Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Wahrheit wird gemacht. Und mit KI wird uns ein Quantensprung gelingen. Deep Fakes sind die Wahrheiten der Zukunft." Bei einer Straßenblockade von Klimaschützern kommt eine junge Familie zu Tode. Weil die Polizei mit ihren Ermittlungen nicht vorankommt, bittet sie Sophie Taff und Benjamin Neumann um Unterstützung. Gemeinsam mit der jungen Polizistin Alex Kühn schleusen sie sich bei den Klimaschützern ein und ermitteln undercover. Schnell merken sie, dass nichts ist, wie es scheint, und dass sie nicht die einzigen sind, die etwas zu verbergen haben. Als Sophie ein geheimnisvolles Dokument entdeckt, überschlagen sich die Ereignisse.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Was passiert, wenn wir in einer Welt leben, in der Wahrheit nicht mehr von Lüge zu unterscheiden ist und das Vertrauen in die Gesellschaft zusammenbricht?
Sophie und Benjamin suchen die Wahrheit und finden einen Sumpf aus Lügen und Intrigen, der sie zu verschlingen droht.
Wolfgang B.Engel, Jahrgang 1966, ist Diplom-Physiker und arbeitete als Projektingenieur im Automotive- und Luftfahrtbereich. 2019 drängte sich seine kreative Ader in den Vordergrund und fand ihren Ausdruck im Schreiben.
In seiner Taff & Neumann-Reihe verwandelt er brisante gesellschaftliche und ökologische Themen in packenden Geschichten zu einem Plädoyer für Menschlichkeit und Nachhaltigkeit.
Wolfgang B. Engel ist Mitglied des Selfpublisher-Verbands und des WWFs. Er lebt in der Nähe von Rosenheim.
Als Selfpublisher ist er auf die Unterstützung seiner Leser angewiesen und freut sich über Rezensionen auf den gängigen Verkaufsplattformen oder auf seiner Homepage: www.wolfgang-b-engel.de
Was ist wahr?
Diese Geschichte jedenfalls nicht. Sie ist Ausgeburt meiner Fantasie. Aber sie könnte wahr sein. Oder wahr werden. Schon bald!
Der Thriller Aufgeheizt ist der dritte Band einer Reihe um die Hauptfiguren Sophie Taff und Benjamin Neumann. Aufgeheizt kann ohne Vorkenntnisse aus Probezeit – Falsches Spiel und Blind Date mit der Hölle gelesen werden.
Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Organisationen sind nicht beabsichtigt.
Noch ein Hinweis zu den verwendeten Namen:
Haben Sie auf Seite 237 auch schon mal vergessen, wer Herr Schröder ist? Damit Ihnen das in dieser Geschichte nicht passiert, haben die meisten Personen Namen, die auf ihre Rolle hinweisen.
Eine Lüge reist einmal um die Erde,
während sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.
Mark Twain
FAMILIE
DIE NACHRICHTEN
DINNER FOR FIVE
WIN-WIN-SITUATION
KONTAKT
DER ZWECK UND DIE MITTEL
SOPHIES GEBURTSTAG
RISKANTTES SPIEL
FAKTEN UND IHRE ALTERNATIVEN
DER NOTFALLCODE
VON WEGEN BACK-UP!
LOYALITÄT IN DER ZWICKMÜHLE
HACKER, HETZE, HASS
ALLES LIVE UND IN FARBE
DER TORNADO MIT DEN GRÜNEN AUGEN
ORDNUNG INS CHAOS
BENJAMINS SHOW
FOSSILE VOR GERICHT
DRESSCODE
AUF STANDBY
TÄUSCHEN, TRICKSEN, TARNEN
DIE MUTTER ALLER SPIONINNEN
DIE GEHEIMNISSE DER ZIGARETTENSCHACHTELN
AUF TUCHFÜHLUNG
KAFFEE, KUCHEN UND KONFLIKTE
BUBBELING
JUSSUF
VON BUTTERBREZELN UND BRANDSTIFTERN
DER VOR-ORT-TERMIN
DIE RAUMPFLEGERINNEN
BESTE FREUNDINNEN
DER FUND
DER GEHEIMCODE
IN VINO VERITAS
DIE MANIPULIERTE ABSTIMMUNG
EIN AKT DER NÄCHSTENLIEBE
TATTOO
LOST
IM RAMPENLICHT
DER RASENDE ANWALT
DURCH DEN WIND
VERDREHTE WAHRHEIT
DEIN FREUND UND HELFER
FAKTEN UND IHRE ALTERNATIVEN
DIE ZEIT RENNT
TRÄNEN, TROST UND SCHULDGEFÜHLE
DER LACKAFFE
Das Leben ist bunt! Germsbacher Universelle Lackieranlagen AG GUL AG
WIE SCHRÖDINGERS KATZE
DIE VERNEHMUNG ODER WAS AUCH IMMER
WER BIST DU WIRKLICH?
DER JÜNGSTE TAG
TECHNIK FATAL
ZEITSPRUNG
COUUNTDOWN
NULL
DIE WAHRHEIT KOMMT ZULETZT
ZUR ENTSTEHUNG DIESSES BUCHS
Samstag, 17. Februar, 11:00 Uhr
Jonas freute sich auf den Besuch bei Oma und Opa. Zum Kaffee wollten sie dort sein. Dabei durfte er gar keinen Kaffee trinken, denn der war für Erwachsene. Kinder tranken Kakao. Er mochte Omas Kuchen. Mama konnte auch gut backen, aber nicht so gut wie Oma.
Leider musste man lange zu Oma und Opa fahren. Das war langweilig. Er sah zu seiner Schwester, die neben ihm saß. Leni lächelte ihn an.
Jonas mochte Leni. Früher nicht so, da hatte sie nur geschrien. Aber seit man mit ihr spielen konnte, war sie okay. Sie war erst vier Jahre alt. Er selbst war schon groß, denn er war schon sechseinhalb. Es war klar, dass er auf sie aufpasste. Dafür musste sie ihm gehorchen, was sie aber oft nicht tat.
Mami drehte sich zu ihnen um. „Alles klar da hinten? Wir sind gleich am Irschenberg. Wenn ihr eure Hälse reckt, könnt ihr die Berge sehen.“
„Ich will Märchen hören“, quengelte Leni.
Typisch Mädchen! Jonas mochte die Berge und freute sich, dass sie die Autobahn über Salzburg genommen hatten. Wenn sie über Passau fuhren, konnte man keine Berge sehen. Doch weil dort heute Nebel war, fuhren sie über Salzburg. Mami schaute wieder nach vorne. Auch sie mochte die Berge.
„Das ist Baldur“, sagte Leni und zeigte ihm ihren kleinen Bären, den sie so sehr liebte, dass sein Fell schon einige kahle Stellen hatte. Jonas streichelte Baldur, um seiner Schwester einen Gefallen zu tun.
Auf einmal quietschten die Bremsen. Mami rief: „Da vorne, pass auf!“
Leni schaute erschrocken zu Jonas. Ein dumpfer Schlag, ein Regen aus Glassplittern, die Sitze von Mami und Papa plötzlich ganz nah. Jonas war klar, dass sie einen Unfall hatten. Er dachte daran, Leni zu beschützen, doch die Angst lähmte ihn. Es knackte und knirschte überall, sie fuhren weiter und weiter, obwohl die Bremsen quietschten. Leni weinte, er selbst jetzt auch, Mami schrie auf.
Ein lauter Knall war das Letzte, was Jonas hörte.
Samstag, 17. Februar, 19:00 Uhr
„Es ist 19 Uhr. BR24, das Informationsradio des Bayerischen Rundfunks. Ich bin Juliane Strasser und wir beginnen mit folgendem Thema:
Heute Vormittag gegen 11 Uhr ereignete sich auf der A8 zwischen den Anschlussstellen Weyarn und Irschenberg ein schwerer Verkehrsunfall, bei dem eine Familie ums Leben kam. Unsere Korrespondentin Simone Krassauer ist vor Ort und weiß mehr. Simone, was genau ist passiert?“
„Ja, Juliane, wie die Polizei vor Ort mitteilte, hatte sich auf der Autobahn Richtung Salzburg ein Stau gebildet. Am Stauende konnte ein Sattelschlepper nicht mehr rechtzeitig bremsen und schob den vor ihm fahrenden PKW unter den vorausfahrenden Kühllastwagen, bevor er sich selbst über das Auto schob und auf den Kühllaster auffuhr. In dem völlig zerquetschten Auto starb eine vierköpfige Familie. Sie war sofort tot.
Der Unfallverursacher musste von der Feuerwehr aus seinem Führerhaus befreit werden und wurde schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der Fahrer des Kühllastwagens erlitt einen Schock. Die Autobahn war mehrere Stunden gesperrt.
Besonders pikant ist, dass die Ursache für den Stau mutmaßlich auf eine Aktion des umstrittenen Münchner Klima-Kriseninterventionsteams, kurz KlimaKIT, zurückgeht, die mit brennenden Autos die Autobahn blockiert haben sollen. Die endgültige Bestätigung durch die Polizei steht derzeit noch aus. Aber allein der Verdacht dürfte die Diskussion weiter aufheizen, wie gerechtfertigt Straßenblockaden zur Durchsetzung politischer Ziele sind. Wir bleiben dran! Und damit zurück ins Funkhaus.“
Dienstag, 12. März, kurz nach 19:00 Uhr; noch 60 Tage
Benjamin führte Sophie durch kleine ruhige Straßen im Münchner Stadtteil Haidhausen, bis sie vor einem aufwendig renovierten Altbau standen.
„Hier?“, fragte sie.
„Hier!“, antwortete er und drückte auf den Klingelknopf neben einem barocken Messingschild, auf dem Käpsele eingraviert war. Alle Klingelschilder waren in derselben Art gestaltet. Dazu das schwere Portal aus dunklem, gealtertem Holz, das in einen Rundbogen eingepasst war.
„Ja?“, schnarrte eine Stimme aus einem Lautsprecher mit Aluminiumblende, dem einzigen Fremdkörper im Arrangement.
„Hallo, hier sind Taff und Neumann“, sagte Benjamin.
Der Türöffner summte. Benjamin hielt Sophie die Pforte auf, damit sie mit ihrem Strauß von Frühlingsblumen nirgendwo aneckte. Sie betraten ein Treppenhaus mit alten Holzstiegen, die mit einer Patina versehen waren, wie sie nur in Jahrzehnten der Benutzung und Pflege entstehen konnte. Es roch nach Bohnerwachs und Zitrusfrische. Über knarzende Stufen stiegen sie in den dritten Stock.
Bei Käpsele war niemand zu sehen, aber die Wohnungstür stand einen Spalt offen und so traten sie ein. Ihnen stieg ein köstlicher Duft in die Nase. Benjamin nahm Sophie den Blumenstrauß ab, damit sie ihre Jacke an die Garderobe hängen konnte. Ein hochgewachsener Mann mit Brille und Kochschürze kam aus einem Zimmer und hastete ihnen entgegen.
„Frau Taff, Herr Neumann, wie schön, dass Sie es einrichten konnten“, sagte Käpsele in bemühtem Hochdeutsch und reichte ihr die Hand.
„Vielen Dank für die Einladung, Herr Käpsele.“ Sophie, ließ sich von Benjamin den Blumenstrauß geben und reichte ihn an den Hausherrn weiter. „Hier, ein kleiner Frühlingsgruß für Sie!“
„Oh, wunderschön, vielen Dank. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich noch nie Blumen von einer Frau bekommen. Es war immer umgekehrt.“
„Und ich habe noch nie einem Kriminalhauptkommissar einen Blumenstrauß geschenkt. Kann das als Bestechung ausgelegt werden?“
„Was liegt derzeit gegen Sie vor? Lassen Sie mich überlegen! Nichts? Dann darf ich Geschenke in dieser Größenordnung annehmen.“
„Klaus, hör auf zu flirten, ich brauche dich hier!“, ertönte eine vertraute Stimme aus einem Raum, aus dem Klappern zu hören war. Seine Mitarbeiterin, Kriminalkommissarin Alexandra „Alex“ Kühn, war also schon da und half ihrem Chef beim Kochen. Oder war es umgekehrt?
Käpsele begrüßte Benjamin noch schnell mit einem: „Hallo, Herr Neumann, herzlich willkommen!“ Gleichzeitig drückte er ihm die Blumen in die Hand, schickte einen entschuldigenden Augenaufschlag hinterher und eilte in die Küche.
Anscheinend habe ich hier die Rolle des stummen Dieners übernommen, dachte Benjamin, schaute an sich herunter und stellte fest, dass er noch seine Jacke trug.
Sophie kicherte. „Komm, gib her, ich suche eine Vase!“
Ohne Blumenstrauß konnte er endlich ablegen. Er folgte seiner Freundin ins Wohnzimmer. Sie stand in der Mitte des Raums und drehte sich staunend um die eigene Achse. Ihre grünen Augen leuchteten angesichts der gelungenen Kombination aus Fischgrätparkett, großen Sprossenfenstern, hoher Decke und geschmackvoller Einrichtung. Alles mit gedimmtem Licht aus verschiedenen Quellen perfekt in Szene gesetzt. „Wow!“
„Fast mein ganzes Gehalt geht für die Miete drauf“, hatte der Hausherr vergangenen Sommer gesagt, als Benjamin zum ersten Mal hier gewesen war. Es kam ihm wie gestern vor, so intensiv hatten sich die Erlebnisse in sein Gedächtnis gebrannt. Damals hatten sie verzweifelt nach Sophie gesucht, und Käpsele hatte seine Wohnung als Kommandozentrale zur Verfügung gestellt. Unzählige Rechner und Monitore hatten die Wohnung verunstaltet. Für Benjamin war es eine traumatische Zeit gewesen, für Sophie sowieso.
Ein Läuten riss ihn aus seinen Erinnerungen.
„Kann jemand aufmachen?“, rief Käpsele aus der Küche.
Benjamin ging zur Gegensprechanlage. Sophies Chef meldete sich. „Hallo, Herr Käpsele, hier ist Forsch!“
Benjamin ließ den Journalisten im Glauben, mit der Polizei gesprochen zu haben, und betätigte den Türöffner. Ihm fiel auf, dass er, seit er hier war, noch keinen Ton von sich gegeben hatte. Er öffnete die Tür zum Treppenhaus einen Spalt breit und ging ins Wohnzimmer zurück.
Sophie kam aus dem Bad. „Ich habe den Blumen Wasser gegeben.“
Als Vase hatte sie einen Pokal zweckentfremdet. Benjamin erinnerte sich, das Schmuckstück an prominenter Stelle auf einem Regal gesehen zu haben. Sie stellte das eigenwillige Arrangement auf den Couchtisch im Wohnzimmer. Benjamin betrachtete den Pokal genauer. Eine Gravur sprang ihm ins Auge:
Klaus Käpsele
Schützenkönig 2012
Pistolenschießen
Schützenverein Ludwigsburg
Benjamin hörte Schritte im Flur und dann Käpseles Stimme. „Hallo, Herr Forsch! Der Pressevertreter meines Vertrauens!“ Es folgte Gemurmel, das Benjamin als Smalltalk interpretierte.
„Ich muss mal für kleine Mädchen“, sagte Sophie und ließ Benjamin allein. Kurz darauf führte der Gastgeber den Neuankömmling zu ihm ins Wohnzimmer. Als Käpsele den als Vase missbrauchten Pokal sah, runzelte er missbilligend die Stirn.
„Doch nicht den Pokal, also wirklich, Herr Neumann!“ Kopfschüttelnd hastete er mit seinem Heiligtum und den Blumen darin in die Küche. Forsch folgte in seinem Windschatten.
Benjamin atmete tief durch und nahm durch sein Schweigen Sophies Fauxpas auf seine Kappe. Er fühlte sich wie im falschen Film. Kurz darauf kamen Sophie von der Toilette und Alex aus der Küche ins Wohnzimmer.
„Hallo, ihr beiden“, sagte Alex lächelnd und umarmte sie kurz.
„Hi, Alex, wo hast du Luke gelassen?“, fragte Benjamin.
Ihr Lächeln gefror. „Am anderen Ende der Galaxie!“
„Oh nein!“, entfuhr es Sophie. Sie umarmte ihre Freundin, die daraufhin zu schluchzen begann.
Benjamin seufzte innerlich. Das habe ich ja wieder super hingekriegt. Er mochte die junge Polizistin, die ein Jahr älter war als Sophie. Die beiden waren in den letzten Wochen beste Freundinnen geworden. Alex ging jetzt in denselben Kampfsportverein wie Sophie. Mehr noch: Sophie hatte sich überreden lassen, zusammen mit ihrem langjährigen Sparringspartner eine Gruppe zu übernehmen. Er als Trainer, sie als Co-Trainerin. Die Gruppe, zu der Alex gehörte.
Benjamin kannte Alex als fröhlichen, aufgeschlossenen Menschen. Warum ausgerechnet sie so viel Pech mit Männern hatte, war ihm unbegreiflich. Sie tat ihm leid.
„Wie lang wart ihr zusammen?“, hörte er Sophie fragen.
„Ungefähr sechs Wochen. Eigentlich nicht lange, für mich aber fast schon rekordverdächtig.“ Sie schniefte. „Irgendwas mache ich falsch mit Männern. Wenn ich nur wüsste, was!“
„Glaub ich nicht“, erwiderte Sophie. „Dir ist Mr. Right einfach noch nicht über den Weg gelaufen. Nur Geduld, irgendwann kommt er um die Ecke. Wahrscheinlich genau dann, wenn du überhaupt nicht damit rechnest.“
„Vielleicht hast du recht.“
„Bestimmt! Hauptsache, du bleibst dir treu und verbiegst dich nicht. Schon gar nicht für einen Mann!“
Käpsele trat mit Forsch aus der Küche und bat ihn, die Blumen, die nun in einer Vase aus Glas steckten, auf den Couchtisch zu stellen. Käpsele selbst stellte den Pokal auf seinen Regalplatz zurück, nicht ohne noch einmal mit einem Handtuch darüber zu polieren und den Kopf zu schütteln. Dann bot er seinen Gästen einen Aperitif an.
Einen Martini und zwei Gläser Weißwein später, in der Pause zwischen Hauptgang und Dessert, fühlte sich Benjamin richtig wohl. Nach dem chaotischen Auftakt hatte der Abend eine harmonische Wendung genommen. Das leckere Essen im Magen zusammen mit dem Alkohol im Kopf bescherten ihm ein Gefühl tiefster Zufriedenheit. Schon eine ganze Weile lauschte er den Gesprächen, ohne sich selbst daran zu beteiligen.
„Bei dem wunderbaren Wetter möchte man dauernd spazieren gehen.“ Forsch im Small Talk Modus.
„Ja, es ist viel zu mild für die Jahreszeit“, sagte Alex. „Wie lange geht das schon so?“
Benjamin wurde es etwas zu seicht. „Ich glaube, es ist der neunte zu warme Monat in Folge. Das letzte Jahr war das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Der Planet hat sich total aufgeheizt und es wird immer schlimmer.“
„Sie müssen es wissen, Herr Neumann“, sagte Käpsele. „Als Mitarbeiter einer Firma, die sich unter anderem mit dem Klimawandel beschäftigt, sitzen Sie ja direkt an der Quelle.“
„Schon, aber die Daten sind öffentlich zugänglich und es wird auch darüber berichtet.“
„Was halten Sie vom Münchner Klima-Kriseninterventionsteam, Herr Neumann?“
„Ich teile die Ziele zu einhundert Prozent. Das geforderte Tempo in der Umsetzung halte ich für notwendig und illusorisch zugleich. Jedoch sind die Methoden, mit denen das KlimaKIT auf sich aufmerksam macht, grob fahrlässig und schaden letztendlich dem Klimaschutz. Die Organisation sollte mal einen Marketingkurs machen.“
„Bitte erläutern Sie das!“
„Man kann die Leute nicht für eine Sache gewinnen, indem man sie vor den Kopf stößt und ihnen mit Vorschriften und Verboten kommt.“
Sophie, die bisher geschwiegen und am Alkohol nur genippt hatte, weil sie so wenig vertrug, fragte mit zusammengekniffenen Augen: „Jetzt mal Klartext, Herr Käpsele: Warum sind wir hier?“
Dienstag, 12. März, ca. 21:15 Uhr; noch 60 Tage
Käpseles Adamsapfel hüpfte. Er kaute auf seiner Unterlippe und sah Sophie tief in die Augen. Alex Kühn starrte angespannt auf einen Fleck auf der Tischdecke. Forsch blickte mit erwartungsvoller Miene zu Käpsele hinüber. Plötzlich war es so still, dass man das Husten der Teppichmilben hätte hören können. Benjamin fröstelte, weil er instinktiv spürte, dass dies ein entscheidender Augenblick sein würde. Vielleicht eine Zeitenwende für ihn und Sophie, wenn man sich der Sprache des Kanzlers bedienen wollte.
„Ich habe Sie heute Abend zum Essen eingeladen, aber nicht nur“, erklärte Käpsele langsam und bedächtig, fast staatsmännisch. Nur sein Akzent wollte nicht so recht dazupassen. „Ich möchte Sie auch zur Zusammenarbeit bewegen. Wir ermitteln nämlich gegen das KlimaKIT und kommen auf normalem Weg nicht weiter.“
„Aha“, sagte Forsch. „Was liegt gegen die Gruppe vor? Der Unfall auf der Autobahn vor gut drei Wochen?“
„Genau der. Das war Diebstahl, Brandstiftung, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Nötigung, schwere Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge in vier Fällen. Wir wissen, dass es das KlimaKIT war – schließlich hat sich die Gruppe dazu bekannt – aber wir wissen nicht, welche Personen an der Tat beteiligt waren. Die einen geben vor, von nichts gewusst zu haben, die anderen haben sich abgesprochen und verweigern die Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Alle! Kompliment an den Strafverteidiger!“
„Und denen ist nicht beizukommen?“, fragte Forsch.
„Bis jetzt nicht. Wir wissen nicht, wer die Autos gestohlen hat, mit denen die Autobahn blockiert wurde. Wir wissen nicht, wer sie gefahren und in Brand gesetzt hat. Und wir wissen auch nicht, wer in die Planung involviert war.“
„Keine Aufnahmen von Verkehrsüberwachungskameras oder Handys?“, fragte Sophie.
„Nichts“, antwortete Alex. „Es gibt zwar Bildmaterial, aber die Täter waren maskiert und trugen weite Kleidung, sodass die Figur darunter verborgen blieb. Man kann nicht einmal erkennen, ob Mann oder Frau! Außerdem hat die Rauchentwicklung die Sicht beeinträchtigt.“
„Wie können wir der Polizei helfen?“, fragte Forsch.
„Wir möchten jemanden in die Gruppe einschleusen“, antwortete Käpsele. „Aufgrund des Alters – die Aktivisten sind alle zwischen zwanzig und Anfang dreißig – der Qualifikation und Verfügbarkeit kommt dezernatweit nur Alex infrage. Weil sie mit anderen Aufgaben betraut war, ist sie noch niemandem persönlich begegnet, sodass auch in dieser Hinsicht nichts gegen einen Einsatz sprechen würde.“
„Und?“, drängelte Forsch.
„Ich hätte gerne ein Back-up“, antwortete Alex. „Eine Person, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann und die der Aufgabe gewachsen ist. Ich denke dabei an dich, Sophie!“
„Was?“ Sophie riss die Augen auf, die Kinnlade fiel herunter.
Forsch wedelte abweisend mit dem Zeigefinger. „Geht gar nicht!“
„Ihr seid ja nicht ganz sauber!“, platzte Benjamin heraus. „Bloß weil Sophie einmal für die Polizei die Kastanien aus dem Feuer geholt hat, macht sie das nicht wieder.“
„Nach meiner Einschätzung ist der Einsatz ungefährlich.“ Käpsele gestikulierte beschwichtigend mit nach unten geneigten Handflächen.
„Wozu brauchen Sie dann Sophie?“, fragte Benjamin.
„Vier Augen sehen und vier Ohren hören mehr als zwei!“
„Und vier Fäuste schlagen besser als zwei, oder?“, fragte Forsch.
„Ja, das auch“, räumte Käpsele ein, „aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird.“
Forsch winkte kopfschüttelnd ab.
„Und es würde sich für Sie lohnen.“ Käpsele blickte Forsch direkt ins Gesicht. „Sie säßen direkt an der Quelle. Eine gute Story ist quasi garantiert.“
„Zu gefährlich, vergessen Sie’s. Als Sophies Chef unterliege ich der Fürsorgepflicht, wie Sie wissen.“
„Natürlich, und es ehrt Sie, dass Sie das Thema ernst nehmen. Jedoch in diesem Fall können Sie es verantworten, wie ich finde. Ein Maximum an Chancen bei minimalen Risiken.“
„Darf ich mitreden oder bin ich nur Verhandlungsmasse?“, klinkte sich Sophie ein. In ihrer Stimme lag eine gewisse Schärfe.
„Verzeihen Sie, natürlich!“, antwortete Käpsele mit entschuldigendem Augenaufschlag. „Um Sie geht es ja. Können Sie sich einen solchen Einsatz vorstellen?“
„Dafür muss ich erst mehr wissen. Was wäre das Ziel der Aktion?“
„Sie sollen zusammen mit Alex herausfinden, welche Personen an der Aktion auf der Autobahn beteiligt waren und wie deren Beteiligung aussah. Das ist alles, mehr nicht.“
„Das wird vor Gericht kaum Bestand haben.“ Benjamin, der Sohn eines Richters. Ihm gefiel die Geschichte überhaupt nicht.
„Wir könnten die Front des Schweigens durchbrechen“, erklärte Alex. „Dann hätten wir eine Angriffsfläche und könnten einen Spalt in die Gruppe treiben. Und wenn einer anfängt zu reden, löst das einen Dominoeffekt aus. Dann haben wir sie.“
„Wir sollen uns in eine Gruppe fanatischer Klimaterroristen einschleusen, um sie auseinanderzunehmen?“ Sophie warf Alex einen durchdringenden Blick zu, während sie sprach. „Und das soll ungefährlich sein? Alex, weißt du eigentlich, was du da sagst? Die haben eine Familie auf dem Gewissen!“
Sie drehte sich zu Käpsele. „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung! Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Käpsele!“
„Halt, stopp! Lassen Sie mich hier etwas klarstellen. Das Bild des KlimaKITs in der Öffentlichkeit entspricht nicht der Realität. Hier wurde viel Politik gemacht und Mist ausgekippt! Die Gruppe hat sich zur Tat bekannt und gleichzeitig ihr tiefstes Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass Menschen getötet und verletzt wurden.“
„Das kann jeder sagen“, entgegnete Forsch.
„Schon, aber die Organisation hat auch versprochen, in Zukunft von Straßenblockaden abzusehen und bei künftigen Aktionen umsichtiger zu sein. So reagieren keine Terroristen.“ Käpsele blickte in die Runde. „Trotzdem müssen die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Das sind wir den Opfern schuldig.“
„Stimmt das, Benjamin?“, fragte Sophie.
„Ja, absolut. Flush the zone with shit!, hat der ehemalige Tumb-Berater Steven Banner gesagt. Damit umriss er seine Strategie, den öffentlichen Diskurs mit Fake News zu überschwemmen und zu beeinflussen. Genau diese Strategie können wir auch im Zusammenhang mit dem KlimaKIT beobachten.“
„Das stimmt schon“, räumte Forsch ein. „Ein schönes Beispiel ist das Unwort Klimaterrorist, weil es das Engagement für Klimaschutz mit Terrorismus gleichsetzt und dadurch kriminalisiert. Der Unfall war natürlich ein gefundenes Fressen.“
Sophie starrte mit zusammengekniffenen Lippen auf den Tisch. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Klare Zeichen, dass sie sich schämte und wütend auf sich selbst war. Benjamin nahm sie in den Arm, um sie zu trösten.
„Ich muss cooler werden und besser auf meine Sprache achten“, sagte sie mit belegter Stimme. „Wegen der getöteten Familie ist der Gaul mit mir durchgegangen.“ Dann atmete sie tief durch und straffte die Schultern.
„Wärst du grundsätzlich an der Geschichte interessiert, Max?“, fragte sie.
„Ja klar, sehr sogar, so dicht dran … das wäre eine echte Gelegenheit.“
„Okay, ich mach’s, wenn Benjamin einverstanden ist.“
„Was, auf einmal? Ich soll das jetzt entscheiden?“ Benjamin fühlte sich überrumpelt.
„Ja, so hatten wir es ausgemacht. Keine Alleingänge mehr, nachdem ich beim letzten Mal fast auf die Nase gefallen wäre und dich mitgerissen hätte.“
Benjamin spürte einen Schwall Liebe in sich aufsteigen. Seine Sophie, besser hätte er es nicht treffen können!
„Hältst du die Aktivisten für gefährlich?“, fragte sie.
„Nein, nicht wirklich. Das sind idealistische junge Leute. Zwar ist mit einigen Eiferern zu rechnen, doch mit denen werdet ihr schon fertig. Also meinetwegen, mach es. Aber ich möchte, dass du mich auf dem Laufenden hältst und die Sache abbrichst, sobald es wider Erwarten doch gefährlich werden sollte.“
„Abgemacht!“ Sie umarmte ihn und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Sein Blick fiel zufällig auf Alex, die sie mit trauriger Miene beobachtete. Er spürte einen Stich im Herzen und ihm wurde klar, dass sie das einzige Paar in der Runde waren. Alex hatte Liebeskummer wegen der Trennung. Käpsele und Forsch waren schon länger Singles. Ob freiwillig oder nicht, das wusste er nicht. Dann ließ Sophie von ihm ab und die Situation war vorüber.
Käpsele ergriff das Wort. „Es wäre auch aus operativer Sicht wichtig, dass Sie, Herr Neumann, immer auf dem neuesten Stand der Ermittlungen sind. Ich könnte mir vorstellen, dass wir situativ von Ihrer Expertise in ökologischen Fragen profitieren könnten“.
„Ich kann gerne beratend unterstützen, aber nur extern. Ein Engagement an vorderster Front ist mit meinem Job unvereinbar.“
„Sophie, ich möchte, dass du weißt, dass du das nicht tun musst“, sagte Forsch und hob mahnend die Hand. „Ich werde auch andere Themen finden, über die ich berichten kann.“
„Ja, das weiß ich.“
„Warum dann? Was treibt dich an?“
„Ich möchte die Verantwortlichen vor Gericht sehen und damit die Klimaschutzbewegung als Ganzes entlasten. Und ich möchte, dass die Wahrheit unter all dem Mist ans Licht kommt.“
„Nicht jeden interessiert die Wahrheit“, warf Benjamin ein.
„Schon klar. Aber die Mehrheit interessiert sich doch dafür. Und diesen Leuten möchte ich die Möglichkeit geben, sich eine auf Fakten basierende Meinung zu bilden.“
„Gut, Frau Taff, dann händige ich Ihnen Dossiers mit Lichtbild von allen wichtigen KlimaKIT-Mitgliedern aus“, sagte Käpsele. „Bitte arbeiten Sie diese morgen durch und prägen Sie sich die wesentlichen Merkmale ein. Alles Weitere klären Sie bitte direkt mit Alex.“
Samstag, 16. März, kurz vor 14 Uhr; noch 56 Tage
Sophie traf sich mit Alex am S-Bahnhof Germsbach. Sie hatten sich für den 14-Uhr-Zug verabredet, um an der Demonstration teilzunehmen, die eine Stunde später am Marienplatz beginnen sollte.
Anlass der Demo war der erneute Versuch des Finanzministers, Anstrengungen beim Klimaschutz durch Kürzungen im Sozialbereich gegenzufinanzieren. Ein breites Bündnis aus Sozial- und Umweltverbänden hatte zum Protest gegen die Pläne aufgerufen. Auch das KlimaKIT gehörte zu den Organisatoren. Sophie und Alex wollten versuchen, über die Teilnahme an der Demo einen Kontakt herzustellen.
Am Tag nach dem Abendessen bei Käpsele hatte sich Sophie durch die übergebenen Dossiers gearbeitet und sich die Gesichter eingeprägt. Sie wollte Alex, die einen Wissensvorsprung durch ihre polizeiliche Ermittlungsarbeit hatte, eine ebenbürtige Partnerin sein.
Nach dem Crashkurs hatte sie sich von Benjamin abfragen lassen. Er war ein strenger Prüfer und hatte nicht einen Aktivisten nach dem anderen abgefragt, sondern wild durcheinander, von einem das Geburtsdatum, von der anderen das Studienfach oder den Wohnort. Erst als Sophie keine Fehler mehr gemacht hatte, war er zufrieden gewesen. Sie hatte es verinnerlicht. Wahrscheinlich war die Information sogar in ihren Genen gespeichert.
Jetzt, in der S-Bahn zur Demo am Marienplatz, grinsten sich die beiden Frauen an. Sophie spürte, dass Alex genauso nervös war wie sie. Und genau dieses gegenseitige Verständnis ohne große Worte schuf Vertrauen. Sophie war überzeugt, dass sie ein super Team waren.
Als sie auf dem Marienplatz ankamen, war vor dem Münchner Rathaus schon die Hölle los. Die letzten Transparente wurden ausgerollt und Neuankömmlinge suchten in dem Durcheinander die Gruppe, zu der sie gehörten. Auch Sophie und Alex hielten Ausschau, um sich in der Nähe des KlimaKITs zu positionieren. Alex, fast einen halben Kopf größer als Sophie, entdeckte sie zuerst. „Ich habe ein Transparent gesehen“, sagte sie und wies den Weg durch die Menschenmassen. Kurz darauf erspähte Sophie es auch. KlimaKIT für sozial gerechten Klimaschutz stand darauf. Es war ein eher kleines Banner.
Punkt 15 Uhr ging es los. Mehrere Redner auf einem Podium traten nacheinander ans Mikrofon, kritisierten Politiker und formulierten Forderungen, die einen auf der emotionalen, die anderen auf der rationalen Ebene. Vom KlimaKIT trat keiner ans Rednerpult. Sophie vermutete, dass die Gruppe nach der missglückten Aktion mit dem Unfall keine weitere Angriffsfläche bieten wollte und sich zurückhielt. Dazu passte auch das unspektakuläre Transparent.
Nach den Reden setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. An der Spitze fuhren zwei Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Martinshorn. Auch an den Seiten standen Polizisten mit Schildern und Schlagstöcken in Gruppen zusammen und beobachteten das Geschehen.
„Kennst du einen von denen, Alex?“, fragte Sophie.
„Nein, bis jetzt nicht. Und ich hoffe, dass es auch so bleibt.“
Klar, ein herzliches Hallo unter Kollegen wäre jetzt total kontraproduktiv. Deshalb hält sich Alex immer vom Rand fern und wendet ihr Gesicht zur Mitte hin! Sie hatten die Situation definitiv nicht unter Kontrolle. Das machte Sophie nervös.
Sie ließen sich ins KlimaKIT hineintreiben und skandierten die von Vorsängern initiierten Parolen. Nur nicht auffallen! Mit den propagierten Zielen konnte sich Sophie durchaus anfreunden. Auch sie war für Klimaschutz. Und für soziale Gerechtigkeit sowieso, denn in ihrer Kindheit hatte sie am eigenen Leib erfahren, was Armut bedeutet.
Sophie erkannte einige aus den Dossiers wieder. Gerade ging sie neben Niklas Bär. Groß, blond, Bauchansatz, die Jacke über die Schulter gelegt.
„Hallo, Alex!“, rief plötzlich jemand in ihre Richtung. Sophie fuhr herum. Oh nein, jetzt fliegen wir auf! Doch der heftig winkende Rufer war kein Polizist. Ein Mann in der Nähe fühlte sich angesprochen und winkte zurück. Entwarnung!
Sophie blickte zu Alex, die mit geblähten Backen ausatmete. Sie war ganz blass geworden. Auch ihr war der Schreck in die Glieder gefahren.
Sie erreichten den Königsplatz, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Eine Vertreterin der Ökologischen Partei sprach von einer ökologischen Transformation mit sozialem Ausgleich, um die Teilhabe – und damit die Akzeptanz – der gesamten Bevölkerung sicherzustellen, ohne die das gesamte Projekt bereits von Beginn an … der Satz nahm einfach kein Ende.
„Bla, bla, bla, typisch Politikerin“, entfuhr es einem hochgewachsenen Typen mit schwarzem Wuschelkopf und Kippe im Mundwinkel, der in Sophies Nähe stand. Dabei fuchtelte er mit den Armen. Robert Delarue, laut Dossier Saarländer, 26 Jahre, studierte jedes Semester ein anderes Fach. Sie versuchte, etwas Abstand zu ihm aufzubauen, weil sie seinen Gestank nach Zigaretten nur schwer ertragen konnte. Außerdem war ihr der Typ äußerst unsympathisch. Sie sortierte ihn als Primärkontakt aus.
„Wird die auch mal etwas konkreter?“, fragte Alex den neben ihr stehenden Niklas Bär.
„Ich fürchte, nein. Sie hat zwar recht mit dem, was sie sagt, aber mitreißend geht anders. Und mit ihrem elaborierten Code erreicht sie auch nicht alle Teile der Bevölkerung. Sie wird ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht.“
„Hä?“
„Siehst du, genau das meine ich. Wenn man akademisch spricht anstatt deutsch, erreicht man auch nur Akademiker.“
„Ah, danke fürs Übersetzen.“
„Gern geschehen. Du bist aber nicht oft auf Demos, sonst würdest du sie kennen.“ Niklas lächelte Alex an.
„Das stimmt.“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Aber es ist höchste Zeit, laut zu werden, nach allem, was passiert ist.“
„Sonst gehört man zur schweigenden Mehrheit, von der die anderen behaupten, sie zu vertreten“, sagte Sophie, die den Dialog verfolgt hatte.
„Das ist übrigens meine Freundin Sophie. Und ich bin Alex.“
„Niklas!“ Er reichte den beiden Frauen die Hand. Ganz klar von der alten Schule, erkannte Sophie.
„Ihr habt es wahrscheinlich schon mitbekommen, wir hier sind das KlimaKIT“, sagte er. „Hättet ihr nicht Lust, nachher noch zu uns zu kommen? Es gibt Tee, Kaffee, Kuchen und Kekse. Und abends können wir noch Pizza bestellen.“
Bingo!
Samstag, 16. März, ca. 17:30 Uhr; noch 56 Tage
„Für den Finanzminister ist Klimaschutz schlecht für die Wirtschaft“, sagte eine rothaarige Frau mit Nasenpiercing und einer dampfenden Tasse in der Hand. Sie pustete und erzeugte kleine Wellen auf dem Tee. Die bildhübsche Frau war mittelgroß, schlank und augenscheinlich Schmuckfetischistin. Sophie entdeckte Ähnlichkeiten mit der Schauspielerin Scarlett Johansson. Jana Tannecker, 22, Influencerin und das Gesicht des KlimaKITs in der Öffentlichkeit, rekapitulierte sie.
Sie saßen um einen Couchtisch in einer Art Wohnzimmer, das zu den Gruppenräumen des KlimaKITs gehörte. Eine einfache Dreizimmerwohnung in einem unsanierten Altbau. Es roch nach Kaffee – und kaltem Rauch, obwohl ein großes Nichtraucherschild an der Eingangstür prangte.
„Darum möchte er die Kosten der Energiewende einseitig auf den Schultern der Arbeitnehmer abladen“, fuhr Jana Tannecker fort.
Niklas Bär legte ein Stück Kuchen auf seinen Teller. „Für die Gutverdiener sind die Mehrbelastungen Peanuts. Die Armen jedoch können die Ausgaben kaum stemmen und lehnen die Maßnahmen daher ab. Infolgedessen wird Klimaschutz insgesamt abgelehnt.“
„Und weil das alles noch nicht reicht, als Tüpfelchen auf dem i die Gegenfinanzierung der Klimaschutzmaßnahmen durch Kürzungen im Sozialbereich.“
„Er unterminiert die Akzeptanz der Klimaziele, treibt einen Keil in die Gesellschaft, und er macht dies ganz bewusst. Typische Klientelpolitik.“
„Wollt ihr euch nicht an der Diskussion beteiligen?“, fragte Robert Delarue und warf Sophie und Alex einen lauernden Blick zu. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
„Kippe aus!“, fuhr ihn Niklas an. „Wie oft denn noch? In unseren Räumen wird nicht geraucht!“
„Jawoll, Herr Oberrauchbannführer!“, antwortete Robert zackig und salutierte. Die Zigarette warf er in eine Tasse, wo die Glut zischend in einem Teerest erlosch.
„Ja genau, wie denkt ihr denn darüber?“, fragte Jana Sophie und Alex.
Die beiden hatten Anweisung, sich unauffällig zu verhalten und eine gemäßigte Meinung zu vertreten. Keinesfalls sollten sie in den Verdacht geraten, Straftaten provoziert zu haben. Das hatten die Behörden aus dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren gelernt, als V-Leute ihrem Job so gründlich nachgegangen waren, dass sie selbst zu Tätern geworden waren.
„Ich finde das Rauchverbot gut“, antwortete Sophie, wohl wissend, dass es nicht das war, was Jana interessierte.
Jana grinste. „Vielleicht verratet ihr mir wenigstens eure vollen Namen, wenn ihr euch nicht politisch festlegen wollt?“
Auf diese Frage waren sie vorbereitet, aber warum wurde sie schon jetzt, in der Kennenlernphase, gestellt? Die Nachnamen spielten eigentlich gerade keine Rolle, oder? Hatten sie sich verdächtig gemacht oder waren die Leute einfach nur vorsichtig?
Die Polizei hatte Sophie und Alex mit Tarnidentitäten in der analogen und digitalen Welt ausgestattet. Sie hatten Ausweise, Kreditkarten und Führerscheine mit neuen Namen und neue Netzidentitäten erhalten. Die Dokumente wiesen je nach Ausstellungsdatum sogar altersbedingte Gebrauchsspuren auf. Allerdings hatte man nur die Nachnamen geändert und die Rufnamen beibehalten, um Versprechern vorzubeugen.
Wie Sophie zwischenzeitlich erfahren hatte, hatte Käpsele, weil die Zeit drängte, alles schon vor der Einladung zu dem denkwürdigen Abendessen in die Wege geleitet. Er war sich also ziemlich sicher gewesen, dass er sie an den Haken kriegen würde. So ein Schlitzohr! In ihren Gedanken hatte sie Janas Frage vergessen. Zum Glück sprang Alex ein.
„Ich bin Alex Kern und das hier ist meine Freundin Sophie Tosta!“
„Italienerin?“, fragte der Prototyp eines unauffälligen Mannes und sah Sophie an. Volker Traut, laut Dossier 28 Jahre.
„Halb deutsch, halb italienisch“, sagte sie. Ihre Coverstory gab das her. Gemäß der Erkenntnis, dass eine gute Lüge möglichst nahe an der Wahrheit gebaut ist, hatte man nur so viele Anpassungen wie nötig vorgenommen.
„Natürlich spielt der Finanzminister Klima und Soziales gegeneinander aus“, sagte Alex. Damit lag sie genau in der Vorgabe, unter dem Radar zu fliegen und eine gemäßigte, unauffällige Meinung zu vertreten.
Sophie wollte nicht ganz so lahm rüberkommen und zeigen, dass sie sich schon Gedanken gemacht hatte.
„Der Finanzminister hat nur die Schuldenbremse im Kopf. Dabei übersieht er folgenden Punkt: Will er künftigen Generationen keine finanziellen Schulden hinterlassen, darf er keine ökologischen Schulden anhäufen. Denn die sich daraus ergebenden finanziellen Belastungen übersteigen unsere Vorstellungkraft bei weitem.“
„Aber genau das verstehen viele nicht“, sagte Jana.
„Genauso wie unsere Aktionen nicht verstanden werden“, rief Robert. Seine dunklen Augen funkelten.
„Unsere letzte Aktion ist ja auch gründlich daneben gegangen“, entgegnete Niklas. „Das darf uns nie wieder passieren. Wir müssen überlegter vorgehen, eine Risikoabschätzung machen.“
„Risikoabschätzung, papperlapapp!“ Robert fuchtelte mit den Armen.
„Bei Autobahnblockaden gibt es immer ein Stauende“, bekräftigte Niklas. „Das ist zu gefährlich, Robespierre!“
Robespierre, der Nickname könnte passender nicht sein, fehlt aber in den Dossiers, erkannte Sophie. Niklas und Robespierre konnten sich definitiv nicht leiden. In ihrem Streit vergaßen sie die beiden Neuen und redeten Klartext. Sophie wähnte sich auf einem guten Weg, den Fall bald abschließen zu können.
„Wir müssen die Leute aufrütteln. Lahme Aktionen bringen nichts! Und wo gehobelt wird, da fallen Späne!“ Robespierre, wer sonst.
„Du kannst gut reden“, sagte Jana äußerlich ruhig. „Du bist nicht mit der Familie im Auto gesessen.“
„Wir sind ein KIT, ein Kriseninterventionsteam, vergesst das nicht. Kollateralschäden kommen vor. Davon dürfen wir uns nicht aufhalten lassen. Wenn wir nichts tun, wird der Klimawandel viel mehr Opfer fordern.“
Niklas, mit hochrotem Gesicht, winkte ab, stand auf und ging in die Küche. Alex folgte ihm.
„Wie denkst du darüber, Sophie?“, fragte Jana.
„Eure Autobahnaktion war eine Katastrophe. Für die Familie, die gestorben ist, für den Lastwagenfahrer, der immer noch als körperliches und seelisches Wrack in Behandlung ist, für euer Image und damit auch für eure Ziele. Wie seid ihr nur darauf gekommen?“ Am liebsten hätte sie gefragt, wer darauf gekommen war, aber das wäre zu auffällig gewesen.
„Was bist du?“, fragte Robespierre. „Psychologin, Marketingtante oder von den Zeugen Jehovas?“
„Wieso, sie hat es doch genau auf den Punkt gebracht“, sagte der unauffällige Volker.
„Pfff!“ Robespierre verzog sein Gesicht.
„So, jetzt reicht’s“, rief Jana mit energischer Stimme. „Du kehrst sofort auf die Sachebene zurück, Robespierre!“
Doch der Angesprochene griff nach einer Zigarette, die er sich im Gehen anzündete, und verließ die Wohnung.
Sophie hatte den Eindruck, dass sich die Stimmung sofort entspannte und wollte die Situation nutzen. „Hatte er die Idee mit der Blockade am Irschenberg?“
Die Frage war ein Fehler, das spürte sie sofort. Plötzlich war es totenstill und alle Augen ruhten auf ihr. Mist! Ich bin einfach keine ausgebildete Ermittlerin.
„Es war unsere Idee“, antwortete Jana zögernd und blickte Sophie forschend an.
Donnerstag, 21. März, ca. 8 Uhr; noch 51 Tage
Benjamin war wach geworden, streckte sich und sah zu Sophie hinüber. Auch sie begann, sich zu räkeln und gähnte. Er beugte sich zu ihr.
„Guten Morgen, mein Schatz“, flüsterte er in ihr Ohr. „Alles Gute zum 24. Geburtstag!“
„Guten Morgen, das ist ja lieb. Magst du mich überhaupt noch, so alt wie ich jetzt bin?“
Statt einer Antwort schob er ihr Nachthemd hoch und begann, sie am ganzen Körper zu küssen. Ihre Atemzüge wurden tiefer, schließlich mischte sich ein wohliges Stöhnen darunter. Sie wölbte ihren Körper seinen Lippen entgegen.
Plötzlich stoppte er seine Aktivitäten. „Wird dir das nicht zu viel in deinem Alter?“
„Mach ganz langsam und vorsichtig, dann wird es schon gehen“, hauchte sie.
Später nutzten sie das herrliche Frühlingswetter für eine Radtour in die nähere Umgebung. Dabei wurde Sophies Trekkingbike eingeweiht. Benjamin war glücklich zu sehen, wie viel Freude ihr das neue Velo bereitete. Schließlich war es sein Geschenk für diesen besonderen Tag. Ein mit ihm befreundeter Fahrradhändler hatte es speziell auf ihre Bedürfnisse zusammengestellt und angepasst.
„Du spinnst, das ist viel zu teuer“, hatte sie gesagt, als sie den Endpreis gesehen hatte. „Das kann ich unmöglich annehmen.“
Doch er hatte sie überredet, und das Ergebnis genossen sie nun beide.
Nachmittags läutete das Telefon. Sophie ging ran. „Ciao Mama.“ Benjamin verstand nicht viel, denn wie üblich sprachen die beiden Frauen italienisch miteinander.
„Ich soll dich von meiner Mutter schön grüßen“, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
„Danke. Hast du ihr gesagt, dass wir beide frei haben und zu Hause sind?“
„Nein, keine Ahnung, woher sie das wusste.“
Ihre Mama wusste irgendwie immer alles. Benjamin war schleierhaft, wie das funktionierte und war sich nicht sicher, ob da immer alles mit rechten Dingen zuging. Und es ärgerte ihn, dass seine Eltern so wenig Interesse an seiner Freundin zeigten. Sie würden wieder nicht anrufen, davon war er überzeugt.
Als er für den Abend mit Käse gefülltes Blätterteiggebäck vorbereitete, fragte Sophie: „So viel und nur von dem einen Zeug?“