Auf Wolke Sieben sitzen auch nur Frösche - Britt Gerken - E-Book
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Auf Wolke Sieben sitzen auch nur Frösche E-Book

Britt Gerken

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Beschreibung

Sich zu verlieben, ist wie ein Pflaster abziehen: Erst tut es richtig weh, bevor es sich gut anfühlt!

Ylvi liebt Sahnetorten, ihre Schildkröte Kalle und heimlich auch ihren Mitbewohner und besten Freund Tom. Aber damit soll jetzt Schluss sein. Schließlich ist sie Ende 30 und ihre biologische Uhr tickt unüberhörbar. Doch bevor sie Tom ihre Liebe gestehen kann, zieht dessen neue Freundin Sandra ein - samt Yogamatte und Glitzer-Deko-Einhörnern. Also muss ein neuer Mann her! Leider sind die einzig verfügbaren Männer der Typ, dem sie nachts nackt auf dem Hotelflur begegnet, und ein schmieriger Proktologe. Ach, und dann wäre da noch Hannes vom Schildkrötenstammtisch. Aber der ist nun wirklich kein Traummann. Oder etwa doch ...?

Der Debütroman von Britt Gerken überrascht mit frechen Figuren, erfrischenden Dialogen und unvorhergesehenen Wendungen! Ein spritziger Liebesroman für Leserinnen von Petra Hülsmann, Sophia Money-Coutts und Mhairi MacFarlane.

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Seitenzahl: 451

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. KapitelEpilog

Über dieses Buch

Sich zu verlieben, ist wie ein Pflaster abziehen: Erst tut es richtig weh, bevor es sich gut anfühlt!

Ylvi liebt Sahnetorten, ihre Schildkröte Kalle und heimlich auch ihren Mitbewohner und besten Freund Tom. Aber damit soll jetzt Schluss sein. Schließlich ist sie Ende 30 und ihre biologische Uhr tickt unüberhörbar. Doch bevor sie Tom ihre Liebe gestehen kann, zieht dessen neue Freundin Sandra ein – samt Yogamatte und Glitzer-Deko-Einhörnern. Also muss ein neuer Mann her! Leider sind die einzig verfügbaren Männer der Typ, dem sie nachts nackt auf dem Hotelflur begegnet, und ein schmieriger Proktologe. Ach, und dann wäre da noch Hannes vom Schildkrötenstammtisch. Aber der ist nun wirklich kein Traummann. Oder etwa doch …?

Über die Autorin

Britt Gerken arbeitet in einer Arztpraxis und erfährt dort jeden Tag, dass Gesundheit der größte Reichtum, Liebe der kostbarste Schatz und Lachen die beste Medizin ist. Sie hat drei erwachsene Töchter, acht Beinahe-Schwiegersöhne und einen Ehemann, der seltene Pflanzen züchtet und die Wohnung regelmäßig in ein Gewächshaus verwandelt. Zur Freude der Schnecken, Wühlmäuse und Vögel in ihrem Garten gibt sie den Versuch nicht auf, eigenes Gemüse anzubauen. Ihre Kreativität lebt sie gerne beim Kochen ohne Rezept aus und liebt es, andere Menschen mit ihren Geschichten zu erfreuen. Das schriftstellerische Handwerk hat Britt Gerken in einem Fernstudium bei der Textmanufaktur erlernt und tauscht sich gerne mit anderen Autoren einer Oldenburger Schreibwerkstatt aus.

BRITT GERKEN

Auf

Wolke 7

sitzen auch nur

Frösche

Roman

Deutsche Erstausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Charlotte Inden

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © Oleg Belov/shutterstock | © Olinda/shutterstock

E-Book-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0146-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Ist es mehr als nur Freundschaft?

Verbringst du mehr Zeit mit deinem besten Freund als mit deiner besten Freundin? Ist eure Bindung so eng, dass kein Blatt Papier zwischen euch passt? Beschleicht dich manchmal der Gedanke, dass da mehr sein könnte als nur Freundschaft?

Dann mach mit bei unserem Test und finde endlich Klarheit: Ist es der beste Freund oder die Liebe fürs Leben?

Aus dem Psychotest der Modern Woman, Juniausgabe

1. Kapitel

Genüsslich leckte ich den Rührlöffel ab, an dem noch ordentlich Schokoladenteig klebte. Die süße Masse umschmeichelte meine Geschmacksknospen, die Herbe des Rohkakaos wurde von einem Hauch Bourbonvanille und der Karamellnote von braunem Zucker abgemildert. Der fertige Tortenboden würde mit der süßsauren Himbeersahne und der nussigen Pistaziencreme perfekt harmonieren und ein farbenfrohes Prachtstück von Torte ergeben.

Teignaschen war und ist für mich mit das Schönste am ganzen Backen. Im Gegensatz zum Aufräumen danach.

Mein Blick wanderte über das Schlachtfeld, in das ich unsere WG-Küche regelmäßig bei meinen Backsessions verwandelte. Bei meiner Oma gehörte früher jeden Sonntag ein anständiges Stück Torte auf den Tisch, und das wöchentliche Backen lief durchchoreografiert wie ein Auftritt des Deutschen Fernsehballetts ab. Vom Fußboden hätte man essen können, so sauber hinterließ sie ihre Bühne. Bei mir hingegen türmten sich aufgerissene Packungen, offene Schraubgläser, verklebte Schüsseln und Löffel auf der ganzen Arbeitsfläche. Mehl, Kakao und sogar ein, zwei Eierschalen waren über den Fußboden verteilt, sodass man glatt hätte glauben können, ich verteilte beim Backen rituelle Opfergaben an Mutter Erde.

Ich gab mir einen Ruck und machte mich mit einem theaterreifen Seufzen ans Aufräumen.

Ein Stockwerk unter mir ertönte Bella Bimba, das einzige Flötenstück, das die kleine Tochter unserer Unternachbarin spielen konnte. Voller Inbrunst blies sie in ihre Blockflöte, und sobald sie am Ende des Liedes angekommen war, fing sie wieder von vorne an.

Wie gerufen näherte sich vom Wohnungsflur eifrig surrend unser Saugroboter. Er rumste zweimal gegen den Türrahmen, so als hätte er Wodka statt Strom im Akku. Endlich fand er den Weg in die Küche, wo er sich begeistert über Kakao und Mehl hermachte. Doch ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, dass Kalle, meine Ägyptische Landschildkröte, auf ihm saß – und drohte herunterzufallen. Mit einem Satz war ich beim Staubsauger, packte mein Haustier mit beiden Händen und beendete damit seine Ausfahrt auf dem Gerät.

»Tom!«, rief ich. »Was soll das denn?«

Normalerweise mögen Schildkröten nicht gerne hochgehoben werden, doch Kalle und mich verband die Geschichte einer dramatischen Rettungsaktion. Ich hatte ihn in einem Müllcontainer gefunden, in den ihn ein Tierquäler hineingeworfen haben musste, nachdem er Kalles Panzer mit einem spitzen Hammer zertrümmert hatte. Seit ich Kalle gesund gepflegt hatte, war er zutraulich wie ein kleiner Hund.

»Was macht er denn wieder mit dir, mein armer Liebling!« Ich schaute Kalle tief in seine weisen Augen, als dieser vorsichtig das Köpfchen aus dem Panzer schob. Er ruderte mit seinen Stummelbeinchen und streckte den Kopf noch etwas weiter heraus.

»Tom!«, rief ich erneut, dieses Mal etwas schärfer. Doch mein bester Freund und Mitbewohner reagierte nicht.

Ich nahm ein Salatblatt aus dem Kühlschrank und hielt es dem kleinen Kerl auf meinem Arm vor die Nase. Sofort rupfte Kalle ein Stückchen davon ab. Ich setzte ihn auf den Küchenfußboden und ließ ihn fressen.

Der Roboter beseitigte die Mehl- und Kakaospuren in der Küche. Ich warf noch die Eierschalen in den Müll. Das letzte Grün verschwand in Kalles Mäulchen, und er reckte erwartungsvoll den Hals. Ich setzte ihn mir auf den Unterarm, und gemeinsam stiefelten wir über den Flur zu Toms Zimmer hinüber.

Wie üblich war die Tür nur angelehnt. Hektisches Mausklicken, Schüsse und Detonationen, Schreien und Stöhnen schallten mir entgegen.

»Tom?« Ich streckte den Kopf durch seine Zimmertür.

Er war voll auf sein Computerspiel konzentriert und wandte sich mir nur kurz zu.

»Na?«, fragte er so gut gelaunt wie üblich.

Tom surfte auf einem Board der Unbedarftheit und Sorglosigkeit durchs Leben, was mich je nach Stimmungslage neidisch machen oder, so wie jetzt, in Rage versetzen konnte. Er merkte doch einfach gar nichts mehr!

»Na?«, erwiderte ich und legte dabei ein Grollen in meine Stimme. »Hast du Kalle auf den Staubsauger gesetzt?«

»Was?« In einem Affentempo hämmerte er mit links auf die Tastatur, während er mit rechts in einem irren Stakkato die Maus anklickte.

»Ob du Kalle auf den Roboter gesetzt hast!«, rief ich gegen den Lärm an. »Er hätte sich übel verletzen können, wenn er heruntergefallen wäre.«

»Was? Nö.« Unbeeindruckt metzelte Tom ein Monster nieder, das sich ihm in den Weg stellte. Blut spritzte, die Gedärme quollen hervor, die Bestie stieß einen erschrockenen, fast empörten Schrei aus, dass sie jetzt tot war. »So etwas würde ich doch nie tun!« Sein Avatar fuchtelte auf dem Bildschirm beidhändig mit Macheten herum, während die gereizten Kumpels des getöteten Monsters auf ihn zustürmten. Doch ich sah ein kleines Grinsen auf seinem Gesicht aufflackern.

»Du würdest und du hast! Er ist ganz bestimmt nicht alleine auf den Staubsauger geklettert!« Sanft kratzte ich mit dem Zeigefingernagel Kalle unter dem Kinn. »Du armer Kerl.« Ich drückte ihm einen Kuss auf die Nase, woraufhin er den Kopf ruckartig in den schützenden Panzer zurückzog.

Tom sah das aus den Augenwinkeln und lachte. »Der Prinz will wohl noch nicht erweckt werden, da musst du vorerst weiter mit mir vorliebnehmen.«

Ich hielt abrupt mit den Liebkosungen inne und schluckte. Trotz meines Ärgers auf Tom hallte ein ungebetener Gedanke durch meinen Kopf: Nichts lieber als das.

»Fuck!« Tom schubste seine Computermaus beiseite. Eine traurige Melodie ertönte. Auf dem Monitor erschien ein mit verschnörkelten Ornamenten verziertes Schild, auf dem »Game Over« stand. Tom seufzte und streckte sich ausgiebig, dabei knackte ein Schultergelenk. Sein T-Shirt rutschte hoch und gab einen blassen, mit rötlichem Haarflaum bedeckten Bauch frei.

Mein Blick fiel auf die Fotowand hinter Tom, die ich ihm vor einigen Jahren zum dreißigsten Geburtstag gebastelt hatte. Wir beide als Kinder, nackig planschend am Badesee, Tom an seinem ersten Schultag, mit vor Stolz glühenden Wangen und einer Schultüte im Arm, die beinahe so groß war wie er. Dazu Bilder von verschiedenen Geburtstagen, Ostern, Weihnachten. Unten hatte ich die ältesten Aufnahmen hingeklebt, oben die jüngsten. Da ich nur wenige Fotos von früher besaß, wurden es nach oben hin immer mehr Bilder. Rechts Aufnahmen von mir, links von ihm, in der Mitte gemeinsame Freunde und Verwandte von mir, die Tom wie ein Familienmitglied angenommen hatten, als er über Nacht plötzlich mutterseelenallein war.

Die Spitze der Komposition bildete jeweils ein aktuelles Foto von ihm und von mir. Das Ganze hatte insgesamt die Form eines Herzens bekommen und hätte im Foyer einer Hochzeitsgesellschaft stehen können. Was keineswegs beabsichtigt gewesen war. Da hatte mein Unterbewusstsein wohl mit Klebestift und Fotokarton eine kleine Liebesbotschaft produziert, bevor ich realisiert hatte, dass ich mehr als nur Freundschaft für ihn empfand.

Es war einfach so passiert. Ohne besonderen Anlass hatte ich begonnen, meinen besten Freund mit anderen Augen zu sehen. Als hätte ich eine Brille aufgesetzt, die mit einem speziellen Filter versehen war, der ihn attraktiv und begehrlich erscheinen ließ. Wie diese roten Lampen über der Fleischtheke, die jedes gräuliche Schnitzel in ein appetitliches Rosa tauchen. In letzter Zeit ertappte ich mich öfter bei Tagträumereien, in denen wir beide die Hauptrolle spielten. Er und ich und ein kleiner Rotschopf mit Sommersprossen auf einer Schaukel in einem Garten, in dem auch noch Platz für ein großzügiges Kalle-Freigehege war.

Tom folgte kurz meinem Blick auf die Fotowand, kratzte sich gähnend die Brust unter seinem Shirt und nahm mir mit beiden Händen die Schildkröte ab. Kalle blinzelte zaghaft aus seinem Panzer heraus.

»Wir Jungs lieben halt schnelle Autos und schöne Frauen, nicht wahr, Kumpel?« Er machte eine Ghettofaust, boxte vorsichtig gegen eines der vorderen Stummelbeinchen und setzte Kalle auf den Boden. Der watschelte los und hinterließ einen wurmförmigen Kötel. Tom lachte auf, als er das sah, und warf sich zurück auf seinen Schreibtischstuhl. Dann wandte er sich abermals dem Bildschirm zu und startete ein neues Spiel.

»Da hast du seine Meinung dazu.« Ich fand ein zerknülltes Papiertaschentuch in der Hosentasche und wischte Kalles Hinterlassenschaft damit auf. Meine Wangen fühlten sich heiß an, als ich mich wieder aufrichtete, was zumindest teilweise auf das Bücken zurückzuführen war, denn als schöne Frau hatte Tom mich bisher noch nie bezeichnet.

Los, nun sag’s ihm endlich!, feuerte mich eine innere Stimme an.

»Hast du was?«, fragte Tom an den Monitor gewandt, nachdem er einen schnellen Blick auf mich geworfen hatte. Ein Horn ertönte, und einer seiner virtuellen Gefolgsleute rief: »Macht euch bereit für den Kampf!«

»Kalle ist ein traumatisiertes Tier und kein Spielzeug, das man auf Staubsaugern durch die Gegend fahren lässt.« Vom eigentlichen Thema abzulenken war meine Königsdisziplin. Kaum kam auch nur ansatzweise eine Gelegenheit um die Ecke gehuscht, ihm meine Liebe zu gestehen, sprang ich schnell zur Seite. Ich spürte den Puls in den Schläfen puckern. »Wie kannst du nur immer so ignorant sein!«

Tom warf mir einen prüfenden Blick zu und drückte die Pausentaste, er merkte wohl, dass er den Bogen dieses Mal überspannt hatte. Theatralisch fasste er sich ans Herz, rutschte vom Stuhl und sank vor mir auf die Knie. »Kannst du mir noch mal verzeihen?«

Wider Willen musste ich über diesen Kindskopf lachen. Wie sollte ich mit ihm ein ernsthaftes Gespräch über Tierquälerei, geschweige denn über unsere Zukunft führen?

Er stand auf und zog mich fest in seine Arme. Ich atmete den vertrauten Geruch ein. Tom roch immer irgendwie nach Sommer. Nach in der Sonne getrockneter Wäsche und im Wind wogenden Gräsern, mit einem herben männlichen Unterton.

»Männer werden sieben Jahre alt, und danach wachsen sie nur noch«, murmelte ich und zitierte damit die Überschrift des Leitartikels in der letzten Modern Woman, meiner Lieblingszeitschrift. In dem aufschlussreichen Artikel ging es darum, wie Frauen ihre Ziele bei Männern besser erreichen konnten.

Er lachte leise, und ich umklammerte ihn fester. Mein Herz hämmerte heftig gegen seinen Brustkorb. Ich spürte Toms wachsenden Widerstand, doch bevor er sich von mir lösen konnte, fuhr ich mit der Hand über seinen Rücken und fühlte unter der Glätte des T-Shirt-Stoffs seine sehnige Anatomie. Schnell drückte ich den Mund in die weiche Haut an seinem Hals und wölbte die Lippen zum Kuss.

»Ich liebe dich«, dachte ich, so laut ich nur konnte.

Tom versteifte sich, als hätte er es gehört, und schob sich energisch von mir weg. Ein schmatzendes Ploppgeräusch hallte wie ein Donnerschlag durch sein Zimmer, als sich meine Lippen von seiner Haut lösten. Er sah mich forschend an, ließ seine Hände aber zunächst auf meinen Oberarmen ruhen. Dann nahm er im Zeitlupentempo eine Hand weg und wischte mit dem Daumen über die feuchte Stelle am Hals.

Vor Verlegenheit suchte ich den Boden nach Kalle ab.

»Was ist denn los mit dir? Du musst doch nicht sterben oder so?«, fragte er, löste auch die andere Hand und kratzte sich damit den Hinterkopf. »Du bist in letzter Zeit irgendwie so komisch.«

»Nein …« Ich schüttelte den Kopf und spürte die Hitze auf meinen Wangen. »Aber wenn Kalle etwas passiert wäre! Und wir müssen diesen Staubsauger wieder abschaffen. Das ist einfach zu gefährlich für ihn.«

Ein paar Sekunden lang musterte er mich schweigend, seufzte und zog mich noch einmal an sich heran. »Du und dein geliebter Kalle, da verstehst du echt keinen Spaß, oder?« Er strich mir mit einer kurzen Bewegung übers Haar, hob mein Kinn mit einem Zeigefinger und suchte meinen Blick. Ein elektrisierendes Kribbeln zog von meinem Kopf die Wirbelsäule entlang und breitete sich wolkenartig hinter dem Bauchnabel aus.

»Von mir aus greife ich halt wieder jeden Samstag selber zum Staubsauger und sauge die Bude durch«, sagte er. »Und ich werde Kalle ab sofort immer behandeln wie ein rohes Ei. Versprochen! Damit deinem Liebling nichts passiert. Okay?«

Ich nickte stumm und ließ mit rasendem Puls den Moment verstreichen. Geliebter. Liebling. Wie hypnotisiert starrte ich auf seinen Mund.

»Du riechst schon so lecker. Wann ist die Torte fertig?« Tom ließ mich los und warf sich zurück in das weiche Leder seines Chefsessels. »Ich habe nämlich ganz schön Kohldampf.«

Er hatte »Du riechst schon so lecker« gesagt, nicht »Es riecht hier lecker«. Die Kribbelwolke in meinem Bauch waberte nun durch meinen ganzen Körper.

»Ist noch im Ofen. Kommst du später mit zu Oma ins Heim? Ihr ein Stück Torte bringen?«, fragte ich und bemühte mich, das Keuchen in meiner Stimme zu unterdrücken.

Tom warf mir über die Schulter einen schnellen Blick zu. Die Fanfaren, die jetzt aus den Computerlautsprechern dröhnten, läuteten den Start einer neuen Spielrunde ein.

»Klar, Oma Hermine freut sich doch immer so, wenn ich komme«, sagte er geistesabwesend. Konzentriert klickte er auf diverse Ausrüstungsgegenstände und legte eine virtuelle Rüstung an, mit der er in die nächste Spielrunde ziehen konnte.

Das stimmte. Meine Oma hatte an Tom einen Narren gefressen und liebte ihn wie einen leiblichen Enkel. Mit ihrem großen Herzen für verlassene Kinder hatte sie ihn genauso wie mich in ihre weichen Arme geschlossen, als uns keiner mehr wollte.

Mein Atem beruhigte sich langsam. Irgendwie war ich erleichtert, dass das Boot zurück in bekannten Gewässern war und wir den riesigen Eisberg namens Liebe umschifft hatten.

Einen Augenblick lang schaute ich ihm über die Schulter, verstand aber nichts von dem, was er dort trieb, und als die Schlachtrufe ertönten, verließ ich sein Zimmer.

Ich holte Kalle auf dem Flur ein und beförderte ihn auf den Balkon, wo ich ihn auf seinem Sonnenplatz postierte, einer mit weichem Torf gefüllten flachen Holzkiste. Während Kalle träge in der Erde scharrte, setzte ich mich mit einem tiefen Seufzen in den Liegestuhl, genoss die warme Sonne und sah in den wattigblauen Himmel. Der Abwasch konnte warten.

Ich versuchte, die Ruhe des Frühsommersonntags in mich aufzunehmen und meinen inneren Aufruhr zu besänftigen. Glücklicherweise war die Flötenstunde unten inzwischen beendet, doch die Melodie von Bella Bimba dudelte noch in meinem Ohr munter vor sich hin. Ich konzentrierte mich auf meine Umgebung, hörte die Hummeln in den Blüten der Balkonpflanzen brummen, den Wind durch die Blätter der Linde vor unserem Haus rauschen und ein Taubenpärchen auf dem Dach gurren.

Gott, ich hatte ihn geküsst! Du meine Güte, ich hatte mich an ihn gesaugt wie ein Putzerfisch ans Aquariumsglas. Ich presste meine Fingerkuppen auf den Mund. Wie peinlich! Zum Glück hatte ich die Kurve gekriegt. Doch es musste ja auch endlich mal was passieren, denn neben meinen diffusen Gefühlen für Tom lag der Beweis ganz unten in der Altpapierkiste verbuddelt: das Ergebnis des Psychotests in der Modern Woman. Es konnte nur Schicksal sein, dass ausgerechnet in diesem Monat dieser Test in meiner Lieblingszeitschrift erschienen war. Das Orakel hatte gesprochen, und ich hatte es vernommen. Da half alles Ignorieren und Vergraben nichts. Ich hatte die Testauswertung so oft gelesen, dass ich sie auswendig konnte.

Ich hatte satte sechsunddreißig Punkte erzielt und landete damit bei: 26 bis 40 Punkte: »Da ist mehr als nur Freundschaft.«

»Du solltest ehrlich mit dir sein und dir eingestehen, dass da mehr als nur freundschaftliche Gefühle im Spiel sind. Auch wenn du ihn lediglich als einen guten Freund bezeichnest, so musst du doch zugeben, dass du dich von diesem Mann in Wirklichkeit extrem angezogen fühlst. Gehe in dich und überlege, ob dein bester Freund sich als Partner eignen würde. Lass diese Chance nicht verstreichen und finde heraus, ob es ihm ebenso ergeht. Frage dich, wie oft einem die wahre Liebe im Leben begegnet, und sage dir: Das Leben ist zu kurz für verschenkte Zeit!«

Immerhin hatte ich mit dem unbeholfenen Kuss einen ersten Schritt getan und die Tür ein wenig aufgestupst. Ich brauchte nur noch den Mut zu fassen, sie ganz aufzustoßen. Dafür musste ich einfach für den richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte bereithalten. Männer benötigten klare Anweisungen. Das stand in dem Leitartikel der Modern Woman. Kein Herumgeschwafel, sondern direkt auf den Punkt kommen. Erst ein Lob vorweg, dann kurze prägnante Sätze folgen lassen. Dergestalt verpackte Informationen würden mit Vollgas über die neuronale Schnellstraße direkt und ungebremst im männlichen Kortex landen. Ich überlegte wohl zum hundertsten Mal, wie ich es anstellen konnte, das Unaussprechliche in klare Worte zu fassen.

Wie du ganz richtig bemerkt hast, hat sich etwas geändert zwischen uns. (Lob!) Tom, ich liebe dich und will ein Kind von dir! (Kurz und prägnant!)

Ich konnte es hin und her wenden, wie ich wollte. Erst wenn ich absolut sicher war, dass Tom ähnlich empfand wie ich, würde ich einen konkreten Vorstoß wagen. Ich musste zunächst noch Beweise dafür sammeln, dass er in mir eine begehrenswerte Frau und nicht nur so etwas wie eine Schwester sah. Der Anfang war gemacht. Die ersten Anzeichen machten mir durchaus Hoffnung.

2. Kapitel

Ein helles Kinderstimmchen ertönte vom Balkon unter mir und riss mich aus meinen Gedanken: »In der Weihnatzbätterei!« Begleitet wurde das Kinderlied von dem rhythmischen Quietschen eines Minitrampolins. Vorbei war es mit der Sommersonntagsruhe.

Ich erhob mich vom Liegestuhl, schob mich zwischen den in voller Blütenpracht stehenden Löwenmäulchen und Fleißigen Lieschen hindurch und beugte mich weit über das Balkongitter. Ich war gerade den Bella-Bimba-Ohrwurm losgeworden und hatte keine Lust darauf, dass sich jetzt der In-der-Weihnachtsbäckerei-Wurm in meinem Innenohr einnistete.

»Dibbs so mansche Letterei«, sang meine kleine Unternachbarin.

»Hallo Prissi!«, rief ich und unterbrach damit das Lied, das sie neben ihrem Flötenstück stundenlang von sich geben konnte, wie eine süße kleine tibetanische Gebetsmühle, die ständig gedreht wird. Das erbärmliche Quietschen der Trampolinfedern verstummte, als sie mit dem Hüpfen innehielt und mich in freudiger Erwartung ansah.

»Hallo«, erwiderte sie und schenkte mir ein Zahnlückenlächeln. Mit den weit auseinanderstehenden Augen, ihrer breiten Nase und den vorstehenden Schneidezähnen erinnerte sie mich immer an Sid, das Faultier aus Ice Age.

»Sag mal, lernt ihr im Kindergarten auch andere Lieder? Weihnachtslieder singt man ja eigentlich nur, na ja, an Weihnachten eben.« Neuerdings ging die Kleine in den katholischen Kindergarten um die Ecke.

»Ja, abba die tann ich noch nich«, antwortete sie und zog einen dramatischen Schmollmund.

»Ach, die lernst du ganz schnell, wart mal ab. Singt ihr dort jeden Tag?«

Ihr eifriges Nicken brachte die Trampolinfedern erneut zum Quietschen und ließ ihre Locken auf und ab wippen. »Abba ssuerst betteln wir da deden Morden.«

»Aha«, erwiderte ich und unterdrückte ein Lachen, denn ich wollte nicht, dass die Kleine glaubte, ich würde sie auslachen. Ich wusste genau, wie weh das tat.

»Vorm Frühs-dütt.«

»Ihr betet vor dem Frühstück. Aha.« Auch wenn ich ihren kleinen Sprachfehler noch so bezaubernd fand, konnte ich mir eine Verbesserung nicht verkneifen. »Und hast du auch schon eine Freundin? Im Kindergarten?«, fragte ich mit besonderer Betonung auf dem K und dem G.

Prissi kniff angestrengt die Augenbrauen zusammen.

»Nee. Nur dich«, sagte sie schließlich mit ernster Miene und einem lockenwippenden Nicken. Auch das Trampolin stimmte knarzend zu.

»Nur mich? Och, das ist aber süß. Du bist auch meine Freundin.« Wir lächelten uns an, und mir wurde ganz warm ums Herz. Geschlagen mit dem Namen Priscilla, Kurzform Prissi, und einem Aussehen, das jeden, der nach der Nennung dieses Namens ein hübsches Prinzesschen erwartete, nur enttäuschen konnte, fühlte ich echte Verbundenheit mit dem Kind. Bei meinem Vornamen rechneten auch alle mit einem federzarten Persönchen und nicht mit einer Frau im Format eines Kleiderschranks. Quadratisch, praktisch, gut, wie meine Lieblingsschokolade. Ein Gutes hatte es, Körpermaße wie ich zu haben: Mich übersah so schnell keiner. Aber mal ehrlich, mit dem Namen Walburga wäre meine Mutter den Tatsachen ein wenig näher gekommen. Und ich war bei der Geburt schon ein echter Brocken gewesen, da hätte sie bereits etwas ahnen können.

»Ylvi?«, fragte Priscilla.

»Ja?«

»Weißt du wa-has?«

»Was?«

»Wir dürfen da tein Nutellabrot. Im Tinderdarten.«

»Ach herrje!«

»Und tein Eistee. Und teine Milchschnütte.«

»Du meine Güte.«

Wir schüttelten in stillem Einvernehmen die Köpfe.

»Na ja, nachher gibt es wieder ein schönes Stück Torte bei uns«, tröstete ich sie. »Wenn du Lust hast, kannst du mir helfen, die Tortenfüllungen zu machen. Himbeersahne und Pistaziencreme.« Ich zwinkerte ihr zu.

Sie nickte so begeistert, dass ihre Locken erneut fröhlich wippten.

»Juhu!«, rief sie und sprang vom Trampolin, »ich hole noch snell Söh-Dsotz!«

Ach je, das konnte ja wieder was werden. Sir George blieb nichts erspart. Der steinalte Perserkater gehörte unserem Hausbesitzer Herrn Dornenkamp aus dem Souterrain. Mittlerweile war der Kater so dement, dass er vergessen hatte, was für ein grantiger Kerl in ihm steckte. Nun ließ er sich ohne Einsatz seiner allseits gefürchteten Krallen von Prissi durch die Gegend schleppen und Milch im Puppengeschirr servieren.

Ich ging zurück in die Küche und räumte weiter auf, da hörte ich auch schon Getrappel aus dem Treppenhaus. Im nächsten Moment stürmte Prissi in unsere Wohnung – wir schlossen unsere Wohnungstür nie ab. Ich wischte meine Hände an meinem Hosenboden ab und ging in den Flur. Prissi glühte förmlich vor Vorfreude, was man von dem Kater, der mit baumelnden Pfoten in ihren Armen hing, nicht behaupten konnte. Er steckte in einem rosafarbenen Tüllröckchen,und um seinen Hals trug er eine pinkfarbene Geschenkschleife. Sein missmutiger Gesichtsausdruck stand dermaßen krass im Gegensatz zu seinem Primaballerina-Outfit, dass ich laut loslachte. Auf Vorsicht bedacht nahm ich Prissi den Kater ab. Eine Narbe am Handrücken von einem seiner Pratzenhiebe reichte mir vollkommen.

»Ich glaube, das findet er nicht so toll. Komm mal her, mein Freund.« Sir George stieß einen Laut aus, der eher an Walgesang als an Katzensprache erinnerte, ließ sich aber ohne weiteren Kampf von dem Tanzröckchen und der Schleife befreien. Orientierungslos blickte er sich im Treppenhaus um, als ich ihn absetzte.

»Orrr-h!«, klagte er.

»Bring ihn doch auf sein Kissen im Flur, er kann uns sowieso nicht helfen.«

»Prissi! Prissilein! Komm, du bist noch nicht fertig mit Flöteüben!«, tönte die schrille Stimme von Priscillas Mutter Gabi durchs Treppenhaus.

Prissi ließ die Arme und den Kater sinken und sah sich mit einem traurigen Blick zu mir um.

»Prissi-Schatz!« Der Tonfall ihrer Mutter machte jede Diskussion überflüssig.

Prissi zuckte entschuldigend mit den Schultern und rollte mit den Augen. »Ich hab sie mir nicht ausgesucht«, sagte ihr Mienenspiel. Für diesen Blick hätte ich sie küssen mögen.

»Orr-h!«, kommentierte Sir George die Lage.

Wir warfen uns zum Abschied Kusshände zu, dann schnappte sie sich den Kater, hopste mit ihm die Treppe hinunter und brachte ihn zu seinem Lieblingsplatz auf der Fensterbank im Treppenhaus.

»In der Weinatzbätterei«, trällerte sie beim Hinabspringen.

Ich ging an den Schlachtrufen aus Toms Zimmer vorbei zurück in die Küche. Der Ofen brummte zufrieden, atmete seinen süßlichen Schoko-Vanille-Duft aus. Durch die geöffnete Balkontür ertönte bereits die nächste Runde Bella Bimba in Endlosschleife, und ich machte mich wieder an den Abwasch.

Unser Kind würde weder schwachsinnige Flötenlieder üben müssen, wenn es lieber backen wollte, noch Nutellabrotverbote auferlegt bekommen. Und es sollte so viel Milchschnitte essen und Eistee trinken dürfen, wie es wollte. Das Leben war zu kurz für verschenkte Zeit.

3. Kapitel

Schweißnass saß ich später an diesem Sonntagnachmittag neben Tom in Omas Zimmer im Seniorenheim. Wir waren viel zu spät losgekommen. Mein Firmenwagen war vor Kurzem den Sparplänen der Firma zum Opfer gefallen, und Tom hatte mal wieder den Schlüssel für sein Auto nicht gefunden, sodass wir mit den Fahrrädern hatten fahren müssen.

Sein Wagen war ein echtes Liebhaberstück. Ein Ford Mustang, mitternachtsblau mit zwei weißen Streifen, die sich über die langgestreckte Motorhaube zogen, Jahrgang 1978. Mit dem Erwerb hatte er sich einen Kindheitstraum erfüllt. Schon seine Matchbox-Sammlung bestand fast ausschließlich aus Autos dieses Typs. Statt sich einen anständigen Wagen zu kaufen, gab er das Preisgeld, das er vor einigen Jahren bei seinem ersten großen E-Sports-Wettkampf erzielt hatte, für dieses röhrende, benzinsaufende Monstrum aus.

Zum Radfahren gezwungen zu sein war gar nicht so verkehrt gewesen, nun durfte ich mir wenigstens ohne schlechtes Gewissen ein üppiges Stück Sahnetorte gönnen. Das, was da vor uns auf dem Klapptischchen von Omas Nachttisch prangte, war mal wieder ein wahres Prachtstück von Torte, nur leider etwas windschief vom Transport im Tortencontainer auf dem Fahrrad.

Wir warteten darauf, dass Oma aus ihrem Badezimmer auftauchte, in dem sie vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war. Tante Rotraud, die verspannte Zwillingsschwester meiner Mutter Barbara, war auch zu Besuch. Sie nutzte Omas Abwesenheit, um die Schränke im Zimmer zu inspizieren.

Ich kannte die beiden Schwestern nur in ständigem Wetteifern um die schlankste Taille. Wespentaille nannten sie das. Mir war schon als Kind schleierhaft gewesen, wie einem das wichtiger sein konnte als Omas wolkige Bienenstichtorte, bei der die himmlisch dicke Vanillecreme zwischen den karamellisierten, knusprigen Mandelteigböden nur so herausquoll. Deswegen besaß ich nun ja auch keine schmale Wespentaille wie sie, sondern füllige Hummelhüften wie Oma.

Tom war der festen Überzeugung, dass es bei der Geburt der Zwillingsschwestern eine Verwechslung gegeben haben oder dass eine genetische Verirrung vorliegen musste, da die beiden derart aus der Art schlugen. Er nannte sie auch immer nur Mu-Tante Trudi und Mu-Tante Babsi, wenn er von ihnen sprach, was außer mir keiner witzig fand.

»Ha!«, rief Tante Trudi und hob triumphierend eine Flasche Sahnelikör in die Luft, die im Schuhschrank versteckt gewesen war. Alkohol war im Seniorenstift strikt untersagt. Als ob ein kleiner Schwips im Alter schaden könnte.

»Wusste ich es doch.« Missbilligend verzog sie ihren ohnehin schon verkniffenen Mund.

»Lass sie doch.« Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Das wird sie sicherlich nicht töten. Sie ist doch alt genug, um zu wissen, was sie tut.« Ich schnappte mir Omas Pillenbox von ihrem Nachttisch und überprüfte, ob die darin befindlichen Tabletten für den Sonntagabend und Montagmorgen auch die richtigen waren. Abends eine halbe Tablette vom Betablocker und morgens zusätzlich noch Aspirin zur Blutverdünnung. Ihre mittägliche Herztablette hatte sie anscheinend schon genommen. Schien alles zu stimmen.

Tom lachte verhalten und legte einen Fuß lässig auf dem Oberschenkel ab. »Wo kriegt sie das Zeug eigentlich immer her?«, fragte er und spielte scheinheilig mit dem Schnürsenkel seines Turnschuhs. Der Heuchler wusste ganz genau, dass ich die Quelle des Likörs war. Manchmal mixte ich den auch selber und gab als Verfeinerung ein paar Löffel Nutella oder Karamellsirup dazu. Ich warf Tom einen warnenden Blick zu.

»So bekommt sie wenigstens etwas Flüssigkeit. Außerdem Fett, Zucker, Eiweiß …«, zählte ich an den Fingern auf. Tante Trudi stieß einen empörten Laut aus. Ich fächelte mir mit einer Klatsch-Zeitschrift Luft zu. Prinz William und seine Kate lächelten mir dabei glückselig vom Titelbild aus zu. »Die Schwestern sagen, dass sie nicht mehr richtig essen und trinken mag.«

Als hätte sie auf ihr Stichwort gewartet, betrat nach kurzem Klopfen eine der Pflegerinnen das Zimmer. Das heißt, eigentlich fanden Anklopfen und Türaufreißen gleichzeitig statt.

»So viel zum Thema Privatsphäre«, schnaubte ich leise und legte die Medikamentendose zurück auf den Nachttisch. Schwester Sandra stürmte ins Zimmer, und Tante Trudi ließ die Flasche Likör blitzschnell wieder im Schrank verschwinden.

Sandra grüßte in die Runde. Als ihr Blick auf Tom fiel, wurden ihre Gesichtszüge weicher, und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen.

»Die Frau Gerber ist im Bad?«, fragte sie ihn mit puderzuckerbestäubter Stimme und rückte dabei ihr stramm um den Hals geknotetes Halstuch zurecht. Ihre Haare hatte sie zu einem forschen Pferdeschwanz gebunden. Jede einzelne Strähne, die hätte herausrutschen können, war mehrfach mit Haarklammern festgetackert.

In diesem Moment verließ Oma ihr Badezimmer. Sie knallte mit dem Rollator gegen den Türrahmen, und Schwester Sandra sprang ihr diensteifrig zur Seite. Oma hatte sich ihre Haare gekämmt und duftete nach Kölnisch Wasser. Sie ließ sich von der Altenpflegerin zu ihrem Lehnsessel vor dem Fenster bringen und plumpste schnaufend hinein. Von ihrer einstigen für ihr Gewicht erstaunlichen Leichtfüßigkeit, mit der sie früher durch ihre Küche trippeln konnte, war seit dem letzten Schlaganfall nichts mehr übrig geblieben. Dankbar tätschelte sie Schwester Sandras Hand.

Ihr Blick fiel auf die Torte, sie formte ein »O« mit ihrem Mund und legte die Hände wie für ein Gebet aneinander. »Das wäre aber doch nicht nötig gewesen«, sagte sie. Dann musterte sie Tom und mich liebevoll mit schräg gelegtem Kopf. Alle Fältchen auf ihrem Gesicht vertieften sich und mündeten wie kleine Flüsschen in die blanken Seen ihrer Augen.

Oma hatte sich immer einen Sohn wie Tom gewünscht. Und da traf es sich gut, dass sie nicht nur mich, den »kleinen Unfall«, wie meine Mutter mich nannte, aufziehen konnte, sondern auch unser vernachlässigtes Nachbarskind Tom, das die meiste Zeit bei uns verbrachte. Nach dem Verschwinden seiner Eltern hatten meine Großeltern ihn dann ganz unter ihre Fittiche genommen.

Oma legte ihren Kopf in den Nacken und sah zu Sandra hoch, deren Hand sie weiterhin geistesabwesend tätschelte. »Wäre der nicht was für dich?«, fragte sie und wies mit einem zitternden Finger auf Tom. Verschwörerisch senkte sie ihre Stimme: »Er ist auch eine gute Partie. Er hat eine Wohnung am Schlossgarten geerbt.«

»Oma!«, wies ich sie empört zurecht. Tom als gute Partie zu bezeichnen konnte auch nur meiner Großmutter in den Sinn kommen. Dabei war er alles andere als das. Ihm gehörte tatsächlich die kleine Dachwohnung, in der wir wohnten, allerdings verließ er sie auch kaum. Er bezeichnete sich selber als Profi-Gamer und hoffte darauf, eines Tages das ganz große Preisgeld zu gewinnen. Kaum einer konnte bei seinen Computerspielen so gut Monster wegmetzeln und Schlachten schlagen wie er. Zwischendurch testete er neue Spiele. Die Artikel, die er darüber schrieb, verkaufte er an Gamer-Zeitschriften oder Blogs, aber das war eher Nebensache.

Gleich würde sie ihr auch noch von dem prall gefüllten Sparbuch erzählen, das ich von ihr zur Finanzierung meiner Hochzeit bekommen sollte.

»Ich verschwinde erst unter der Erde, wenn die beiden da unter der Haube sind.« Damit meinte sie mich und Tom. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Das war ihr Lieblingsthema – dass sie auch immer wieder davon anfangen musste!

»Bei ihr habe ich die Hoffnung mittlerweile aufgegeben.« Oma wies mit wabbelndem Wackelpuddingkinn auf Tante Trudi, die erneut vor Empörung nach Luft schnappte.

Schwester Sandra zupfte sichtlich verlegen an ihrem blau weiß getupften Halstuch. Warum trugen Frauen mit solchen Giraffenhälsen eigentlich gerne diese fiesen Halstücher? Da bekam man ja beim Zusehen schon Atemnot. Ich hatte bereits länger den Verdacht, dass die Altenpflegerin ein Auge auf Tom geworfen hatte. Ganz zufällig tauchte sie immer dann auf, wenn er zu Besuch war. Außerdem war sie in seiner Anwesenheit jedes Mal ungewöhnlich eifrig um Oma bemüht. Wenn ich alleine da war, ging alles immer nur zack-zack, ohne jede Gefühlsregung.

Ich schnitt die Torte an, verteilte sie auf Desserttellern, die ich aus der Küche besorgt hatte, und reichte Oma und Tom ein Stück. Meine Tante brauchte ich gar nicht erst zu fragen, ich spürte ihre Missbilligung auch so. Davon ließ ich mich schon lange nicht mehr beirren. Zufrieden betrachtete ich das farbenprächtige Stück Torte auf meinem Teller. Ich hatte die Schokoladenbiskuitböden mit lindgrüner Pistaziencreme gefüllt, mit pinkfarbener Himbeersahne umhüllt und mit Tupfen aus weißer Schokoladenmousse und gehackten Pistazien garniert. Meine Variation von Omas Rezept für Schwarzwälder Kirschtorte.

»Äußerst reizende Vorstellung«, kommentierte Tom Omas Frage, schaufelte dabei Torte in sich hinein und zwinkerte ihr zu. Dann sah er Schwester Sandra betont lange in die Augen und zeigte sein Grübchen an der rechten Wange. Sandras Gesicht glühte, und sie strahlte Tom verzückt an.

Ich stöhnte leise auf. Diesen Spruch brachte er ungelogen jedes Mal, wenn Oma versuchte, ihn zu verkuppeln. Und er punktete damit gekonnt. Er war ja auch wahrhaftig eine Augenweide. Er hatte immer noch die roten Haare und Sommersprossen von früher. Als Kind war er dafür gehänselt worden, doch im Erwachsenenalter schienen sie ihm zum Vorteil zu gereichen. Dazu kam sein Out-of-Bed-Look mit den verwuschelten Haaren und einem rötlich schimmernden Drei-Tage-Bart, der ihm etwas unwiderstehlich Jugendliches und gleichzeitig Verwegenes verlieh. Nur, dass dieser Look keineswegs das Ergebnis einer aufwendigen Beauty-Prozedur war, sondern dass er tatsächlich meist gerade erst aus dem Bett kam. Das wussten die wenigsten seiner Bewunderinnen. Er schlug sich die meisten Nächte vor dem Rechner um die Ohren und zockte online Computerspiele.

Und Flirten konnte er, das musste man ihm lassen. Gelernt war eben gelernt. Er kannte seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht sehr genau und wusste, wie er an sein Ziel gelangen konnte. Aber er sollte das, verdammt noch mal, sein lassen!

Oma reichte Sandra ihren Kuchenteller. »Hier, iss du das nur, Kindchen, ich bekomme ja gleich schon Abendessen.«

»Ach nein, danke, ich gehöre ja nicht zur Familie, aber ich wüsste schon, wer sicher noch ein Stück vertragen kann«, wehrte Sandra das Angebot ab. Dabei warf sie Tom einen koketten Blick zu, für den ich ihr am liebsten die Kuchengabel ins Auge gerammt hätte.

»Ich stelle ihn für morgen in den Kühlschrank«, brummelte ich und nahm Sandra den Teller weg.

»Hast du eigentlich mal wieder was von deiner Mutter gehört?«, wechselte Tante Trudi das Thema und gab mir pantomimisch zu verstehen, dass ich etwas am Mund kleben hatte.

Ich wischte mir mit dem Finger Himbeersahne aus dem Mundwinkel und leckte ihn ab. »Anfang des Jahres kam eine Karte aus Kathmandu. Da hat sie sich einer Sekte angeschlossen, die sich ausschließlich von Licht ernährt«, erwiderte ich und hob meine geöffneten Hände gen Himmel.

»Sie ist jetzt grün und betreibt Photosynthese«, kommentierte Tom lachend meine Antwort, schnitt sich ein weiteres dickes Stück Torte ab, ließ es auf seinen Teller fallen und stieß seine Gabel hinein.

Tante Trudi schüttelte ungläubig den Kopf. »Sonst nichts?«

»Na ja, sie hat mir viel spirituelle Energie geschickt und mir ebenfalls empfohlen, auf jegliche Nahrung zu verzichten und mich dem Licht zu öffnen. In den vorherigen Postkarten hat sie von Schattentheater in Patagonien und Flamencoworkshops auf Borneo geschwärmt. Oder war es anders herum?« Das Achselzucken, das ich meiner Tante schenkte, sollte »Egal, es gibt Schlimmeres« ausdrücken. Zum Beispiel wäre es schlimmer gewesen, wenn meine Mutter mich damals mit auf ihre spirituelle Weltreise genommen hätte, statt mich bei meinen Großeltern zu lassen. Da war ich hundertmal besser aufgehoben gewesen, und mir hatte es nie an etwas gemangelt.

Ich stellte meinen leeren Teller beiseite, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie Schwester Sandra mit zackigen Bewegungen durchs Zimmer ging und sinnbefreite Aufgaben erledigte. Nur, damit sie noch etwas dableiben und Tom unverhohlen anschmachten konnte, schien es mir. Tom sah ihr mit hochgezogenen Augenbrauen und einem wissenden Lächeln im Gesicht dabei zu, wie sie Gardinen schloss und wieder öffnete, Kissen aufschüttelte und einen fast leeren Mülleimer mit einer neuen Mülltüte bestückte.

Diese Sandra leidet garantiert unter Verstopfung, dachte ich gehässig. Einmal die Woche knallharte Hasenköttel, die nach einer stundenlangen Toilettensitzung in die Kloschüssel klöterten. Für solche verstopften Menschen wie sie vertrieb die Pharmafirma, bei der ich arbeitete, Sanodam – ein hochwirksames und dennoch mildes pflanzliches Abführmittel. Ein echter Verkaufsschlager. Wenn Sandra an Oma vorbeiging, streichelte das verlogene Miststück ihr kurz über Wange oder Kopf, was diese sich wohlwollend nickend gefallen ließ. Ich bemerkte, wie Toms Blick, während er mit großem Appetit weiterhin Torte in sich hineinschaufelte, an Sandras Körper auf und ab wanderte, und schaute ihn grimmig an.

»Ich glaube, Sie sind hier jetzt auch mal fertig!«, herrschte Tante Trudi Sandra an. »Vielleicht können Sie mir noch helfen, Frau Gerber anzuziehen, wir wollen mit ihr vor dem Abendessen noch eben raus.«

Bitte nicht! Ich wusste, was nun kam.

Tante Trudi beugte sich vor und schrie ihre Mutter an. »Du musst mehr rausgehen! Guck mal, die Sonne scheint noch so schön! Wir gehen heute mit dir spazie-ieren!«

»Was?« Oma hielt sich eine Hand hinter ihr Ohr. Ich wusste, sie wollte einfach nicht nach draußen. Außerdem war ich mir sicher, dass sie weitaus mehr verstehen konnte, als sie uns glauben ließ.

»Die Sonne scheint so schön, wir gehen mit dir ra-haus!« Meine Tante stand auf und marschierte demonstrativ auf der Stelle.

Oma schüttelte ihre grauen Locken und zeigte entnervt auf ihre Ohren. »Ich verstehe nicht. Du musst lauter sprechen. Was willst du?«

Ich versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, indem ich die Innenseite meiner Wangen einsog. Doch mir schossen die Lachtränen in die Augen.

»Spazierengehen! Sonne!« Tante Trudi wies mit dem rechten Arm schräg nach oben Richtung Himmel.

»Marschieren? Im Stechschritt für Großdeutschland? Sind die Russen wieder da?«, fragte Oma, die Scheinheiligkeit in Person. Tom und ich prusteten gleichzeitig los vor Lachen.

Dann schüttelte Oma traurig den Kopf. »Ich bin auf der Flucht für mein Leben genug gelaufen.« Sie schaute aus dem Fenster, und ihr Blick glitt an mir vorbei. Und da! – ganz kurz –, ein klitzekleines, kaum wahrnehmbares Aufblitzen in ihren Augen, das nur für mich bestimmt war.

Tom sprang auf, legte einen Arm um Oma und drückte sie fest an sich.

»Da müssen die Russen erst an mir vorbei, und das bedeutet, sie haben keine Chance.« Lachend schmatzte er ihr einen nassen Kuss auf die Wange. Ich beobachtete, wie Sandra ihn dabei bewundernd anstrahlte. Dafür hätte ich ihr am liebsten eine geklebt. Diese Frau löste Gewaltfantasien in mir aus, die ich sonst von mir nicht kannte.

Tante Trudi verabschiedete sich resigniert mit einem spitzen, gehauchten Küsschen auf die Wange von ihrer Mutter. Omas Nein war ein unumstößliches Gesetz. Da half nichts. Von Natur aus stur wie ein alter Esel plus Altersstarrsinn ergab in der Summe eine Felswand.

Tom und mir reichte Trudi förmlich die Hand. Mit den Worten: »Sorgen Sie bitte dafür, dass sie mehr rauskommt!«, verabschiedete sie sich von Schwester Sandra. Diese verließ zusammen mit meiner Tante das Zimmer, natürlich nicht, ohne Tom noch einen langen, bedeutungsschwangeren Blick zuzuwerfen.

»Danke für deine Hilfe, Sandra!«, rief er ihr nach.

Ich machte ein leises Kotzgeräusch. Danke für gar nichts, Sandra!, äffte ich ihn in Gedanken nach. Danke fürs Anschmachten und Herumschleimen!

Tom und ich brachen kurz darauf ebenfalls auf, und ich zeigte meiner Oma den Dessertteller, auf dem das von ihr unangetastete Stück Torte lag.

»Stelle ich dir für morgen in deinen Kühlschrank«, sagte ich nahe vor ihrem Gesicht, langsam und deutlich. Oma nickte und tätschelte meine Wange. Ich drückte sie zum Abschied ganz fest, denn ich hatte jedes Mal Angst, es könnte das letzte Mal sein.

Auf dem Flur verströmte eine neu verlegte Auslegeware in gewollt modisch wirkendem Apfelgrün einen penetranten Chemiegeruch und konnte doch das Pflegeheimaroma von altem Urin und Desinfektionsmitteln nicht übertünchen.

»Hoffentlich läuft mir diese Sandra nicht noch mal über den Weg. Die hat ja wieder eine Show abgezogen«, schimpfte ich.

»Sie wollte doch nur nett sein«, gab Tom zurück und hielt mir eine Zwischentür auf.

»Nett? Einschleimen wollte die sich.« Ich schlug mit der flachen Hand auf einen elektrischen Türöffner, damit die Tür für eine ältere Dame am Rollator offen stehen blieb. »Und du fällst da auch noch drauf rein. Rutsch bloß nicht auf dem ganzen Schleim aus! Und lach mich nicht dauernd aus. Das ist ernst.«

Doch er lachte einfach weiter und zwinkerte der Bewohnerin zu, die tatsächlich sanft errötete. »Ich finde es nur so lustig, wie sehr du dich ohne jeden Anlass aufregen kannst.«

Ich war stinksauer. Womöglich nur auf mich selber. Er hatte ja recht, meine Reaktion war wirklich unangemessen. Tom war eben so, wie er war, wie konnte ich ihm daraus einen Vorwurf machen? Vielleicht sollte ich mal meinen Hormonspiegel beim Frauenarzt kontrollieren lassen. Möglicherweise litt ich ja nur unter einer hormonellen Störung, die mir in einer Art Torschlusspanik vorgaukelte, in das einzige in meiner Nähe verfügbare männliche Wesen verliebt zu sein. Und mit einer Mönchspfefferkur wäre alles wieder gut. Doch wahrscheinlich bräuchte ich wohl eher einen Schamanen, der Tom mit Trommeln und Rasseln aus meinen Träumen verjagte. Wütend stapfte ich die Treppe zu den Gemeinschaftsräumen hinunter.

Kurz vorm Abendessen herrschte geschäftiges Treiben in der Küche. Das Küchenpersonal schob Essenswagen aus Stahl in den Speisesaal und zog eine Duftwolke aus Hagebuttentee und Schinkenwurst hinter sich her.

Ich klopfte an die offen stehende Tür und reichte einer Küchenhilfe das Tortenstück für Oma hinein. Aus Hygienegründen durften Besucher den Raum nicht betreten.

»Moin, Ylvi. Na, hast du wieder was Leckeres für Hermine gebacken? Wow, die sieht ja super aus!« Die Küchenhilfe nahm mir den Teller ab und griff nach einer Rolle Frischhaltefolie. »Oh, hallo Tom«, hauchte sie, und ihr Kopf glühte förmlich unter ihrem Schutzhäubchen, an dem sie nun herumzupfte, nachdem sie ihn erkannt hatte.

Oh nein, sie nicht auch noch.

»Hi, Tamara.« Er grinste spitzbübisch.

»Ha-a-ai«, antwortete sie gedehnt, ließ die Frischhaltefolie wie in Trance sinken, strich sich ihre Kittelschürze glatt und starrte ihn so bewundernd an, als wäre er der Bachelor höchstpersönlich.

»Hi.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ließ sein Grübchen auf der Wange aufblitzen.

»Können wir diese sinnreiche Konversation nun vielleicht beenden und endlich los? Tschüss.« Ich zog Tom rigoros am Arm. »Nun komm endlich!«

»Tschü-hüss!« Tamara winkte uns hinterher.

»Ciao, Tamara! War schön, dich zu sehen!«, rief Tom. »Du siehst heute wieder bezaubernd aus!« Ich hörte Tamaras Kichern hinter uns.

»Cia-a-ao«, rief Tamara gedehnt. »Ylvi?«

»Was?« Unwirsch drehte ich mich noch einmal zu ihr um.

»Ich gebe deiner Oma die Torte morgen.« Sie sah mich warmherzig an. »Und ich passe auf, dass sie auch ordentlich isst. Morgen gibt es Kalbsgulasch, das mag sie doch so gerne.«

»Äh, ja, danke.« Ich lächelte verkrampft und winkte zum Abschied.

»Sag mal, was sollte das?«, zischte ich Tom zu, als ich ihn durch das Foyer zog. »Du kannst doch hier nicht alles in Grund und Boden flirten. Und immer nur wie ein Labradorwelpe durchs Leben wuseln und jeden um den Finger wickeln.«

Er stutzte kurz und musterte mein glühendes Gesicht. Dann tat er so, als wäre er ein kleiner Hund: Er machte Männchen und guckte mich hechelnd mit treuherzigem Blick an.

Ich verkniff mir ein Lachen. »Tom, mal ernsthaft! Du verhältst dich wie ein pubertierender Junge auf Klassenfahrt.«

Ehrlicherweise musste ich zugeben, dass ich nicht schuldlos daran war, dass er sich als ewiger Teenie durchs Leben wuseln konnte. Ich verdiente schließlich das Geld für unseren Lebensunterhalt. Dennoch brauchten wir uns finanziell kaum Sorgen zu machen, denn seine Eltern hatten ihm wenigstens die Wohnung hinterlassen, in der wir nun lebten, so fielen die Mietzahlungen weg.

»Die behandeln Hermine umso besser, je größer ihr persönliches Interesse am Bewohner ist. Da ist mir jedes Mittel recht.« Er schloss sein Fahrrad auf. »Darauf kommt es doch an. Dass es ihr gut geht.« Er sah mich ernst an, legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft.

Die Wärme, die von seiner Berührung ausging, strömte durch meinen ganzen Körper. »Wenn du hier mal in Pflege kommst, werden sie dich behandeln wie den Kaiser von China, die fressen dir echt alle aus der Hand«, erwiderte ich. Vermutlich hatte er ja recht. Das war eben seine Art, dafür zu sorgen, dass sie sich hier rührend um Oma bemühten.

»Mach dir keine Sorgen, okay?«, sagte er leise und schaute mir in die Augen. Sein Gesicht kam meinem zentimeterweise näher, er verstärkte den Druck seiner Hand, fast, als wollte er verhindern, dass ich flüchtete.

»Okay«, flüsterte ich, denn mein Mund war auf einmal ganz trocken.

»Du und Oma Hermine, ihr seid meine Familie. Das weißt du doch, oder?«

Ich nickte stumm, unfähig etwas zu sagen. Du bist meine Familie, mein Leben, meine Liebe! Doch meine Zunge klebte am Gaumen. Ich sah auf seinen Mund, er war so nah vor mir, dass ich schielte und alles doppelt sah. Ja! Ich will dich auch küssen! Jetzt!

»Guck nicht so sauer«, sagte er und schob mich mit einem amüsierten Blick von sich weg. »Versöhnungs-Döner?« Er knuffte mir grinsend in die Seite und schlug damit das kleine intime Fenster, das er geöffnet hatte, wieder zu.

Ich schloss für einen Augenblick irritiert die Augen und schüttelte den Kopf, um zur Besinnung zu kommen. Verwirrt. Perplex. Von mir aus auch grenzdebil. Aber sauer sollte mein Gesichtsausdruck gewesen sein? Mein Gehirn suchte verzweifelt nach einer möglichst scharfzüngigen Erwiderung. Doch ich musste erst einmal mit den Folgen des Hormoncocktails, den mein Körper bei seinem Annäherungsversuch zusammengemixt hatte, zurande kommen. Atmen als erste Hilfsmaßnahme schien mir nicht das Verkehrteste zu sein, und ich hoffte, dass Tom mein leises Japsen nicht bemerkte.

»Mist, ich habe mein Handy oben liegen gelassen.« Tom klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich flitze noch mal schnell hoch.«

In gewohnten Gefilden war ich wieder Herrin der Lage und hatte damit Gewalt über Sprachzentrum und Zunge zurückerlangt. Ich löste mich aus meiner Schockstarre. »Irgendwann verlierst du auch noch mal deinen Kopf«, hörte ich mich mit belegter Stimme sagen. »Dein weiblicher Fan-Club wird kreischen und BHs werfen, wenn der Star noch einmal die Bühne betritt. Ich fahr kurz nach Hause, stelle den Tortenrest kalt und füttere Kalle. Wir treffen uns dann im Döner-King.« Ich atmete tief durch und pumpte Sauerstoff durch meinen kribbelnden Körper. »Ich muss dir dann auch etwas Wichtiges sagen«, rief ich ihm schnell hinterher, als er in das Seniorenstift zurückeilte.

Beim Döneressen würde ich es ihm endlich gestehen, wie es gefühlsmäßig um mich bestellt war. Ganz sicher. Du bist meine Familie! Das gerade eben war ein eindeutiger Annäherungsversuch gewesen, da gab es nichts Falsches hineinzuinterpretieren.

Der Döner-King war vielleicht nicht der romantischste Ort für ein Liebesgeständnis, eignete sich jedoch gut als Anekdote für unsere Enkel. »Oma hat mir gesagt, dass sie mich liebt und dabei hing ihr so ein kleiner Zwiebelring im Mundwinkel, haha!« – »Und Opa hatte Zaziki im Bart hängen.« Und wir würden beide wie verliebte Teenager darüber kichern, und unsere Enkel würden höflich mitlachen, weil sie die Geschichte schon tausendmal gehört hatten.

4. Kapitel

Am nächsten Morgen weckte mich das Klappen von Schranktüren in der Küche. Draußen wurde es gerade hell, und in der Linde vor unserem Haus krakeelte eine Singdrossel. Ich sah auf mein Handy, gähnte und rappelte mich auf. Kurz nach sechs. Mein Schädel dröhnte, ich hatte am Abend zuvor wohl doch zu viel Alkohol getrunken.

Tom war nicht aufgetaucht, und so hatte ich mit Mustafa, dem Besitzer vom Döner-King, und seinen Jungs gemeinsam Tatort geguckt.

Sonntagabends wurde in der Döner-Bude jede Tatortfolge regelrecht zelebriert. Die arabischen Musikclips, in denen langbeinige, prallbusige Schönheiten von glutäugigen, mit fetten Goldketten behängten Kerlen in dicken Autos an den Strand gefahren wurden, wurden abgestellt und die Satellitenschüssel auf ARD-Empfang gedreht. Die Jungs sangen auf dö-dö gemeinsam die Titelmelodie mit und starrten neunzig Minuten lang wie gebannt auf den Fernseher, der oben in einer Ecke des Lokals unter die Decke montiert war. Dabei schlossen sie Wetten auf den Täter ab.

Ich tippte sofort darauf, dass das Au-pair-Mädchen Dreck am Stecken hatte. Als sich herausstellte, dass sie tatsächlich die Mörderin war, bekundeten die Gäste ihren Respekt mit Schulterklopfen und sorgten dafür, dass mein Rakiglas immer gut gefüllt war. Ich war so sauer auf Tom, der mich sitzen gelassen hatte, dass ich den Kummer über meine verpasste Chance nur zu gerne im Alkohol ertränkte.

Deshalb tappte ich nun also so benommen in die Küche, wo es nach frischem Kaffee duftete.

»Guten Morgen!«, zwitscherte eine Frau, die meinem benebelten Hirn vage bekannt vorkam. Sie strotzte vor Tatendrang und zog mit so viel Schwung eine Schublade auf, dass der Inhalt nur so klapperte.

Es war ein Geräusch, das in meinem Kopf explosionsartige Schmerzen verursachte. Ich hasste Menschen, die morgens schon laut waren. Benommen fummelte ich mir ein klebriges Ohropax aus den Haaren, das nachts herausgerutscht war. Dann blinkte das Lämpchen der Erkenntnis auf. Das war doch dieses verlogene Miststück aus dem Altenheim! Halstuch-Sandra. Omas Pflegerin. Die von meinen verkaterten Sinnesorganen weitergereichten Informationen sickerten nur tröpfchenweise in mein traniges Gehirn. Omas Altenpflegerin kochte morgens in unserer Küche Kaffee. Es musste etwas Schlimmes passiert sein!

»Ist was mit Oma?«, erwiderte ich leicht panisch den Gruß. »Gestern ging es ihr doch noch gut.«

»Nein, keine Bange, es ist alles in Ordnung.« Sandra kam einen Schritt auf mich zu. »Silvi, richtig?« Sie machte auch noch Anstalten, mich zu umarmen, reichte mir aber dann doch nur unbeholfen eine Hand, als ich mich stocksteif machte. Während des schlaffen Händedrucks, bei dem ich immer noch versuchte, Logik in der Situation zu finden, musterte sie mich sichtlich überrascht von oben bis unten.

Ich trug meinen gemütlichen, da völlig ausgebeulten Sweat-Jumpsuit in Rosa. Schweinchenrosa. Mit einer Kapuze mit Schweineohren und Ringelschwanz am Po. Das weckte sicherlich nicht gerade schmeichelhafte Assoziationen beim Betrachter. Bequemlichkeit schlug Sexyness bei diesem Teil um Längen. Zusammen in einer Küche mit der adretten Sandra, die morgens um kurz nach sechs bereits ausschaute, als wäre sie mit Glasreiniger auf Hochglanz poliert, wurde mir allerdings schlagartig klar, dass ich einfach unmöglich aussah. Ich zupfte am Stoff an meinem Bauch herum, damit er lockerer fiel und mich schlanker wirken ließ. Wenigstens das.

Ich sah Sandra zu, wie sie in unserer Küche herumwuselte. Und mir dämmerte, was hier offensichtlich lief. Tom und Sandra?

Sandra wich meinem fassungslosen Blick aus. »Sag mal, wo habt ihr denn eure Kaffeelöffel? Kaffee und Becher habe ich gefunden«, plapperte sie übertrieben munter. Da wollte wohl jemand für gute Laune sorgen. »Für dich ist auch noch einer da. Und Zucker wäre toll. Ich bin eine Süße.« Sie sah mich mit Verschwörermiene über die Schulter hinweg an.

»Schon klar«, brummelte ich, zog die Besteckschublade auf und reichte ihr einen Löffel. Dann öffnete ich einen Hängeschrank und stellte den Zuckertopf mit Nachdruck auf den Küchentisch. Ich lehnte mich mit verschränkten Armen an die Arbeitsfläche und beobachtete, wie sie sich drei gehäufte Löffel Zucker in den Kaffee schaufelte und großzügig Sahne, die gestern vom Backen übrig geblieben war, in ihren Becher gab. Auf den Becher waren dicke bunte Buchstaben gemalt: ein »Y«, ein »L«, ein »V« und ein »I«. Ylvi. Man hätte darauf kommen können, dass das mein Kaffeebecher war. Nur so nebenbei bemerkt.

Sie rührte den Kaffee konzentriert um, und ich musterte sie schweigend. Sie und Tom? Echt jetzt? Ich bekam das nicht zusammen.

»Oh! Entschuldigung.« Sandra sprang auf und schenkte mir Kaffee in Toms Becher ein. Auf dem stand: »Sexy and I know it!«

»Danke. Ich trinke keinen Kaffee«, erwiderte ich und schmeckte Galle. Mein Nervensystem lechzte nach Koffein, aber von ihr würde ich kein Tröpfchen annehmen.

»Oh. Sorry. Ich dachte nur, ich tu dir einen Gefallen und schenke dir schon mal ein.«

Genau. Denken scheint ja eine Megastärke von dir zu sein. Ich war sauer.

»Und du und Tom, ihr seid …?«, fragte ich gepresst.

Sie lachte verlegen auf und gab noch einen weiteren Löffel Zucker in ihre Tasse. »Ups. Der ist mir wohl ein wenig stark geraten.«

Mit der Kalorienmenge in nur einem Becher Kaffee würde die Waage bei mir direkt ein Kilo mehr anzeigen. Aber Sandra war anscheinend immun gegen Kalorien. Sie trug eine enge Chinohose, in die sie eine taillierte Bluse gesteckt hatte. Selbst im Sitzen wölbte sich kein Bäuchlein über ihrem Hosenbund. Ihre naturblond wirkenden Haare waren wieder zu einem tadellos stramm sitzenden Pferdeschwanz gebunden. Ich konnte nicht damit aufhören, sie anzugaffen.

Ihre Brille wirkte an ihr nicht wie ein ungeliebtes Hilfsmittel, sondern wie ein modisches Accessoire. Ihr Make-up war frisch und unaufdringlich, selbst den Hauch von Rouge auf den Wangen, an dem ich schon seit Jahren verzweifelte, hatte sie hinbekommen. Ich sah nach jedem Versuch, Rouge aufzutragen, so aus wie dieses hässliche Kind auf der Rotbäckchenflasche. Fehlte nur noch das Kopftuch.

Mir war schleierhaft, wann Sandra sich fertiggemacht hatte. Ich würde Stunden brauchen, um nur ansatzweise so auszusehen. Verdammt, sie war wirklich hübsch. Das ließ sich nicht leugnen. Meine Laune nahm Anlauf und rannte mit mir auf den Abgrund zu. Da saß Sandra und nippte verschämt an ihrem Kaffee, die Fleisch gewordene Bedrohung meiner heilen Welt mit Tom, ach was, meiner Zukunft mit Tom.

»Dein Bruder ist so süß. Ich bin total verliebt. Und er auch.« Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. »Hat er dir das gar nicht erzählt? Ich dachte, ihr steht euch so nahe.«

Um mich herum drehte sich alles. Mir war schlecht.

»Nein. Ich meine, ja, wir stehen uns nahe, aber gestern wart ihr doch noch irgendwie kein Paar, oder habe ich da was verpasst?« Ich bemühte mich, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.

Sandra schien nichts zu bemerken. Unbekümmert zwirbelte sie die Spitze ihres Pferdeschwanzes vor ihrer Schulter. Kein Spliss. Bei mir galt: Alles hat ein Ende, nur das Haar hat zwei. Werbeslogan für einen unserer frei verkäuflichen Verkaufsschlager, das Antisplissserum Splissex. Versagte bei mir.

»Doch, schon. Wir schreiben uns schon länger. Na ja, und dann hat er mich bei der Arbeit immer so süß angeguckt, wenn er bei eurer Omi war. Und da hat es einfach gefunkt.«