später war der Deal perfekt. Rebecca Affolters Werbeagentur «Alpha» hatte den Zuschlag für eine neue Werbekampagne der Versicherungsgesellschaft Balance. In einem Jährchen sind wir die Nummer eins in Bern, dachte Rebecca Affolter, und ich habe mein Ziel erreicht. Während sie die Unterlagen in ihrer Mappe verstaute, dachte sie an Adam Clavadetscher, diesen überheblichen Lackaffen der Konkurrenzagentur «Wings». Sie hatte ihn noch nie gemocht – und er sie auch nicht. Voll Bitterkeit dachte sie an den Pitch5 vor einem Jahr, den letzten, welchen Clavadetscher gegen sie gewonnen hatte. Der Sieg reichte ihm damals nicht, er musste ihre Agentur auch noch erniedrigen, indem er die von „Alpha“ präsentierte Arbeit in einem Interview für den Werbebund ins Lächerliche zog.

Sie würde ihm die Flügel brechen. Das hatte sie sich versprochen. Verbissen lächelnd schloss sie die Tür hinter sich, ging hinaus auf den Parkplatz, stieg in den roten Alpha Romeo und brauste davon.

 

Verwirrspiel

 

Die Tür mit der Aufschrift «Pfarrer Christoph Ineichen» stand offen. Fritz Matter klopfte trotzdem. Der Mann am Schreibtisch hob den Kopf. Blaue, stechende Augen. Graues Resthaar um die Glatze, schmale, krumme Nase. „Ja?“

„Grüessech, ich suche Pfarrer Christoph Ineichen, bin ich hier richtig?“

„Wer sucht ihn?“

Der Kommissar ging vor bis zum Schreibtisch und streckte die Hand aus: „Kommissar Fritz Matter von der Berner Kripo.“ Pfarrer Ineichen schaute in ein hageres Stoppelbartgesicht , klassische griechische Nase, dunkle Augen, dunkles, an den Schläfen leicht angegrautes Haar. Sein Blick glitt über das blaue Jackett unter dem sich ein kleiner Bierbauch wölbte, zur ausgestreckten Hand. Er nahm sie und sagte: „Sie sind hier richtig. Ich bin Pfarrer Ineichen.“ Schlaffer, feuchter Händedruck. Christoph Ineichen deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. „Ich kann mir denken, warum Sie hier sind, Herr Matter.“ Der Kommissar sank in den Stuhl und wischte sich unauffällig die rechte Hand am Hosenbein ab. Er hasste fremden Schweiss.

„Dann war Hugentobler schon bei Ihnen?“ Misstrauen blitzte in den blauen Augen des Pfarrers auf. „Wir sind eine Familie, Geheimnisse gibt es hier nicht, Herr Kommissar.“

„Hoffentlich gilt das auch für mich”, sagte Matter und lächelte. Er räusperte sich und fuhr fort: „Muss ein schwerer Verlust für Sie.... für die.... Familie sein, nun, da sie ein Mitglied verloren hat – mein Beileid übrigens!“

Ineichen wirkte leicht verwirrt. Matter überlegte gerade, ob er das dem Alter zuschreiben sollte – er schätzte Christoph Ineichen auf knapp siebzig Jahre – oder ob die Verwirrung mit seiner, Fritz Matters, Anwesenheit zu tun hatte. Er hatte sich noch nicht entschieden, als eine Seitentür aufging und eine Frau – Matter schätzte sie auf etwa sechzig Jahre – erschien. „Wünschen Sie noch etwas, Herr Pfarrer, bevor ich in die Stadt zum Einkaufen gehe?“

„Zwei Kaffee bitte, Fräulein Maria, zwei Kaffee – ja, Herr Kommissar?“

„Schwarz und süss wenns geht bitte.“ Es ging. Der Kaffee schmeckte etwas muffig, so ähnlich, wie das Arbeitszimmer des Pfarrers roch.

„Ach”, setzte der Pfarrer an, „ich habe ja noch gar nicht vorgestellt: Das ist Fräulein Maria Huber, meine Haushälterin.“ Das sechzigjährige Fräulein lächelte. „Und das ist der Herr Hauptkommissar Fritz Matter von der Berner Kripo.“

„Freut mich, Herr Kommissar, aber ich muss jetzt wirklich runter zum Einkaufen.“ Sie nickte kurz und verschwand.

„Ist Frau Huber schon lange in Ihren Diensten, Herr Pfarrer?“

„Fräulein Huber, Herr Matter, darauf beharren wir.

---ENDE DER LESEPROBE---