Auf zwei Planeten - Kurd Laßwitz - E-Book

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Kurd Laßwitz

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Beschreibung

Auf zwei Planeten - Die erste deutsche Science-Fiction-Literatur des Pioniers Kurd Laßwitz. Das Jahr 1897: Den Menschen in beinahe allen Belangen überlegene Marsbewohner haben sich auf der Erde niedergelassen. Erste Kontakte verlaufen vielversprechend, bis die Invasoren ihre Macht demonstrieren. Jules Verne, H. G. Welles ("Der Krieg der Welten") und Kurd Laßwitz, diese drei recht verschiedenen Herren gelten als Begründer der europäischen Science-Fiction-Literatur, denen Schriftsteller wie Asimov und Lem folgen werden. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1041

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Kurd Laßwitz

Auf zwei Planeten

Fantastischer Roman

Kurd Laßwitz

Auf zwei Planeten

Fantastischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Elischer, Leipzig, 1913 2. Auflage, ISBN 978-3-954182-68-8

www.null-papier.de/scifi

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­tor und Werk

Ers­tes Buch

1. Ka­pi­tel – Am Nord­pol

2. Ka­pi­tel – Das Ge­heim­nis des Pols

3. Ka­pi­tel – Die Be­woh­ner des Mars

4. Ka­pi­tel – Der Sturz des Bal­lons

5. Ka­pi­tel – Auf der künst­li­chen In­sel

6. Ka­pi­tel – In der Pfle­ge der Fee

7. Ka­pi­tel – Neue Rät­sel

8. Ka­pi­tel – Die Her­ren des Wel­traums

9. Ka­pi­tel – Die Gäs­te der Mars­be­woh­ner

10. Ka­pi­tel – La und Salt­ner

11. Ka­pi­tel – Mar­tier und Men­schen

12. Ka­pi­tel – Die Raum­schif­fer

13. Ka­pi­tel – Das Aben­teu­er am Süd­pol

14. Ka­pi­tel – Zwi­schen Erde und Mars

15. Ka­pi­tel – 6356 Ki­lo­me­ter über dem Nord­pol

16. Ka­pi­tel – Die Aus­sicht nach der Hei­mat

17. Ka­pi­tel – Plä­ne und Sor­gen

18. Ka­pi­tel – Die Bot­schaft der Mar­s­staa­ten

19. Ka­pi­tel – Die Frei­heit des Wil­lens

20. Ka­pi­tel – Das neue Luft­schiff

21. Ka­pi­tel – Der Sohn des Mar­tiers

22. Ka­pi­tel – Schnel­le Fahrt

23. Ka­pi­tel – Is­mas Ent­schluss

24. Ka­pi­tel – Die Licht­de­pe­sche

25. Ka­pi­tel – Eng­län­der und Mar­tier

26. Ka­pi­tel – Der Kampf mit dem Luft­schiff

Zwei­tes Buch

27. Ka­pi­tel – Auf dem Mars

28. Ka­pi­tel – Se­hens­wür­dig­kei­ten des Mars

29. Ka­pi­tel – Das heim­li­che Früh­stück

30. Ka­pi­tel – Das Erd­mu­se­um

31. Ka­pi­tel – Mars-Po­li­ti­ker

32. Ka­pi­tel – Idea­le

33. Ka­pi­tel – Fünf­hun­dert Mil­li­ar­den Steu­ern

34. Ka­pi­tel – Das Re­tro­spek­tiv

35. Ka­pi­tel – Die Ren­te des Mars

36. Ka­pi­tel – Salt­ners Rei­se

37. Ka­pi­tel – Die Wüs­te Gol

38. Ka­pi­tel – Ge­fähr­li­cher Ru­he­platz

39. Ka­pi­tel – Die Mar­tier sind auf der Erde!

40. Ka­pi­tel – Is­mas Lei­den

41. Ka­pi­tel – Die Schlacht bei Ports­mouth

42. Ka­pi­tel – Das Pro­tek­to­rat über die Erde

43. Ka­pi­tel – Die Be­sieg­ten

44. Ka­pi­tel – Torms Flucht

45. Ka­pi­tel – Des Un­glück des Va­ter­lands

46. Ka­pi­tel – Der Kul­tor der Deut­schen

47. Ka­pi­tel – Isma

48. Ka­pi­tel – Der In­struk­tor von Bo­zen

49. Ka­pi­tel – Die Flucht in die Ber­ge

50. Ka­pi­tel – Die Luft-Yacht

51. Ka­pi­tel – Mar­tie­rin­nen in Ber­lin

52. Ka­pi­tel – Im Erd­ge­wit­ter

53. Ka­pi­tel – Schwan­kun­gen

54. Ka­pi­tel – Auf der Stern­war­te

55. Ka­pi­tel – In höchs­ter Not

56. Ka­pi­tel – Selbst­hil­fe

57. Ka­pi­tel – Das Spiel ver­lo­ren

58. Ka­pi­tel – Lö­sung

59. Ka­pi­tel – Die Be­frei­ung der Erde

60. Ka­pi­tel – Welt­frie­den

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Autor und Werk

»Die Eu­ro­pä­er ha­ben so vie­le Völ­ker nie­de­rer Zi­vi­li­sa­ti­on durch ihr Ein­drin­gen ver­nich­tet, dass wir wohl wis­sen kön­nen, was für uns auf dem Spiel steht, wenn die Mar­tier in Eu­ro­pa Fuß fas­sen.« (17. Ka­pi­tel)

Die ver­we­ge­nen Wis­sen­schaft­ler Torm und Gr­un­te so­wie ihr Fo­to­graf Salt­ner ge­ra­ten in Le­bens­ge­fahr, als sie eben glück­lich am Ziel ih­rer Ex­pe­di­ti­on ein­tref­fen: Ihr Heiß­luft­bal­lon ge­langt über dem Nord­pol in einen Wir­bel, der das Ge­fährt auf­wärts treibt. Ge­ret­tet und ge­pflegt wer­den sie von den hier an­säs­si­gen Mar­ti­ern; von Torm al­ler­dings fehlt jede Spur.

Als­bald freun­den sich der char­man­te Salt­ner und die schö­ne Mar­tie­rin La an. Die­se Lie­bes­ge­schich­te tritt in den Hin­ter­grund an­ge­sichts neu­er Ent­wick­lun­gen: Die Nume, wie sich die Mar­tier selbst nen­nen, pla­nen näm­lich, die Erde an ih­rer Kul­tur teil­ha­ben zu las­sen, ob die Men­schen nun wol­len oder nicht. Gr­un­te sieht sich in der pa­trio­ti­schen Pf­licht, sei­ne Re­gie­rung in Kennt­nis zu set­zen, be­vor die Mars­be­woh­ner in der deut­schen Haupt­stadt er­schei­nen. De­nen wie­der­um liegt am Über­ra­schungs­mo­ment – ers­te Kon­flik­te trü­ben die bis­her har­mo­ni­schen Be­zie­hun­gen der Pro­tago­nis­ten.

Als es durch ein Miss­ver­ständ­nis zu krie­ge­ri­schen Hand­lun­gen zwi­schen Mar­ti­ern und Bri­ten kommt, die in eine Kriegs­er­klä­rung sei­tens des Em­pi­res mün­den, schlägt auf dem ro­ten Pla­ne­ten die ei­gent­lich men­schen­freund­li­che Stim­mung um: Zu­nächst wird Eng­land be­siegt und da­nach über Eu­ro­pa ein Pro­tek­to­rat ver­hängt. Die när­ri­schen Men­schen ha­ben Schwie­rig­kei­ten, sich die Seg­nun­gen der Nume zu er­schlie­ßen, wes­halb der Pro­tek­tor Zwang aus­übt. Als sich rohe ir­di­sche Ge­sel­len durch Aufruhr er­kennt­lich zei­gen, ge­winnt die anti-mensch­li­che Par­tei auf dem Mars die Ober­hand: Man will den Erd­be­woh­nern ih­ren Sta­tus als »We­sen mit frei­em Wil­len« ab­er­ken­nen. Die Erde sei für­der­hin aus­schließ­lich zur Ener­gie­ge­win­nung zu nut­zen, die Men­schen hät­ten die nö­ti­ge Ar­beit zu ver­rich­ten und Steu­ern zu zah­len. Un­um­strit­ten ist die­se Frak­ti­on auf dem Mars nicht, schließ­lich geht sie auf eine Wei­se vor, die »der Nu­men­heit nicht wür­dig« ist.

Auf der Erde ge­winnt der­weil eine Grup­pe Zu­lauf, die »Nu­men­heit ohne Nume« er­rei­chen möch­te, die also Wis­sen­schaft und Le­bens­art der Mar­tier gut­heißt, sie aber aus ei­ge­ner Kraft er­rin­gen will, ohne den Druck der In­va­so­ren. Letzt­end­lich wird die­ser nie als sol­cher ge­plan­te Kampf durch den frei­en Wil­len zwei­er In­di­vi­du­en ent­schie­den.

Im Ro­man grei­fen Tech­ni­kop­ti­mis­mus, hu­ma­nis­ti­scher Eman­zi­pa­ti­ons­wil­le (ein­schließ­lich ei­nes fort­schritt­li­chen Frau­en­bilds) und Pa­zi­fis­mus in­ein­an­der. Da­bei ist der Au­tor kei­nes­wegs frei von zi­vi­li­sa­to­ri­schen Vor­ur­tei­len, die man heu­te ge­trost als ras­sis­tisch ein­stu­fen kann. Sei­ne Herab­las­sung ge­gen­über den Inuit wirkt un­re­flek­tiert, sei­ne Be­ja­hung der über­le­ge­nen Kul­tur idea­lis­tisch ver­klärt.

Wenn­gleich sie nie ohne den Über­bau sitt­li­cher Über­le­gun­gen er­schei­nen dür­fen, sind es doch Ge­füh­le, die das wei­te­re Schick­sal bei­der Völ­ker be­stim­men. Die­se na­tür­li­che Note und Laß­witz‘ Stär­ke des hu­mor­voll-cha­rak­te­ri­sie­ren­den Dia­logs ver­söh­nen den zeit­ge­nös­si­schen Le­ser so­wohl mit dem pa­the­ti­schen Ende als auch mit den er­zäh­le­ri­schen Schwä­chen des Ro­mans.

Die Ge­burts­stun­de der deutsch­spra­chi­gen Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur

»Oh«, rief Se, »das ist Lärm, das ist die Erde!« (50. Ka­pi­tel)

Das aus­ge­hen­de 19. Jahr­hun­dert ist eine Pha­se po­li­ti­scher, so­zia­ler und wis­sen­schaft­li­cher Um­brü­che, mit­hin bahn­bre­chen­der Ide­en und heh­rer Idea­le. Gleich­wohl ist es die Hoch­zeit des im­pe­ria­lis­ti­schen Stre­bens der eu­ro­päi­schen Mäch­te. An­ge­führt vom bri­ti­schen Em­pi­re, tei­len eu­ro­päi­sche Staa­ten die Welt un­ter sich auf. Ei­ner­seits neh­men sie da­bei kei­ne Rück­sicht auf die so­ge­nann­ten »Wil­den«, an­de­rer­seits kol­li­die­ren die In­ter­es­sen der eu­ro­päi­schen Staa­ten un­ter­ein­an­der. Na­tio­na­le Ri­va­li­tä­ten, Na­tio­na­lis­mus be­zie­hungs­wei­se Pa­trio­tis­mus und la­ten­te Kriegs­ge­fahr ge­hö­ren zur Le­bens­wirk­lich­keit der Eu­ro­pä­er je­ner Epo­che.

Gleich­zei­tig wer­den phi­lo­so­phi­sche Mo­del­le im­mer po­pu­lä­rer, die den frei­en Wil­len pos­tu­lie­ren. Die In­dus­tria­li­sie­rung scheint in­des das Heil­mit­tel für mensch­li­che Un­zu­läng­lich­kei­ten zu sein; sie ver­spricht mehr Zeit für die sitt­li­che Ver­voll­komm­nung des Ein­zel­nen durch Bil­dung. Na­tur­wis­sen­schaft und Tech­nik er­lan­gen bis­her un­ge­ahn­te Be­deu­tung in der Ide­en­welt auf­ge­klär­ter Schich­ten. Für ge­bil­de­te Eu­ro­pä­er und Ame­ri­ka­ner ge­hört es bei­spiels­wei­se zum gu­ten Ton, sich mit Schia­pa­rel­lis Mars­for­schung zu be­fas­sen: Die »Cana­li« des Ita­li­e­ners ge­ben An­lass zu Spe­ku­la­tio­nen über in­tel­li­gen­tes Le­ben auf dem Nach­bar­pla­ne­ten. Laß­witz darf des­halb mit ho­hem Wie­de­rer­ken­nungs­wert rech­nen, wenn er in »Auf zwei Pla­ne­ten« Schau­plät­ze auf dem Mars be­schreibt.

Die meis­ten Schrif­ten des Li­te­ra­ten sind ge­gen­wär­tig ver­ges­sen, weil die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten sei­ne hu­ma­nis­tisch-pa­zi­fis­ti­schen Bü­cher ver­bie­ten und Nach­kriegs­auf­la­gen das be­kann­tes­te Werk bis zur Un­kennt­lich­keit kür­zen. Wenn­gleich der Au­tor sti­lis­tisch un­ver­kenn­bar ein Kind sei­ner Zeit ist, be­weist er doch un­ge­heu­ren Mut, Neu­es zu den­ken und zu äu­ßern. Vor ihm hat das Ju­les Ver­ne ge­tan, zeit­gleich mit Laß­witz schreibt H. G. Wel­les (»Der Krieg der Wel­ten«). Die­se drei recht ver­schie­de­nen Her­ren gel­ten als Be­grün­der der eu­ro­päi­schen Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur, de­nen Schrift­stel­ler wie Asi­mov und Lem fol­gen wer­den.

Ein Bil­dungs­bür­ger klärt auf

»Die­ses Ge­setz (…) schützt un­sern Wil­len ge­gen frem­den Ein­griff, aber ge­gen un­sern Wil­len kann es we­der fes­seln noch schei­den.« (58. Ka­pi­tel)

Der im Re­vo­lu­ti­ons­jahr 1848 in Bres­lau ge­bo­re­ne Kurd Laß­witz, ei­gent­lich Carl Theo­dor Vic­tor Kurd, ist der Sohn des po­li­tisch frei­geis­ti­gen Un­ter­neh­mers Karl Wil­helm Laß­witz, der sei­nen un­kon­ven­tio­nel­len Le­bens­weg mit ei­ner Mit­glied­schaft in der Deut­schen Fort­schritts­par­tei krönt. Der vor die­sem Hin­ter­grund auf­wach­sen­de Fi­li­us wird so­wohl als Au­tor als auch in sei­ner Le­bens­wei­se mit den Idea­len sei­nes Va­ters sym­pa­thi­sie­ren.

Auf den Ab­schluss sei­nes Ma­the­ma­tik- und Phy­sik­stu­di­ums fol­gen die Pro­mo­ti­on und das Staats­ex­amen als Leh­rer für Ma­the­ma­tik, Phy­sik, Geo­gra­fie und Phi­lo­so­phie. Seit 1876 ar­bei­tet Kurd Laß­witz am Er­nes­ti­num in Go­tha, wo er zu­nächst zum Gym­na­si­al­pro­fes­sor und 1909 zum Ho­frat er­nannt wird. Die­se Ehren­be­zeu­gung ver­dient er sich ins­be­son­de­re durch sei­ne Tä­tig­keit in der »Mitt­wochs­ge­sell­schaft zu Go­tha«, de­ren Grün­dung ent­schei­dend auf sei­ne Ini­tia­ti­ve zu­rück­geht und an de­ren Ver­an­stal­tun­gen er re­gel­mä­ßig als Re­fe­rent teil­nimmt. Die In­sti­tu­ti­on ver­folgt das Ziel, wis­sen­schaft­li­che Bil­dung brei­ten Be­völ­ke­rungs­schich­ten auf ein­gän­gi­ge Wei­se na­he­zu­brin­gen. Wer wäre dazu bes­ser be­ru­fen als der li­be­ra­le Bil­dungs­bür­ger, des­sen Ruf als Ur­he­ber ge­sell­schafts­kri­ti­scher und po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­cher Bü­cher längst über Go­tha hin­aus­ge­drun­gen ist! Als Kurd Laß­witz im Ok­to­ber 1910 stirbt, stif­tet die Stadt Go­tha ihm ein Ehren­grab auf dem Haupt­fried­hof.

Der ro­man­ti­sche Idea­lis­mus so­wie der Tech­ni­kop­ti­mis­mus des Li­te­ra­ten mö­gen in un­se­rer Zeit be­fremd­lich wir­ken – vor dem Hin­ter­grund sei­ner Le­bens­wirk­lich­keit sind sie nur zu ver­ständ­lich. Dass es Kurd Laß­witz vor al­lem dar­um geht, die Auf­merk­sam­keit sei­ner Le­ser auf ihre ei­ge­nen Po­ten­zia­le als selbst­be­stimm­te In­di­vi­du­en zu rich­ten, ist si­cher­lich ei­ner der er­in­ne­rungs­wür­digs­ten Züge an Per­son und Schaf­fen.

Erstes Buch

1. Kapitel – Am Nordpol

Eine Schlan­ge jagt über das Eis. In rie­si­ger Län­ge aus­ge­streckt schleppt sie ih­ren dün­nen Leib wie ra­send da­hin. Mit Schnell­zugs­ge­schwin­dig­keit springt sie von Schol­le zu Schol­le, die gäh­nen­de Spal­te hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das of­fe­ne Was­ser ei­nes Mee­res­arms und schlüpft ge­wandt über die hier und da sich schau­keln­den Eis­ber­ge. Sie glei­tet auf das Ufer, un­auf­halt­sam in ge­ra­der Rich­tung, di­rekt nach Nor­den, dem Ge­bir­ge ent­ge­gen, das am Ho­ri­zont sich hebt. Es geht über die Glet­scher hin nach dem dunklen Fels­ge­stein, das mit wei­ten Fle­cken bräun­li­cher Flech­ten be­deckt mit­ten un­ter den Eis­mas­sen sich em­por­bäumt. Wie­der schießt die Schlan­ge in ein Tal hin­ab. Zwi­schen den Fels­bro­cken sprosst es grün und gelb­lich, Sau­er­amp­fer und Sa­xifra­gen schmücken den Bo­den, die spär­li­chen Blät­ter ei­nes Wei­den­buschs zer­stie­ben un­ter dem Schlag des mit ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit hin­durch­fah­ren­den Schlan­gen­lei­bes. Ei­lend ent­flieht eine ein­sa­me Schnee­am­mer, er­schro­cken und brum­mend er­hebt sich aus sei­nem Schlum­mer der Eis­bär, dem so­eben die Schlan­ge das zot­ti­ge Fell ge­streift hat.

Die Schlan­ge küm­mert sich nicht dar­um; wäh­rend ihr Schweif über die nor­di­sche Som­mer­land­schaft hin­jagt, hebt sie ihr Haupt hoch em­por in die Luft, der Son­ne ent­ge­gen. Es ist kurz nach Mit­ter­nacht, eben hat der neun­zehn­te Au­gust be­gon­nen.

Schräg fal­len die Strah­len des Son­nen­balls auf die Ab­hän­ge des Ge­bir­ges, das un­ter der Ein­wir­kung des schon mo­na­te­lang dau­ern­den Ta­ges sich mit reich­li­chem Pflan­zen­wuchs be­deckt hat. Hin­ter je­nen Hö­hen liegt der Nord­pol des Erd­balls. Ihm ent­ge­gen stürmt die Schlan­ge. Wo aber ist der Kopf des ei­len­den Un­ge­tüms? Man sieht ihn nicht. Ihr dün­ner Leib ver­fließt in der Luft, die klar und durch­sich­tig über der Po­lar­land­schaft liegt. Doch welch selt­sa­me Er­schei­nung? Der Schlan­ge stets vor­an schwebt, von der Son­ne ver­gol­det, ein rund­li­cher Kör­per. Es ist ein großer Bal­lon. Straff schwillt die fei­ne Sei­de un­ter dem Druck des Was­ser­stoff­ga­ses, das sie er­füllt. In der Höhe von drei­hun­dert Me­ter über dem Bo­den treibt ein star­ker, gleich­mä­ßig we­hen­der Süd­wind den Bal­lon dem Nor­den zu. Die Schlan­ge aber ist das Schlepp­tau die­ses Luft­bal­lons, der in güns­ti­ger Fahrt dem lan­ger­sehn­ten Ziel mensch­li­cher Wiss­be­gier sich nä­hert, dem Nord­pol der Erde. Auf dem Bo­den nach­schlep­pend re­gu­liert es den Flug des Bal­lons. Wenn er hö­her steigt, hemmt es ihn durch sein Ge­wicht, das er mit auf­he­ben muss; wenn er sinkt, er­leich­tert es ihn, in­dem es in grö­ße­rer Län­ge auf der Erde sich aus­streckt. Sei­ne Rei­bung auf dem Bo­den bie­tet einen Wi­der­stand und er­mög­licht es da­mit den Luft­schif­fern, durch Stel­lung ei­nes Se­gels bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de von der Win­drich­tung ab­zu­wei­chen.

Aber das Se­gel ist jetzt ein­ge­zo­gen. Der Wind weht so güns­tig un­mit­tel­bar von Sü­den her, wie es die küh­nen Nord­pol­fah­rer nur wün­schen kön­nen. Lan­ge hat­ten sie an der Nord­küs­te von Spitz­ber­gen auf das Ein­tre­ten des Süd­winds ge­war­tet. Schon neig­te sich der Po­lar­som­mer sei­nem Ende zu, und sie fürch­te­ten un­ver­rich­te­ter Sa­che um­keh­ren zu müs­sen, wie der küh­ne Schwe­de An­drée bei sei­nem ers­ten Ver­su­che. Da end­lich, am 17. Au­gust, setz­te der Süd­wind ein. Der ge­füll­te Bal­lon er­hob sich in die Lüf­te; bin­nen zwei Ta­gen hat­ten sie tau­send Ki­lo­me­ter in di­rekt nörd­li­cher Rich­tung zu­rück­ge­legt. Der von Nan­sen ent­deck­te nor­di­sche Ozean war über­flo­gen und neu­es Land er­reicht, das sich ganz ge­gen Er­war­tung der Geo­gra­fen hier vor­fand. Schon ent­schwand das Su­pan-Kap auf An­drée-Land im Sü­den ih­ren Bli­cken. Bald muss­te es sich ent­schei­den, ob die bei­den Ex­pe­di­tio­nen, die eine im Bal­lon, die an­de­re mit Schlit­ten un­ter­nom­men, wirk­lich, wie ihre Füh­rer mein­ten, den Pol selbst er­reicht hät­ten. Bei der Un­si­cher­heit der Orts­be­stim­mung in die­sen Brei­ten wa­ren Zwei­fel dar­über ent­stan­den, die Aus­sicht vom Bal­lon war durch Ne­bel ge­trübt ge­we­sen, der Schlit­ten­ex­pe­di­ti­on fehl­te ein wei­te­rer Über­blick. Jetzt war durch die Mit­tel ei­nes rei­chen Pri­vat­manns, des Astro­no­men Fried­rich Ell, eine deut­sche Ex­pe­di­ti­on aus­ge­rüs­tet wor­den, die noch ein­mal mit­tels des Bal­lons den Pol un­ter­su­chen soll­te.

Na­tür­lich hat­te man sich die Er­fah­run­gen der frü­he­ren Ex­pe­di­tio­nen zu­nut­ze ge­macht. Durch die in­ter­na­tio­na­le Ve­rei­ni­gung für Po­lar­for­schung war eine ei­ge­ne Ab­tei­lung für wis­sen­schaft­li­che Luft­schiff­fahrt ins Le­ben ge­ru­fen wor­den. Na­ment­lich hat­te man die Be­nut­zung des Schlepp­seils aus­ge­bil­det und da­mit für die Lei­tung des Bal­lons we­nigs­tens an­nä­hernd ein Mit­tel zur Len­kung ge­fun­den, wie es das Se­gel­schiff im Wi­der­stand des Was­sers be­sitzt. Man hat­te Me­tall­zy­lin­der kon­stru­iert, in de­nen man bis auf 250 At­mo­sphä­ren Druck zu­sam­men­ge­press­ten Was­ser­stoff mit sich führ­te, um bei Dau­er­fahr­ten einen ein­ge­tre­te­nen Gas­ver­lust zu er­set­zen. Man hat­te dem Korb eine Form ge­ge­ben, die es ge­stat­te­te, ihn nach Be­darf ge­gen die äu­ße­re Luft ab­zu­schlie­ßen. Der neue Bal­lon ›Pol‹ war mit al­len die­sen fort­ge­schrit­te­nen Ein­rich­tun­gen aus­ge­rüs­tet. Au­ßer­dem hing un­ter­halb des Kor­bes zur Ret­tung im äu­ßers­ten Not­fall ein großer Fall­schirm. Un­ter ei­ner Art Sat­tel, der einen si­che­ren Sitz ge­währ­te, war an dem­sel­ben für alle Fäl­le ein Pro­vi­ant­korb be­fes­tigt.

Der Di­rek­tor der Ab­tei­lung für wis­sen­schaft­li­che Luft­schiff­fahrt, Hugo Torm, hat­te selbst die Lei­tung der Ex­pe­di­ti­on un­ter­nom­men. Ihn be­glei­te­ten der Astro­nom Gr­un­the und der Na­tur­for­scher Jo­sef Salt­ner. Salt­ner warf einen Blick auf Uhr und Baro­me­ter, drück­te auf den Mo­ment­ver­schluss des fo­to­gra­fi­schen Ap­pa­rats und no­tier­te die Zeit und den Luft­druck.

»Die­se Ge­gend hät­ten wir glück­lich in der Ta­sche«, mur­mel­te er. Dann streck­te er die in ho­hen Filz­stie­feln ste­cken­den Füße so weit aus, als es der be­schränk­te Raum des Kor­bes zuließ, zwin­ker­te mit den lus­ti­gen Au­gen und sag­te: »Mei­ne Her­ren, ich bin schau­der­haft müde. Könn­te man nicht jetzt ein klei­nes Schläf­chen ma­chen? Was mei­nen Sie, Ka­pi­tän?«

»Tun Sie das«, ant­wor­te­te Torm, »Sie sind an der Rei­he. Aber be­ei­len Sie sich. Wenn wir die­sen Wind noch drei Stun­den be­hal­ten –«

Er un­ter­brach sich, um die nö­ti­gen Able­sun­gen zu ma­chen.

»We­cken Sie mich ge­fäl­ligst, so­bald wir – am Pol sind –«

Salt­ner sprach mit ge­schlos­se­nen Au­gen, und beim letz­ten Wort war er schon sanft ent­schlum­mert.

»Es ist ein un­heim­li­ches Glück, das wir ha­ben«, be­gann Torm. »Wir flie­gen im wah­ren Sinn des Worts auf das Ziel zu. Ich habe für die letz­ten fünf Mi­nu­ten wie­der 3,9 Ki­lo­me­ter no­tiert. Könn­ten Sie eine ge­naue­re Be­stim­mung ver­su­chen, wo wir sind?«

»Es wird sich ma­chen las­sen«, ant­wor­te­te Gr­un­the, in­dem er nach dem Sex­tan­ten griff. »Der Bal­lon geht sehr ru­hig, und wir ha­ben die Orts­zeit ziem­lich si­cher. Wir hat­ten den tiefs­ten Son­nen­stand vor ei­ner Stun­de und 26 Mi­nu­ten.« Er nahm die Son­nen­hö­he mit größ­ter Sorg­falt. Dann rech­ne­te er ei­ni­ge Zeit lang.

In voll­kom­me­ner Stil­le lag die Land­schaft, über wel­che die Luft­schif­fer eil­ten. Ein wei­tes Hoch­pla­teau, mit Moos und Flech­ten be­deckt, hier und da von Was­ser­la­chen durch­setzt, bil­de­te den Fuß des Ge­bir­ges, dem sich der Bal­lon schnell nä­her­te. Man hör­te nichts als das Ti­cken der Uhr­wer­ke, von Zeit zu Zeit das re­gel­mä­ßi­ge Ab­schnur­ren des Aspi­ra­ti­ons­ther­mo­me­ters, da­zwi­schen die be­hag­li­chen Atem­zü­ge des schlum­mern­den Salt­ner. Es war frei­lich eine an­ge­neh­me­re Po­lar­fahrt, als mit halb­ver­hun­ger­ten Hun­den die lang­sa­men Schlit­ten über die Eistrüm­mer zu schlep­pen. Gr­un­the sah von sei­ner Rech­nung auf.

»Wel­che Brei­te ha­ben Sie aus der Be­rech­nung des zu­rück­ge­leg­ten We­ges?« frag­te er Torm.

»Achtun­dacht­zig Grad fünf­zig – ein­und­fünf­zig Mi­nu­ten«, er­wi­der­te die­ser.

»Wir sind wei­ter.«

Gr­un­the mach­te eine Pau­se, in­dem er noch ein­mal kurz die Rech­nung prüf­te. Dann sag­te er be­dacht­sam, aber mit der­sel­ben Gleich­mä­ßig­keit der Stim­me:

»Neun­un­dacht­zig Grad 12 Mi­nu­ten.«

»Nicht mög­lich!«

»Ganz si­cher«, er­wi­der­te Gr­un­the ru­hig und zog die Lip­pen ein, so­dass sein Mund un­ter dem dün­nen Schnurr­bart wie ein Ge­dan­ken­strich er­schi­en. Das war das Zei­chen, dass kei­ne Ge­walt mehr im­stan­de sei, an Gr­un­thes un­er­schüt­ter­li­chem Auss­pruch et­was zu än­dern.

»Dann ha­ben wir kei­ne 90 Ki­lo­me­ter mehr bis zum Pol«, rief Torm leb­haft.

»Neun­un­dacht­zi­gein­halb«, sprach Gr­un­the.

»Dann sind wir in zwei Stun­den dort.«

»In ei­ner Stun­de und 52 Mi­nu­ten«, ver­bes­ser­te Gr­un­the un­er­schüt­ter­lich, »wenn näm­lich der Wind mit der­sel­ben Ge­schwin­dig­keit an­hält.«

»Ja – wenn«, so rief Torm leb­haft. »Nur noch zwei Stun­den, Gott gebe es!«

»So­bald wir über je­nen Ber­grücken sind, wer­den wir den Pol se­hen.«

»Sie ha­ben recht, Dok­tor! Se­hen wer­den wir den Pol – ob auch er­rei­chen?«

»Wa­rum nicht?« frag­te Gr­un­the.

»Hin­ter den Ber­gen, der Him­mel ge­fällt mir nicht – auf der Nord­sei­te liegt jetzt seit Stun­den die Son­ne, es ist dort ein auf­stei­gen­der Luft­strom vor­han­den –«

»Wir müs­sen ab­war­ten.«

»Da – da – se­hen Sie – den herr­li­chen Ab­sturz des Glet­schers«, rief Torm.

»Wir flie­gen ge­ra­de auf ihn zu; müs­sen wir nicht stei­gen?« frag­te Gr­un­the.

»Ge­wiss, dort müs­sen wir hin­über. Auf­ge­passt! Schnei­den Sie ab!«

Zwei Sä­cke Bal­last klapp­ten her­ab. Der Bal­lon schoss in die Höhe.

»Wie die Ent­fer­nung täuscht«, sag­te Torm. »Ich hät­te die Wand für ent­fern­ter ge­hal­ten – es reicht noch nicht. Wir müs­sen noch mehr op­fern.«

Er schnitt noch einen Sack ab.

»Wir dür­fen nicht in die Schlucht ge­ra­ten«, er­klär­te er, »kein Mensch weiß, in was für Wir­bel wir da kom­men. Aber was ist das? Der Bal­lon steigt nicht? Es hilft nichts – noch mehr hin­aus!«

Eine schwar­ze Fels­wand, wel­che den Glet­scher in zwei Tei­le spal­te­te, er­hob sich un­mit­tel­bar vor ih­nen. Der Bal­lon schweb­te in un­heim­li­cher Nähe. Mit ängst­li­cher Er­war­tung ver­folg­ten die bei­den Män­ner den Flug ih­res Aëro­staten. Der Süd­wind war jetzt, zu ih­rem Glück, hier in der un­mit­tel­ba­ren Nähe der Ber­ge schwä­cher, sonst wä­ren sie schon an die Fel­sen ge­schleu­dert wor­den. Der Bal­lon be­fand sich nun­mehr im Schat­ten der Ber­ge; das Gas kühl­te sich ab. Die Tem­pe­ra­tur sank schnell tief un­ter den Ge­frier­punkt. Torm über­leg­te, ob er noch mehr Bal­last aus­wer­fen dür­fe. Was er jetzt an Bal­last ver­lor, das muss­te er dann an Gas auf­op­fern, um den Bal­lon wie­der zum Sin­ken zu brin­gen, und das Gas war sein größ­ter Schatz, das Mit­tel, das ihn wie­der aus dem Be­reich des furcht­ba­ren Nor­dens brin­gen soll­te. Er wuss­te ja nicht, was ihn hin­ter den Ber­gen er­war­te. Aber der Bal­lon stieg zu lang­sam. Da – eine seit­li­che Strö­mung be­wegt ihn – die Strah­len der Son­ne, wel­che über den Sat­tel des Glet­schers her­über­lugt, tref­fen ihn wie­der – das Gas dehnt sich aus, der Bal­lon steigt – tiefer und tiefer sin­ken die Eis­mas­sen un­ter ihm. –

»Hur­ra!« ru­fen die bei­den Luft­schif­fer wie aus ei­nem Mun­de.

»Was gib­t’s?« fährt Salt­ner aus sei­nem Schlum­mer em­por. »Sind wir da?«

»Wol­len Sie den Nord­pol se­hen?«

»Wo? Wo?« Im Au­gen­blick war Salt­ner in die Höhe ge­fah­ren.

»Sa­kri, das ist kalt«, rief er.

»Wir sind über 500 Me­ter ge­stie­gen«, ant­wor­te­te Torm.

Salt­ner hüll­te sich in sei­nen Pelz, was die an­de­ren schon vor­her ge­tan hat­ten.

»Wir sind jetzt fast in glei­cher Höhe mit dem Kamm des Ge­bir­ges. So­bald wir dar­über hin­weg­se­hen kön­nen, muss vor uns, etwa 50 Ki­lo­me­ter nach Nor­den, die Stel­le lie­gen –«

»Wo die Erdach­se ge­schmiert wird!« rief Salt­ner. »Ich bin ver­teu­felt neu­gie­rig. Na, den Cham­pa­gner brau­chen wir nicht erst kalt zu stel­len.«

Die drei Män­ner stan­den, am Tau­werk sich hal­tend, in der Gon­del. Mit ge­spann­ten Bli­cken schau­ten sie je­den Au­gen­blick, den ih­nen die Be­die­nung des Bal­lons und die Beo­b­ach­tung der In­stru­men­te freiließ, durch ihre Feld­ste­cher nach Nor­den, der Son­ne ent­ge­gen, die erst we­nig nach Os­ten hin bei­sei­te ge­tre­ten war. All­mäh­lich ver­san­ken die Berg­gip­fel un­ter ih­nen – noch ein brei­te­rer Rücken hemm­te ih­nen die Aus­sicht – der Bal­lon glitt jetzt wie­der in der Höhe des Kam­mes da­hin, das Schlepp­tau schleif­te –, noch eine brei­te Mul­de war zu über­flie­gen, dann muss­te das er­sehn­te Ziel vor ih­nen lie­gen. Der Bal­lon be­fand sich etwa in der Mit­te der Mul­de, höchs­tens 100 Me­ter über ih­rem Bo­den, und die ge­gen­über­lie­gen­de Tal­wand ver­deck­te noch die Aus­sicht. Der Wind war et­was we­ni­ger leb­haft, aber im­mer noch süd­lich, und der Bal­lon stieg an der fla­chen Er­he­bung des Eis­fel­des hin­an.

Jetzt wur­den ein­zel­ne wei­ße Berg­kup­pen in großer Ent­fer­nung hin­ter dem na­hen Ho­ri­zont der ge­gen­über­lie­gen­den Eis­wand sicht­bar, die Luft­schif­fer be­fan­den sich in glei­cher Höhe mit dem letz­ten Hin­der­nis, das ih­ren Blick be­schränk­te. Die Gip­fel mehr­ten sich, sie bil­de­ten eine Berg­ket­te.

»Die­se Ber­ge lie­gen schon hin­ter dem Pol«, sag­te Gr­un­the, und dies­mal beb­te sei­ne Stim­me doch ein we­nig vor Auf­re­gung. Fest press­te er sei­ne Lip­pen zur ge­ra­den Li­nie zu­sam­men.

Wei­ter stieg der Bal­lon – dun­kel ge­färb­te Ber­g­zü­ge er­schie­nen un­ter den Schnee­gip­feln, röt­lich und bräun­lich schim­mernd – jetzt er­reich­te der Bal­lon die Höhe und schweb­te über ei­nem tie­fen Ab­grund – das Schlepp­seil schnell­te hin­ab, und der Bal­lon sank so­fort ei­ni­ge hun­dert Me­ter tief – dann pen­del­te er noch ein­mal auf und ab – die­se plötz­li­che Schwan­kung des Bal­lons hat­te die Auf­merk­sam­keit der Luft­schif­fer voll in An­spruch ge­nom­men – sie sa­hen un­ter sich, tief un­ten ein wil­des Ge­wirr von Klip­pen, Fel­strüm­mern und Eis­blö­cken, hin­ter sich die steil ab­ge­bro­che­ne Wand, an wel­cher der ver­zerr­te Schat­ten des Bal­lons auf- und nie­der­schwank­te – die In­stru­men­te muss­ten be­ob­ach­tet wer­den, und erst jetzt konn­ten sie den Blick nach vor­wärts len­ken, vor­wärts und nord­wärts – oder war es viel­leicht schon süd­wärts?

Salt­ner war der ers­te, der nach vorn blick­te. Aber er sprach nichts, in ei­nem lang­ge­dehn­ten Pfiff blies er den Atem aus sei­nen ge­spitz­ten Lip­pen.

»Das Meer!« rief Torm.

»Grüß Gott!« sag­te jetzt Salt­ner. »Da hat halt der alte Pe­ter­mann doch recht be­hal­ten, aber bloß ein bis­sel. Ein of­fe­nes Po­lar­meer ist es schon, man muss sich nur nicht zu viel drauf ein­bil­den.«

»Ein Bin­nen­meer, ein Bas­sin, im­mer­hin, ge­gen tau­send Qua­drat­ki­lo­me­ter schät­ze ich«, sag­te Gr­un­the. »Etwa so groß wie der Bo­den­see. Aber wer kann wis­sen, was sich dort hin­ten noch an Fjords und Kanä­len ab­zweigt. Und auch das Bas­sin selbst ist durch ver­schie­de­ne In­seln in Arme ge­teilt.«

»Wer da un­ten zu Fuß oder zu Schiff an­kommt, muss Mühe ha­ben zu ent­schei­den, ob das Meer im Land liegt oder das Land im Meer«, sag­te Salt­ner. »Gut, dass wir’s be­que­mer ha­ben.«

»Ge­wiss«, mein­te Torm, »es ist mög­lich, dass wir ein Stück des of­fe­nen Mee­res vor uns ha­ben, ob­wohl es von hier den An­schein hat, als schlös­sen die Ber­ge das Was­ser von al­len Sei­ten ein. Wir wer­den ja se­hen. Aber vor al­len Din­gen, was sol­len wir tun? Wir ha­ben wi­der Er­war­ten so hoch stei­gen müs­sen, dass wir jetzt sehr viel Gas ver­lie­ren wür­den, wenn wir hin­ab­woll­ten, und and­rer­seits wer­den wir wie­der drü­ben über die Ber­ge hin­auf­müs­sen. Es ist eine schwie­ri­ge Fra­ge. Aber wir ha­ben noch Zeit, dar­über nach­zu­den­ken, denn der Bal­lon be­wegt sich jetzt nur lang­sam.«

»Und die­se Ge­le­gen­heit wol­len wir be­nut­zen, um dem Nord­pol un­sern wohl­ver­dien­ten Gruß zu brin­gen«, rief Salt­ner. Mit die­sen Wor­ten zog er ein Fut­te­ral her­vor, aus wel­chem drei Fla­schen Cham­pa­gner ihre sil­ber­nen Häl­se ein­la­dend her­vor­streck­ten.

»Da­von weiß ich ja gar nichts«, sag­te Torm fra­gend.

»Das ist eine Stif­tung von Frau Isma. Se­hen Sie, es steht dar­auf: ›Am Pol zu öff­nen. Ge­wicht vier Ki­lo­gramm.‹«

Torm lach­te. »Dach­te ich mir doch«, sag­te er, »dass mei­ne Frau ir­gen­det­was ein­schmug­geln wür­de, was das Ex­pe­di­ti­ons­re­gle­ment durch­bricht.«

»Es ist doch aber auch ein herr­li­cher Ge­dan­ke von Ih­rer Frau, sich am Nord­pol in Cham­pa­gner hoch­le­ben zu las­sen«, er­wi­der­te Salt­ner. »Ers­tens für sich selbst, denn das ist et­was, was noch nicht da­ge­we­sen ist; das müs­sen Sie zu­ge­ben, Da­men sind hier noch nie­mals le­ben ge­las­sen wor­den. Und zwei­tens für uns, das müs­sen Sie auch zu­ge­ben; es ist sehr won­nig, in die­ser Käl­te den Schaum­wein zu trin­ken auf das Wohl un­se­rer Kom­man­deu­se. Und drit­tens, ist es nicht ein­fach be­jauchz­bar, das tra­gi­sche Ant­litz un­se­res Astro­no­men zu se­hen? Denn Cham­pa­gner trinkt er prin­zi­pi­ell nicht, und auf weib­li­che We­sen stößt er prin­zi­pi­ell nicht an; da er aber auf dem Nord­pol prin­zi­pi­ell in ein Hoch ein­stim­men muss und will, so fin­det er sich in ei­nem Wi­der­streit der Prin­zi­pi­en, aus dem her­aus­zu­kom­men ihm ver­teu­felt schwer­fal­len wird.«

»Da­rauf könn­te ich sehr viel er­wi­dern«, sag­te Gr­un­the. »Zum Bei­spiel, dass wir noch gar nicht wis­sen, wo der Nord­pol ei­gent­lich liegt.«

»Schon wahr«, un­ter­brach ihn Torm, »aber eben dar­um müs­sen wir den Mo­ment fei­ern, in wel­chem wir si­cher sind, ihn zum ers­ten Mal in un­serm Ge­sichts­feld zu ha­ben. Das wer­den Sie zu­ge­ben?«

»Hm, ja«, sag­te Gr­un­the, und ein leich­tes Schmun­zeln glitt über sei­ne Züge. »Ich neh­me an, wir wä­ren am Pol. So kann ich mit Ih­nen an­sto­ßen, oder auch nicht, ganz wie ich will, ohne mit ir­gend­wel­chen Prin­zi­pi­en in Wi­der­spruch zu ge­ra­ten.«

»Wie­so?« frag­te Salt­ner.

»Der Pol ist ein Uns­te­tig­keits­punkt. Prin­zi­pi­en sind Grund­sät­ze, die un­ter der Voraus­set­zung gel­ten, dass die Be­din­gun­gen be­ste­hen, für wel­che sie auf­ge­stellt sind, vor al­lem die Ste­tig­keit der Raum- und Zeit­be­stim­mun­gen. Am Pol sind alle Be­din­gun­gen auf­ge­ho­ben. Hier gibt es kei­ne Him­mels­rich­tun­gen mehr, jede Rich­tung kann als Nord, Süd, Ost oder West be­zeich­net wer­den. Hier gibt es auch kei­ne Ta­ges­zeit; alle Zei­ten, Nacht, Mor­gen, Mit­tag und Abend, sind gleich­zei­tig vor­han­den. Hier gel­ten also auch alle Grund­sät­ze zu­sam­men oder gar kei­ne. Es ist der voll­stän­di­ge In­dif­fe­renz­punkt al­ler Be­stim­mun­gen er­reicht, das Ide­al der Par­tei­lo­sig­keit.«

»Bra­vo«, rief Salt­ner, der in­zwi­schen die Trink­be­cher von Alu­mi­ni­um mit dem per­len­den Wein ge­füllt hat­te. »Es lebe Frau Isma Torm, un­se­re gnä­di­ge Spen­de­rin!«

Salt­ner und Torm er­ho­ben ihre Be­cher. Gr­un­the kniff die Lip­pen zu­sam­men und hielt, ge­ra­de­aus star­rend, sein Trink­ge­fäß un­be­weg­lich vor sich hin, in­dem er es pas­siv ge­sche­hen ließ, dass die an­de­ren mit ih­ren Be­chern dar­an stie­ßen. Nun rief Torm:

»Es lebe der Nord­pol!«

Da stieß auch Gr­un­the sei­nen Be­cher leb­haft mit den an­de­ren zu­sam­men und setz­te hin­zu:

»Es lebe die Mensch­heit!«

Sie tran­ken und Salt­ner rief:

»Gr­un­thes Toast ist so all­ge­mein, dass ein Be­cher nicht rei­chen kann.« Und er schenk­te noch ein­mal ein.

In­zwi­schen war der Bal­lon lang­sam dem Bin­nen­meer ent­ge­gen­ge­trie­ben, das sich nun im­mer deut­li­cher den stau­nen­den Bli­cken der Rei­sen­den ent­hüll­te. Vom Fuß der steil ab­fal­len­den Fel­sen­wand des Ge­bir­ges ab senk­te sich das Ge­län­de all­mäh­lich, wohl noch eine Stre­cke von ei­ni­gen zwan­zig Ki­lo­me­tern weit, nach dem Ufer hin. Aber die Land­schaft zeig­te jetzt ein voll­stän­dig an­de­res Ge­prä­ge. Die wil­de Glet­scher­na­tur war ver­schwun­den, grü­ne Mat­ten zo­gen sich, nur noch mit ein­zel­nen Ge­stein­strüm­mern hier und da be­deckt, in sanf­ter Sen­kung dem Was­ser zu. Man glaub­te in ein herr­li­ches Al­pen­tal zu schau­en, in des­sen Mit­te ein blau­er Berg­see sich aus­brei­te­te. An dem jen­sei­ti­gen, ent­fern­ten Ufer, das frei­lich in un­deut­li­chem Däm­mer ver­schwamm, schi­en da­ge­gen wie­der ein Steil­ab­fall von Fels und Eis zu herr­schen, doch zog sich über den Ber­gen dort eine Wol­ken­wand em­por. Das Auf­fallends­te in der gan­zen Sze­ne­rie aber bot der An­blick ei­ner der In­seln, die zahl­reich und in un­re­gel­mä­ßi­ger Ge­stal­tung in dem Bas­sin la­gen, bis an des­sen Ufer der Bal­lon jetzt her­an­ge­schwebt war. Sie war klei­ner als die Mehr­zahl der üb­ri­gen In­seln. Aber ihre For­men wa­ren so voll­kom­men re­gel­mä­ßig, dass es zwei­fel­haft schi­en, ob man eine Ge­stal­tung der Na­tur vor sich habe. Die mit Flech­ten be­klei­de­ten Fel­strüm­mer, wel­che die an­de­ren In­seln be­deck­ten, fehl­ten hier voll­stän­dig.

Die For­scher moch­ten sich etwa noch zwölf Ki­lo­me­ter von der rät­sel­haf­ten In­sel ent­fernt be­fin­den, die sie mit ih­ren Fernglä­sern mus­ter­ten, als Torm sich an Gr­un­the wand­te.

»Sa­gen Sie uns, bit­te, Ihre Mei­nung. Kön­nen wir ei­gent­lich be­stim­men, wo wir uns be­fin­den? Ich muss ge­ste­hen, dass ich beim Über­schrei­ten des Ge­bir­ges und dem ra­schen Hö­hen­wech­sel nicht mehr im­stan­de war, die ein­zel­nen Land­mar­ken zu ver­fol­gen.«

»Ich habe«, er­wi­der­te Gr­un­the, »ei­ni­ge Pei­lun­gen ge­macht, aber zu ei­ner si­che­ren Be­stim­mung rei­chen sie nicht mehr aus. Auch die Metho­de aus der Mes­sung der Son­nen­hö­he ist jetzt nicht an­wend­bar, da wir nicht mehr im­stan­de sind, die Ta­ges­zeit auch nur mit ei­ni­ger Si­cher­heit an­zu­ge­ben. Wir ha­ben die Him­mels­rich­tung voll­stän­dig ver­lo­ren. Der Kom­pass ist ja hier im Nor­den sehr un­zu­ver­läs­sig. Auf alle Fäl­le sind wir ganz nahe am Pol, wo alle Me­ri­dia­ne so nah zu­sam­men­lau­fen, dass eine Ab­wei­chung von ei­nem Ki­lo­me­ter nach rechts oder links einen Zeit­un­ter­schied von ei­ner Stun­de oder mehr aus­macht. Wenn un­ser Bal­lon aus der Nord-Süd-Rich­tung viel­leicht seit der Über­schrei­tung des Ge­bir­ges um fünf oder sechs Ki­lo­me­ter ab­ge­wi­chen ist, was sehr leicht sein kann, so ha­ben wir jetzt nicht, wie wir ver­mu­ten, drei Uhr mor­gens am 19. Au­gust, son­dern viel­leicht schon Mit­tag, oder, wenn wir nach Wes­ten ab­ge­wi­chen sind, so sind wir so­gar in den gest­ri­gen Tag zu­rück­ge­ra­ten und ha­ben viel­leicht erst den 18. Au­gust abends.«

»Das wäre der Teu­fel«, rief Salt­ner. »Das kommt von die­sem ewi­gen Son­nen­schein am Pol! Nun kann ich an mei­nem Abreiß­ka­len­der das Blatt von ges­tern wie­der an­kle­ben.«

»Schon mög­lich!« lä­chel­te Gr­un­the. »Neh­men Sie an, Sie ma­chen einen Spa­zier­gang um den Nord­pol in der Ent­fer­nung von hun­dert Me­tern vom Pol, so sind Sie in fünf Mi­nu­ten be­quem um den Pol her­um­ge­gan­gen und ha­ben sämt­li­che 360 Me­ri­dia­ne über­schrit­ten; Sie ha­ben also in fünf Mi­nu­ten alle Ta­ges­zei­ten ab­ge­lau­fen. Ge­hen Sie nach Wes­ten her­um, und wol­len Sie die rich­ti­ge Zeit je­des Me­ri­dians ha­ben, so müss­ten Sie auf je­dem Me­ri­di­an Ihre Uhr um 4 Mi­nu­ten zu­rück­stel­len, so­dass Sie nach be­sag­ten fünf Mi­nu­ten um einen vol­len Tag zu­rück sind, und wenn Sie in die­ser Art eine Stun­de lang um den Pol her­um­ge­gan­gen sind, so muss Ihre Uhr, wenn sie einen Da­tum­zei­ger be­sitzt, den 7. Au­gust an­zei­gen.«

»Da muss ich mir halt einen Ankle­be­ka­len­der an­schaf­fen«, mein­te Salt­ner.

»Ja, aber wenn Sie nach Os­ten her­um­ge­hen, kom­men Sie um eben­so viel in der Zeit vor­an, Sie hät­ten dann nach zwölf­ma­li­gem Spa­zier­gang um den Pol den 31. Au­gust er­reicht, wenn Sie bei je­dem Um­ge­hen des Pols ein Blatt in ih­rem Ka­len­der ab­ris­sen. In bei­den Fäl­len wür­den sie sich in­des­sen tat­säch­lich noch am 19. Au­gust be­fin­den. Sie müss­ten also, wie die See­fah­rer beim Über­schrei­ten des 180. Me­ri­dians, ih­ren Da­tum­zei­ger ent­spre­chend re­gu­lie­ren.«

»Und wenn wir nun ge­ra­de über den Pol weg­flie­gen?«

»Dann sprin­gen wir in ei­nem Mo­ment um zwölf Stun­den in der Zeit. Der Pol ist eben ein Uns­te­tig­keits­punkt.«

»Sacker­ment, da weiß man ja gar nicht, wo man ist.«

»Ja«, sag­te Torm, »das ist eben das Fa­ta­le. Wir ha­ben uns von An­fang an dar­auf ver­las­sen müs­sen, dass wir un­se­re Lage aus dem zu­rück­ge­leg­ten Wege be­stim­men. Lässt sich denn gar nichts tun?«

»Nur wenn wir lan­den und un­se­re In­stru­men­te so fest auf­stel­len, dass wir ei­ni­ge Ster­ne an­vi­sie­ren kön­nen.«

»Da­ran kön­nen wir auf kei­nen Fall eher den­ken, bis wir den See über­flo­gen ha­ben und das jen­sei­ti­ge Ge­bir­ge über­schau­en. Hier zwi­schen den In­seln dür­fen wir uns nicht hin­ab­wa­gen. Wir sind also wirk­lich nicht bes­ser dar­an als un­se­re Vor­gän­ger, und der wah­re Pol bleibt wie­der un­be­stimmt.«

»Zu ver­flixt«, brumm­te Salt­ner, »da sind wir viel­leicht ge­ra­de am Nord­pol und wis­sen es nicht.«

2. Kapitel – Das Geheimnis des Pols

Lang­sam zog der Bal­lon wei­ter, doch be­weg­te er sich nicht di­rekt auf die auf­fal­len­de klei­ne In­sel zu, son­dern sie blieb rechts von sei­ner Fahrtrich­tung lie­gen.

Wäh­rend Gr­un­the die Land­mar­ken auf­nahm und Torm die In­stru­men­te ab­las, such­te Salt­ner, dem die fo­to­gra­fi­sche Fest­hal­tung des Ter­rains ob­lag, die Ge­gend mit sei­nem vor­züg­li­chen Ab­bé­schen Re­lief­fern­rohr ab. Das­sel­be gab eine sech­zehn­fa­che Ver­grö­ße­rung und ließ, da es die Au­gen­di­stanz ver­zehn­fach­te, die Ge­gen­stän­de in ste­reo­sko­pi­scher Kör­per­lich­keit er­schei­nen. Sie hat­ten sich jetzt der In­sel so­weit ge­nä­hert, dass es mög­lich ge­we­sen wäre, Men­schen, falls sich sol­che dort hät­ten be­fin­den kön­nen, mit Hil­fe des Fern­rohrs wahr­zu­neh­men.

Salt­ner schüt­tel­te den Kopf, sah wie­der durch das Fern­rohr, setz­te es ab und schüt­tel­te wie­der den Kopf.

»Mei­ne Her­ren«, sag­te er jetzt, »ent­we­der ist mir der Cham­pa­gner in den Kopf ge­stie­gen –«

»Die zwei Glas, Ih­nen?« frag­te Torm lä­chelnd.

»Ich glaub es auch nicht, also – oder –«

»Oder? Was se­hen Sie denn?«

»Es sind schon an­de­re vor uns hier ge­we­sen.«

»Un­mög­lich!« rie­fen Torm und Gr­un­the wie aus ei­nem Mun­de.

»Die bis­he­ri­gen Be­rich­te wis­sen nichts von ei­ner der­ar­ti­gen In­sel – un­se­re Vor­gän­ger sind of­fen­bar gar nicht über das Ge­bir­ge ge­kom­men«, füg­te Torm hin­zu.

»Se­hen Sie selbst«, sag­te Salt­ner und gab das Fern­rohr an Torm. Er selbst und Gr­un­the be­nutz­ten ihre klei­ne­ren Feld­ste­cher. Torm blick­te ge­spannt nach der In­sel, dann woll­te er et­was sa­gen, zuck­te aber nur mit den Lip­pen und blieb völ­lig stumm.

Salt­ner be­gann wie­der: »Die In­sel ist ge­nau kreis­för­mig – das ha­ben wir schon be­merkt. Aber jetzt se­hen Sie, dass ge­ra­de im Zen­trum sich wie­der ein dunk­ler Kreis von – sa­gen wir – viel­leicht hun­dert Me­tern Durch­mes­ser be­fin­det.«

»Al­ler­dings«, sag­te Gr­un­the, »aber es ist nicht nur ein Kreis, son­dern eine zy­lin­dri­sche Öff­nung, wie man jetzt deut­lich se­hen kann. Und um den Rand der­sel­ben führt eine Art Brüs­tung.«

»Und nun su­chen Sie ein­mal den Rand der In­sel ab. Was se­hen Sie?«

»Mein Glas ist zu schwach, um Ein­zel­hei­ten zu er­ken­nen.«

»Ich habe ge­se­hen, was Sie wahr­schein­lich mei­nen«, sag­te Torm.

»Aber was ist das«, un­ter­brach er sich, »der Bal­lon än­dert sei­ne Rich­tung?«

Er gab das Glas an Gr­un­the und wand­te sei­ne Auf­merk­sam­keit dem Bal­lon zu. Die­ser wich nach rechts von sei­nem bis­he­ri­gen Kur­se ab. Er be­weg­te sich par­al­lel mit dem Ufer der In­sel, die­se in sich gleich­blei­ben­der Ent­fer­nung um­krei­send.

»Wir wol­len uns über­zeu­gen, dass wir das­sel­be mei­nen«, sag­te Gr­un­the. »Rings um die In­sel zieht sich ein Kreis von pfei­ler- oder säu­len­ar­ti­gen Er­hö­hun­gen in glei­chen Ab­stän­den.«

»Es stimmt«, sag­ten die an­de­ren.

»Ich habe sie ge­zählt«, be­merk­te Torm, »es sind zwölf große, da­zwi­schen je elf klei­ne­re, im gan­zen hun­dert­vierund­vier­zig.«

»Und der selt­sa­me Re­flex über der gan­zen In­sel?«

»Wis­sen Sie, es sieht aus, als wäre die gan­ze In­sel mit ei­nem Netz von spie­geln­den me­tal­li­schen Dräh­ten oder Schie­nen über­zo­gen, die wie die Spei­chen ei­nes Ra­des vom Zen­trum nach der Pe­ri­phe­rie lau­fen.«

»Ja«, sag­te Torm, in­dem er sich einen Au­gen­blick er­schöpft nie­der­setz­te, »und Sie wer­den gleich noch mehr se­hen, wenn Sie län­ger hin­schau­en. Ich will es Ih­nen sa­gen.« Sei­ne Stim­me klang rau und hei­ser. »Was Sie dort se­hen, ist der Nord­pol der Erde – aber, wir ha­ben ihn nicht ent­deckt.«

»Das fehl­te ge­ra­de«, fuhr Salt­ner auf. »Da­für soll­ten wir uns in die­sen pen­deln­den Frier­kas­ten ge­setzt ha­ben? Nein, Ka­pi­tän, ent­deckt ha­ben wir ihn, und was wir da se­hen, ist kein Men­schen­werk. So ver­rückt wäre doch kein Mensch, hier Dräh­te zu span­nen! Eher will ich glau­ben, dass die Erdach­se in ein großes Ve­lo­zi­pe­drad aus­läuft, und dass wir wahr­haf­tig be­ru­fen sind, sie zu schmie­ren! Nur nicht den Mut ver­lie­ren!«

»Wenn es nicht Men­schen sind«, sag­te Torm ton­los, »und ich weiß auch nicht, wie Men­schen der­glei­chen ma­chen soll­ten, und warum, und wo sie her­kämen – das hät­te man doch er­fah­ren – so – eine Täu­schung ist es doch nicht – so steht mir der Ver­stand still.«

»Na«, sag­te Salt­ner, »Eis­bä­ren wer­den’s nicht ge­macht ha­ben, ob­gleich ich mich jetzt über nichts mehr wun­dern wür­de, und wenn gleich ein ge­flü­gel­ter See­hund käme und ›Sta­ti­on Nord­pol‹ aus­rie­fe. Aber es könn­te doch viel­leicht eine Na­tur­er­schei­nung sein, ein merk­wür­di­ger Kris­tal­li­sa­ti­ons­pro­zess – Sa­kri! Jetzt hab ich’s. Das ist ein Gey­sir! Ein rie­si­ger Gey­sir!«

»Nein, Salt­ner«, er­wi­der­te Torm, »das habe ich auch schon ge­dacht – ein Schlamm­vul­kan könn­te etwa eine ähn­li­che Bil­dung zei­gen. Aber – Sie ha­ben wohl das Ei­gent­li­che, die Haupt­sa­che, das – Un­er­klär­li­che noch nicht ge­se­hen –«

»Was mei­nen Sie?«

»Ich hab’ es ge­se­hen«, sag­te jetzt Gr­un­the. Er setz­te das Fern­rohr ab. Dann lehn­te er sich zu­rück und run­zel­te die Stirn. Auch um die fest zu­sam­men­ge­zo­ge­nen Lip­pen bil­de­ten sich Fal­ten, dass sein Mund aus­sah wie ein in Klam­mern ge­setz­tes Mi­nus­zei­chen. Er ver­sank in tie­fes, sor­gen­vol­les Nach­den­ken.

Salt­ner er­griff das Glas.

»Ach­ten Sie auf die Fär­bun­gen am Bo­den der gan­zen In­sel!« sag­te Torm zu ihm.

»Es sind Fi­gu­ren!« rief Salt­ner.

»Ja«, sag­te Torm. »Und die­se Fi­gu­ren stel­len nichts an­de­res dar als ein ge­nau­es Kar­ten­bild ei­nes großen Teils der nörd­li­chen Halb­ku­gel der Erde in per­spek­ti­vi­scher Po­lar­pro­jek­ti­on. Sie se­hen deut­lich den Ver­lauf der grön­län­di­schen Küs­te, Nord­ame­ri­ka, die Be­ring­stra­ße, Si­bi­ri­en, ganz Eu­ro­pa – mit sei­nen un­ver­kenn­ba­ren In­seln und Halb­in­seln, das Mit­tel­meer bis zum Nor­d­rand von Afri­ka, wenn auch stark ver­kürzt.«

»Es ist kein Zwei­fel«, sag­te Salt­ner. »Die gan­ze Um­ge­bung des Pols ist in ei­nem deut­li­chen Kar­ten­bild in ko­los­sa­lem Maß­stab hier ab­ge­zeich­net, und zwar bis ge­gen den 30. Brei­ten­grad.«

»Und wie ist das mög­lich?«

Die Fra­ge fand kei­ne Ant­wort. Alle schwie­gen.

In­zwi­schen hat­te der Bal­lon eine fast voll­stän­di­ge Um­krei­sung der In­sel voll­zo­gen. Aber er hat­te sich der­sel­ben auch noch um ein Stück ge­nä­hert. Es war klar, dass er durch eine un­be­kann­te Kraft, wohl durch eine wir­bel­för­mi­ge Be­we­gung der Luft, um die In­sel her­um­ge­führt und zu­gleich nach der Ach­se des Wir­bels, die von der Mit­te der In­sel aus­ge­hen moch­te, zu ihr hin­ge­zo­gen wur­de.

Torm un­ter­brach das Schwei­gen. »Wir müs­sen einen Ent­schluss fas­sen«, sag­te er. »Wol­len die Her­ren sich äu­ßern.«

»Ich will zu­nächst ein­mal«, be­gann Salt­ner, »die­se merk­wür­di­ge Erd­kar­te fo­to­gra­fie­ren. Sie scheint ziem­lich rich­tig selbst in De­tails zu sein. Dass sie nicht von Men­schen­hand her­rüh­ren kann, se­hen wir dar­aus dass auch die noch un­be­kann­ten Ge­gen­den des Po­lar­ge­bie­tes dar­ge­stellt sind. Die in­ne­re Öff­nung, bei wel­cher die Kar­te ab­bricht, ent­spricht in ih­rem Um­fan­ge etwa dem 86. Brei­ten­gra­de; es feh­len also – für uns lei­der – die nächs­ten vier Gra­de um den Pol her­um.«

»Selbst­ver­ständ­lich«, sag­te Torm, »müs­sen Sie die Kar­te fo­to­gra­fie­ren. Wir dür­fen nicht mehr zwei­feln, ein Werk in­tel­li­gen­ter We­sen vor uns zu ha­ben, wenn ich mir auch nicht er­klä­ren kann, wer die­se sein mö­gen. Aber wenn das rich­tig ist, was wir kon­trol­lie­ren kön­nen, so müs­sen wir schlie­ßen, dass auch die Tei­le des Po­lar­ge­bie­tes nach den Nord­küs­ten von Ame­ri­ka und Si­bi­ri­en hin zu­ver­läs­sig dar­ge­stellt sind. Und dann hät­ten wir mit ei­nem Schla­ge eine voll­stän­di­ge Kar­te die­ses bis­her un­er­forsch­ten Po­lar­ge­bie­tes.«

»Nun, ich den­ke, wir kön­nen mit die­sem Er­folg schon zu­frie­den sein. Und be­den­ken Sie, wie nütz­lich die Kar­te für un­se­re Rück­kehr wer­den kann. So –«, da­mit brach­te Salt­ner die fo­to­gra­fi­sche Kam­mer wie­der an ih­ren Platz, »ich habe drei si­che­re Auf­nah­men. Aber der Bal­lon be­wegt sich ja schnel­ler?«

»Ich glau­be auch«, sag­te Torm. »Ich bit­te nun um die Mei­nung der Her­ren, sol­len wir eine Lan­dung auf der In­sel wa­gen, um die­ses Ge­heim­nis zu er­for­schen?«

»Ich mei­ne«, äu­ßer­te sich Salt­ner, »wir müs­sen es ver­su­chen. Wir müs­sen zu­se­hen, mit wem wir es hier zu tun ha­ben.«

»Ge­wiss«, sag­te Torm, »die Auf­ga­be ist ver­lo­ckend. Aber es ist zu be­fürch­ten, dass wir zu viel Gas ver­lie­ren, dass wir viel­leicht die Mög­lich­keit auf­ge­ben, den Bal­lon wei­ter zu be­nut­zen. Was mei­nen Sie, Dr. Gr­un­the?«

Gr­un­the rich­te­te sich aus sei­nem Nach­sin­nen auf. Er sprach sehr ernst: »Un­ter kei­nen Um­stän­den dür­fen wir lan­den. Ich bin so­gar der An­sicht, dass wir alle An­stren­gun­gen ma­chen müs­sen, um uns so schnell wie mög­lich von die­sem ge­fähr­li­chen Punkt zu ent­fer­nen.«

»Wo­rin se­hen Sie die Ge­fahr?«

»Nach­dem wir die ei­gen­tüm­li­che Aus­rüs­tung des Pols und die Ab­bil­dung der Erd­ober­flä­che ge­se­hen ha­ben, ist doch kein Zwei­fel, dass wir ei­ner gänz­lich un­be­kann­ten Macht ge­gen­über­ste­hen. Wir müs­sen an­neh­men, dass wir es mit We­sen zu tun be­kom­men, de­ren Fä­hig­kei­ten und Kräf­ten wir nicht ge­wach­sen sind. Wer die­sen Rie­sen­ap­pa­rat hier in der un­zu­gäng­li­chen Eis­wüs­te des Po­lar­ge­biets auf­stel­len konn­te, der wür­de ohne Zwei­fel über uns nach Gut­dün­ken ver­fü­gen kön­nen.«

»Nun, nun«, sag­te Torm, »wir wol­len uns dar­um nicht fürch­ten.«

»Das nicht«, er­wi­der­te Gr­un­the, »aber wir dür­fen den Er­folg un­se­rer Ex­pe­di­ti­on nicht aufs Spiel set­zen. Vi­el­leicht liegt es im In­ter­es­se die­ser Pol­be­woh­ner, den Kul­tur­län­dern kei­ne Nach­richt von ih­rer Exis­tenz zu­kom­men zu las­sen. Wir wür­den dann ohne Zwei­fel un­se­re Frei­heit ver­lie­ren. Ich mei­ne, wir müs­sen al­les dar­an­set­zen, das, was wir be­ob­ach­tet ha­ben, der Wis­sen­schaft zu über­mit­teln und es dann spä­te­ren Er­wä­gun­gen über­las­sen, ob es ge­ra­ten scheint und mit wel­chen Mit­teln es mög­lich sei, das un­er­war­te­te Ge­heim­nis des Pols auf­zu­lö­sen. Wir dür­fen uns nicht als Ero­be­rer be­trach­ten, son­dern nur als Kund­schaf­ter.«

Die an­de­ren schwie­gen nach­denk­lich. Dann sag­te Torm:

»Ich muss Ih­nen recht ge­ben. Un­se­re In­struk­ti­on lau­tet al­ler­dings da­hin, eine Lan­dung nach Mög­lich­keit zu ver­mei­den. Wir sol­len mit mög­lichs­tes Eile in be­wohn­te Ge­gen­den zu ge­lan­gen su­chen, nach­dem wir uns dem Pol so­weit wie an­gäng­lich ge­nä­hert und sei­ne Lage fest­ge­stellt ha­ben, und wir sol­len ver­su­chen, einen Über­blick über die Ver­tei­lung von Land und Was­ser vom Bal­lon aus zu ge­win­nen. Die­ser Ge­sichts­punkt muss ent­schei­dend sein. Wir wol­len also ver­su­chen, von hier fort­zu­kom­men.«

»Aber nach wel­cher Rich­tung?« frag­te Salt­ner. »Dar­über könn­te uns die Po­lar­kar­te der In­sel Aus­kunft ge­ben.«

»Ich fürch­te«, ent­geg­ne­te Torm, »von un­serm gu­ten Wil­len wird da­bei sehr we­nig ab­hän­gen. Wir müs­sen ab­war­ten, was der Wind über uns be­schlie­ßen wird. Zu­nächst las­sen Sie uns ver­su­chen, die­sem Wir­bel zu ent­flie­hen.«

In­zwi­schen hat­te sich der Bal­lon noch mehr der In­sel ge­nä­hert, und sei­ne Ge­schwin­dig­keit be­gann zu wach­sen. Zu­gleich aber er­hob er sich wei­ter über den Erd­bo­den.

Die Luft­schif­fer spann­ten nun das Se­gel auf und ga­ben ihm eine sol­che Stel­lung, dass der Wi­der­stand der Luft sie nach der Pe­ri­phe­rie des Wir­bels trei­ben muss­te. Da aber der Bal­lon viel zu hoch schweb­te, als dass das Schlepp­seil sei­ne hem­men­de Wir­kung hät­te aus­üben kön­nen, so muss­te das Ma­nö­ver zu­erst ver­sa­gen. In im­mer en­ge­ren Spiral­li­ni­en auf­stei­gend nä­her­te sich der Bal­lon dem Zen­trum des Wir­bels und ver­mehr­te sei­ne Ge­schwin­dig­keit. In großer Be­sorg­nis ver­folg­ten die Luft­schif­fer den Vor­gang. Sie be­eil­ten sich, die Län­ge des Schlepptaus zu ver­grö­ßern. Ihre vor­züg­li­che Aus­rüs­tung ge­stat­te­te ih­nen, ein Schlepp­tau von tau­send Me­tern Län­ge zu ver­wen­den, an wel­ches noch ein hun­dert­und­fünf­zig Me­ter lan­ger Schlepp­gurt mit Schwim­mern kam. Aber auch die­se statt­li­che Aus­deh­nung des Sei­les reich­te nicht bis auf die Ober­flä­che des Was­sers.

»Es bleibt nichts üb­rig«, rief Torm end­lich, »wir müs­sen wei­ter nie­der­stei­gen.«

Er öff­ne­te das Ma­nö­ver­ven­til. Das Gas ström­te aus. Der Bal­lon be­gann zu sin­ken.

»Wir wol­len aber«, sag­te Torm, »da wir nicht wis­sen, wie wir hier da­von­kom­men, doch ver­su­chen, eine Nach­richt nach Hau­se zu ge­ben. Las­sen Sie uns ei­ni­ge un­se­rer Brief­tau­ben ab­sen­den. Jetzt ist der ge­eig­ne­te Mo­ment. Was wir ge­se­hen ha­ben, muss man in Eu­ro­pa er­fah­ren.«

Eilends schrieb er die nö­ti­gen No­ti­zen auf den schma­len Strei­fen Pa­pier, den er zu­sam­men­roll­te und in der Fe­der­po­se ver­sie­gel­te, wel­che den Brief­tau­ben an­ge­hef­tet wur­de.

Salt­ner gab den Tier­chen die Frei­heit. Sie um­kreis­ten wie­der­holt den Bal­lon und ent­fern­ten sich dann in ei­ner Rich­tung, die von der In­sel fort­führ­te.

Torm schloss das Ven­til wie­der. Sie muss­ten jetzt je­den Au­gen­blick er­war­ten, dass das Ende des Schlepptaus die Ober­flä­che des Was­sers be­rüh­re. Der Bal­lon nä­her­te sich sei­ner Gleich­ge­wichts­la­ge.

Gr­un­the blick­te durch das Re­lief­fern­rohr di­rekt nach un­ten, da es durch die­ses In­stru­ment mög­lich war, den brei­ten Sackan­ker am Ende des Schlepp­gurts zu se­hen und den Ab­stand des­sel­ben vom Bo­den zu schät­zen. Plötz­lich griff er mit größ­ter Hast zur Sei­te, er­fass­te den nächs­ten Ge­gen­stand, der ihm zur Hand war – es war das Fut­te­ral mit den bei­den noch ge­füll­ten Cham­pa­gner­fla­schen – und schleu­der­te es in großem Bo­gen zum Kor­be hin­aus.

»Sa­kri, was fällt ih­nen ein«, rief Salt­ner ent­rüs­tet, »wer­fen da un­sern sau­bern Wein ins Was­ser.«

»Ent­schul­di­gen Sie«, sag­te Gr­un­the, in­dem er sich aus sei­ner ge­bück­ten Stel­lung auf­rich­te­te, da er an der Be­we­gung der Wim­pel be­merk­te, dass der Bal­lon wie­der im Stei­gen be­grif­fen war. »Ent­schul­di­gen Sie, aber das Fern­rohr konn­te ich doch nicht hin­aus­wer­fen, und es war kei­ne hal­be Se­kun­de zu ver­lie­ren – wir wä­ren wahr­schein­lich ver­lo­ren ge­we­sen.«

»Was gab es denn?« frag­te Torm be­sorgt.

»Wir sind nicht mehr über dem Was­ser, son­dern be­reits am Ran­de der In­sel. Das Ende des Seils war wohl kaum wei­ter als zehn Me­ter von der Ober­flä­che der In­sel ent­fernt. Wir hät­ten sie be­rührt, wenn nicht das Sin­ken des Bal­lons mo­men­tan auf­ge­hört hät­te. Glück­li­cher­wei­se ge­nüg­ten die Fla­schen, un­sern Fall auf­zu­hal­ten.«

»Und glau­ben Sie denn, dass wir die In­sel nicht be­rüh­ren dür­fen?«

»Ich glau­be es nicht, ich weiß es.«

»Wie­so?«

»Wir wä­ren hin­ab­ge­zo­gen wor­den.«

»Ich kann noch nicht ein­se­hen, wor­aus Sie das schlie­ßen.«

»Sie ha­ben mir doch bei­ge­stimmt«, sag­te Gr­un­the, »dass wir es nicht dar­auf an­kom­men las­sen dür­fen, in die Macht der un­be­kann­ten We­sen – sie mö­gen nun sein, wer sie wol­len – zu ge­ra­ten, wel­che die­sen un­er­klär­li­chen Ap­pa­rat und die­se Ko­los­sal­kar­te am Nord­pol her­ge­stellt ha­ben. Es ist aber wohl kei­ne Fra­ge, dass die­ser Ap­pa­rat, an den wir mehr und mehr her­an­ge­zo­gen wer­den, nicht sich selbst über­las­sen hier ste­hen wird. Si­cher­lich ist die In­sel be­wohnt, es be­fin­den sich die ge­heim­nis­vol­len Er­bau­er wahr­schein­lich in oder un­ter je­nen Dä­chern und Pfei­lern, die wir mit un­sern Fern­roh­ren nicht durch­drin­gen kön­nen. Es ist an­zu­neh­men, dass sie un­sern Bal­lon längst be­merkt ha­ben, und so schlie­ße ich denn, dass sie den­sel­ben so­fort zu sich hin­ab­zie­hen wür­den, so­bald un­ser Schlepp­seil in das Be­reich ih­rer Arme ge­langt.«

»Gott sei Dank«, rief Salt­ner, »dass Sie den dun­keln Pol­gäs­ten we­nigs­tens Arme zu­spre­chen; es ist doch schon ein mensch­li­cher Ge­dan­ke, dass man ih­nen zur Not in die Arme fal­len kann.«

Torm un­ter­brach ihn. »Ich kann mich im­mer noch nicht recht dazu ver­ste­hen«, sag­te er, »an eine sol­che über­le­ge­ne Macht zu glau­ben. Das wi­der­sprä­che ja doch al­lem, was bis­her in der Ge­schich­te der Po­lar­for­schung, ja der Ent­de­ckungs­rei­sen über­haupt vor­ge­kom­men ist. Frei­lich die Kar­te –, aber was den­ken Sie über­haupt über die­se In­sel? Sie spra­chen von ei­nem Ap­pa­rat, so ein Ap­pa­rat müss­te doch einen Zweck ha­ben –«

»Den wird er ohne Zwei­fel ha­ben, wir sind nur nicht in der Lage, ihn zu ken­nen oder zu be­grei­fen. Den­ken Sie, dass Sie einen Es­ki­mo vor die Dy­na­mo­ma­schi­ne ei­nes Elek­tri­zi­täts­werks stel­len; dass das Ding einen Zweck hat, wird er sich sa­gen, aber was für einen, das wird er nie er­ra­ten. Wie soll er be­grei­fen, dass die Dräh­te, die von hier aus­ge­hen, un­ge­heu­re Ener­gie­men­gen auf wei­te Stre­cken ver­tei­len, dass sie dort Ta­ges­hel­le er­zeu­gen, dort schwe­re Wa­gen mit Hun­der­ten von Men­schen mit Leich­tig­keit hin­glei­ten las­sen? Wenn der Es­ki­mo sich über die Dy­na­mo­ma­schi­ne äu­ßert, so wird es je­den­falls eine so kin­di­sche An­sicht sein, dass wir sie be­lä­cheln. Und um nicht die­sem un­be­kann­ten Ap­pa­rat ge­gen­über die Rol­le des Es­ki­mo zu spie­len, will ich mich lie­ber gar nicht äu­ßern.«

Torm schwieg nach­denk­lich. Dann sag­te er:

»Was mich am meis­ten be­un­ru­higt, ist die­se un­er­klär­li­che An­zie­hungs­kraft, die die Ach­se der In­sel auf un­sern Bal­lon aus­übt. Und se­hen Sie, seit­dem wir kein Gas mehr aus­strö­men las­sen, be­ginnt der Bal­lon wie­der ra­pid zu stei­gen. Da­bei wird er fort­wäh­rend um das Zen­trum der In­sel her­um­ge­trie­ben.«

»Und wer sagt Ih­nen, was ge­schieht, wenn wir in die Ach­se selbst ge­ra­ten? Ich hal­te un­se­re Si­tua­ti­on für ge­ra­de­zu ver­zwei­felt, aus dem Wir­bel kön­nen wir nur her­aus, wenn wir uns sin­ken las­sen. Dann aber ge­ra­ten wir in die Macht der un­be­kann­ten In­su­la­ner.«

»Und den­noch«, sag­te Torm, »wer­den wir uns ent­schlie­ßen müs­sen.«

Alle drei schwie­gen. Mit düs­te­ren Bli­cken be­ob­ach­te­ten Torm und Gr­un­the die Be­we­gun­gen des Bal­lons, wäh­rend Salt­ner die In­sel mit dem Fern­rohr un­ter­such­te. Mehr und mehr ver­schwan­den die De­tails, die vor­her deut­lich sicht­bar wa­ren, ein Zei­chen, dass der Bal­lon mit großer Ge­schwin­dig­keit stieg, auch wenn die In­stru­men­te, ja selbst die zu­neh­men­de Käl­te, dies nicht an­ge­zeigt hät­ten.

Da – was war das? – auf der In­sel zeig­te sich eine Be­we­gung, ein ei­gen­tüm­li­ches Leuch­ten. Salt­ner rief die Ge­fähr­ten an. Sie blick­ten hin­ab, konn­ten aber mit ih­ren schwä­che­ren In­stru­men­ten nur be­mer­ken, dass sich hel­le Punk­te vom Zen­trum nach der Pe­ri­phe­rie hin be­weg­ten. Salt­ner schi­en es durch sein star­kes Glas, als wenn eine Rei­he von Ge­stal­ten mit wei­ßen Tü­chern win­ken­de Be­we­gun­gen aus­führ­te, die alle vom In­nern der In­sel nach au­ßen hin wie­sen.

»Man gibt uns Zei­chen«, sag­te er. »Se­hen Sie hier durch das star­ke Glas!«

»Das kann nichts an­de­res be­deu­ten«, rief Torm, »als dass wir uns von der Ach­se ent­fer­nen sol­len. Aber so klug sind wir selbst – wir wis­sen nur nicht wie.«

»Wir müs­sen das Ent­lee­rungs-Ven­til öff­nen«, sag­te Salt­ner.

»Dann er­ge­ben wir uns auf Gna­de und Un­gna­de«, rief Gr­un­the.

»Und doch wird uns nichts üb­rig blei­ben«, be­merk­te Torm.

»Und was scha­det es?« frag­te Salt­ner. »Vi­el­leicht wol­len jene We­sen nur un­ser Bes­tes. Wür­den sie uns sonst war­nen?«

»Wie dem auch sei – wir dür­fen nicht hö­her stei­gen«, sag­te Torm. »Wir wer­den ja ge­ra­de­zu in die Höhe ge­ris­sen.«

Schon hat­ten sich alle dicht in ihre Pel­ze ge­wi­ckelt.

»War­ten wir noch«, sag­te Gr­un­the, »wir sind im­mer noch ge­gen hun­dert Me­ter von der Ach­se der In­sel ent­fernt. Die Tr­übung hat sich ge­nä­hert, wir kom­men in eine Wol­ken­schicht. Vi­el­leicht ge­langt doch der Bal­lon end­lich ins Gleich­ge­wicht.«

»Un­mög­lich«, ent­geg­ne­te Torm. »Wir ha­ben be­reits ge­gen 4000 Me­ter er­reicht. Der Bal­lon war im Gleich­ge­wicht, als das Ge­wicht des Fut­te­rals mit den Cham­pa­gner­fla­schen sei­ne Be­we­gung zu än­dern ver­moch­te. Wenn er jetzt mit sol­cher Ge­schwin­dig­keit steigt, so ist das ein Zei­chen, dass uns eine äu­ße­re Kraft in die Höhe führt, die umso stär­ker wird, je mehr wir uns dem Zen­trum nä­hern.«

»Ich muss es zu­ge­ben«, sag­te Gr­un­the. »Es ist ge­ra­de, als wenn wir uns in ei­nem Kraft­feld be­fän­den, das uns di­rekt von der Erde ab­stößt. Sol­len wir einen Ver­suchs­bal­lon ab­las­sen?«

»Kann uns nichts Neu­es mehr sa­gen – es ist zu spät. Da – wir sind in den Wol­ken.«

»Also hin­un­ter!« rief Salt­ner.

Torm riss das Lan­dungs­ven­til auf.

Der Bal­lon mä­ßig­te sei­ne auf­stei­gen­de Be­we­gung, aber zu sin­ken be­gann er nicht.

Die Bli­cke der Luft­schif­fer hin­gen an den In­stru­men­ten. We­ni­ge Mi­nu­ten muss­ten ihr Schick­sal ent­schei­den. Das Gas ström­te in die ver­dünn­te Luft mit großer Ge­walt aus. Brach­te dies den Bal­lon nicht bald zum Sin­ken, so war es klar, dass sie die Herr­schaft über das Luft­meer ver­lo­ren hat­ten. Sie be­fan­den sich dann ei­ner Ge­walt ge­gen­über, die sie, un­ab­hän­gig von dem Gleich­ge­wicht ih­res Bal­lons in der At­mo­sphä­re, von der Erde fort­trieb.

Und der Bal­lon sank nicht. Eine Zeit lang schi­en es, als woll­te er sich auf glei­cher Höhe hal­ten, aber die wir­beln­de Be­we­gung hör­te nicht auf, die ihn der Ach­se der In­sel ent­ge­gen­trieb. Die­se Ach­se, dar­an war ja kein Zwei­fel, war nichts an­de­res als die Erdach­se selbst, jene ma­the­ma­ti­sche Li­nie, um wel­che die Ro­ta­ti­on der Erde er­folgt. Im­mer stär­ker wur­den sie zu ihr hin­ge­zo­gen. Aber je nä­her sie ihr ka­men, umso hef­ti­ger wur­de der Bal­lon noch oben ge­drängt. Schon be­gan­nen sich die kör­per­li­chen Be­schwer­den ein­zu­stel­len, wel­che die Er­he­bung in die ver­dünn­ten Luft­schich­ten be­glei­ten. Alle klag­ten über Herz­klop­fen. Salt­ner muss­te das Fern­rohr hin­le­gen, vor sei­nen Au­gen ver­schwam­men die Ge­gen­stän­de. Atem­not stell­te sich ein.

»Es bleibt nichts andres üb­rig«, rief Torm. »Die Reiß­lei­ne!«

Gr­un­the er­griff die Reiß­lei­ne. Die Zer­reiß­vor­rich­tung dient dazu, einen Strei­fen der Bal­lon­hül­le in der Län­ge des sechs­ten Teils des Bal­lo­n­um­fangs auf­zu­rei­ßen, um den Bal­lon im Not­fall bin­nen we­ni­gen Mi­nu­ten des Ga­ses zu ent­lee­ren. Aber – die Vor­rich­tung ver­sag­te! Er zerr­te an der Lei­ne – sie gab nicht nach. Sie muss­te sich am Netz­werk des Bal­lons ver­fan­gen ha­ben. Es war jetzt un­mög­lich, den Scha­den zu re­pa­rie­ren. Der Bal­lon stieg wei­ter. Von der Erde war nichts mehr zu se­hen, man blick­te auf Wol­ken.

»Die Sau­er­stoff­ap­pa­ra­te!« kom­man­dier­te Torm.

Ob­wohl man die Ab­sicht hat­te, sich stets in ge­rin­ger Höhe zu hal­ten, konn­te man doch nicht wis­sen, ob nicht die Um­stän­de ein Auf­stei­gen in die höchs­ten Re­gio­nen mit sich brin­gen wur­den. Für die­sen Fall hat­te man sich mit kom­pri­mier­tem Sau­er­stoff zur At­mung ver­se­hen. Es war jetzt not­wen­dig, die künst­li­che At­mung an­zu­wen­den.

Die For­scher fühl­ten sich neu ge­stärkt; aber im­mer furcht­ba­rer wur­de die Käl­te. Sie merk­ten, wie ihre Glied­ma­ßen zu er­star­ren droh­ten. Die Nase, die Fin­ger wur­den ge­fühl­los, sie ver­such­ten ih­nen durch Rei­ben den Blut­zu­fluss wie­der zu­zu­füh­ren. Der Bal­lon stieg ret­tungs­los wei­ter, und zwar im­mer schnel­ler, je mehr er sich dem Zen­trum nä­her­te. Sie­ben­tau­send – acht­tau­send – neun­tau­send Me­ter zeig­te das Baro­me­ter im Ver­lauf ei­ner Vier­tel­stun­de an. Die größ­te Höhe, wel­che je von Men­schen er­reicht wor­den war, wur­de nun über­schrit­ten.

Un­tä­tig sa­ßen die Män­ner zu­sam­men­ge­drängt – sie hat­ten den künst­li­chen Ver­schluss der Gon­del her­ge­stellt, da sie nichts mehr am Bal­lon än­dern konn­ten. Sie ver­moch­ten nichts zu tun, als sich ge­gen die Käl­te zu schüt­zen. Kein Mit­tel der Ret­tung zeig­te sich – ihre Tat­kraft be­gann un­ter dem Ein­fluss der ver­nich­ten­den Käl­te zu er­lah­men. Der Flug in die Höhe war un­hemm­bar – nichts mehr konn­te sie ret­ten vor dem Er­frie­ren – oder vor dem Er­sti­cken. – Was wür­de ge­sche­hen? Es war ja gleich­gül­tig.

Und doch, im­mer wie­der raff­te sich der eine oder an­de­re mit An­stren­gung al­ler Wil­lens­kräf­te auf – noch ein Blick auf die In­stru­men­te – die Ther­mo­me­ter wa­ren längst ein­ge­fro­ren – und – kaum glaub­lich – das Baro­me­ter zeig­te einen Druck von nur noch 50 Mil­li­me­ter, das heißt, sie be­fan­den sich zwan­zig Ki­lo­me­ter über der Erd­ober­flä­che. Und jetzt – schi­en es nicht, als käme der Bal­lon zu ih­nen her­ab? Die ent­leer­te Sei­den­hül­le senk­te sich über die Gon­del – die Gon­del flog schnel­ler als der Bal­lon – wie aus ei­ner Ka­no­ne ge­schos­sen fuhr sie in die Sei­de des Bal­lons hin­ein, die In­sas­sen der Gon­del wa­ren ver­strickt in das Ge­wirr von Stoff und Sei­len – halb schon be­wusst­los be­merk­ten sie kaum noch den Stoß der sie traf – sie wa­ren in die Ach­se des von der In­sel aus­ge­hen­den Wir­bels ge­ra­ten. –

Sie be­fan­den sich senk­recht über dem Pol der Erde – das Ziel war er­reicht, dem sie so hoff­nungs­froh ent­ge­gen­ge­strebt hat­ten. Weit un­ter ih­nen im hel­len Son­nen­schei­ne la­gen die glän­zen­den Wol­ken­strei­fen und fern im Sü­den das grün­lich schim­mern­de Land aus­ge­brei­tet, die küh­nen For­scher aber sa­hen nichts mehr da­von. Ohn­mäch­tig, er­stickt – er­drückt von der Last des Bal­lons, flo­gen sie, eine form­lo­se Mas­se bil­dend, in der Rich­tung der Erdach­se den Gren­zen der At­mo­sphä­re ent­ge­gen.

3. Kapitel – Die Bewohner des Mars

Un­ter dem Ein­fluss der ge­heim­nis­vol­len Kraft, wel­che die Trüm­mer der ver­un­glück­ten Ex­pe­di­ti­on in der Rich­tung der Erdach­se vom Nord­pol fort­trieb, hat­ten sie eine un­ge­heu­re Be­schleu­ni­gung er­langt. Der in die Fal­ten des Bal­lons hin­ein­ge­trie­be­ne Korb be­weg­te sich jetzt mit ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit nach oben. We­ni­ge Mi­nu­ten muss­ten ge­nü­gen, den Tod der In­sas­sen zu be­wir­ken, da der Ver­schluss der Gon­del sie nicht hin­rei­chend zu schüt­zen ver­moch­te.

Nicht mehr von der Erde aus er­kenn­bar schi­en das selt­sa­me Ge­schoss ein­sam und ver­las­sen den Wel­traum zu durch­ei­len, je­der mensch­li­chen Macht ent­rückt, ein Spiel­ball kos­mi­scher Kräf­te –

Und den­noch war der Bal­lon der Ge­gen­stand ge­spann­tes­ter Auf­merk­sam­keit.

Die Beo­b­ach­ter des­sel­ben be­fan­den sich auf ei­ner Stel­le, wo kein Mensch le­ben­de We­sen ver­mu­tet, ja nur eine sol­che Mög­lich­keit hät­te ver­ste­hen kön­nen. Dass der Nord­pol von un­be­kann­ten Be­woh­nern be­setzt sei, war ja äu­ßerst selt­sam und über­ra­schend; aber er war doch ein Punkt der Erde, auf wel­chem le­ben­de We­sen sich auf­zu­hal­ten und zu at­men ver­moch­ten. Der Ort da­ge­gen, von wel­chem aus man jetzt auf den ver­un­glück­ten Bal­lon auf­merk­sam wur­de, be­fand sich be­reits au­ßer­halb der Erdat­mo­sphä­re. Genau in der Rich­tung der Erdach­se und auf die­ser ge­nau so weit von der Ober­flä­che der Erde ent­fernt wie der Mit­tel­punkt der Erde un­ter­halb, also in ei­ner Höhe von 6356 Ki­lo­me­ter, be­fand sich frei im Rau­me schwe­bend ein merk­wür­di­ges Kunst­werk, ein ring­för­mi­ger Kör­per, etwa von der Ge­stalt ei­nes rie­si­gen Ra­des, des­sen Ebe­ne par­al­lel dem Ho­ri­zont des Po­les lag.

Die­ser Ring be­saß eine Brei­te von etwa fünf­zig Me­tern und einen in­ne­ren Durch­mes­ser von zwan­zig, im gan­zen also einen Durch­mes­ser von 120 Me­tern. Rings um den­sel­ben er­streck­ten sich au­ßer­dem, ähn­lich wie die Rin­ge um den Sa­turn, dün­ne, aber sehr brei­te Schei­ben, de­ren Durch­mes­ser bis auf wei­te­re zwei­hun­dert Me­ter an­stieg. Sie bil­de­ten ein Sys­tem von Schwungrä­dern, das ohne Rei­bung mit großer Ge­schwin­dig­keit um den in­ne­ren Ring her­um­lief und den­sel­ben in sei­ner Ebe­ne stets senk­recht zur Erdach­se hielt. Der in­ne­re Ring glich ei­ner großen kreis­för­mi­gen Hal­le, die sich in drei Stock­wer­ken von zu­sam­men etwa fünf­zehn Me­tern Höhe auf­bau­te. Das ge­sam­te Ma­te­ri­al die­ses Ge­bäu­des wie das der Schwungrä­der be­stand aus ei­nem völ­lig durch­sich­ti­gen Stof­fe. Die­ser war je­doch von au­ßer­or­dent­li­cher Fes­tig­keit und schloss das In­ne­re der Hal­le voll­stän­dig luft- und wär­me­dicht ge­gen den lee­ren Wel­traum ab. Ob­wohl die Tem­pe­ra­tur im Wel­traum rings um den Ring fast zwei­hun­dert Grad un­ter dem Ge­frier­punkt des Was­sers lag, herrsch­te in­ner­halb der ring­för­mi­gen Hal­le eine an­ge­neh­me Wär­me und eine zwar et­was stark ver­dünn­te, aber doch atem­ba­re Luft. In dem mitt­le­ren Stock­werk, durch wel­ches sich ein Ge­wirr von Dräh­ten, Git­tern und vi­brie­ren­den Spie­geln zog, hiel­ten sich auf der in­ne­ren Sei­te des Rings zwei Per­so­nen auf, die sich da­mit be­schäf­tig­ten, eine Rei­he von Ap­pa­ra­ten zu be­ob­ach­ten und zu kon­trol­lie­ren.

Wie aber war es mög­lich, dass die­ser Ring in der Höhe von 6356 Ki­lo­me­tern sich frei­schwe­bend über der Erde er­hielt? Eine tie­f­rei­chen­de Er­kennt­nis der Na­tur und eine äu­ßerst scharf­sin­ni­ge Aus­bil­dung der Tech­nik hat­ten es ver­stan­den, die­ses Wun­der­werk her­zu­stel­len.

Der Ring un­ter­lag na­tür­lich der An­zie­hungs­kraft der Erde und wäre, sich selbst über­las­sen, auf die In­sel am Pol ge­stürzt. Gera­de von die­ser In­sel aus aber wirk­te auf ihn eine ab­sto­ßen­de Kraft, wel­che ihn in der Ent­fer­nung im Gleich­ge­wicht hielt, die ge­nau dem Halb­mes­ser der Erde gleich­kam. Die­se Kraft hat­te ihre Quel­le in nichts an­de­rem als in der Son­ne selbst, und die Kraft der Son­nen­strah­lung so um­zu­for­men, dass sie je­nen Ring der Erde ge­gen­über in Gleich­ge­wichts­la­ge hielt, das eben hat­te die Kunst ei­ner glän­zend vor­ge­schrit­te­nen Wis­sen­schaft und Tech­nik zu­stan­de ge­bracht.

In je­ner Höhe, einen Erd­halb­mes­ser über dem Pol, war der Ring ohne Un­ter­bre­chung der Son­nen­strah­lung aus­ge­setzt. Die von der Son­ne aus­ge­strahl­te Ener­gie wur­de nun von ei­ner un­ge­heu­ren An­zahl von Flä­chen­ele­men­ten, die sich in dem Rin­ge und auf der Ober­flä­che der Schwungrä­der be­fan­den, auf­ge­nom­men und ge­sam­melt. Die Men­schen ver­wen­den auf der Erd­ober­flä­che von der Son­nen­ener­gie haupt­säch­lich nur Wär­me und Licht. Hier im lee­ren Wel­traum aber zeig­te sich, dass die Son­ne noch un­gleich grö­ße­re Ener­gie­men­gen aus­sen­det, ins­be­son­de­re Strah­len von sehr großer Wel­len­län­ge, wie die elek­tri­schen, als auch sol­che von noch viel klei­ne­rer als die der Licht­wel­len. Wir mer­ken nichts da­von, weil sie zum größ­ten Tei­le schon von den äu­ßers­ten Schich­ten der At­mo­sphä­re ab­sor­biert oder wie­der in den Wel­traum aus­ge­strahlt wer­den. Hier aber wur­den alle die­se sonst ver­lo­re­nen Ener­gie­men­gen ge­sam­melt, trans­for­miert und in ge­eig­ne­ter Ge­stalt nach der In­sel am Nord­pol re­flek­tiert. Auf der In­sel wur­den sie, in Ver­bin­dung mit der von der In­sel di­rekt auf­ge­nom­me­nen Strah­lung, zu ei­ner Rei­he groß­ar­ti­ger Leis­tun­gen ver­wen­det; denn man hat­te auf die­se Wei­se eine ganz enor­me Ener­gie­men­ge zur Ver­fü­gung.

Ein Teil die­ser Ar­beits­kraft wur­de nun zu­nächst dazu ge­braucht, ein elek­tro­ma­gne­ti­sches Feld von ge­wal­tigs­ter Stär­ke und Aus­deh­nung zu er­zeu­gen. Die gan­ze In­sel mit ih­ren hun­dert­vierund­vier­zig Rund­bas­tio­nen stell­te ge­wis­ser­ma­ßen einen rie­si­gen Elek­tro­ma­gne­ten vor, der von der Son­nen­ener­gie selbst ge­speist wur­de. Die Kon­struk­ti­on war so an­ge­legt, dass die Kraft­li­ni­en sich um den Ring kon­zen­trier­ten und die­ser, der Schwer­kraft ent­ge­gen schwe­bend ge­hal­ten wur­de. Dass dies ge­nau in der Ent­fer­nung des Erd­halb­mes­sers vom Pole ge­sch­ah, hing mit ei­ner Be­zie­hung zwi­schen Elek­tro­ma­gne­tis­mus und Schwe­re zu­sam­men, in­fol­ge de­ren sich ge­ra­de an die­ser Stel­le eine Art Kno­ten­punkt für die Wel­len­be­we­gung bei­der Kräf­te zu bil­den ver­moch­te und das Gleich­ge­wicht er­mög­lich­te.

Al­ler­dings wur­de durch eine Rei­he kom­pli­zier­ter und höchst scharf­sin­nig aus­ge­dach­ter Kon­troll­ap­pa­ra­te da­für ge­sorgt, dass alle Schwan­kun­gen der Ener­gie­men­gen zur rech­ten Zeit aus­ge­gli­chen wur­den. Ei­nen sol­chen Ap­pa­rat auf­zu­stel­len wäre in­des­sen an kei­nem an­de­ren Punk­te der Erde mög­lich ge­we­sen als in der Ver­län­ge­rung ih­rer Ro­ta­ti­ons­ach­se, also über dem Nord­pol oder über dem Süd­pol. Denn an je­der an­de­ren Stel­le hät­te, ab­ge­se­hen von tiefer­lie­gen­den Schwie­rig­kei­ten, die Ver­schie­bung der Erd­ober­flä­che in­fol­ge der täg­li­chen Um­dre­hung der Erde un­über­wind­ba­re Hin­der­nis­se für die Her­stel­lung des Gleich­ge­wichts zwi­schen der Schwer­kraft und dem Elek­tro­ma­gne­ten ge­bo­ten; auch hät­te die gleich­mä­ßi­ge Son­nen­strah­lung ge­fehlt. Der Pol bie­tet aber in je­der Hin­sicht die ein­fachs­ten Ver­hält­nis­se wenn es ge­lingt, bis zu ihm zu ge­lan­gen.

Nun, die un­über­trof­fe­nen In­ge­nieu­re der In­sel und des Rin­ges wa­ren ein­mal da. Aber wo ka­men sie her? Wie wa­ren sie dort­hin ge­langt, ohne dass die in­ter­na­tio­na­le Kom­mis­si­on für Po­lar­for­schung die ge­rings­te Ah­nung da­von hat­te? Und vor al­lem – wenn sie ein­mal da wa­ren –, was hat­te es für einen Zweck, je­nen frei­schwe­ben­den Ring über dem Pol zu ba­lan­cie­ren? Und wenn ein­mal je­ner Ring da war, wie konn­te man hin­auf- und hin­ab­kom­men?

Je­ner Ring war über­haupt nur ein Mit­tel, um einen ganz an­de­ren Zweck zu er­rei­chen. Er diente dazu, einen Stand­punkt au­ßer­halb der At­mo­sphä­re der Erde zu ge­win­nen, eine Sta­ti­on, um zwi­schen die­ser und der Erde nichts Ge­rin­ge­res aus­zu­füh­ren, als – eine zeit­wei­li­ge Auf­he­bung der Schwer­kraft. Der Raum zwi­schen der in­ne­ren Öff­nung des Rin­ges von zwan­zig Me­tern Durch­mes­ser und der auf der In­sel sich be­fin­den­den Ver­tie­fung, also ein Zy­lin­der, des­sen Ach­se ge­nau mit der Erdach­se zu­sam­men­fiel, war ein ›a­ba­ri­sches Feld‹. Dies be­deu­tet, ein Ge­biet oh­ne Schwe­re. Kör­per, wel­che in die­sen zy­lin­dri­schen Raum ge­rie­ten, wur­den von der Erde nicht mehr an­ge­zo­gen. Die­ses aba­ri­sche Feld be­wirk­te, dass in der gan­zen Um­ge­bung des Fel­des Span­nun­gen im Raum vor­han­den wa­ren, wo­durch etwa sich nä­hern­de Kör­per in das Feld ge­trie­ben wur­den. Da­her war es ge­kom­men, dass der Bal­lon der Luft­schif­fer all­mäh­lich der In­sel und da­mit dem aba­ri­schen Fel­de un­ent­rinn­bar zu­ge­führt wor­den war.

Die Er­zeu­gung je­nes Fel­des, in wel­chem die Schwer­kraft auf­ge­ho­ben war für den in­ne­ren Raum zwi­schen In­sel und Ring, war da­durch mög­lich ge­macht wor­den, dass man eine der Erd­schwe­re ent­ge­gen­ge­setzt ge­rich­te­te Gra­vi­ta­ti­ons­kraft her­stell­te. Es war je­nen Pol­be­woh­nern be­kannt, wie man die­je­ni­gen Strah­len, wel­che haupt­säch­lich che­mi­sche Wir­kung, Wär­me und Licht lie­fern, in Gra­vi­ta­ti­on über­füh­ren kann. Sie wur­den zu die­sem Zweck bis in den in­ne­ren Teil des Rin­ges ge­lei­tet und tra­ten hier in den ›Gra­vi­ta­ti­ons­ge­ne­ra­tor‹. Dies war ein Ap­pa­rat, durch wel­chen man Wär­me in Gra­vi­ta­ti­on um­wan­del­te. Ein zwei­ter, eben­so ein­ge­rich­te­ter Gra­vi­ta­ti­ons­er­zeu­ger be­fand sich in der zen­tra­len Ver­tie­fung im In­ne­ren der In­sel. Bei­de Ap­pa­ra­te wirk­ten der­ar­tig zu­sam­men, dass die Be­schleu­ni­gung der Schwer­kraft im In­ne­ren zwi­schen In­sel und Ring be­lie­big re­gu­liert wer­den konn­te. Man konn­te sie ent­we­der nur ver­rin­gern, oder ganz auf­he­ben – dann war das aba­ri­sche Feld im ei­gent­li­chen Sin­ne her­ge­stellt –, oder man konn­te die Ge­gen­schwer­kraft so ver­stär­ken, dass die Kör­per in­ner­halb des aba­ri­schen Fel­des ›nach oben fie­len‹, das heißt, eine be­lie­big star­ke Be­schleu­ni­gung ent­ge­gen­ge­setzt der Erd­schwe­re, also von der Erde fort, er­hiel­ten. Auf die­se Wei­se war es mög­lich, mit je­der ge­wünsch­ten Ge­schwin­dig­keit Kör­per zwi­schen der In­sel und dem Rin­ge so­wohl von un­ten nach oben als von oben nach un­ten in Be­we­gung zu set­zen, in­dem man sie in einen zu die­sem Zweck kon­stru­ier­ten Flug­wa­gen ein­schloss.

Es war nun die schwie­ri­ge Auf­ga­be der In­ge­nieu­re an den bei­den End­sta­tio­nen, den Be­trieb so zu re­gu­lie­ren, dass je­des Mal das aba­ri­sche Feld die nö­ti­ge Stär­ke be­saß, um den Wa­gen nach oben zu trei­ben oder in sei­ner Be­we­gung auf­zu­hal­ten.