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"Egal wie es läuft, du verlierst immer!" Sophie Taff ist Mädchen für alles bei einem Enthüllungsjournalisten. Plötzlich sitzt ihr Chef wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft, doch Sophie ist von seiner Unschuld überzeugt. Während sich die Ermittlungsbehörden schon früh festlegen, ermittelt sie auf eigene Faust, um den wahren Mörder zu finden und ihren Chef aus dem Gefängnis zu holen. Schnell stellt sie fest, dass es sich nicht um einen Einzeltäter, sondern um eine mächtige Organisation handelt, die alle Fäden in der Hand zu halten scheint. Sie kommt den Verbrechern gefährlich nahe und gerät in eine Situation, in der jeder Fehler den Tod bedeuten kann. Bei einem Schlagabtausch muss sich Sophie nicht nur ihren äußeren, sondern auch ihren inneren Dämonen stellen. Leserstimmen: "Sophie ist eine tolle Frau, mit der ich mich von Anfang an sehr gut identifizieren konnte. Die Spannung ist teils unerträglich. Durch die kurzen Abschnitte entstand ein regelrechter Leserausch. Ein sehr gelungener, spannender Thriller, mit realen Ereignissen." thrillerwelt.books "Ein tolles, spannendes Buch. Gerade ausgelesen. Der Thriller "Blind Date mit der Hölle" ist absolut spannend und packend geschrieben. Die Story fesselt den Leser sofort und man kann das Buch kaum aus der Hand legen. Super!" Andrea66b "Es wird sehr bildlich und gut vorstellbar beschrieben. Besonders in Sophie findet man sich sehr schnell und gut hinein. Geschickt werden hier auch aktuellen Themen von Politik und Umweltschutz mit eingebaut. Die Charaktere sind gut durchdacht und haben ihre Eigenheiten. Sophie finde ich sehr stark und habe gern an ihrer Seite gekämpft und gebangt. Man ermittelt und leidet mit und auch Passagen, die zum Nachdenken anregen, sind hier vorhanden. Ein packender Thriller, der es psychisch in sich hat und bei dem man als Leser nah am Geschehen dabei ist." claudia.reinlaender
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Kampflos kneifen wäre Verrat an ihrem Chef, an der Gesellschaft und an sich selbst. Nie könnte sie sich das verzeihen.
Sophie Taff ist Mädchen für alles bei einem Enthüllungsjournalisten. Plötzlich sitzt ihr Chef wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft, doch Sophie ist von seiner Unschuld überzeugt. Während sich die Ermittlungsbehörden schon früh festlegen, ermittelt sie auf eigene Faust, um den wahren Mörder zu finden und ihren Chef aus dem Gefängnis zu holen. Schnell stellt sie fest, dass es sich nicht um einen Einzeltäter, sondern um eine mächtige Organisation handelt, die alle Fäden in der Hand zu halten scheint.
Sie kommt den Verbrechern gefährlich nahe und gerät in eine Situation, in der jeder Fehler den Tod bedeuten kann. Bei einem Schlagabtausch muss sich Sophie nicht nur ihren äußeren, sondern auch ihren inneren Dämonen stellen.
Wolfgang B. Engel, Jahrgang 1966, ist Diplom-Physiker und arbeitete als Projektingenieur im Automotive- und Luftfahrtbereich. 2019 drängte sich seine kreative Ader in den Vordergrund und fand ihren Ausdruck im Schreiben. Nach seinem Debüt „Probezeit – Falsches Spiel“ ist „Blind Date mit der Hölle“ sein zweites Buch.
Als Selfpublisher ist er auf die Unterstützung seiner Leser angewiesen und freut sich über Rezensionen auf den gängigen Verkaufsplattformen oder auf seiner Homepage: www.wolfgang-b-engel.de
Über das Buch:
Der Thriller Blind Date mit der Hölle ist der zweite Band einer Reihe um die Hauptfiguren Sophie Taff und Benjamin Neumann. Der erste Band Probezeit – Falsches Spiel ist 2022 bei BoD erschienen. Blind Date kann ohne Kenntnis von Probezeit gelesen werden.
Die Geschichte ist inspiriert von realen Ereignissen, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Denn täglich hören wir von gesellschaftlichen Strömungen, die unterschiedlichste Interessen verfolgen, aber ein gemeinsames Ziel haben: unser freiheitlich-demokratisches Wertesystem, das auf Menschenwürde und Toleranz basiert, abzuschaffen.
Dennoch: Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Keine der beschriebenen Personen oder Organisationen existiert wirklich, jede Ähnlichkeit wäre rein zufällig. Das gilt auch für die Gemeinde Germsbach, die stellvertretend für die Vororte im Münchner Speckgürtel steht.
Die Schauplätze in München hingegen entsprechen weitgehend der Realität, insbesondere die Architektur der Michaelskirche.
Noch ein Hinweis zu den verwendeten Namen: Haben Sie auf Seite 237 auch schon mal vergessen, wer Herr Schröder ist? Damit Ihnen das in dieser Geschichte nicht passiert, haben die meisten Personen Namen, die auf ihre Rolle hinweisen.
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
Frei nach einem berühmten Physiker
PROLOG
TEIL 1: DIE UNBEIRRBARE
GNADENLOS
BEZIEHUNGSKISTE
STÖRENFRIED I
ALTE FREUNDE
STÖRENFRIED II
ANTWORTEN
KRIEGSRAT
IM WALD
DAS VERSPRECHEN
ERMITTLUNGSTAKTISCHE GRÜNDE
ZWISCHEN IRIS UND JASMIN
NACHLESE
SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND
AUSGETRICKST
SOPHIES SÜNDEN
FRAGEN ÜBER FRAGEN
VOGLSÄNGERS BOTSCHAFT
DER NATÜRLICHE FEIND
REISEPLANUNG
ZWISCHENBILANZ
MAMMA MIA!
TIEFERGELEGT
CRYPTO
DIE NEUE DEMOKRATIE
SPEZIALISTEN BEI DER ARBEIT
SCHADENSBEGRENZUNG
HAUSHALTSDEBATTE
DER KLEINE LÖWE
VERLUSTE
ALLES IST GUT
IM HAMSTERRAD
DER TERMIN
SACKGASSE
KOMMUNIKATION
BEZIEHUNGSKRISE
PHANTOM
UND EWIG STÖRT DAS GÖR
DER TIPP
SYSTEMWECHSEL
NEUE FREIHEIT
TEIL 2: ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN
IM VISIER
ANGST
NICHT ZU FASSEN
PLAN B
KONTAKTAUFNAHME
AM BODEN
TASKFORCE
SPANNUNG
DAS ZIELOBJEKT
ES WIRD ZEIT
ZUGRIFF
VORSICHT FALLE
RETTUNG MIT SCHUSS
LETZTE CHANCE
WUNDERSAME MEDIZIN
PEST ODER CHOLERA
GELDWERTER VORTEIL
UNMÖGLICHE ENTSCHEIDUNG
ÜBERGEORDNETE INTERESSEN
GANZ UNTEN
TEIL 3: LOSE ENDEN
SICHERHEITSABSTAND
MY HOME IS MY CASTLE
NEUSTART
NERVENBÜNDEL
GIPFELTREFFEN
ERLEDIGT
DER BERÜHMTE KLEINE FEHLER
EPILOG
ANHANG : STRATEGIEPAPIER DES BLIND
Mittwoch, 24. Mai, ca. 5:30 Uhr
Es ist schon komisch, sinnierte Alois Brunnhuber. Früher wollte ich bis zehn schlafen und musste mich für die Arbeit rausquälen. Und jetzt, seit ich in Rente bin und solang im Bett bleiben kann, wie ich will, treibt mich die Blase raus.
Danach konnte er nicht mehr einschlafen. Das frühe Aufstehen hatte jedoch auch sein Gutes, vor allem jetzt in der warmen Jahreszeit. Zwar wurde es schon hell, aber die Luft war noch frisch und die Temperaturen erträglich. Und man war noch allein im Wald, er und sein Findling. Fünf Jahre schon dauerte die Freundschaft zwischen ihnen. Damals, ein halbes Jahr, nachdem der Krebs ihm seine Erna genommen hatte, hatte er die Promenadenmischung, die keiner haben wollte, aus dem Tierheim geholt. Findling war ihm ewig dankbar. So ein lieber Hund.
Nach einer Biegung erreichten sie eine Stelle, an der das letzte Unwetter einen Baum entwurzelt und quer über den Waldweg gelegt hatte. Das war Brunnhuber neu. Er hatte diesen Weg schon länger nicht mehr genommen.
Vorsichtig näherten sie sich dem Hindernis. Plötzlich riss Findling wild kläffend an der Leine. Das macht er sonst nie, wunderte sich Brunnhuber und löste die Arretierung der Rollleine. Der Hund schoss los und sirrend wickelte sich die Leine ab. Nach einigen Metern blieb er vor einer Gruppe Sträucher abseits des Weges stehen und bellte wie verrückt. Überrascht vom merkwürdigen Verhalten seines Hundes folgte Brunnhuber dem Tier.
Zuerst sah er nur zwei Schuhe, die zwischen ein paar kümmerlichen Sträuchern hervorlugten. Brunnhuber stutzte. Da wird doch nicht ... Vorsichtig näherte er sich. Die zu den Schuhen gehörenden Beine wurden sichtbar, eine blutige Hand ragte zwischen Zweigen hervor. Brunnhuber hielt den Atem an, machte noch einen Schritt und beugte sich vor. Ein blutüberströmter Oberkörper, ein entstelltes Gesicht, Augen, die ins Leere starrten. So was Schreckliches hatte Brunnhuber sein ganzes Leben noch nicht gesehen.
Sein Mageninhalt schoss die Speiseröhre hinauf. Schnell wandte er sich ab und übergab sich. Als er sich wieder gefangen hatte, bemerkte er, dass sein Hund die Nöte seines Herrchens erkannt hatte und ihn winselnd mit seiner feuchten Schnauze stupste.
„Brav, Findling. Und jetzt sitz!“ Der Hund gehorchte aufs Wort. Brunnhuber wunderte sich über nichts mehr. Mit zitternden Händen zog er sein Smartphone aus der Gesäßtasche. Es entglitt ihm und fiel zu Boden. Er hob es auf und versuchte, den Notruf zu wählen, doch seine Finger wollten die Taste nicht treffen. Reiß dich zusammen! Schließlich schaffte er es. Doch nichts passierte. Brunnhuber starrte auf das Display. Kein Netz! Das durfte nicht wahr sein! Schnell machte er sich auf den Weg Richtung Zivilisation, um Empfang zu bekommen, bevor der Akku schlappmachte. Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte er endlich den Notruf absetzen.
Freitag, 26. Mai, kurz vor 19:30 Uhr
Der Mann griff erneut an. Mit festem Blick kam er auf sie zu und versuchte mit gestrecktem Arm, ihren Jackenkragen zu ergreifen. Sie erkannte seine Absicht, drehte sich weg und fegte mit beiden Händen seinen Arm zur Seite. Doch sie reagierte überhastet und ihre Hände glitten über den Arm des Angreifers hinweg. So erreichte die gegnerische Hand ihr Ziel, den Kragen. Typischer Anfängerfehler!, haderte sie mit sich.
Abgelenkt von ihrer Selbstkritik konnte sie nicht verhindern, dass der Angreifer auch mit der zweiten Hand ihren Kragen ergriff, diesmal die andere Seite. Oh nein! Für einen Moment stand der Mann mit gekreuzten Armen frontal vor ihr. Kragen und Arme bildeten eine Schlinge um ihren Hals.
Die Frau erwartete nun, dass er zuziehen und sie würgen würde. Als sie mit einem Bein ausholte, um ihm erst das Knie in den Unterleib zu rammen und dann seinen Griff zu sprengen, überraschte er sie, indem er neben sie trat, ihren Oberkörper nach hinten drückte und sie aus dem Gleichgewicht brachte. Dann schlug er mit seinem Bein ihr Standbein weg. Verdammt!, schoss es ihr durch den Kopf, als sie nach hinten fiel.
Immerhin gelang ihr eine halbwegs weiche Landung. Ihr Gegner kam auf ihr zu liegen und presste seinen Kopf an ihr Ohr. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Wehrlos lag sie auf dem Rücken und war dem Mann völlig ausgeliefert. Sie erwartete keine Gnade.
Dann zog er die Schlinge zu.
Freitag, 26. Mai, 19:30 Uhr, bis Samstag, 27. Mai
Augenblicklich wurde ihr schwarz vor Augen und sie musste husten. Sie klopfte auf die Bodenmatte. Sofort ließ der Angreifer von ihr ab.
„Wo warst du mit deinen Gedanken, Sophie?“, fragte Jackie Neuhaus, als sie beide wieder standen.
„Ach, ich weiß auch nicht.“ Sie ärgerte sich über die unnötige Niederlage. Zum Glück war sie beim Training und nicht auf der Straße.
„Mach dir nichts draus! Die beiden Kämpfe davor hab ich verloren. Wollen wir den Ablauf nochmal durchspielen?“
Bevor Sophie antworten konnte, rief der Trainer: „Feierabend, die Zeit ist um!“
Noch unter der Dusche analysierte sie die Fehler, die zu ihrer Niederlage geführt hatten. Zwar wurmte es sie, doch ihr war klar, dass Verlieren und Gewinnen zwei Seiten derselben Medaille sind. Und aus Niederlagen lernt man mehr als aus Siegen.
Sophie betrat das Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnte, und ging die Kellertreppe hinunter in die Waschküche, wo sie ihre Sporttasche ausräumte. Den weißen Kampfsportanzug und den schwarzen Gürtel hängte sie zum Lüften über eine der Wäscheleinen. Das Duschhandtuch landete zum Trocknen daneben, um am nächsten Tag in die Wäsche zu kommen. Dann ging sie nach oben in den dritten Stock zur Tür mit den Namen Taff und Neumann auf dem Klingelschild. Sie betrat die Wohnung.
Ein verführerischer Duft schlug ihr entgegen. Sie zog ihre Straßenschuhe aus und warf einen prüfenden Blick in den Wandspiegel. Sie war zufrieden mit sich. Ihr vom Sport noch frischer Teint wurde umrahmt von ihrem glänzenden, fast schwarzen Haar, das sich lockte, wie immer, wenn es feucht war. Später, wenn es trocken war, würde es nur noch leicht gewellt sein. Sie schüttelte ihre Mähne, und kurz blitzten die Kreolen hervor. Sie mochte die Ohrringe mit den eingearbeiteten Smaragden, die genau die Farbe ihrer Augen hatten. Eigentlich hatte sie es nicht so mit Schmuck und Schminke, trug meist nur ihre Halskette mit dem Amulett von ihrer Großmutter und einen dezenten Lidstrich, aber heute hatte sie sich besonders hübsch gemacht. Schließlich stand das Wochenende vor der Tür und sie konnten morgen ausschlafen.
Sie ging in die Küche, wo ihr Freund Benjamin gerade am Herd etwas brutzelte. Er trug eines seiner kurzärmligen, karierten Button-down-Hemden, die er gerne in die Arbeit anzog. Darüber hatte er die Kochschürze mit den verschiedenen italienischen Nudelsorten gezogen, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
Sie begrüßten sich mit einem schnellen Kuss auf die Lippen. Dann sagte Benjamin, der sich wieder den dampfenden Töpfen und Pfannen widmete: „Du kommst gerade recht, das Abendessen ist gleich fertig.“
„Prima, ich habe richtig Kohldampf. Das riecht ja lecker! Was hast du uns denn Gutes gekocht?“
„Es gibt Putenbrust toskanische Art, also mit Salbei, Rosmarin und Thymian gewürzt, dazu Salzkartoffeln und angebratenes Gemüse.“
Während Sophie ein Glas Wasser hinunterstürzte, servierte Benjamin das Essen auf vorgewärmten Tellern und trug es zum gedeckten Tisch. Sie setzten sich und wünschten sich gegenseitig einen guten Appetit. Während des Essens wurde nur wenig gesprochen, so war es bei ihnen üblich. Man wollte sich nicht vom Gaumenschmaus ablenken lassen.
„Und wie war der Sport?“, fragte er, als sie aufgegessen hatten. „Hast du wieder unseren Vermieter verprügelt?“
„Nein, das mache ich, wenn er die Miete erhöht.“ Die Vorstellung amüsierte sie. Schon witzig, wenn der Kampfsportpartner gleichzeitig der Vermieter ist.
„Und die Arbeit?“
„Ganz okay. Max ist aus Berlin zurück und hat heute ein bisschen ausführlicher erzählt. Stell dir vor, er hat dort einen alten Studienfreund wiedergetroffen. Sie hatten jahrelang keinen Kontakt und haben sich sofort wieder verstanden. Möglicherweise hat dieser Freund einen Auftrag für uns. Das wäre nicht schlecht, denn sonst ... die Lage ist nicht rosig.“
Eine kurze Pause entstand.
„Und wie war es bei dir?“, fragte Sophie.
„Alles ganz normal“, antwortete er, um sich gleich darauf zu verbessern. „Normal gut eigentlich. Über mangelnde Aufträge können wir uns nicht beklagen. Umweltprojekte boomen, überall werden Gutachten gebraucht. Und die Chefetage denkt darüber nach, international zu werden. Gerade in Entwicklungsländern gäbe es noch viel zu tun.“
Sie plauderten noch eine Weile, dann räumten sie das Geschirr ab. Kaum hatte Benjamin die Tür der Spülmaschine geschlossen, trat Sophie an ihn heran, umarmte ihn und schmiegte sich an seinen Körper. Er gab ein tiefes Brummen von sich. Der Dreitagebart, den er sich in letzter Zeit öfter stehen ließ, kratzte ein wenig an ihrer Wange. Dann küssten sie sich leidenschaftlich.
Keuchend machten sie sich auf den Weg ins Schlafzimmer, was gar nicht so einfach war, weil keiner den anderen losließ. Kaum standen sie vor ihrem Doppelbett, lösten sie die Umarmung und begannen, sich hektisch gegenseitig auszuziehen. Als sie sich schließlich nackt gegenüberstanden, sah sie ihm in die braunen Augen. Sie beobachtete ihn, wie er mit verklärtem Gesichtsausdruck seinen Blick über ihren Körper wandern ließ, was sofort ein Kribbeln in ihr auslöste. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Ihre Brustwarzen richteten sich auf und ein lustvolles Ziehen machte sich in ihrem Unterleib breit.
Benjamin hatte ihr oft gestanden, wie attraktiv er ihren Körper fand: die dunkle Mähne, die ausdrucksvollen smaragdgrünen Augen, die kecke Stupsnase mit den dazu passenden kleinen Sommersprossen, darunter die vollen Lippen. Ihr athletischer, straffer Körper mit den wohlproportionierten weiblichen Rundungen. Problemzonen kannte sie nicht, aber sie war ja auch erst 23.
Nun senkte auch sie den Blick und freute sich über das, was sie sah. Seine schlaksigen Beine, durchtrainiert vom vielen Radfahren, sein flacher Bauch, davor seine Männlichkeit in Hochform. Als sie wieder aufblickte, sahen sie sich in die Augen.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, er fasste sie an der Taille. Ihre Augen hingen an seinen Lippen, als sie langsam die Köpfe zur Seite neigten. Sophie begann vor Erregung am ganzen Körper zu zittern. Das Ziehen in ihrem Unterleib wurde unerträglich. Ihre vibrierenden Lippen fanden die seinen, sie öffneten sich wie von selbst, und während sie sich erst zärtlich, dann immer gieriger und wilder küssten, sanken sie auf ihr Bett.
Einige Orgasmen später lag sie wach, den Kopf in die kleine Kuhle zwischen seinem Hals und seiner Schulter gebettet. Sie dachte nach und fand, dass es das Schicksal in letzter Zeit sehr gut mit ihr gemeint hatte. Das Leben und die Beziehung zu Benjamin hatten sich so schön entwickelt, nachdem sie gemeinsam die GUL AG verlassen hatten.
Sie hatten beide einen Job gefunden, der ihnen entsprach. Sie arbeitete als Bürokraft bei einem Investigativjournalisten vor Ort. Das Gehalt war nicht üppig, aber ihr war wichtiger, dass die Arbeit Spaß machte und sie sich gut verstanden. Max Forsch, so hieß der Journalist, war ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Er begegnete ihr mit Respekt und ließ sie Aufgaben selbstständig erledigen. Mit der Zeit bekam sie tieferen Einblick in die journalistische Arbeit und ihr Verantwortungsbereich wuchs. Wenn er sie Geschäfts- oder Interviewpartnern vorstellte, dann nie als Sekretärin oder Assistentin, sondern immer als Büroleiterin, die direkt der Geschäftsführung unterstellt war, was bei einem Betrieb von insgesamt zwei Personen nicht viel hieß, aber das musste ja keiner wissen.
Benjamin hingegen war in einem genossenschaftlich organisierten Unternehmen gelandet, das Umweltprojekte realisierte. Schwerpunkte waren erneuerbare Energien und Wassermanagement, wozu auch umweltverträgliche Landwirtschaft gehörte. Auch er ging gerne zur Arbeit und machte einen ausgeglichenen, zufriedenen Eindruck.
Nachdem sie Ende des vorletzten Jahres zusammengekommen waren, wollten sie es langsam angehen lassen. Jeder behielt seine Wohnung, aber sie besuchten sich häufig und blieben auch über Nacht. Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen den Besuchen immer kürzer, bis sie sich täglich mit der Frage Bei dir oder bei mir?, konfrontiert sahen. Da traf es sich gut, dass Jackie, Sophies Sparringspartner beim Sport, Zwillinge erwartete und in ein Reihenhaus zog. Sie ergriffen die Gelegenheit beim Schopf und zogen zusammen in die freigewordene Wohnung, mit Jackie als Vermieter.
Weil sie in ihrem letzten Job den Kampfsport einmal aktiv hatte einsetzen müssen, um sich aus einer brenzligen Situation zu befreien, hatte sie ihr Training weiter intensiviert. Inzwischen war sie trotz ihrer knapp eins siebzig die beste Kampfsportlerin im Verein. Mit ihren nicht einmal 55 Kilogramm lehrte sie auch weitaus schwereren Gegnerinnen und Gegnern das Fürchten. Seither drängte man sie zur Teilnahme an Wettkämpfen. Bisher konnte sie sich dagegen wehren, aber wie lange noch? Sie stand nicht gern im Rampenlicht. Deshalb hatte sie mit dem Klettern begonnen. Auch hier zeigte sie sensationelles Talent, wie man ihr sagte, aber als Anfängerin konnte sie noch unter dem Radar agieren.
Ihr war kalt geworden. Sie zog sich die Decke über die Schultern und kuschelte sich noch etwas enger an ihren Liebsten. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, dass er eingeschlafen war. Das ist doch wieder typisch! Zwei Minuten nach Sendeschluss, man kann die Uhr danach stellen! Männer! Gleichwohl gönnte sie ihm die Erholung, schließlich hatte er zweimal alles gegeben. Und die Nacht war noch lang. Mit frisch geladenen Akkus könnte am Morgen noch was gehen. Endlich wurde auch sie müde und schlief ein.
Morgens wurde sie von Vogelgezwitscher geweckt, das durch das gekippte Fenster drang. Zartes Licht fiel durch die Lamellen der Jalousie. Ohne es zu merken, mussten sie sich im Schlaf voneinander gelöst haben, denn nun lag jeder auf seiner Seite. Müde rekelte sie sich und konnte nicht verhindern, dass sie immer wacher und zappeliger wurde.
Sie rutschte auf seine Seite und lag nun in Löffelchenstellung an seinem Rücken. Unternehmungslustig glitt ihre Hand über seinen Oberarm nach vorne. Benjamin gab ein übellauniges Brummen von sich. Völlig unbeeindruckt setzte Sophie ihre Erkundungsmission fort und streichelte seine Brust. Erst über die linke, und als sie spürte, wie seine Brustwarze reagierte, wiederholte sie das Spiel mit der rechten. Ihre Hand glitt weiter nach unten, blieb aber vorerst noch auf seiner rechten Seite ... langsam ... noch langsamer ... sein Atem ging nun stoßweise ... jetzt ganz sanft und langsam zur Mitte ... zum Bauchna ... was war das? Am Bauchnabel spürte sie, dass er längst erwacht war. Ein Kichern entfuhr ihr, als sie sich über ihn hermachte. Verschlafen protestierte er, nuschelte etwas von einem miesen kleinen Verräter, doch einmal obenauf machte sie unbeirrt weiter.
Zum späten Frühstück gab es frische Aufbacksemmeln mit Marmelade. Dazu tranken sie Cappuccino und Orangensaft. Während sie plauderten, bemerkte Sophie, wie Benjamins Augen schon wieder an ihr nach unten glitten und auf Brusthöhe hängen blieben. Eine diebische Freude überkam sie, hatte sie doch kokett ihren Bademantel sehr locker gebunden, damit er tiefere Einblicke gewährte. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und belohnte sein Interesse mit einem Anblick, der wenig Raum für Fantasie ließ.
„Das Wetter ist scheußlich und wir haben heute nichts vor.“ Sie nippte an ihrem Cappuccino. „Machen wir gleich nach dem Frühstück da weiter, wo wir vorhin aufgehört haben, ja?“
„Wir hatten insgesamt drei Runden, das weißt du doch, oder?“, antwortete Benjamin zögernd.
Aber Sophies Spieltrieb war bereits geweckt. Sie liebte es, ihn zu tratzen. Und immer ging sie als Siegerin aus dem Geplänkel hervor. Immer! Er hatte keine Chance!
„Hast du sehr unter mir gelitten?“, fragte sie mit dem Tonfall einer besorgten Mutter und versuchte, ein entsprechendes Gesicht aufzusetzen. Voller Mitgefühl ergriff sie seine Hand.
„Hast du mein Stöhnen nicht bemerkt?“, erwiderte er grinsend.
„Und dein Japsen nach Luft!“ Sophie, die Fürsorglichkeit in Person.
Ihr gemeinsames Lachen beendete das Theater. Doch Sophie wollte noch eine Zugabe. „Drei Runden in einer Nacht haben wir schon oft geschafft. Jetzt gebe ich dir seit über einem Jahr intensives Einzeltraining. Irgendwann musst du doch Fortschritte machen, auch in der Ausdauer!“
„Fortschritte, Einzeltraining, pah! Gibst du auch Gruppenunterricht?“
Mühsam verbarg sie ihr Grinsen hinter einer Schnute, verdrehte die Augen nach oben und bewegte den Kopf seitlich hin und her. Sophie, die personifizierte Abwägung.
„Wenn du dich anstrengst, kann ich vorerst auf eine Gruppe verzichten“, beschied sie ihm gnädig.
Benjamin stöhnte auf.
Sophie labte sich an seiner Qual. „Wenn uns langweilig wird, können wir ja was Neues ausprobieren!“ Dann lächelte sie erwartungsvoll und klimperte mit den Wimpern.
„Vielleicht heute Abend“, antwortete er matt.
Sophie durchschaute ihn sofort – er wollte Zeit schinden, sich nicht festlegen – und durchkreuzte seine Pläne. „Ich führe ein Leben wie eine Nonne!“, protestierte sie und zog einen Flunsch.
Noch bevor Benjamin etwas erwidern konnte, läutete es Sturm an der Tür.
Samstag, 27. Mai, ca. 11 Uhr
Sophie ging zur Sprechanlage. „Wer stört?“
„Düpinski, Kriminalpolizei“, dröhnte eine Männerstimme dumpf durch die Wohnungstür. „Ich wurde unten reingelassen und bin schon oben. Frau Taff?“ Der Mann klopfte energisch an die Tür. „Frau Taff, machen Sie bitte auf!“
„Einen Moment bitte, ich bin noch nicht soweit!“
„Machen Sie sofort auf!“
„Eine Minute bitte!“
„Aufmachen!“
„Eine Minute, basta!“
Völlig verblüfft starrte Sophie ihren Freund an, der ebenso zurückblickte. Mit den Lippen formte sie stumm das Wort Kripo. Benjamin winkelte die Unterarme an und drehte die Handflächen nach oben. Keine Ahnung, antwortete er tonlos. Er zuckte mit den Schultern.
Hastig sprang Sophie in die Kleider vom Vortag, die noch auf dem Boden des Schlafzimmers lagen. Auch Benjamin zog sich schnell an.
„Einen kleinen Moment noch“, rief Sophie durch die Tür und band sich vor dem Badezimmerspiegel die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Mehr war in der kurzen Zeit nicht drin. Ein Kontrollblick, ob die Schlafzimmertür auch wirklich geschlossen war – die zerwühlten Laken brauchte niemand zu sehen – dann öffnete Sophie vorsichtig die Tür. Die Kette ließ sie vorsichtshalber eingehängt. Durch den Türspalt erblickte sie einen schnauzbärtigen Mann Ende fünfzig, der ihr einen Polizeiausweis entgegenstreckte.
„Einen Moment, bitte“, sagte Sophie, schloss die Tür, um die Sicherheitskette auszuhängen und öffnete sie dann ganz.
„Können wir drinnen reden?“, fragte der Polizist.
Mit einem „Bitte“ trat sie zur Seite und ließ ihn herein. Der Polizist drängte sich an ihr vorbei ins Wohnzimmer, dessen Tür offen stand. Dort stellte er sich raumgreifend in die Mitte des Zimmers. Sophie bemerkte seine speckige Jeans und die schmuddelige, helle Jacke, die der Jahreszeit völlig unangemessen war, vor allem bei seiner Leibesfülle. Kein Wunder, dass er schwitzte und auch so roch. Er erinnerte sie an jemanden. Sie musste kurz nachdenken, bis es ihr einfiel. Er war die fettgewordene Kopie eines alten Tatortkommissars aus dem Kohlenpott. Seinen Namen hatte sie vergessen oder nie gewusst. Die Folgen liefen in den Achtzigerjahren, lange vor ihrer Geburt, aber sie hatte ein Plakat gesehen. Digital aufbereitetes Retro war ja sowas von angesagt – in der Generation ihrer Eltern und des Bullen, der ihr gegenüberstand.
Benjamin folgte ihnen ins Wohnzimmer. Mit einem Blick auf ihn fragte Düpinski: „Können wir unter vier Augen sprechen, Frau Taff?“
Sophie und Benjamin nahmen Blickkontakt auf, nickten beide leicht und synchron, dann verließ Benjamin das Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich. Düpinski nahm unaufgefordert auf dem Ecksofa Platz und lehnte sich zurück.
„Also, was gibts?“, fragte Sophie nervös und setzte sich ans andere Ende.
„Frau Taff, kennen Sie einen Maximilian Maria Forsch?“
Sophie bemerkte den rasselnden Atem und die rauchige Stimme, die von langjährigem Zigarettenkonsum zeugten. Außerdem nuschelte er und pflegte seinen Kohlenpottakzent.
„Ja, was ist mit ihm?“ Sophie hielt den Atem an.
„In welchem Verhältnis stehen Sie zu Herrn Forsch?“
„Ich bin seine Angestellte.“
„Angestellte. Und sonst?“
„Was das Sonst betrifft, haben Sie ja gerade meinen Freund, Herrn Neumann, kennengelernt.“
„Das heißt nicht viel!“
„Noch so eine Unterstellung und ich mache von meinem Hausrecht Gebrauch!“, entgegnete Sophie aufgebracht.
„Dann müssten wir die Befragung auf dem Präsidium fortsetzen.“
„Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee. Dort wird alles aufgezeichnet und Sie müssen sich benehmen.“ Sie atmete tief durch. „So spricht man nicht mit einer Dame!“ Hatte sie wirklich Dame gesagt? Sophie erkannte sich selbst nicht wieder.
Düpinski nuschelte etwas Unverständliches in seinen Schnauzbart. Dann fuhr er fort: „Wann haben Sie Herrn Forsch das letzte Mal gesehen?“
„Das war gestern im Büro. Ich habe zwischen Viertel nach fünf und halb sechs Feierabend gemacht. Er hat noch gearbeitet. Ich möchte jetzt endlich wissen, was mit ihm los ist!“
„Ist Ihnen gestern etwas an ihm aufgefallen? War er anders als sonst?“
„Nein, er war ganz normal, wie immer, und ich beantworte keine weiteren Fragen mehr, bevor Sie mir nicht sagen, was los ist!“, erklärte Sophie entschieden. Sie war jetzt richtig sauer und hatte sein Spielchen satt, immer ihre Frage zu ignorieren und seine zu stellen.
„Hat Herr Forsch ...“
„WAS. IST. MIT. HERRN. FORSCH?“
Berlin, 5 Tage zuvor
Maximilian Forsch betrat durch eine Drehtür das Foyer des Berliner Tagungshotels und ließ die sommerliche Schwüle sowie den Straßenlärm hinter sich. Ihn empfingen eine angenehme Kühle und ein gedämpfter Geräuschteppich von geschäftigem Treiben. Linker Hand konnte er zwischen den Menschen einen langen Tresen ausmachen, hinter dem vier junge Damen und ein Herr als Rezeptionisten ihren Dienst taten.
Auf der Suche nach einem Hinweis ging er in die Mitte des Foyers und entdeckte schließlich ein Schild mit einem Pfeil, auf dem INSL-Informationsveranstaltung geschrieben stand. Forsch folgte dem Pfeil in einen Gang bis zu einem weiteren Schild, bog rechts um eine Ecke, nur um auf das nächste Schild zu stoßen, das ihn nach links schickte. Mittlerweile hatte er die Orientierung verloren. Schicksalsergeben folgte er weiteren Schildern, bis sich der Gang zu einer kleinen Aula weitete, von der mehrere Türen in einen Saal führten.
An jeder Tür stand ein junger Mann, der den Eintretenden freundlich zunickte. In der Mitte der Aula befand sich ein Tisch, über dem an einem Gerüst aus dem Messebau ein großes Schild mit der Aufschrift Ausweisausgabe hing. Forsch reihte sich hinten in der Warteschlange ein, um seinen Besucherausweis zu erhalten. Als er nach wenigen Minuten an der Reihe war, zeigte er seine mitgebrachte Anmeldung vor. Eine junge Frau machte einen Haken auf einer Liste und überreichte ihm mit ihrem schönsten Lächeln, das direkt aus der Zahnpastawerbung zu stammen schien, ein Pappschild mit seinem Namen und dem INSL-Logo, das er ans Revers seines alten und einzigen Sakkos heftete. Nun durfte er den Veranstaltungssaal betreten.
Forsch suchte sich einen freien Sitzplatz und sah sich um. Die Einrichtung des Saals erinnerte ihn an Fernsehbilder, wie man sie von Parteitagen kennt. Er schätzte die Zahl der Zuschauerplätze auf vierhundert, von denen etwa die Hälfte besetzt war. Aber es kamen ständig Leute hinzu. Es würde wohl voll werden. Vorne war ein Podium mit Stühlen, Tischen und Mikrofonen aufgebaut. Dahinter ein riesiges, von Vorhängen eingerahmtes Plakat, auf dem stand:
INSL Initiative Neue Soziale Lösungen Die Zukunft entscheidet sich jetzt!
Noch war das Podium verwaist. Später würden hier die INSL-Vertreter Platz nehmen.
„Entschuldigung, ist neben Ihnen noch frei?“, fragte ein stämmiger, mittelgroßer Mann Anfang vierzig in konservativem Grau. Sein dünnes, bereits weiß gewordenes Haar war etwas zu lang geschnitten und führte ein reges Eigenleben.
„Ja, natürlich“, antwortete Forsch.
Der Mann kam ihm bekannt vor. Schnaufend setzte er sich. Dann richtete er seine freundlichen Augen durch die Gläser einer Hornbrille auf Forsch, stutzte kurz und sagte: „Wir kennen uns doch!“ Er zögerte. „Max?“
Da fiel es Forsch wie Schuppen von den Augen. Der Mann war älter als Forsch ihn in Erinnerung hatte, das Haar lichter und nicht mehr schwarz, und er hatte an Leibesfülle zugelegt. Aber er war es eindeutig. „Walter? Walter Voglsänger?“
„Genau der! Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wie lange ist unser Abschluss her? Fünfzehn Jahre, kann das sein?“
„Das kommt hin! Mensch, was führt dich denn hierher? Ausgerechnet zur Infoveranstaltung der INSL? Früher warst du nicht so konservativ!“
„Dasselbe könnte ich zu dir sagen. Ich bin hier, um ... na, wie soll ich sagen, ... um den Feind besser kennenzulernen.“
„Genau das habe ich auch gedacht“, sagte Forsch. Weiter kam er nicht, dann wurde er von Applaus unterbrochen, das Licht im Zuschauerraum wurde gedimmt und die INSL-Vertreter, von einer Aura der Erhabenheit umgeben, betraten das Podium. Nachdem sie Platz genommen hatten, eröffnete der Geschäftsführer der INSL GmbH die Veranstaltung. Er begrüßte die Anwesenden und bedankte sich für ihr zahlreiches Erscheinen. Dann stellte er die neben ihm sitzenden Personen vor, allesamt im Rang eines Kurators oder Botschafters der INSL. Es war ein Who is Who von Großindustriellen und ehemaligen Politikern. Sogar prominente Sportler und Schauspieler, die ihren Zenit längst überschritten hatten, waren darunter.
Natürlich hatte sich Forsch im Vorfeld informiert. Aber es war doch etwas anderes, im Internet über die Personen zu lesen oder sie live auf der Bühne zu sehen: Es waren auch nur Menschen, die sich verstohlen kratzten, im Scheinwerferlicht schwitzten, die Krawatte lockerten oder im falschen Moment husten mussten.
Wie der Geschäftsführer erläuterte, standen zunächst einige Vorträge auf dem Programm. „Danach haben Sie, verehrtes Publikum, die Gelegenheit, unseren Experten Fragen zu stellen. Doch nun möchte ich Sie nicht länger auf die Folter spannen und übergebe an unseren Kurator Michael Pannewisser, der für Sie einen Beitrag zum Thema Zukunft der Sozialversicherungen vorbereitet hat.“
Pannewisser erhob sich und trat ans Rednerpult. Er vertrat die Ansicht, dass alle Sozialversicherungen schrittweise vollständig privatisiert werden sollten. „Der Wegfall der Lohnnebenkosten entlastet die Arbeitgeber und stärkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels sind solche Reformen alternativlos. Anders sind die Sozialversicherungen in Zukunft nicht zu finanzieren.“
Forsch vermisste ein Schreibpult, war aber erfahren genug, um für solche Fälle stets ein Klemmbrett zur Hand zu haben. So konnte er sich während der Vorträge Notizen machen, die er für die Publikumsfragen am Ende der Veranstaltung benötigte. Voglsänger konnte auf Notizen verzichten. Er hatte schon früher ein fabelhaftes Gedächtnis gehabt.
Der nächste Redner, diesmal ein Botschafter, referierte zum Thema Finanzierbarer Klimaschutz und ging auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die CO2-Abgabe ein. „Unser Klima ist wichtig, zu wichtig, um es durch übereilte Maßnahmen zu gefährden. Darum sage ich: Klimaschutz langfristig ja, jetzt nein! Wir unterstützen daher den klimapolitischen Kurs der alten Bundesregierung.“
Der dritte Vortrag behandelte das Spezialthema Lieferkettengesetz. „Das neue Lieferkettengesetz ist ein Paradebeispiel für unnötige Handelsbeschränkungen, die zwar gut gemeint, aber in der Praxis für die Unternehmen nicht umsetzbar sind. Im Endeffekt verschlechtert das Gesetz die Situation in den ärmeren Ländern, weil den Menschen die Arbeit weggenommen wird. Das ist dann genau das Gegenteil von dem, was damit beabsichtigt war.“
Der Geschäftsführer der INSL GmbH trat wieder ans Rednerpult. „Es gäbe noch viele weitere Themen, über die wir Sie informieren könnten. Aber ich glaube, für heute ist es genug und ich möchte Ihnen nun die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen.“
Sofort gingen die Hände in die Höhe. Fragen wurden gestellt und beantwortet. Auch Forsch und Voglsänger meldeten sich, doch es dauerte eine Weile, bis Forsch das Wort erteilt wurde.
„Sie halten die Einführung des Mindestlohns für einen Fehler, wehren sich gegen eine Erhöhung und würden ihn am liebsten wieder abschaffen. Wie passt das mit der Privatisierung der Sozialversicherung zusammen? Wie sollen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, die Sozialversicherung komplett selbst finanzieren? Die daraus resultierenden Rentenansprüche sind schon jetzt ...“
„Mindestlohn ist heute kein Thema“, unterbrach ihn der Geschäftsführer. „Herr Voglsänger, bitte.“
„Sie haben gesagt, dass Sie am klimapolitischen Kurs der alten Bundesregierung festhalten möchten. Die alte Bundesregierung hatte aber keinen klimapolitischen Kurs. Woran wollen Sie dann festhalten?“
„Unsere Idee ist ein Gremium, das mit Experten aus Industrie und Politik besetzt ist. Dieses Gremium hätte dann die Aufgabe, in den nächsten fünf Jahren Leitlinien für eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie zu erarbeiten. Die Dame hinten links bitte!“
Forsch und Voglsänger hatten noch jede Menge weitere Fragen und meldeten sich eifrig, wurden aber nicht mehr aufgerufen. Schließlich beendete der Geschäftsführer die Veranstaltung, bedankte sich für das rege Interesse und wünschte einen guten Nachhauseweg.
„Bleibst du auch über Nacht oder fährst du gleich wieder zurück?“, fragte Voglsänger beim Hinausgehen. „Wohnst du überhaupt noch in München?“
„Ja, mich hat es in den Münchner Speckgürtel verschlagen, nach Germsbach. Mir ist es auch zu spät zum Heimfahren. Deshalb habe ich mir ein Hotelzimmer genommen. Aber nicht hier in diesem Nobelschuppen. Ich wohne gegenüber im Discounthotel.“
„Na ja, ich habe mir das hier gegönnt.“
„Wahrscheinlich ist dein Kleiderschrank größer als mein ganzes Zimmer. Wollen wir zusammen essen gehen?“
„Sehr gerne. Ich kenne da eine nette Kneipe im Prenzlauer Berg.“
Mit der Tram ging es durch das nächtliche Berlin in den Helmholtzkiez. Auf den Bürgersteigen und Straßen war noch einiges los. Viele nutzten die laue Frühsommernacht zu einem Abendbummel oder einem Absacker in einer der vielen Bars.
In der Nähe des Mauerparks steuerte Voglsänger zielsicher eine Location an, die Forsch niemals von sich aus betreten hätte. Er war zwar nicht anspruchsvoll – durfte er mit seinen finanziellen Möglichkeiten auch nicht sein – doch das Äußere dieser Spelunke erinnerte ihn zu sehr an eine üble Melange aus ranzigem Frittenfett und billigem Fusel in einem heruntergekommenen Bahnhof. Skeptisch betrat er hinter Voglsänger das Lokal – und fühlte sich sofort wohl. In einer Ecke der gemütlich eingerichteten, schummrig beleuchteten Gaststube war noch ein Tisch mit zwei Plätzen frei.
„Ich bin ehrlich überrascht“, gab Forsch zu, als sie sich gesetzt hatten. „Man darf nicht nach dem Äußeren gehen. Auf die inneren Werte kommt es an!“
„Ja, man sieht es dem Ding von außen nicht an, wie so oft im Leben. Ich kann eigentlich alles auf der Speisekarte empfehlen. Ich bin noch nie enttäuscht worden.“
„Du warst schon öfter hier?“
„Nach Berlin verschlägt es mich immer wieder. Ist eben die Hauptstadt, darum finden hier viele Veranstaltungen statt und zahlreiche Verbände haben sich angesiedelt, so wie die INSL, die wir heute erleben durften.“
„Erinnere mich nicht daran!“, echauffierte sich Forsch. „Für mich hat es sich überhaupt nicht gelohnt. Zuerst eine Wiederholung der altbekannten Thesen, die man auch im Internet nachlesen kann, und in der Fragerunde kaum kritische Fragen. Ich bin total enttäuscht!“
„Das war heute ziemlich zahm, du hast schon recht.“
„Warum waren wir die Einzigen, die denen mal auf den Zahn gefühlt haben? Kein Wunder, dass wir nicht mehr drangekommen sind.“
„Also ich gehe davon aus, dass im Publikum Leute sitzen, die für die Fragen bezahlt werden. So ist gewährleistet, dass die Veranstaltung glatt über die Bühne geht. Und wir beide haben ihnen mit unseren Wortmeldungen ein Alibi gegeben, so dass es nie bewiesen werden kann.“
„Unglaublich, darauf muss man erst mal kommen! Woher kennen die eigentlich deinen Namen?“
„Wir hatten schon öfter miteinander zu tun. Und anscheinend ist man auch bei der INSL der Meinung, dass es gut ist, seine Feinde zu kennen. Das Thema hatten wir ja heute schon.“
„Haben Sie schon gewählt?“, fragte der Kellner, der plötzlich neben ihnen stand. Tatsächlich hatten sie noch nicht einmal die Speisekarten aufgeschlagen.
„Für mich ein Bier, bitte“, bestellte Voglsänger.
„Für mich dasselbe“, schloss sich Forsch an. „Zum Essen brauchen wir noch.“
Der Kellner verschwand mit der Bestellung. Eilig wählten sie ihre Gerichte aus der Speisekarte. Kurz darauf kam die Bedienung mit den Bieren und nahm die Essensbestellung auf.
„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte Voglsänger. „Warum interessiert dich die INSL?“
„Ich bin freier Journalist und immer auf der Suche nach Themen mit Potenzial. Da bin ich auf die INSL gestoßen. Sie hat so viel Dreck am Stecken, dass man daraus eine interessante Story machen könnte, die ich dann an ein Magazin verkaufen möchte. Auch investigative Recherchenetzwerke könnten interessiert sein.“
„Du arbeitest also als freier investigativer Journalist?“
„Ja, kann man so sagen.“
„Wie kommst du damit über die Runden?“
„Mehr schlecht als recht. Ich lebe wie ein Krokodil: Hin und wieder ein großer Batzen, von dem ich dann ewig zehren muss. Zum Glück habe ich seit kurzem eine kompetente Mitarbeiterin, die mein Büro strukturiert und mir den Rücken frei hält. Das Problem ist nur, dass ich sie bezahlen muss.“
„Na, du jammerst auf hohem Niveau, wenn du dir sogar eine Mitarbeiterin leisten kannst.“ Beide brachen in schallendes Gelächter aus.
Der Kellner kam und brachte Voglsänger einen Gemüseauflauf und Forsch Königsberger Klopse. Bei der Gelegenheit bestellten beide noch ein Bier.
„Und was machst du so?“, fragte Forsch zwischen zwei Bissen.
Voglsänger kaute fertig und schluckte, bevor er antwortete: „Ich leiste Aufklärungsarbeit.“
„Für Jugendliche in Schulen?“
„Nein, nein! Mein großes Thema ist Nachhaltigkeit. Ich erkläre den Leuten, was man darunter versteht, warum wir zu einem nachhaltigen Lebensstil kommen müssen, was jeder schon jetzt dafür tun kann und dass ein nachhaltiges Leben auch Spaß machen kann.“
„Aha! Und wer bezahlt für so was?“
„Unterschiedlich. Kirchliche und weltliche Träger von Bildungseinrichtungen, Medien wie Radiosender oder Onlineplattformen, Unternehmen mit sozialem Anspruch.“
„Verdienst du gut?“
„Es könnte besser sein, aber ich kann davon leben. Es kommt immer auf die Ansprüche an.“
„Ja, ich verstehe, was du meinst. Man muss die Ansprüche dem Budget anpassen oder umgekehrt.“
„Da muss ich widersprechen!“, sagte Voglsänger und wedelte energisch mit dem rechten Zeigefinger. „Meiner Meinung nach führt man ein erfüllteres Leben, wenn man seine Ansprüche an das Budget anpasst. Wenn du das Prinzip umkehrst, läufst du immer dem Geld hinterher. Dann hast du Stress mit Dingen, die du nicht brauchst, von denen du aber überzeugt bist, dass sie unentbehrlich sind, weil dir das eingeredet wird. Das ist sicher nicht nachhaltig!“
Forsch ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. „Interessanter Gedanke. Sag mal, warum machst du das alles? Was treibt dich an?“
„Ich will aufklären, mit Vorurteilen aufräumen, sachlich informieren, und zwar so, dass es breite Bevölkerungsschichten verstehen. Nachhaltigkeit und verwandte Themen sind dermaßen mit Vorurteilen belastet, die vom Establishment immer wieder geschürt werden, dass ich hier ein Gegengewicht schaffen möchte. Seriöse Information über Chancen und Risiken als Gegenpol zu irreführenden Fake News, Angstmache und gezielter Diffamierung.“
Schnaufend legte Voglsänger sein Besteck ab und lehnte sich zurück. Forsch hatte den Eindruck gewonnen, dass sich sein Freund in Rage geredet und den Appetit verloren hatte. Er beschloss, das Thema zu wechseln und den Abend gemütlich ausklingen zu lassen. „Hast du Familie?“
„Nein, leider nicht. Ich habe nie die Zeit dafür gefunden. Und du?“
„Leider auch nicht. Ich hab es einmal versucht. Hat irgendwie nicht so richtig geklappt.“
„Aber doch eine Freundin?“
„Derzeit leider nicht. Aber das wird sich hoffentlich wieder ändern. Und lebst du in einer Beziehung, um den Facebook-Jargon zu verwenden?“
„Nein. Ich war die meiste Zeit solo und glaube, der Zug ist für mich abgefahren.“
„Bist du traurig darüber?“
„Gelegentlich überkommt es mich“, räumte Voglsänger ein. „Aber dann sage ich mir: Das ist gut so. Ich hätte sowieso keine Zeit.“
Auf einmal war die Stimmung ins Melancholische gekippt. Sie schwelgten ein wenig in Erinnerungen an die gemeinsame Studienzeit. Forsch gelang es, die Stimmung mit einer weiteren Runde Bier und alten Anekdoten wieder aufzuheitern.
„Wohnst du noch in München?“, fragte er.
„Ja, aber nicht in der Stadt, sondern ganz in deiner Nähe, in Haar.“
„Dann könnten wir uns doch mal treffen! Ich möchte nicht, dass wir uns wieder aus den Augen verlieren.“
„Ja, wir müssen unbedingt in Kontakt bleiben! Bist du auch mit der Bahn da?“
„Ja, mein ICE fährt morgen um kurz nach halb zehn.“
„Dann haben wir ja denselben Zug. Wir könnten uns treffen.“
„Um halb neun vor deinem schicken Hotel?“
„Gebongt! Lass uns anstoßen!“
Sie prosteten sich zu, tranken aus, bezahlten, verließen das Lokal und kehrten in ihre Hotels zurück. Im Bett ließ Forsch den Abend noch einmal Revue passieren. Seit Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu Voglsänger gehabt. Und doch war die alte Verbundenheit sofort wieder da. Mit manchen Menschen ist das so. Anderen kommst du nie so nah, obwohl du sie täglich siehst.
Auf der Rückfahrt im ICE von Berlin nach München saßen sich die beiden Freunde gegenüber und setzten ihr Gespräch vom Abend fort. Dabei erläuterte Voglsänger sein Verständnis von Nachhaltigkeit: „Nachhaltigkeit ist, kurz gesagt, eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“
„Alles schön und gut, aber reichlich abstrakt, oder?“, entgegnete Forsch.
„Wenn man sich näher damit beschäftigt, wird es schnell sehr konkret. Die Idee basiert auf drei Säulen: ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Nachhaltigkeit und soziale Nachhaltigkeit. Wobei mir der Begriff Säulen nicht so gut gefällt, ich spreche lieber von Dimensionen. Aber Säulen hat sich durchgesetzt, darum verwende ich den Begriff auch.“
„Was gefällt dir am Bild der drei Säulen nicht?“
Voglsänger erklärte es ihm, das und noch viel mehr. Forsch fand alles sehr spannend und die Zeit verging wie im Flug, obwohl sie mit dem Zug fuhren.
Kurz vor dem Münchner Hauptbahnhof wurde Voglsänger plötzlich sehr ernst. „Max, ich hätte da vielleicht ein interessantes Projekt für dich. Brisante Informationen, aus denen du sicher einen Artikel formen könntest. Hättest du Interesse?“
„Kommt drauf an. Worum geht es denn?“
„Nicht hier bei so vielen Leuten! Lass uns das unter vier Augen besprechen. Kannst du nächste Woche zu mir kommen?“
Sie verabredeten sich für kommenden Dienstag, tauschten Visitenkarten aus und verließen am Münchner Hauptbahnhof den ICE. Hier trennten sich ihre Wege, weil sie unterschiedliche S-Bahnen nehmen mussten. Nachdenklich sah Forsch seinem Freund hinterher, wie er in seiner Bahn verschwand.
Samstag, 27. Mai, ca. 11:30 Uhr
Sophie war laut geworden, bebte vor Zorn. Sie wollte jetzt wirklich wissen, was mit ihrem Chef los war. Zugleich hatte sie Angst vor der Antwort. Schwer schnaufend verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte Düpinski an. Sie musste sich beherrschen, sich nicht auf ihn zu stürzen, den Kragen seiner schmuddeligen Jacke zu packen und die Antwort aus ihm herauszuprügeln.
Benjamin kam herein, trat an den Couchtisch heran und warf Düpinski einen strengen Blick zu. Dann verschränkte auch er die Arme vor der Brust, hob das Kinn und fixierte den Polizisten von oben herab. Sophie liebte ihn dafür, denn sein Auftritt erhöhte den Druck auf den Bullen mit dem Schweigegelübde.
Düpinskis Körpersprache nach zu urteilen, zeigte Benjamins Beistand Wirkung. Er wechselte in eine aufrechte Sitzposition und wandte sich Sophie zu. „Herr Forsch steht unter Mordverdacht und wurde festgenommen“, sagte er mit gesenkter Stimme. „Er wird heute dem Haftrichter vorgeführt, der aller Voraussicht nach Untersuchungshaft anordnen wird.“
Sophie und Benjamin reagierten entsetzt. „Was?“, entfuhr es ihnen unisono.
„Das ist jetzt natürlich ein Schock für Sie, Frau Taff. Aber ich kann Sie beruhigen. Wenn Sie vertrauensvoll mit uns zusammenarbeiten und nichts mit dem Mord zu tun haben, wird Ihnen nichts passieren.“
„Wie kann ich jemandem vertrauen, der meinem Chef einen Mord anhängen will? Das ist ein bisschen viel verlangt, finden Sie nicht?“ Sophie hatte mit heiserer Stimme gesprochen. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren und hatte alle Kraft verdrängt. So musste sich ein Boxer kurz vor dem K. o. fühlen.
„Tun Sie´s trotzdem, es ist besser für Sie, glauben Sie mir! Sie machen sich sonst strafbar. Strafvereitelung, wenn Sie so wollen. Und hören Sie auf, mich die ganze Zeit anzustarren! Das kann ich nicht leiden!“
Die letzte Bemerkung war ein Fehler, denn sie gab Sophie die Energie zurück, die sie durch die schockierende Nachricht vom Mordverdacht gegen ihren Chef verloren hatte. Wie ein Eimer kaltes Wasser für einen angeschlagenen Boxer. Der Bulle hatte ihr gerade eine Waffe an die Hand gegeben. Zu gegebener Zeit würde sie sie zu nutzen wissen.
"Wen soll mein Chef denn umgebracht haben?", fragte sie.
"Einen alten Kommilitonen namens Walter Voglsänger. Kennen Sie ihn?"
"Nein, wir sind uns nie begegnet."
"Aber der Name sagt Ihnen doch etwas!"
"Mein Chef hat mir erzählt, dass er ihn letzte Woche in Berlin getroffen hat."
"Was hat Ihnen Ihr Chef sonst noch erzählt?"
"Nichts, nur dass Voglsänger ein alter Studienfreund war, den er nach Jahren zufällig bei einer Veranstaltung wiedergetroffen hat. Und dass er vielleicht Arbeit für uns hat."
"Und das ist alles? Mehr hat er nicht erzählt?"
"Nein."
"Nein, das war nicht alles oder nein, er hat nicht mehr erzählt?"
Wütend schlug Sophie mit der flachen Hand auf den Tisch. "Nein, er hat nichts weiter erzählt, und nein, ich kenne Voglsänger nicht, und nein, ich habe nie mit ihm gesprochen und weiß nichts über ihn! Zufrieden?"
Benjamin räusperte sich vernehmlich und starrte Düpinski mit zusammengezogenen Augenbrauen an, die Hände in die Hüften gestemmt. Der Beamte blickte kurz zu ihm auf und seufzte. „Na gut, dann will ich es für heute dabei belassen. Wollen Sie in nächster Zeit verreisen?“
„Nein, höchstens ein spontaner Tagesausflug“, antwortete Sophie.
„Gut. Hier, falls Ihnen noch etwas einfällt!“ Düpinski erhob sich und drückte Sophie seine Visitenkarte in die Hand. „Ich finde allein raus“, sagte er und rollte aus der Wohnung.
Samstag, 27. Mai, ca. 12:15 Uhr
„So ein Arsch“, zischte Sophie, kaum dass Düpinski die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte.
„Was war das denn?“, fragte Benjamin.
„Keine Ahnung“, antwortete Sophie. Sie hatte sich immer noch nicht gefangen.
„Wer hat hier wann wen umgebracht und warum glaubt die Polizei, dass Forsch der Mörder ist?“, fasste Benjamin zusammen. Er setzte sich neben Sophie auf die Couch und legte seinen Arm um sie. So saßen sie einige Minuten und hingen ihren Gedanken nach, bis das Läuten des Telefons sie herausriss. Sophie griff zum Telefon und schaute auf das Display.
„Wer stört jetzt schon wieder?“, fragte Benjamin.
„Keine Ahnung, die Nummer sagt mir nichts. Am besten, wir gehen einfach nicht ran.“
Es läutete noch ein paarmal, dann sprang der Anrufbeantworter an. Nach der Ansage hörten sie, wie eine unbekannte Frauenstimme eine Nachricht hinterließ: „Hallo Frau Taff, hier ist Beate Fuchs. Herr Forsch hat mich beauftragt, ihn wegen der gegen ihn erhobenen Mordvorwürfe anwaltlich zu vertreten. In diesem Zusammenhang hat er mich gebeten, mit Ihnen Kontakt aufzune...“
Weiter kam die Anwältin nicht, denn Sophie hatte den Anruf entgegengenommen.
„Ja, hier ist Sophie Taff, Frau Fuchs, hallo, hallo?“
„Hallo Frau Taff, schön, dass ich Sie doch noch erreiche. Hat sich die Geschichte schon bis zu Ihnen herumgesprochen?“
„Mein Freund und ich hatten gerade die Polizei zu Gast, wobei der Besuch hauptsächlich mir gegolten hatte. Der Mann wollte alles wissen und nichts sagen.“
„Ja, da sind sie alle gleich. Also, Ihr Chef wird verdächtigt, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch einen gewissen Herrn Voglsänger umgebracht zu haben. Sagt Ihnen der Name etwas?“
„Ja, Herr Forsch hat mir gestern oder vorgestern von ihm erzählt. Ein alter Studienfreund, den er in Berlin wiedergetroffen hatte. Und der wurde ermordet?“
„Ja, leider. Kannten Sie ihn?“
„Nein, wir sind uns nie begegnet. Ich habe erst durch die Berlingeschichte erfahren, dass es ihn überhaupt gab.“
„Man hat Ihren Chef zusammen mit dem Opfer auf der Veranstaltung in Berlin und im ICE von Berlin nach München gesehen. Es gibt Zeugen, die sich daran erinnern. Wahrscheinlich ist Herr Forsch derjenige, der das Opfer zuletzt bewusst gesehen hat. Außer dem Mörder natürlich.“
„Was meinen Sie mit zuletzt bewusst gesehen?“
„Ich will damit sagen, dass es an den Bahnhöfen und in der S-Bahn Passanten gegeben haben muss, die ihn gesehen, aber nicht weiter beachtet haben. Einer unter vielen in der Masse.“
„Verstehe. Aber dieses zuletzt bewusst gesehen ist doch kein Grund, Max, also ich meine Herrn Forsch, des Mordes zu verdächtigen.“
„Nein, das allein reicht natürlich nicht aus. Aber er hat kein Alibi für die Mordnacht ...“
„Kein Wunder, mein Chef ist Single!“, fuhr Sophie dazwischen.
„... und die Polizei hat in unmittelbarer Nähe des Leichenfundorts Spuren gefunden, die genau zu den Sportschuhen passen, von denen Herr Forsch ein Paar besitzt. Die Schuhe werden derzeit kriminaltechnisch untersucht.“
„Das gibts doch nicht!“
„Hinzu kommen“, fuhr die Anwältin ungerührt fort, „Zeugenaussagen von Spaziergängern und Hundebesitzern, die Herrn Forsch in der Nähe des Fundortes gesehen haben wollen. Tatsächlich bestreitet er auch gar nicht, am Dienstagabend im Germsbacher Forst gejoggt zu sein. Er musste einem umgestürzten Baum ausweichen und hat dabei Spuren im Waldboden hinterlassen.“
„Das ist alles ein unglücklicher Zufall. Herr Forsch hat bestimmt niemanden umgebracht!“
„Mich brauchen Sie nicht zu überzeugen. Herr Voglsänger wurde auch erst einige Stunden später getötet. Also kann die Leiche noch gar nicht im Wald gelegen haben, als Herr Forsch dort laufen war.“
„Na, dann ist Max doch fein raus!“
„Schön wär’s. Er wird beschuldigt, die Gegend ausgekundschaftet zu haben, um später einen geeigneten Ort für die Entsorgung der Leiche zur Verfügung zu haben.“
„Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen.“
„Natürlich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Indizien für eine Verurteilung ausreichen. Aber für Untersuchungshaft ... das entscheidet heute Nachmittag ein Richter. Ich bin gespannt, ob der Staatsanwalt ein Motiv nennen kann.“
„Können Sie mir Bescheid geben?“
„Es ist der ausdrückliche Wunsch meines Mandanten, Sie auf dem Laufenden zu halten. Außerdem bittet er Sie herauszufinden, was sein Freund Voglsänger damit gemeint hat, als er sagte, er habe brisante Informationen für einen Artikel. So brisant, dass er nicht einmal im Zug darüber sprechen wollte, aus Angst, jemand könnte mithören. Die beiden hatten sich deshalb für den kommenden Dienstag verabredet.“
„Kann mir Herr Forsch einen Tipp geben, in welche Richtung ich suchen soll?“
„Das habe ich ihn auch gefragt, aber leider nein, er weiß es auch nicht. Am ehesten, so hat er sich ausgedrückt, hat es etwas mit Voglsängers beruflicher Tätigkeit zu tun. Aber da ist er sich sehr unsicher.“
„Hat Herr Forsch den Sachverhalt der Polizei mitgeteilt?“
„Ja, aber die Beamten halten die Geschichte für erfunden.“
„Kann ich Herrn Forsch direkt kontaktieren?“
„Nein, derzeit dürfen leider nur die Polizei und ich als seine Anwältin Kontakt zu ihm haben. Ich werde aber versuchen, so schnell wie möglich eine Besuchserlaubnis für Sie zu erwirken. Was ich Sie noch fragen wollte: Wie hieß der Polizist, der heute bei Ihnen war?“
„Warten Sie, ich hab hier seine Visitenkarte: Kriminalhauptmeister Horst Düpinski steht da.“
„Das ist gut, denn dann hält man Sie für unwichtig. Sonst wäre der Chef persönlich gekommen. Die Ermittlungen leitet ein gewisser Kriminalhauptkommissar Klaus Käpsele. Und bitte gehen Sie mit den Informationen nicht hausieren.“
Samstag, 27. Mai, ca. 13 Uhr
Zuerst saßen sie nur stumm da und mussten die Informationen verdauen. Der Morgen hatte so schön begonnen. Sophie wollte mit Benjamin einen kuscheligen Tag zu Hause verbringen, und dann diese Wendung! Jetzt waren sie wie betäubt vom Lauf der Dinge, auf den sie keinen Einfluss hatten nehmen können.
Mord.
„Hattest du schon mal mit Mord zu tun?“, brach Sophie schließlich das Schweigen.
„Nein, noch nie. Ich kenne auch niemanden persönlich, der ermordet wurde. Mord und Totschlag kenne ich nur aus dem Fernsehen und aus Büchern.“
Erneut breitete sich Schweigen aus. Von draußen hörte man eine Tür, Schritte im Treppenhaus, den Aufzug. Und den Regen, der auf den Balkon plätscherte.
„Und du, wie war es bei dir in der Siedlung?“, fragte er.
Sie wusste genau, worauf er anspielte, war sie doch in einem Problemviertel aufgewachsen und hatte dort eine wilde Jugend verbracht. Ganz anders als Benjamin, der aus einer wohlhabenden Familie stammte und eine behütete Kindheit hatte.
„Anfangs gabs öfter mal ´ne Drogenrazzia. Hat aber nichts gebracht. Man hat einfach dichtgehalten, gewartet, bis die Bullen wieder weg waren, und dann wurde weiter gedealt. Also ich nicht, aber andere. Irgendwann hat die Polente aufgegeben und wir haben unsere Angelegenheiten selbst geregelt. Ladendiebstähle, Einbrüche, Körperverletzungen und Drogen waren an der Tagesordnung. Später ist im Schlepptau der Drogen noch Prostitution dazugekommen. Aber Mord? Nee! Mord hats einfach nicht gegeben.“ Um die letzten Worte zu unterstreichen, schüttelte sie den Kopf.
„Was machen wir jetzt?“
„Also, ich werde meinen Chef nicht im Stich lassen und mich gleich an den Rechner setzen. Vielleicht kann ich im Internet etwas über Voglsänger herausfinden.“
„Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor“, murmelte Benjamin und runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber ich komme gerade nicht drauf, wo ich den Namen schon mal gehört habe.“
„Vielleicht fällt es dir ja wieder ein“, antwortete Sophie, setzte sich an den Küchentisch und klappte ihr Notebook auf, das sie sich geholt hatte.
Nachdem der Rechner hochgefahren war, tippte sie Vogelsänger in die Suchmaschine ein und bekam lauter unpassende Einträge: Politiker, Unternehmen, eine Arztpraxis, Künstler, Wahrsager und für historisch Interessierte die Herkunft des Begriffs. So kam sie nicht weiter.
Sie grübelte. Was wusste sie sonst noch über den Mann? Er und Forsch kannten sich vom Studium. Daraus ließen sich zwei Dinge ableiten: Wahrscheinlich waren sie ungefähr gleich alt und der Gesuchte ebenfalls Journalist. Außerdem musste er in der Nähe wohnen, denn die beiden Freunde saßen gemeinsam im Zug nach München und für Dienstag war ein Treffen vereinbart. Sophie schöpfte neue Zuversicht und gab in die Suchmaske ein:
Vogelsänger + Jahrgang 1980 + Journalist + München
Unter der Suchmaske erschien der Hinweis:
Einschließlich der Ergebnisse für VoglsängerSuche nur nach „Vogelsänger“?
Erst auf den zweiten Blick erkannte sie den Unterschied, das fehlende e bei Vogl, und akzeptierte den Korrekturvorschlag. Sofort identifizierte sie mehrere Treffer.
Der Erste war Voglsängers Homepage. In der Übersicht wurde ausgeführt, dass er Seminare zum Thema Nachhaltigkeit abhielt. Den Begriff hatte Sophie schon öfter gehört, ohne etwas Konkretes damit verbinden zu können. Sie überflog die Übersichtsseite ohne Begeisterung. Sie verstand es nicht ganz, war im Thema nicht drin.
Lustlos klickte sie auf Über mich. Ein kurzer Lebenslauf erschien auf dem Bildschirm. Geboren 1979 – da hatte sie sich um ein Jahr vertan –, Schule, Studium des Umweltingenieurwesens an der TU München, danach Journalistik an der LMU München – dabei musste er Forsch kennengelernt haben –, Arbeit für diverse Naturschutzorganisationen wie BUND und WWF, schließlich selbstständiger Coach für nachhaltiges Wirtschaften, Auszeichnungen, Preise ... rechts ein professionelles Porträt von ihm. Sie zeigte es Benjamin und fragte: „Erinnerst du dich jetzt?“
„Ja, ich glaub´, den kenn ich. Mach mal groß!“
Sophie klickte und das Bild wurde bildschirmfüllend dargestellt.
„Ja, das ist er. Jetzt fällt es mir wieder ein. Der hat bei uns in der Firma einen Vortrag über Nachhaltigkeit gehalten. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Er war sehr überzeugend.“
„Ja genau, das passt. Wann war das?“
„Das ist ungefähr ein Jahr her. Die Firma hat bestimmt noch Informationen in digitaler Form. Falls du interessiert bist, kann ich sie dir am Montag zur Verfügung stellen.“
„Das wäre nicht schlecht! Kannst du mir die Dateien direkt ins Büro mailen? Irgendjemand muss dort die Stellung halten.“
„Das mache ich gerne!“
Sophie klickte noch ein wenig ziellos im Internet herum, dann fühlte sie sich plötzlich total ausgelaugt. Jeder Elan war verflogen. Was mache ich hier eigentlich?, fragte sie sich. Wonach genau suche ich? Einen Eintrag wie Hallo, ich bin der Mörder!, würde sie nicht finden. Alles kam ihr so unwirklich und sinnlos vor. Sie schob das Notebook von sich und lehnte sich zurück.
„Was ist am Thema Nachhaltigkeit eigentlich so spektakulär?“, fragte sie Benjamin. „Was ist daran so brisant, dass jemand bereit ist, dafür zu töten? Kannst du mir das sagen?“
„Nein, dazu fällt mir wirklich nichts ein. Das Thema ist gerade in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Kommt für mich als Mordmotiv überhaupt nicht infrage.“
„Wenn die Informationen, die Voglsänger meinem Chef geben wollte, zu seiner Ermordung geführt haben, dann können diese Informationen nichts mit Nachhaltigkeit zu tun haben, denn das Thema scheidet als Motiv aus“, kombinierte Sophie.