Homchen - Kurd Laßwitz - E-Book

Homchen E-Book

Kurd Laßwitz

4,4

Beschreibung

Homchen ist ein früher Vorfahr des Menschen, der im ausgehenden Zeitalter der Dinosaurier lebt. In der Sippe der Kala ist das Beuteltier ein Außenseiter, weil es sich traut, den Schutz der sicheren Nacht zu verlassen und auch am Tage seine Possen zu treiben. Als Homchen einen Flugsaurier tötet, sinnen die großen Echsen auf Rache. Die Beuteltiere verstoßen es aus der Sippe, und der kleine Held geht auf die Suche nach der geheimnisvollen roten Schlange. Während seiner abenteuerlichen Reise wird Homchen zum Wegbereiter der menschlichen Evolution, und nach der großen Sintflut bricht schließlich das Zeitalter der Säugetiere an. – Ungekürzte Ausgabe in neuer Rechtschreibung.

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Kurd Laßwitz

Homchen

Ein Tiermärchen aus der oberen Kreide

• • •

Schriftreihe Epilog

Herausgegeben von Ronald Hoppe

Band 5.004

• • •

Überarbeitete Neuausgabe der dem Original-Text folgendenund vollständigen Online-Veröffentlichung auf epilog.de.

© copyright 2015 by epilog.de • Alle Rechte vorbehalten

Ausgewählt, redigiert und gestaltet von Ronald Hoppe

Erstveröffentlichung 1902 in der Märchensammlung ›Nie und Immer‹

Umschlagmotiv von Kurd Laßwitz

Verlegt bei BOD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN 978-3-7392-6588-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

Kurd Laßwitz (1848–1910) war Naturwissenschaftler und promovierter Philosoph, zudem Autor einiger Sachbücher und zahlreicher utopisch-phantastischer Romane und Kurzgeschichten.

Ronald Hoppe (*1964) war Art-Director der IHK-Zeitschrift ›Berliner Wirtschaft‹ und Herstellungsleiter beim Shayol-Verlag. Als Layouter ist er u.a. für Klett-Cotta, Piper und Random House tätig.

Der Anfang des Originalmanuskripts.

Eine Skizze aus dem Originalmanuskript, die der Verfasser von Homchen angefertigt hat, und zwar laut Unterzeile ausdrücklich »nach einem Koala in Brehms Tierleben«.

Der kühne Kala

Es ist schon lange, sehr lange her.

Menschen gab es noch nicht. An ganz anderen Stellen als heutzutage standen die Berge, wogten die Flüsse und Meere, und selbst die liebe Sonne ging noch leichtsinniger mit ihren Strahlen um. Aber allmählich dachte sie doch daran, sich etwas häuslicher einzurichten.

Nach Osten öffnet sich die Mündung des mächtigen Stromes zu weiter, uferloser Bucht. Dort glüht der Himmel im Frührot, und bunte Streifen glitzern zwischen den dunklen Wogen. Am flachen, sumpfigen Ufer des Stromes beugen sich das Schilf und die hohen Gräser leicht unter kühlem Windhauch. Droben auf den angrenzenden Hügeln rauscht es in den breiten Wipfeln der Bäume. Buchen und Ahorn steigen dicht gedrängt hinter der Wiese an der Böschung empor. Darüber ragen hier und da die zackigen Äste einer Rieseneiche hervor, oder eine schlanke Pinie drängt sich in die Verschlingung des Laubwalds.

Aus den hohen Farnkräutern am Waldesrand hebt sich ein großer, schmaler, gelb und braun gesprenkelter Kopf. Ist es ein Vogel, eine Schlange, eine riesige Eidechse? Jetzt erscheint ein langer nackter Hals, und der Hals wächst immer weiter und weiter aus den Kräutern hervor, schon glaubt man, ein ungeheurer Vogel werde sich aufschwingen. Aber statt der Flügel kommen zwei kräftige Vorderfüße zum Vorschein, mit denen das Tier in der Luft hin und her fuchtelt. Es sperrt das gewaltige schnabelartige Maul weit auf und gähnt und gähnt …

Dann verschwindet es wieder zwischen den hoch wuchernden Blättern. Dort streckt es den mächtigen Krokodilschwanz nebst seinen vier Beinen und dem langen Straußenhals möglichst nahe am Boden aus, wobei der untere Teil seines Rückens wie ein massiger Berg in die Höhe ragt. Seine Kinnladen reiben sich rasselnd aneinander, denn es hält ein Selbstgespräch.

»Kalt, kalt, kalt!« So brummte der Iguanodon bei sich. »Die Welt wird immer schlechter. Ich muss noch mit dem Frühstück warten. Denn wenn ich den Hals ausstrecke, so friere ich. Kalt, kalt, kalt! Das ist so eine moderne Erfindung. In meiner Jugend, ich glaube, da gab's das gar nicht. Diese kalten Morgen sind gegen die Grundsätze der ältesten Drachengeschlechter. Was könnte man dagegen tun? Lächerlich, dass mir das Denken so schwer fällt! Mir, der ich … Guck' mich nicht so dumm an, elendes Kerbtier!«

Damit bohrte der Iguanodon wütend seinen langen Stacheldaumen mitten durch den Leib eines großen Skorpions, der eben aus seiner Höhle kroch. Der Skorpion sagte weiter nichts, denn es blieb ihm keine Zeit dazu übrig. Aber der Iguanodon knurrte weiter.

»Ja, ich will's euch zeigen, dass ich das klügste Geschöpf bin! Ich bin mir das schuldig. Ich gehe auf zwei Beinen, ich fresse kein Fleisch, ich bin kein dummes Wasservieh, ich bin kein roher Raubdrache, ich bin kein flattriges Lufttier, ich bin eine feine Riesen-Echse – ich bin mein Ideal! Warum sollte ich nicht denken können? Ich werde denken! Kalt, kalt, kalt! Was lässt sich dagegen tun? Wenn man so etwas hätte, wie dieses Moos, das man immer um seinen Hals tragen könnte, dann würde man nicht frieren. Ha! Ich glaube, jetzt denke ich, und zwar gut. Denn wenn ich den Hals in das Moos stecke, so ist es warm. Wenn ich aber frühstücken will, so muss ich ihn herausziehen. Das ist eben das Problem, das ist die Kältefrage. Wer die lösen könnte? Wahrscheinlich niemand, wenn ich es nicht kann. Denn ich bin der Iguanodon, ich bin das höchst entwickelte Lebewesen der Erde.«

Über dem Iguanodon, zwischen den Ästen der alten Buche, klang es wie ein leises Kichern. Ein Blatt schwebte herab und kitzelte den Iguanodon an seinem Auge.

»Was gibt es da oben? Das ist auch wieder eine neue Mode, davon steht nichts im alten Gesetz der Echsen, dass es Bäume geben dürfte, die ihre Blätter abwerfen.«

Der Iguanodon blickte in die Höhe. Ein breiter Zweig bewegte sich und ließ ein paar reife Bucheckern herabfallen, die seine Nase trafen. Da tönte wieder das leise Kichern und ein feines Stimmchen erklang:

»Homchen heiß' ich,

Emsen beiß' ich,

Mehr als alle Echsen weiß ich.«

Rasend vor Wut fuhr der Iguanodon mit seinem langen Halse in die Höhe, hinein in die Blätter der Buche, wo ein zierliches Geschöpf eilends und gewandt über die Äste hüpfte und von Baum zu Baum springend den Hügel hinaufflüchtete. Von der Ferne klang es noch:

»Pelzchen trag' ich,

Krällchen schlag' ich,

Mehr als alle Echsen wag' ich.«

Als der Iguanodon mit seinem Kopfe über die Kräuter des Waldrands hinausgefahren war, merkte er, dass die Sonne mit ihrer großen, glühenden Scheibe am Himmel stand und er nicht mehr am Halse fror. Da watschelte er auf seinen beiden riesigen Hinterbeinen in die feuchte Wiese hinein um zu frühstücken. Inzwischen war Homchen weiter hinauf auf die Waldberge gelangt, wo die Laubbäume aufhörten und die dunklen Nadelhölzer ihre harzigen Äste ausstreckten.

Es war ein lustiges Tierchen, nicht größer als ein dreijähriges Men­schenkind. Kala nannte sich seine Sippe, und sie rühmte sich, die fortgeschrittensten Kletterbeuteltiere der Zeit darzustellen. Hom­chens Fell war mit dichten, weichen Haaren bedeckt, auf der Rückenseite bräunlichrot wie der Stamm der Fichte, unten gelblichweiß wie die Flechten am Baum. Aus dem großen Kopfe blitzten zwei kluge schwarze Augen, und um sie herum bildete das Fell einen weißen Ring, wodurch sie noch größer erschienen. Darunter saß ein schwarzes Stumpfnäschen, und in dem runden Mäulchen blitzten scharfe, weiße Zähnchen. An den Seiten des Kopfes bewegten sich kleine, hellbuschige Ohren und hinten am Rücken ein ganz kurzes Schwänzchen. Arme und Beine trugen Greiffüße mit richtigen Daumen, und an allen fünf Zehen saßen lange, krallenartige Nägel.

Homchen sprang behänd am Stamme einer hohen Fichte empor, deren Wipfel über eine Felswand hinausragte. Dort oben breitete sich eine buschige Fläche aus, und zwischen den Steinen wusste es eine Stelle, wo die großen schwarzen Ameisen wohnten, die so gut schmecken wie keine andre Art, denn sie haben so eine gewisse pikante Säure.

Eben war Homchen auf die Felsen hinüber gesprungen, da rasselte es hinter ihm in den Baumwipfeln, und ein großes Tier, drei bis viermal so lang wie Homchen, flatterte aus den Bäumen heraus und stürzte sich auf Homchen zu, indem es den Wolfsrachen mit seinen fürchterlichen Zähnen weit aufsperrte. Aber Homchen hatte schon am Geräusch des Fluges die drohende Gefahr erkannt und war schnell zwischen das dichte, niedere Gebüsch geschlüpft, wohin ihm das große Tier mit seinen breiten Flughäuten nicht sofort folgen konnte. Dort suchte der junge Kala nach einem bergenden Versteck. Er zwängte sich zwischen zwei Steine und wandte nur den Kopf nach seinem Verfolger.

Ja, es war der Hohlschwanz, der böse Hohlschwanz. Er saß auf einem Felsstück, das nahe bei Homchens Schlupfwinkel über das niedere Buschwerk hervorragte, und schlug mit seinem großen Krokodilschwanz wild in der Luft umher. Die Flughäute an den langen Vorderbeinen hatte er zusammengelegt und mit den Krallen wühlte er vor sich im Gebüsch, um es auszureißen. Dabei schrie er wütend:

»Wo steckst du? Ich weiß, dass du da bist. Diesmal sollst du mir nicht entgehen, frecher Beutler! Was hast du hier zu suchen im Sonnenschein?«

Homchen sah bald, dass es hier nicht sicher war. Wenn der Hohlschwanz weiter das Strauchwerk forträumte, so musste es bemerkt werden. Dann konnte er es mit seinen langen Armen leicht aus dem Versteck holen. Die Gefahr war groß. Aber Homchen war mutig und klug. Es wusste wohl, dass ihm nur die List helfen konnte.

»Hier bin ich«, rief Homchen ohne sich zu zeigen. »Was willst du von mir, dummer Hohlschwanz? Komm doch her! Deine Knochen sind ja so dünn, dass sie unter meinen Zähnen zerbrechen wie Nussschalen. Du hast nur Luft darin, du Windbeutel!«

»Jawohl, Luft hab' ich drin«, schrie der Hohlschwanz, »darum kann ich fliegen. Darum werd' ich euch alle fressen, ihr frechen Beutler, wie ich deinen Großvater und deine Vettern gefressen habe. Du denkst, weil ihr in den hohlen Bäumen des Waldes wohnt, da könnten euch meine erhabenen Verwandten, die Beherrscher des Meeres und des Landes, die mächtigen Riesenechsen nicht erreichen? Ihr könntet euch etwas herausnehmen? Ich kann fliegen, ich habe lange Greifarme, ich will in eure Schlupfwinkel dringen, ich werde euch ausrotten! Euch zuerst, naseweise Kala! Ich hole den Fisch aus dem Meer, die neumodischen Flieger hol' ich aus der Luft. Und Schuppen hab' ich auf der Haut!«

»Wir fürchten euch nicht!« rief Homchen wieder. »Kannst ja mit deinen breiten Flughäuten nicht zwischen den Baumästen hindurch! Wir bauen nicht so ins Freie. Mit euch ist's überhaupt aus, ihr Rieseneidechsen, ihr Drachenbrut – das sag' ich euch.

Homchen heiß' ich,

Emsen beiß' ich,

Mehr als alle Echsen weiß ich!«

»Hoho! Was willst du wohl mehr wissen als ich?«

»Soll ich dir's sagen? Wenn du mir versprichst, dass du mir nichts tust …«

»Versprechen? Was ist das? Wenn ich dich fange, fress' ich dich, und vorher schüttle ich dich so lange an den Ohren, bis du mir alles gesagt hast.«

»O nicht doch! Ich fürchte mich ja so sehr, lieber Hohlschwanz. Alles kann ich dir nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Das von der roten Schlange …«

»Was weißt du von der roten Schlange? Wo wohnt sie?«

»Das weiß ich nicht. Da musst du die Zierschnäbel fragen. Aber sie hat auch zu uns gesprochen.«

»Das glaub' ich nicht. Zu uns hat sie gesprochen. Vor tausend, tausend Jahren, wie man das mächtigste Tier werden kann. Und das sind wir.«

Homchen lachte wie eben Beuteltierchen lachen.

»Aber uns«, rief es, »hat sie gesagt, wie man noch mächtiger werden kann als alle Drachen …«

»Was?« brüllte der Hohlschwanz. »Mächtiger als ich? Vielleicht gar mächtiger als die Großechse? Das hat sie gesagt? Wie denn? Willst du mir's wohl gestehen? Das haben euch die Zierschnäbel vorgeredet!«

»Ihr Echsen sollt es nicht wissen.«

»Aber ich will es wissen, und wenn ich die rote Schlange selbst fressen sollte!«

Homchen schauerte zusammen. Was war der Hohlschwanz für ein abscheuliches Tier! Die rote Schlange fressen! Homchen verstummte, denn es war traurig, dass man so etwas sagen konnte.

Selbst die Käfer, die sich neugierig in der Nähe sammelten, erhoben ein unwilliges Gebrumm und viele flogen davon.

»Nun? Willst du reden?« schrie der Hohlschwanz.

»Ich kann doch nicht so schreien«, antwortete Homchen. »Ich muss dir näher kommen. Aber erst musst du den Kopf weiter herabbeugen und deine schönen Flügel ausbreiten; denn es darf uns niemand hören.«

Der Hohlschwanz streckte den langen Hals aus und legte die Arme mit den breiten Flughäuten flach auf den Boden. Inzwischen schlüpfte Homchen ganz leise und geschwind unter den Büschen heran, und mit dem kühnen, weiten Sprung, der es von Wipfel zu Wipfel trug, sprang es von der Seite auf den Kopf des Raubtiers und schlug mit aller Kraft seine Krallen in die beiden Augen. Da wurde der Hohlschwanz sinnlos vor Schmerz, aber weil er nichts sehen konnte und halb betäubt war, wagte er Kopf und Flügel nicht zu bewegen, sondern schlug nur in blinder Wut mit dem eignen langen Schwanze nach seinem Kopfe. Doch Homchen war schon herabgesprungen und krallte sich von unten, wo keine Schuppen saßen, an den Hohlschwanz und biss mit den scharfen Zähnen die Adern und Sehnen des Schwanzes durch. Und nun lag der Hohlschwanz ohnmächtig da und verblutete sich.

Und ein Summen der Käfer ging durch die Lichtung und zog sich weiter und weiter klingend durch die Luft, oben über die Bergheide und drunten zum Walde.

Homchen kletterte stolz im Schutze des Strauchwerkes zwischen den Felsen umher und tat sich an den Ameisen gütlich, denn es war hungrig geworden.

Von der Heide her aber kam ein junger Hohlschwanz, und als er den alten machtlos daliegen sah, stürzte er sich auf ihn, zerriss ihn mit seinen Zähnen und fraß ihn halb auf.

Der alte war zwar sein eigener Vater, aber das verschlug dem jungen nichts. Er kannte ihn gar nicht.

Die Jugend des Urwaldes

Im dichten Urwald, wo die Sonne nicht eindringen konnte, auf dem Ast vor der Höhlung des alten Eichbaums, saß Homchens Mutter und spähte ängstlich nach allen Seiten.

»Wo bleibst du denn, Frau?« rief Knappo, der Vater, aus dem behaglichen Neste im Baum. »Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Denn es dämmert grün im Laube, und die Sonne muss schon hoch stehen.«

»Homchen ist noch nicht da«, antwortete Mea.

»Ei, ei! Wo treibt sich der Schlingel wieder herum? Ich habe ja immer gesagt, du hast ihn zu früh aus dem Beutel entlassen.«

»Du weißt doch, was es mit ihm auf sich hat.«

»Nun ja, dass er ein Fellchen mit auf die Welt gebracht hat …«

»Und jetzt ist er doch wirklich alt genug. Und er ist so klug!«

»Wenn ihm nur nicht etwas zugestoßen ist.«

»Er sieht so gern die Sonne aufgehen, und dann sucht er die Ameisen oben am Berge.«

»Das soll er bleiben lassen. Oben am Berge jagt der Hohlschwanz. Der Junge ist noch zu unvorsichtig. Er soll am Morgen zu Hause sein.«

Papa Knappo zog sich brummend tiefer ins Nest zurück, um zu schlafen. Aber es wollte nicht gelingen. Immer lauschte er nach außen, ob Homchen nicht käme.

Und draußen auf dem Aste kauerte Mea, Homchens Mutter, und ließ die runden Äuglein umhergehen und spitzte die zierlichen Ohrbüschel. Aber sie hörte nichts als das Summen der Insekten.

Und höher stieg die Sonne und wärmer wurde es Mea in ihrem dicken Pelzchen.

Sss-Sss-Sss klang es von den Käfern und Fliegen. Die fühlten sich immer wohler, je näher der Mittag rückte, und wurden immer lebendiger. Aber es war Mea, als läge etwas Besonderes in diesem Summen, anders, als es sonst zu tönen pflegte – als wär' es ein Geflüster, mit dem das Gerücht durch die Täler schreitet.

Und lauter und lauter klang es, und hier und da wachten die Nachttiere auf; die im Walde wohnen, die Fledermäuse und die Kletterbeutler und die Kala von Homchens Sippe, und streckten verschlafen die schwarzen Nasen aus den Baumlöchern.

Mea aber klopfte das Herz in Angst um Homchen.

Papa Knappo kam auch wieder aus dem Neste und brummte:

»Ich kann nicht schlafen! Wo bleibt der Junge?«

»Mir ist so bang«, klagte Mea. »Hörst du nicht, was die Tiere summen? Bald klingt es wie Hohlschwanz, bald klingt es wie Homchen. Oh, wenn nur nicht …«

»Kannst du sie nicht fragen, was sie meinen?«

»Ja, sobald ich einen Bekannten sehe. Aber diese leichtsinnigen Schwirrflügler halten ja nicht still – sss – und vorbei sind sie. Sollten wir nicht die Nachbarn rufen und Homchen suchen gehen?«

»Jetzt, am hellerlichten Tage? Wie dürfen wir uns aus dem Walde wagen? Aber ich will doch einmal zum Graukopf hinüber, vielleicht weiß er etwas davon, wo Homchen hingeklettert ist.«

Knappo machte sich zum Ausgang zurecht.

Da raschelte es in den Zweigen, und der Nachbar Graukopf kam selbst, und mit ihm die vornehmsten Säuger des Waldes, soweit sie auf die Bäume steigen konnten. Der Kufu kam gekrochen und hing sich an seinem langen Schwanze recht bequem an einem Aste auf; die niedliche Flugmaus schwirrte herbei, und auch der kleine, kluge Kletterigel, der die Haare zu scharfen, steifen Stacheln zusammengedreht trug, stieg vorsichtig an der Eiche herauf. Nur der große Taguan kam nicht, weil er bei Tage prinzipiell nicht ausgeht, und Tafa, das Beutelbilchen, durfte nicht kommen, denn es hatte den guten Talp, den Maulwurf, in seiner Höhle erbissen und war verbannt wegen seines Blutdurstes.

Graukopf setzte sich auf die Hinterbeine, richtete sich gerade auf, streckte die Vorderpfoten ein wenig vor und bewegte die Daumen an seinen Händen hin und her, wie es der Iguanodon zu machen pflegte. Als er sich nun vornehm genug vorkam, begann er mit ernster Miene zu reden:

»Meine werten Mitbeutler und insbesondere mein lieber Vetter Knappo! Als Ältester der Kala …«

»Mach' keine so lange Vorrede«, brummte der Igel. »Siehst du nicht, dass Mea sich ängstigt?«

»Ich wollte gerade«, sagte Knappo.

»So rede doch! Weißt du etwas von Homchen?« rief Mea dazwischen.

»Das ist es eben«, sprach Graukopf bedächtig, indem er die Daumen dreimal nach links drehte, »könntest du mir nicht darüber Bericht erstatten, wo dein Sohn Homchen hingegangen ist?«

»Ja, wenn wir es wüssten!« antwortete Mea. »Er ist am Morgen nicht nach Hause gekommen. Mir zittert das Herz! Was schwirren die Lufttiere durch den Wald?«

»Gerüchte, Gerüchte aus dem Sumpf! Gerüchte, schlimme Gerüchte von der Berghalde! Aufruhr! Aufruhr!«

»Aufruhr? Gegen wen? Von wem?«

»Aufruhr gegen die großen Echsen, die Herren der Schöpfung. Aufruhr durch euren Sohn Homchen!«

»Mein Homchen? Mein gutes Homchen? Was soll er getan haben?«

»Den Iguanodon«, und Graukopf bewegte ehrfürchtig die Daumen auf und nieder, »den großen Iguanodon hat er verspottet durch seinen Spruch. Den Hohlschwanz – die rote Schlange bewahre uns – hat er verhöhnt und beschimpft. Brimm, der Käfer, hat es gehört, entsetzt ist er davon geflogen, und nun summt es der Wald.«

»O der Schlingel!« seufzte der Vater. »Siehst du, ich habe es immer gesagt …«

»Jawohl, er gehört in den Beutel!« schalt Graukopf.

»Ach was!« rief Mea. »Wenn wir nur wüssten, wo er ist!«

»Jetzt können wir ihn nicht suchen«, pfiff der Kusu schläfrig durch die Zähne.

»Hast du ihn nicht gelehrt«, fragte Graukopf Homchens Vater, »was die rote Schlange den Säugern gebietet?«

»Freilich hab' ich's gelehrt, das Gesetz des Meeres und Moores, das Gesetz des Waldes und der Berge, das Gesetz der Echsen und der Säuger.«

»Und dass die großen Echsen die Herren sind der Welt? Und dass sie nehmen können, was sie erreichen? Und dass wir Säuger nicht bei Tage den Wald verlassen dürfen?«

»Alles hab' ich gelehrt.«

»Aber Homchen glaubt's nicht, er hat es nicht geglaubt«, rief die Flugmaus. »Ich hab' es selbst gehört, wie er sich rühmte, er wisse mehr als alle Echsen. Und er hat davon gesprochen, die Herrschaft der Echsen sei ein falsches Gesetz, und die rote Schlange wolle, dass die Säuger mächtiger werden als alle Echsen.«

»Oh, oh! Quih, quih!« klang es im Kreise der Beutler.

Nur der Igel brummte: »Recht hat er, der Junge.«

Graukopf sah ihn entsetzt an.

»Was redest du da, du Borstiger! Willst du, dass wir's mit den Echsen verderben? Soll der Iguanodon unsere Bäume abweiden? Soll der Hohlschwanz uns fressen? Soll der Großdrache uns alle töten?«

»Und dennoch ist's wahr.«

»Und wenn's wahr wäre. So was kann man denken, aber man darf es nicht aussprechen.«

»Ich fürcht' mich nicht.«

»Ja, du sitzest in deiner Höhle in der Stachelhaut.«

»Und eure Jungen brauchen sich auch nicht zu fürchten. Und die rote Schlange wird mit ihnen sein. Statt sich in den Beutel zu verkriechen, sollten sie hübsch beizeiten draußen herumspielen. Statt sich in der Nacht zu verstecken, sollten sie im Lichte sich umschauen. Haben wir nicht Augen? Haben wir nicht warmes Blut? Sind wir nicht klug?«

»Warum tust du's nicht, wenn du so klug bist?«

»Ja, ich kann leider nur klug sein. Aber wenn ich ein Kala wäre, wie ihr, mit so schönem Fell, mit so starken Armen und Beinen, so groß und geschwind …«

»Ja, ja, wir wollen hinaus!« so klang es im Hintergrunde. Von allen Seiten guckte es aus den Baumlöchern und von den Ästen. Die jungen Kala hatten sich neugierig herbeigeschlichen, und während der Rede des Igels hatten sie sich mehr und mehr genähert. Und nun brachen sie in Beifall aus.

Da fuhr Graukopf zornig in die Höhe, und die alten Kala und all die kleineren Beutler schrieen und schalten:

»Ihr grünen Jungen, was wollt ihr? Wo sind eure Mütter? Macht, dass ihr in die Nester kommt! In die Beutel mit euch! Und du, Igel, schäme dich, dass du hier Aufruhr anstiftest.«

»O Schlange, rote Schlange«, seufzte Mea, »wo mag mein Homchen sein?«

Schon zogen sich die jungen Beutler eingeschüchtert zurück, da hörte man die Insekten lauter und lauter summen, und in der Ferne klang es wie ein seltsames Pfeifen und Rauschen in den Ästen, als wenn viele Tiere durch die Baumkronen jagten.

Entsetzt blickten sich die Alten an. Kam schon der Hohlschwanz, um seine Rache zu nehmen?

Da schoss eine Libelle in raschem Fluge zwischen den Stämmen durch und schwirrte:

»Wald soll es wissen:

Hohlschwanz erbissen!

Liegt auf der Halde blutig zerrissen.«

Und noch hatten sich die Alten von ihrem Schreck nicht erholt, da sahen sie, wie die jungen Kala fortstürzten – aber gleich kamen sie zurück mit vielen anderen, Hunderte und Hunderte sprangen zwischen den Ästen und schwangen sich von Baum zu Baum, die Blätter rauschten, die Früchte prasselten herab, grau und braun und rot und weiß leuchtete es zwischen den Zweigen, und selbst unten auf dem Boden kamen die Springhasen gehüpft, und die Ratten huschten unter dem Laube, und überall klang und rief und jubelte es:

»Hohlschwanz ist tot! Hohlschwanz ist tot! Wer hat den bösen Hohlschwanz getötet? Homchen, Homchen hat ihn erbissen! Homchen besiegte den Hohlschwanz! Hoch lebe Homchen, der tapfere Kalasohn! Nieder mit den Echsen!«

Mitten in dem dichten Schwarm hüpfte Homchen, ob er nun wollte oder nicht. Im Triumph wurde er nach Hause geführt.

Mea stürzte ihm entgegen und umarmte ihn. Aber Knappo, der Vater, rief:

»O du ungeratener Sohn, was hast du getan? Du stürzest uns alle ins Unglück! Geh hinein, hinein in das Nest, und lass dich nicht wieder draußen sehn!«

Da murrten rings die jungen Beutler, aber die Alten waren nun auch alle herbeigekommen und trieben sie auseinander.

Homchen jedoch schwang sich auf einen höheren Ast und rief:

»Nun seid mir nicht böse, Vater und Mutter, aber ich habe den Hohlschwanz besiegt, die grimmige Flugechse, die mich angriff, die die rote Schlange lästerte, ich habe sie getötet! Nun hab' ich das Recht der Kala erworben, nun kann ich wohnen im eigenen Nest.«

»Ein Aufrührer bist du!« rief Graukopf. »Wohl hast du das Recht der Kala erkämpft, aber dafür musst du auch Rechenschaft geben nach dem Rechte der Säuger. Du hast verletzt die Gebote der roten Schlange, du hast den Wald bei Tage verlassen und gegen die Herrn der Schöpfung dich aufgelehnt. Du hast dich gerühmt der Weisheit der roten Schlange.«

»Ja, das tat ich«, rief Homchen. »Aber nun darf ich singen:

Homchen heiß' ich,

Echsen beiß' ich,

Mehr als alle …«

»Quih! Quih!« tönte es von allen Seiten. »Echsen darf man nicht beißen! Was wagst du zu singen! Die rote Schlange wird dich strafen. Wir aber wollen deinen Frevel nicht dulden! Fi! Fi! Fi!«

Und Graukopf erhob sich majestätisch, streckte die Arme aus und sprach:

»Weil du verletzt das Gesetz der Säuger und dich hochmütig rühmst verbotener Tat und Weisheit, Homchen, des wackeren Knappo leichtsinniger Sohn, so bann' ich dich vom Walde, so trenn' ich dich von der Sippe, so heiß' ich dich zu wandern vom Stamme der Kala!«

»Wir bannen dich!« riefen die Kala alle. »Fi, Fi, Fi! Wir bannen dich, bis du die rote Schlange versöhnt hast. Fliehe! Quih! Quih! Fi!«

Homchen saß stumm und erschrocken. Es konnte nicht reden. Denn das »Fi« der alten Kala stak ihm in der Kehle wie eine harte, bittere Zapfennuss.

Da kam Mea herbei und Homchen schlug seine Arme um ihren Hals.

»Komm wieder zu mir, in unser Nest, dann darfst du hier bleiben, mein süßes, tapferes Homchen!« So schmeichelte die Mutter.

Homchen schmiegte sich an sie. Dann riss er sich los und sagte mit stockender Stimme:

»Das geht nicht mehr, o Mutter! Der Hohlschwanztöter kann nicht bei dir bleiben. Lebe wohl! Du wirst mich wiedersehen. Denn ich weiß, was keiner weiß, weder von den Echsen noch von den Säugern. Die rote Schlange zürnt mir nicht. Sie wird mir helfen, und euch! Das werdet ihr sehen! Leb' wohl!«

Das Neue

Vom Walde nach Abend zu liegen die kahlen Hügel, und hinter ihnen dehnt sich unabsehbar das Drachenmoor. Da hausen, bald im Wasser, bald im Schlamm, bald auf den breiten Uferbänken und den weiten Strandwiesen die Riesenechsen, die sich die Herren der Schöpfung nennen. Da blickt der funkelnde, schuppige Rückenkamm des Stego über die hohen Farnkräuter hervor, die er abweidet. Da lauert der furchtbare Riesendrache, das schreckliche Ungeheuer, das selbst den Stego und den biedern Iguanodon angreift, der Raubherr zu Wasser und zu Land, die Großechse, sitzend auf die Beute …

Jetzt haben sich die Echsen in ihre Schlupfwinkel zurückgezogen – sie frieren. Denn kühl und klar über Wald und Hügel, über Moor und Meer schreitet die Nacht mit ihren Sternen.

Nicht unsere Sterne – es gibt keine ewigen Sterne. Wie viele sind verschwunden, wie viele neu aufgeglommen, seit die Rie­sen­echsen ihre Fußspuren dem Uferschlamm eindrückten. Und die alten stehen nicht mehr an ihrem Platze. Kein Sternkundiger würde sie wiedererkennen. Denn die Sonne ist seitdem weit gewandert im Weltraum … und mit ihr wanderte die Erde, wanderten die Begleiter. Und dort im Westen, nahe am Horizont, leuchtet der Nachbar der Erde, den wir den Mars nennen. Noch ist er nicht so rot, wie er heute erscheint, aber jetzt, da er in die Nebel herabsinkt, glänzt er rötlich, als ahne er seine Zukunft …

Zusammengekauert auf dem abgestorbenen Aste der letzten Eiche am Waldesrand sitzt Homchen und starrt mit den nachtoffenen Augen auf den sinkenden Stern. Und ängstlich schlägt das kleine, noch jüngst so stolze Herz, als der Stern tiefer und tiefer sich neigt. Wollte die rote Schlange heute nicht zu ihm sprechen, heute, wo es so fest darauf vertraute? Wohnte sie nicht auf dem Sterne? Da drüben gen Abend musste sie wohnen, dahin wandern Sonne, Mond und Sterne, und alle glänzen sie rot, wenn sie niedergehen.

Und von den Sternen her hatte die rote Schlange zu ihm gesprochen. Nicht gar lange war's her – zwei Monde vielleicht. Homchen wusste es genau. Es war der erste Abend gewesen, dass es sich soweit durch den ganzen Wald bis auf die Hügel im Westen gewagt hatte. Da hatte es hier gesessen und über das weite Moor nach dem Sterne geschaut. Und es war ihm etwas geschehen, was es nie erlebt hatte, etwas Wunderbares, Weites, Großes. Es war nicht wie die süße Nuss zwischen den scharfen Zähnen, nicht wie die würzige Ameise an der Zunge. Es war auch nicht warm wie die Sonne, oder lieblich wie der zärtliche Nestruf der Mutter. Es war nicht wie der frohe Schwung zwischen den Ästen, nicht wie die packende Kraft der krallenden, fassenden Glieder – es war anders, ganz anders. Wie mochte man's nennen?