Aufwachsen mit Anderen -  - E-Book

Aufwachsen mit Anderen E-Book

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Beschreibung

Die Beziehungen zu Gleichaltrigen haben eine wichtige Funktion für die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. In Freundschaften, Cliquen und dem Klassenverband gewähren Peers einander Orientierung, Unterstützung und ein Gefühl von Zugehörigkeit. Nach einer Einführung in die Grundlagen der Peerforschung beleuchtet das Buch den Einfluss der Peers auf die Entwicklung fachlicher und fachübergreifender Kompetenzen und die Frage nach der Heterogenität in Freundschafts- und Hilfebeziehungen. Abschließend wird diskutiert, wie positive Peerbeziehungen in der Schule, auch über Gruppengrenzen hinweg, angeregt und gestaltet werden können.

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Die Herausgeberinnen

Madeleine Kreutzmann ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. Sie promovierte zum Thema Peerbeziehungen und ihrer Bedeutung für die schulische und sozio-emotionale Entwicklung von Kindern. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Untersuchung förderlicher Bedingungen für eine erfolgreiche Einbindung in das Peernetzwerk der Schulklasse und das Erleben sozialer Zugehörigkeit.

Lysann Zander ist Diplom-Psychologin und Professorin für Empirische Bildungsforschung an der Leibniz Universität Hannover. In ihrer Forschung interessiert sie besonders, welche Bedeutung soziale Beziehungen für lernrelevante Selbstwahrnehmungen und Bildungsverläufe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt dabei auf der Entwicklung von Präventions- und Interventionsstrategien zur Stärkung der sozialen Einbindung in heterogenen Lernkontexten.

Bettina Hannover ist Diplom-Psychologin und Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. In ihrer Forschung interessiert sie sich dafür, welches Bild Menschen von sich selbst entwickeln und wie dieses Selbstbild sie in ihrem Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. Angewandte Fragestellungen betreffen z. B. die Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in Interessen und Kompetenzen oder den Einfluss der Peers auf die Identitätsentwicklung Jugendlicher.

Madeleine Kreutzmann,Lysann Zander,Bettina Hannover (Hrsg.)

Aufwachsen mit Anderen

Peerbeziehungen als Bildungsfaktor

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036680-0

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-036681-7

epub:        ISBN 978-3-17-036682-4

Inhalt

 

 

Vorwort

I   Theoretische und methodische Grundlagen der Peerforschung aus pädagogischer und bildungs- wissenschaftlicher Perspektive

1   Peerbeziehungen: Sozialökologische und entwicklungspsychologische Aspekte

Peter F. Titzmann & Philipp Jugert

2   Grundlagen der Messung sozialer Strukturen und Verfahren zur Analyse von Peerbeziehungen im Klassenzimmer

Thorsten Henke

II   Förderliche und hinderliche Einflüsse der Peers auf den Erwerb fachlicher und fachübergreifender Kompetenzen

3   Peers als Bildungsinstanz im Jugendalter

Marion Reindl

4   Prosoziale und antisoziale Verhaltensweisen in Kindheit und Jugend – Die Rolle der Peers

Christoph M. Müller

5   Peers und das politische Engagement im Jugendalter

Christine Schmid & Burkhard Gniewosz

6   Einfluss von Peers auf die Wahl von Studium und Beruf

Belinda Berweger & Bärbel Kracke

III   Heterogenität und Peerbeziehungen

7   Auswirkungen der Komposition der Lerngruppe auf die Lern- und Leistungsentwicklung

Hanna Dumont

8   Peerbeziehungen und Geschlecht – Die Präferenz für Interaktionen mit gleichgeschlechtlichen Anderen

Bettina Hannover

9   Fachlicher Austausch und Freundschaften in sprachlich und ethnisch heterogenen Peergruppen

Lysann Zander

10 Die Bedeutung von Peers für die soziale Teilhabe von Lernenden mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten in inklusiven Schulklassen

Jürgen Wilbert & Johanna Krull

IV Aufbau und Gestaltung positiver Peerbeziehungen Voraussetzungen und Interventionsansätze

11 Der Beitrag von Erziehungs- und Lehrpersonen für die Gestaltung von Peerbeziehungen und die Förderung sozial-emotionaler Fähigkeiten

Katja Bianchy & Susanne Jurkowski

12 Wissen und Einstellungen von Lehrkräften zu Peerbeziehungen im Klassenzimmer

Marvin Harks

13 Für ein besseres Miteinander: Chancen interkultureller Freundschaften und wie Schulen diese fördern können

Miriam Schwarzenthal, Maja Schachner & Linda Juang

14 Ansätze und Programme zur Förderung des Erlebens sozialer Zugehörigkeit im Schulkontext

Madeleine Kreutzmann

15 Fachliche Hilfesuche unter Peers in analogen und digitalen Lernumwelten

Elisabeth Höhne & Theresa Niemann

16 Musisch-kreatives Tanzen im schulischen Kontext und seine Bedeutung für Peerbeziehungen im Klassenverband

Lysann Zander, Madeleine Kreutzmann & Bettina Hannover

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

 

 

Dieser herausgegebene Band ist in einer Zeit entstanden, in der die Welt von einer Pandemie im Griff gehalten wird, die die Menschen nur überwinden können, indem sie ihre Kontakte zueinander auf ein absolutes Minimum reduzieren. Jede und jeder von uns hat in dieser Zeit auf ganz individuelle Weise erfahren, dass der tägliche Austausch mit anderen einen essenziellen Bestandteil des Lebens darstellt und dass der Verzicht darauf nicht nur dramatische volkswirtschaftliche und versorgungstechnische Konsequenzen hat, sondern auch soziale und psychologische. Der verminderte Kontakt zu anderen verändert insbesondere den Alltag vieler Kinder und Jugendlicher auf negative Weise. Denn auch dann, wenn sie das Glück haben, in sozial begünstigten Verhältnissen zu leben, müssen sie auf die emotionale Unterstützung, aber auch die kognitive Orientierungsfunktion verzichten, die Peers in regelmäßigen Interaktionen in Kita, Schule und Freizeit bieten – in einem Lebensalter, in dem die eigene Biographie erst in Grundzügen geschrieben, die Identität noch nicht gefestigt oder vollständig entwickelt ist.

Auch wenn das Planen und Schreiben dieses Buches schon in der Zeit vor der Pandemie begannen, so hat sich doch die Relevanz der Themen, über die hier berichtet wird, in der Zeit der Krise besonders deutlich gezeigt: Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen können wir nicht angemessen oder erschöpfend beschreiben, ohne die Einflüsse zu berücksichtigen, die sie wechselseitig aufeinander haben. Der Einfluss der Peers entfaltet sich in kleinen oder größeren Gruppen; er wird deutlich in formellen Bildungskontexten, z. B. in Kitas und Schulen, ebenso wie an informellen Lernorten, z. B. in den Familien oder Freizeiteinrichtungen.

Die für die Beschreibung und Analyse von Peerbeziehungen bedeutsamen sozialökologischen und entwicklungspsychologischen Dimensionen werden in dem einleitenden Beitrag von Peter F. Titzmann und Philipp Jugert aufgespannt. Sie zeigen die Komplexität von Peerbeziehungen auf, die sich auf der Ebene von Freundschaften zwischen zwei Menschen, in Cliquen und der Jugendkultur ausdrückt. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in ihrem Kapitel das Jugendalter, denn diese Lebensphase bringt Entwicklungsaufgaben mit sich, die insbesondere auch innerhalb von Peerbeziehungen bearbeitet und gelöst werden. Im Einführungsteil des Buches wird weitergehend auf die methodischen Herausforderungen eingegangen, denen sich Forschende und pädagogische Fachkräfte gegenübersehen, wenn sie Peerbeziehungen systematisch beschreiben und analysieren wollen. Thorsten Henke stellt Verfahren für die Messung von Peerbeziehungen im Klassenzimmer dar, mit denen u. a. auch wechselseitige Einflüsse zwischen Peers abgebildet werden können. Studierende und in der Praxis tätige Lehrkräfte lernen in diesem Kapitel Fragebögen zur Erfassung der subjektiven Integration in Peerbeziehungen kennen und erhalten Hinweise darauf, wie sie soziometrische Befragungen im Klassenzimmer durchführen und auswerten können.

Der zweite Abschnitt des Buches, »Förderliche und hinderliche Einflüsse der Peers auf den Erwerb fachlicher und fachübergreifender Kompetenzen«, vereint Aufsätze, in denen Auswirkungen von Peerbeziehungen analysiert werden. Dabei wird deutlich, dass Peers sich in der Entwicklung ihres Verhaltens, ihrer Kompetenzen und Einstellungen sowohl in günstiger als auch ungünstiger Weise wechselseitig beeinflussen können. Marion Reindl beschreibt in ihrem Beitrag die verschiedenen Mechanismen, über die sich Peerbeziehungen auf Merkmale auswirken, die im Kontext der Schule von besonderer Bedeutung sind, nämlich auf die Motivation und die schulischen Leistungen der Lernenden. Im Kapitel von Christoph M. Müller werden die Herausbildung prosozialer Verhaltensweisen und die Verstärkung antisozialer Verhaltensweisen in Peerbeziehungen im Klassenzimmer dargestellt. Es wird aufgezeigt, warum nicht alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen empfänglich für Peereinflüsse sind und wie Eltern oder Lehrkräfte wünschenswerte Einflüsse von Peers verstärken und negative Einflüsse abschwächen können. Christine Schmid und Burkhard Gniewosz beleuchten die Bedeutung der Peers für die Entwicklung politischen Engagements im Jugendalter. Sie arbeiten heraus, dass Jugendliche sich Freundschaftscliquen anschließen, die ihre eigenen politischen Einstellungen widerspiegeln, und sich innerhalb dieser Cliquen in ihren Einstellungen über die Zeit noch ähnlicher werden. Dabei erläutern sie die diesen Veränderungen zugrundliegenden psychologischen Prozesse, beispielsweise das Lernen am Modell und die soziale Identitätsentwicklung. Belinda Berweger und Bärbel Kracke untersuchen die Bedeutung von Peers in beruflichen Orientierungs- und Entscheidungsprozessen. Der Entscheidung (Commitment) für einen Ausbildungsgang oder einen bestimmten Beruf geht die Exploration verschiedener Optionen voraus, bei der Jugendliche individuelle Interessen und Fähigkeiten ausloten und mit den Anforderungen der beruflichen Umwelt, aber auch mit den beruflichen Ambitionen ihrer Peers und den im Umfeld gültigen Peernormen abgleichen. Peers können auf diese Weise den Berufsfindungsprozess fördern, weil sie Informationen und emotionale Unterstützung bieten können. Die Autorinnen stellen jedoch auch dar, wie nachteilige Peereffekte entstehen können, wenn Jugendliche in dem Streben, mit Peernormen konform zu gehen, eigene Entwicklungspotenziale ungenutzt lassen.

Im dritten Teil des Buches, »Heterogenität und Peerbeziehungen«, werden Merkmale in den Blick genommen, anhand derer sich Kinder und Jugendliche, die in gemeinsame Peerbeziehungen einbezogen sind, unterscheiden können. Der einleitende Beitrag von Hanna Dumont beschäftigt sich mit Kompositionseffekten schulischer Lerngruppen, die einen eigenständigen Beitrag zur Erklärung von Unterschieden in der Lern- und Leistungsentwicklung verschiedener Gruppen von Schülerinnen und Schülern liefern. Mit ihrem Kapitel möchte sie Antworten darauf geben, wie Lehrkräfte zunehmender Heterogenität in Schulen und Schulklassen Rechnung tragen können. Bettina Hannover stellt in ihrem Kapitel dar, warum Menschen soziale Interaktionen mit gleichgeschlechtlichen (relativ zu andersgeschlechtlichen) Peers präfieren. Sie zeigt auf, dass die überwiegenden Interaktionen mit gleichgeschlechtlichen Peers Geschlechtstypisierung in Verhalten und fachlichen Präferenzen begünstigen. Abschließend diskutiert sie, wie Lehrkräfte Peerinteraktionen über Geschlechtergrenzen hinweg anregen können. Das besondere Potenzial kulturell und ethnisch heterogener Klassenzimmer, Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Gruppen über kooperative Lernformen zusammenzuführen, ist Ausgangspunkt des Beitrags von Lysann Zander. Dabei stellt die Überwindung der Tendenz, bevorzugt mit ähnlichen Mitschülern und Mitschülerinnen zu interagieren, eine Herausforderung für Lehrkräfte dar. Das Kapitel gibt folglich verschiedene forschungsbasierte Anregungen, wie Schulen als Institutionen sowie Lehrpersonen dazu beitragen können, freundschaftliche und kooperative Beziehungen zwischen Peers mit und ohne Zuwanderungshintergrund zu stärken. Jürgen Wilbert und Johanna Krull zeigen auf, dass Kinder und Jugendliche mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten von sozialer Ausgrenzung in Peerkontexten bedroht sind. Nach einer Darstellung möglicher Ursachen und Erklärungsansätze wird beschrieben, wie Lehrkräfte Beziehungen zwischen allen Schülerinnen und Schülern einer Klasse verbessern und die soziale Teilhabe von Lernenden mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten fördern können.

Im vierten Abschnitt des Buches, »Aufbau und Gestaltung positiver Peerbeziehungen. Voraussetzungen und Interventionsansätze«, wird die Frage in den Blick genommen, wie Peerbeziehungen in institutionalisierten Bildungskontexten gefördert werden können. Katja Bianchy und Susanne Jurkowski arbeiten in ihrem Kapitel heraus, dass Erziehende und Lehrende durch die Art und Weise, in der sie ihre eigenen Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen gestalten, selbst zum Modell für Peerbeziehungen werden können. Auch durch die gezielte Gestaltung von Interaktionssituationen können Erziehungs- und Lehrpersonen positive Interaktionserfahrungen und sozial-emotionale Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen fördern, was sie am Beispiel zweier Förderprogramme veranschaulichen. Marvin Harks geht in seinem Beitrag darauf ein, welche Kompetenzen Lehrkräfte für eine zielgerichtete Förderung von Peerbeziehungen im Klassenzimmer benötigen. Präzises Wissen über die Peerbeziehungen in der Klasse sowie die Einstellung, als Lehrkraft für die Beziehungsgestaltung verantwortlich zu sein, werden als zwei zentrale, sich gegenseitig beeinflussende Voraussetzungen für professionelles Lehrkräftehandeln diskutiert. Er zeigt auf, wie z. B. im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften die Urteilsgenauigkeit zur Beschreibung von Peerbeziehungen und Einstellungen zur Verantwortung prosozialer Peerbeziehungen im Klassenzimmer gestärkt werden können. Miriam Schwarzenthal, Maja Schachner und Linda Juang beschäftigen sich mit der Situation neu zugewanderter und geflüchteter Schülerinnen und Schüler. Sie machen deutlich, dass sowohl im Aufnahmeland aufgewachsene als auch neu zugewanderte Peers interkulturelle Kompetenzen erwerben und Vorurteile abbauen müssen, um ein konstruktives Miteinander im Klassenzimmer zu ermöglichen. Lehrkräfte können diese Prozesse unterstützen, indem sie in ihren Klassen positive Kontaktnormen fördern, aber auch eigene Stereotype reflektieren. Madeleine Kreutzmann beschreibt in ihrem Beitrag die psychologische Bedeutsamkeit des Erlebens von Zugehörigkeit in der schulischen Lernumgebung. Sie thematisiert die pädagogische Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden als eine Grundvoraussetzung des Zugehörigkeitserlebens. Ansätze zur Förderung des Zugehörigkeitsgefühls zu Peers und zur Schule als Institution werden in ihrer Bedeutung für die Praxis vorgestellt. Elisabeth Höhne und Theresa Niemann untersuchen den Austausch fachlicher Hilfe zwischen Peers als eine bedeutsame Strategie selbstregulierten Lernens und kontrastieren dabei analoge und digitale Lernumwelten. Sie arbeiten Faktoren heraus, die die fachliche Hilfesuche unter Peers beeinflussen, und formulieren Anregungen, wie Lehrkräfte im analogen und digitalen Unterricht Hilfesuche und Austausch von Hilfe zwischen Schülerinnen und Schülern wirkungsvoll unterstützen können. In dem das Buch abschließenden Beitrag stellen Lysann Zander, Madeleine Kreutzmann und Bettina Hannover musisch-kreative Tanzprojekte als eine besondere Form kooperativen Peerlernens an Schulen dar. Am Beispiel eines von ihnen wissenschaftlich begleiteten und an vielen Schulen implementierten Projektes zeigen sie auf, wie wiederholter gemeinsamer Tanzunterricht zu einer Intensivierung von Peerbeziehungen beitragen und das Zugehörigkeitsgefühl zur Schulklasse verbessern kann.

Wir hoffen, mit dem Buch Studierende, Forschende und pädagogisches Fachpersonal anzuregen, das Potenzial, das Peerbeziehungen für die akademische und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bergen, noch präziser zu analysieren und noch stärker zu nutzen als dies in der Vergangenheit geschehen ist. Die Beiträge wurden sorgfältig so gestaltet, dass sie von Studierenden bereits im Bachelorstudium und auch von Fachkräften und Eltern gelesen werden können, die keine methodische oder psychologisch-pädagogische Vorausbildung zum Thema mitbringen. Dennoch dürften auch Menschen, deren eigenes Forschungsgebiet oder Beschäftigungsfeld die Peerbeziehungen sind, von der Dokumentation des Forschungsstandes und insbesondere der Ableitung praktischer Handlungsempfehlungen profitieren können.

Für ihre wertvollen Hinweise und die sorgfältige Korrekturarbeit bei der Zusammenstellung dieses Buches möchten wir uns – auch im Namen der Autorinnen und Autoren – ganz herzlich bei unserer Mitarbeiterin Nina Mulaimović bedanken.

Im März 2021Madeleine Kreutzmann, Lysann Zander, Bettina Hannover

I           Theoretische und methodische Grundlagen der Peerforschung aus pädagogischer und bildungs- wissenschaftlicher Perspektive

 

 

1          Peerbeziehungen: Sozialökologische und entwicklungspsychologische Aspekte

Peter F. Titzmann & Philipp Jugert

Zusammenfassung

•  Die Komplexität von Peerbeziehungen drückt sich in dyadischen Freundschaften sowie in Cliquen, Crowds und der Jugendkultur aus.

•  Unterschiedliche Prozesse führen zu Ähnlichkeiten in Peerbeziehungen. Man spricht auch vom sogenannten Ähnlichkeitsprinzip in Freundschaften.

•  Im Jugendalter sind Freundschaften von vielfältigen biologischen, kognitiven und sozialen Veränderungen gekennzeichnet.

•  Aus dem Wissen über das Ähnlichkeitsprinzip von Freundschaften sowie über die biologischen, kognitiven und sozialen Veränderungen können Interventionsmöglichkeiten für Bildungseinrichtungen abgeleitet werden, die es ermöglichen, eine entwicklungsförderliche Umgebung für die Jugendlichen zu gestalten.

Einleitung

Im Jugendalter gewinnen Peerbeziehungen für die Entwicklung des Einzelnen zunehmend an Bedeutung, während gleichzeitig die Abhängigkeit von den Eltern abnimmt (Brown & Klute, 2008; Steinberg & Silverberg, 1986). Positive Peerbeziehungen wie gegenseitige Freundschaften erfüllen dabei vielfältige Funktionen: Sie vermitteln Jugendlichen ein Gefühl der Akzeptanz und Zugehörigkeit; helfen ihnen, soziale Kompetenzen zu entwickeln; unterstützen sie bei ihren ersten Schritten in Richtung romantischer Beziehungen und können die Wahrnehmung und Regulierung von Emotionen positiv beeinflussen (Adams & Berzonsky, 2003; Hartup, 1996). Ihre Bedeutung zeigt sich auch in der Tatsache, dass Freundschaften im Jugendalter zum Selbstwertgefühl und zum Erleben sozio-emotionaler Unterstützung beitragen (Hartup, 1996) sowie die langfristige Anpassung in anderen Entwicklungsbereichen – wie dem Arbeits- oder Partnerschaftsumfeld – erleichtern (Roisman, Masten, Coatsworth & Tellegen, 2004). Angesichts dieser vielfältigen positiven Funktionen von Peerbeziehungen wird der Aufbau reifer wechselseitiger Freundschaften als wichtige Entwicklungsaufgabe für das Jugendalter betrachtet, wenn auch erste und prägende Freundschaftserfahrungen bereits in den Vorschuljahren gemacht werden und wichtig sind (Havighurst, 1972).

Aufgrund der Bedeutung von Peers hat sich die psychologische Forschung bereits seit geraumer Zeit mit dieser Form sozialer Beziehungen beschäftigt. In diesem Kapitel möchten wir vor allem drei universelle Aspekte der Peerbeziehungen näher beleuchten:

(a)  die Ökologie von Peerbeziehungen;

(b)  die Ähnlichkeit als allgemeines Prinzip bei der Bildung und Aufrechterhaltung von Freundschaften und

(c)  die sich im Laufe der ersten Lebensjahrzehnte entwickelnden Veränderungen in Freundschaften.

1.1       Ökologische Aspekte von Peerbeziehungen

Peerbeziehungen sind stets in eine komplexe Ökologie eingebettet. Basierend auf Arbeiten von Bronfenbrenner (1995) entwickelte Brown (1999) ein Modell, das die Peer-Ökologie der sozialen Beziehungen von Jugendlichen darstellt. Es differenziert zwischen dyadischen Beziehungen (beste Freundinnen und Freunde, romantische Beziehungen), Cliquen kleiner Freundschaftsgruppen, größeren Gruppen von Gleichaltrigen (Crowds) sowie einer übergeordneten Jugendkultur.

Obwohl diese Peer-Strukturen miteinander zusammenhängen, hat jede von ihnen eine spezifische Funktion bei der Entwicklung der bzw. des Jugendlichen (Brown, 1999). Die Funktion der dyadischen Beziehungen ist es, gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln und zwischenmenschliche soziale Fähigkeiten zu trainieren. Cliquen (kleine Freundschaftsgruppen, die aus etwa drei bis zehn Jugendlichen bestehen und sich regelmäßig treffen und sehen) bilden dagegen die Basis für gemeinsame Aktivitäten und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Der Unterschied zwischen besten Freundinnen bzw. Freunden und Cliquen wurde beispielsweise im Zusammenhang einer Studie zu Substanzkonsum deutlich: Urberg, Degirmencioglu und Pilgrim (1997) fanden, dass beste Freundinnen und Freunde (dyadische Beziehung) vor allem für die Initiation von Zigarettenkonsum wichtig waren, während die Clique dazu animierte, Zigaretten regelmäßig zu konsumieren. Diese Ergebnisse zeigen – unabhängig vom untersuchten Verhalten –, dass unterschiedliche Peer-Strukturen spezifische Verhaltensmotivationen mit sich bringen. Ähnlich zeigte Hussong (2002), dass zwar beste Freundinnen und Freunde den größten Einfluss auf Substanzkonsum (Alkohol und Marihuana) von Jugendlichen ausüben, dass aber Cliquen und Peergruppen diesen Einfluss moderieren. So können Cliquen sowohl einen verstärkenden als auch einen reduzierenden Einfluss auf den Substanzkonsum von Jugendlichen haben, je nachdem, ob sie mehr oder weniger Substanzen konsumieren als der beste Freund oder die beste Freundin.

Crowds sind abstrakte größere Gruppen, an die sich Einzelpersonen gebunden fühlen, deren Mitglieder sie aber nicht sämtlich persönlich kennen müssen (Brown & Klute, 2008). Crowds können beispielsweise die Fans eines bestimmten Sportvereins, Menschen aus einer bestimmten geographischen Region, eines bestimmten Stadtteils oder auch Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe sein. Sie sind daher nicht durch konkrete Individuen definiert, sondern beruhen auf formellen (Nachbarschaft, ethnische Gruppe) oder informellen (Interessen, Überzeugungen) Gruppenzugehörigkeiten (Brown, 1999)1. Für Jugendliche liefern die Crowds vor allem Vorbilder für die Entwicklung von Verhalten und Identität. Identifizieren sich Jugendliche mit einer bestimmten Crowd, versuchen sie, ihr eigenes Verhalten an die Normen der jeweiligen Crowd anzupassen. So ist es unwahrscheinlich, dass der Fan eines bestimmten Sportklubs trotz eines brillanten Spielzugs der Gegnerin oder des Gegners diesem überschwänglichen Beifall spendet, oder dass ein Mitglied einer Jugendgang gegen deren wahrgenommenen Verhaltenskodex verstößt, in dem er oder sie Geheimnisse der Jugendgang an Mitglieder einer verfeindeten Gruppe weitergibt. Jugendliche können sich mehreren Crowds zugehörig fühlen, wobei die wahrgenommene Zugehörigkeit je nach Situation variieren kann. Im Stadion wird die Zugehörigkeit zum Sportverein wahrscheinlich deutlicher erlebt als die Zugehörigkeit zur Nachbarschaftscrowd, beim Stadteilfest ist es wahrscheinlich umgekehrt.

Die Jugendkultur, die vierte Peer-Struktur, ist der abstrakteste Teil der Peer-Ökologie von Brown (1999) und weist einige Parallelen zu Bronfenbrenners (1995) Makrokontext auf, der sich auf Kultur und Gesellschaft bezieht. Die Jugendkultur beeinflusst alle Kinder und Jugendlichen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in einer bestimmten Kultur oder Region in ähnlicher Weise. Am besten ist ihr Einfluss zu erkennen, wenn man den allgemeinen jugendlichen Lebensstil zu verschiedenen historischen Epochen vergleicht. So war die 68er Generation in West-Deutschland durch eine Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Eltern in der NS-Zeit und dem Engagement für gesellschaftliche Freiheiten geprägt. Heutzutage findet die Jugendkultur ihren Ausdruck vor allem durch die Anmahnung eines verantwortungsvolleren Umgangs mit natürlichen Ressourcen im Kontext des Klimawandels (Albert et al., 2019).

Alle Erfahrungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen sind in gewissem Maße von diesen Peer-Strukturen geprägt. Umgekehrt haben auch die Jugendlichen selbst die Möglichkeit, diese Strukturen zu formen. Dabei können die verschiedenen Peer-Strukturen jedoch in unterschiedlichem Ausmaß durch die einzelne Jugendliche bzw. den einzelnen Jugendlichen verändert werden. In den direkten Beziehungen zu besten Freundinnen und Freunden, romantischen Partnerinnen und Partnern und in Cliquen haben Jugendliche mehr Einflussmöglichkeiten und können auf die jeweils anderen durch Argumente oder Handlungen einwirken. Eine Veränderung der Crowds oder der Jugendkultur durch eine einzelne Jugendliche bzw. einen einzelnen Jugendlichen ist jedoch kaum möglich, es sei denn, er oder sie kann eine hinreichend große Zahl anderer Jugendliche hinter sich versammeln, um eine relevante Einflussgruppe zu bilden. Er bzw. sie kann diese Peer-Strukturen vor allem durch persönliches Konsumverhalten oder durch soziales Engagement verändern. Die Bewegung »Fridays for Future« stellt ein Beispiel dafür dar, wie Jugendliche durch die Teilnahme an Demonstrationen einen Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Jugendkultur (als aktiv und politikinteressiert und nicht als politisch apathisch) erzeugen können (Kap. 5).

1.2       Das Ähnlichkeitsprinzip in Peerbeziehungen

Peerbeziehungen beruhen auf dem Ähnlichkeitsprinzip (Hartup & Stevens, 1997). Freundinnen und Freunde sind in vielen Aspekten ähnlich, zunächst in Bezug auf demographische Merkmale wie Alter, Geschlecht, soziale Schicht und ethnische Zugehörigkeit (Kandel, 1978), aber mit zunehmendem Alter auch in Bezug auf Sozialverhalten, Einstellungen, Interessen und Persönlichkeitseigenschaften (Poulin et al., 1997). Warum aber besteht diese Ähnlichkeit in Freundschaften?

Freundschaften werden theoretisch als Beziehungen zwischen Gleichrangigen beschrieben (Sullivan, 1953) und beruhen auf Gegenseitigkeit und Engagement (Hartup, 1993). Ähnlichkeit in Freundschaften ist wichtig, weil es die Kommunikation erleichtert, zu einem besseren Verständnis des oder der anderen führt und das Vertrauen erhöht – alles Prozesse, die Beziehungen belohnender, stabiler und weniger konfliktanfällig machen (Byrne, 1971; Laursen, Hartup & Koplas, 1996). Außerdem wird die Auswahl gemeinsamer Aktivitäten einfacher und ihre Ausübung wird von beiden Parteien ähnlich positiv bewertet.

Drei Prozesse sind für die Ähnlichkeit zwischen Freundinnen und Freunden maßgeblich verantwortlich: Die anfängliche Auswahl ähnlicher Peers als Freundinnen und Freunde (Selektion); die wechselseitige Sozialisierung (Einfluss), die mit der Zeit zu größerer Ähnlichkeit führt und die Ablösung (Deselektion) von nicht passenden Freundinnen und Freunden (van Workum et al., 2013). Allerdings muss man berücksichtigen, dass diese drei Prozesse nicht in einem sozialen Vakuum stattfinden, sondern je nach den gegebenen Möglichkeiten variieren können. So sind soziale Kontexte (z. B. Schulen) häufig bereits in Bezug auf Merkmale wie soziale Schicht und ethnische Zugehörigkeit strukturiert, wodurch die Wahrscheinlichkeit, auf ähnliche Peers zu treffen, größer ist als die, auf unähnliche Peers zu treffen (Blau, 1977; Feld, 1982). Zudem spielen Eltern eine nicht unerhebliche Rolle bei der Auswahl der Peers ihrer Kinder. Sie haben Einfluss auf die Art und Weise, wie ihre Kinder mit anderen interagieren (z. B. durch die Vermittlung sozialer Kompetenzen), und stellen Opportunitäten für Kontakte mit bestimmten Peers her, beispielsweise durch die Förderung bestimmter Freizeitaktivitäten (McDowell & Parke, 2009). Dieses elterliche Verhalten macht Freundschaften zu ähnlichen Peers wahrscheinlicher, da den Kindern damit Verhaltensskripte und Gelegenheiten für Interaktionen mit ähnlichen Peers zur Verfügung gestellt werden.

Für die Selektion von Freundinnen und Freunden sind sichtbare Charakteristiken (z. B. Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit, aber auch Verhaltensweisen wie Rauchen und Alkoholkonsum) relevanter als persönliche Überzeugungen oder Einstellungen (Hartup, 1993). Dies liegt vermutlich daran, dass persönliche Einstellungen erst im Verlauf des Kennenlernens deutlich werden, im Unterschied zu beobachtbaren Merkmalen der Person. So zeigte z. B. eine Studie, dass ethnische Zugehörigkeit in neu zusammengesetzten Sekundarschulklassen am Anfang ein wichtiges Selektionskriterium für Freundschaften darstellte, dieses Oberflächenmerkmal aber im Verlauf des Schuljahres, in dem sich die Schülerinnen und Schüler besser kennenlernten, an Bedeutung verlor (Jugert, Noack & Rutland, 2011).

Neben der ethnischen Zugehörigkeit ist das Geschlecht das bei weitem wichtigste Oberflächenmerkmal für Freundschaften, vor allem im frühen und mittleren Jugendalter (Brown & Larson, 2009; Maccoby, 2002; Mehta & Strough, 2009). Ähnlichkeit zwischen Freundinnen und Freunden in soziodemographischen Merkmalen ist eindeutig auf Selektion zurückzuführen, da sie durch Freundschaften nicht veränderbar sind. Ähnlichkeit in Einstellungen und Verhaltensweisen kann hingegen sowohl durch Selektion oder Einfluss (Sozialisation) zustande kommen. Für eine saubere Trennung von Selektions- und Einflussprozessen in empirischen Untersuchungen werden daher längsschnittliche Daten und soziale Netzwerkanalysen benötigt (Veenstra, Dijkstra, Steglich & Van Zalk, 2013; Kap. 2).

Entsprechende Studien zeigen z. B., dass Jugendliche sich eher mit solchen Jugendlichen befreunden, die ihnen in Bezug auf internalisierende Probleme (Ängstlichkeit, Depression, Einsamkeit) ähnlich sind. Auf der anderen Seite beenden Jugendliche Freundschaften zu Jugendlichen, die ihnen in Bezug auf internalisierende Probleme oder dem generellen Wohlbefinden unähnlich sind (Kiuru et al., 2012; van Workum et al., 2013; Zalk et al., 2010). Diese Befunde verdeutlichen, dass das Ausmaß an Ähnlichkeit zwischen Freundinnen und Freunden nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens, sondern auch die Auflösung von Freundschaften beeinflusst. Unähnlichkeit führt demnach zu Unzufriedenheit mit der Beziehung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Beziehung nicht weitergeführt wird (Veenstra, Dijkstra & Kreager, 2018).

Für externalisierendes Verhalten (Delinquenz, Aggression) wurde nachgewiesen, dass sich Jugendliche bevorzugt miteinander befreunden (Selektion), wenn sie sich in ihrem delinquenten Verhalten bereits ähnlich sind. In der Freundschaft passen diese Jugendlichen sich dann weiter im Ausmaß der Delinquenz aneinander an (Einfluss). Belege dafür, dass sich Jugendliche auch bevorzugt mit anderen befreunden, die ihnen im Ausmaß ihres aggressiven Verhaltens ähnlich sind, liegen hingegen bisher nicht vor (Jose et al., 2016; Logis et al., 2013; Osgood, Feinberg & Ragan, 2015).

Selektions- und Einflussprozesse spielen auch eine Rolle bei der Erklärung von Substanzkonsum im Jugendalter. So zeigte sich beispielsweise, dass die Wahl von Freundinnen und Freunden in Abhängigkeit davon, ob sie ebenfalls rauchen bzw. ebenfalls nicht rauchen (Selektion), das Rauchverhalten im mittleren und späten Jugendalter besonders gut erklären kann (DeLay, Laursen, Kiuru, Salmela-Aro & Nurmi, 2013). Im frühen Jugendalter spielen dagegen eher Einflussprozesse eine Rolle für Tabakkonsum, hier werden Jugendliche also eher von Freundinnen und Freunden zu einer Veränderung ihres Rauchverhaltens gebracht (Osgood et al., 2015; Steglich, Snijders & Pearson, 2010). Diese Befunde legen nahe, dass Tabakkonsum nach einer gewissen Probierphase im frühen Jugendalter abhängig macht und danach soziale Einflüsse auf das Rauchverhalten eine geringere Rolle spielen (Veenstra et al., 2018). Zusammenfassend legen die Studien, in denen der relative Einfluss von Selektions- und Einflussprozessen empirisch ermittelt wurde, nahe, dass beide Prozesse je nach Altersgruppe unterschiedlich wirken. Gerade zur Prävention problematischer Verhaltensweisen ist die analytische Trennung zwischen beiden Prozessen wichtig, um altersgerechte, zielführende Angebote entwickeln zu können.

1.3       Veränderungen von Peerbeziehungen von der Kindheit zur Jugend

Freundschaftsbeziehungen unter Jugendlichen sind typischen normativen Veränderungsprozessen unterworfen, also Veränderungen, die in der Regel alle Jugendlichen betreffen. Im Jugendalter müssen sich Menschen mit erheblichen biologischen, psychologischen und sozialen Veränderungen auseinandersetzen (Gniewosz & Titzmann, 2018). Biologische Veränderungen umfassen vor allem die körperliche Reifung (z. B. Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale), assoziierte hormonelle Prozesse sowie neurophysiologische Veränderungen im Gehirn (Fuhrmann, Knoll & Blakemore, 2015; Kulin & Müller, 1996). Daneben kommt es zu sozialen Veränderungen, die sich beispielsweise in einer Neuaushandlung von Autonomie und Verbundenheit mit Eltern und Peers zeigen (Allen, Hauser, Bell & O’Connor, 1994; Brown & Klute, 2008). Kognitive Veränderungen zeigen sich in einem verbesserten strategischen Denken sowie einer verbesserten Emotions- und Selbstregulation (Larson, 2011; Steinberg, 2015).

Studien, die diese kognitiven Veränderungen untersuchten, zeigten mithilfe von Hirnscans, dass das neuronale Belohnungssystem – der Teil des Gehirns, der die Entscheidungsfindung basierend auf Belohnung und Bestrafung beeinflusst – schneller reift als das System zur kognitiven (Selbst-)Kontrolle, welches Verhaltensimpulsive reguliert. Diese Unterschiede führen dazu, dass Jugendliche in dieser Entwicklungsphase eine erhöhte Sensitivität für Belohnungen aufweisen, aber weniger kognitive Kontrolle über Impulse ausüben können (z. B. nachdenken über Konsequenzen des eigenen Tuns). Diese Diskrepanz zwischen der Suche nach Stimulation (Belohnungssystem) und dem Abwägen der Folgen (verzögerte Kontrolle) wird mit einem stärkeren Risikoverhalten (Rauchen, riskante sportliche Aktivitäten, Mutproben) in Zusammenhang gebracht (Steinberg, 2015).

Die beschriebenen biologischen, psychologischen und sozialen Veränderungen des Jugendalters gehen außerdem damit einher, dass sich der junge Mensch neuen Entwicklungsaufgaben gegenübersieht. Entwicklungsaufgaben sind Aufgaben, die gesellschaftliche Erwartungen darüber widerspiegeln, welche Entwicklungsschritte in bestimmten Lebensphasen erreicht werden sollten (Hutteman et al., 2014). Aus der Lösung von Entwicklungsaufgaben geht die Person in der Regel mit gestärkten Kompetenzen hervor, die in der jeweiligen Lebensphase bedeutsam sind, wie z. B. physischer, sozialer, intellektueller oder emotionaler Fähigkeiten (Havighurst, 1972). Eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters ist, eine neue Qualität in Freundschaftsbeziehungen zu entwickeln (Havighurst, 1972). Während in der frühen Kindheit Freundschaften vor allem durch gemeinsame Aktivitäten definiert sind, werden Freundinnen und Freunde in der Jugend zunehmend zu Vertrauten mit gegenseitiger Offenbarung und gegenseitiger stabiler, emotionaler Bindung (Epstein, 1989; Hartup & Stevens, 1997). Mit abnehmender Abhängigkeit von den Eltern gewinnen die Beziehungen zu Gleichaltrigen zunehmend an Bedeutung für die weitere Entwicklung der Jugendlichen (Brown & Klute, 2006; Steinberg & Silverberg, 1986). Beginnend mit der Präadoleszenz (neun bis zwölf Jahre) werden Freundschaften wichtig, um Bedürfnisse nach Intimität, Akzeptanz und Gemeinschaft zu erfüllen. Diese Bedürfnisse werden zunächst hauptsächlich in gleichgeschlechtlichen Freundschaften befriedigt, im späteren Jugendalter dann aber auch in gegengeschlechtlichen und romantischen Beziehungen. Emotionale (nicht jedoch instrumentelle) Unterstützung durch das Elternhaus nimmt im frühen Jugendalter ab und die Unterstützung von Freundinnen und Freunden wird wichtiger (del Valle, Bravo & López, 2010). Dennoch bleibt elterliche Unterstützung der beste Prädiktor für geringe emotionale Probleme im Jugendalter (Helsen, Vollebergh & Meeus, 2000).

Die Stabilität und die Reziprozität (das Ausmaß gegenseitigen Investments in die Beziehung) innerhalb von Freundschaften nimmt während des Jugendalters zu (Epstein, 1983). Freundschaften im Jugendalter sind außerdem durch zunehmende Intimität gekennzeichnet, die sich u. a. in Direktheit und Spontaneität, Verständnis des oder der anderen, Gefühlen der Verbundenheit, Exklusivität der Beziehung, Teilen sowie Vertrauen und Loyalität zeigt (Sharabany, 1994). Allerdings gibt es hier Geschlechtsunterschiede – Freundschaften zwischen Mädchen zeichnen sich im Mittel durch höhere Intimität aus als die zwischen Jungen (Rudolph, Ladd & Dinella, 2007), was darauf zurückgeführt wird, dass Mädchen sich stärker als Jungen über ihre Gefühle austauschen (Rose, 2002).

1.4       Forschungsdesiderate

Die beschriebenen Aspekte zeigen, dass die Forschung bereits viel Wissen über Freundschaften akkumuliert hat. Es gibt allerdings noch Forschungslücken. Eine dieser Lücken betrifft das Zusammenspiel von risikoerhöhenden und protektiven Effekten, da Freundschaften sowohl eine protektive Funktion haben als auch einen Risikofaktor für die weitere Entwicklung einer bzw. eines Jugendlichen darstellen. So zeigte ein Vergleich zwischen Jugendlichen, die regelmäßig Opfer von Bullying waren, und solchen, für die dies nicht galt, dass die Opfer-Gruppe weniger Freundinnen und Freunde hatte als die anderen Jugendlichen (Scholte et al., 2009). Dieser Unterschied könnte dafür sprechen, dass Freundschaften eine schützende Funktion im Kontext von Bullying haben. Neben diesen direkten positiven Effekten können Freundschaften auch helfen, die negativen Folgen von sozialen Ausgrenzungserfahrungen mit Peers abzufedern. Allerdings hängt die protektive Funktion von Freundschaften maßgeblich von der Art der Freundschaft und den gemeinsamen Aktivitäten ab. So führt der gemeinsame Austausch unter (zumeist männlichen) antisozialen Jugendlichen zu einer Verstärkung devianten Verhaltens (Piehler & Dishion, 2007), während der exzessive Austausch über Probleme und negative Gefühle unter weiblichen Freundinnen depressive Symptome verstärken kann (Rose, 2002) – beides sind Beispiele für Risiken in den beiden Geschlechtergruppen. Auch wenn sowohl positive als auch negative Aspekte von Freundschaften untersucht worden sind, gibt es bisher kaum Arbeiten zum Zusammenspiel von positiven und negativen Aspekten. Eine Studie zu diesem Zusammenspiel zeigte, dass (gesellschaftlich nicht erwünschte) leichte Delinquenz im Jugendalter mit höherer Selbstwirksamkeit einherging als starke Delinquenz oder die Abwesenheit delinquenten Verhaltens (Titzmann & Nissen, 2019). Dieses Ergebnis kann so interpretiert werden, dass Jugendliche leichte Formen delinquenten Verhaltens einsetzen, um Ansehen und Respekt bei den Peers zu gewinnen, wodurch sie sich dann als selbstwirksam erleben.

Eine weitere Aufgabe für die Peerforschung der kommenden Jahre besteht darin zu untersuchen, wie die zunehmende Diversität in modernen Gesellschaften (auch als »Superdiversity« bezeichnet, Meissner, 2020) die Peerbeziehungen im Jugendalter beeinflusst. So erleben Jugendliche eine wachsende kulturelle und ethnische Heterogenität. Hierin liegen Chancen und Risiken. So können positive interethnische Kontakte Vielfalt, Kreativität sowie Kooperation und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, während negative interethnische Kontakte in gegenseitigen Vorurteilen und Ablehnungen und interethnischen Konflikten münden können (Miklikowska, Bohman & Titzmann, 2019; Titzmann & Jugert, 2020; Kap. 9 und Kap. 13).

Praktische Implikationen

•  Verantwortliche in sozialen Berufen sollten sich der Komplexität von Peerbeziehungen im Jugendalter bewusst sein. Peer-Strukturen bestehen nicht nur in Form dyadischer Freundschaften, sondern auch aus Cliquen, Crowds und der Jugendkultur. Diese unterschiedlichen Aspekte der Peer-Ökologie haben eine spezifische Wirkung auf die Entwicklung von Jugendlichen und können sowohl erwünschtes als auch unerwünschtes Verhalten begünstigen. Eine Analyse, welche Peer-Struktur für die Erklärung unerwünschten oder fehlangepassten Verhaltens eines Jugendlichen besonders relevant ist, ist daher ein erster Schritt, geeignete Maßnahmen zur Veränderung einzuleiten.

•  Wissen über das Ähnlichkeitsprinzip in Freundschaften und über die beschriebenen biologischen, kognitiven und sozialen Veränderungen im Jugendalter kann genutzt werden, um entwicklungsförderliche Umwelten für Jugendliche zu gestalten. Bildungseinrichtungen und Kontexte zur Freizeitgestaltung von Jugendlichen sollten beispielsweise mit steigendem Alter der Jugendlichen auch Rückzugsmöglichkeiten und Raum für persönliche Gespräche bieten. Zudem benötigen ältere Jugendliche, die bereits Fortschritte in der Identitätsentwicklung gemacht haben, Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit und Identität mit anderen – ähnlichen – Jugendlichen auszuleben. Dafür muss es breit ausdifferenzierte Freizeitangebote geben, die neben der inhaltlichen Struktur auch Möglichkeiten für informellen Austausch und den Aufbau langfristig tragender Freundschaften bieten.

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1     Eine alternative Definition des Crowd-Begriffs stammt von Dunphy (1963), der unter Crowds das erweiterte Peernetzwerk von etwa 20 Personen versteht.

2          Grundlagen der Messung sozialer Strukturen und Verfahren zur Analyse von Peerbeziehungen im Klassenzimmer

Thorsten Henke

Zusammenfassung

•  Eine adäquate Erfassung der Peerbeziehungen und sozialen Strukturen im Klassenzimmer kann Lehrende dabei unterstützen, die Qualität von Peerbeziehungen positiv zu beeinflussen.

•  Der Einsatz standardisierter Fragebögen eignet sich vor allem dann, wenn die Selbstwahrnehmung der Lernenden von Interesse ist.

•  Eine Alternative hierzu ist die soziale Netzwerkanalyse. Sie ist in der Anwendung zwar anspruchsvoller, liefert durch die Verknüpfung von Selbst- und Fremdwahrnehmung jedoch ein objektiveres Bild der sozialen Strukturen in der Klasse.

Einleitung

Lernende verbringen einen erheblichen Anteil ihres Schultages in der Interaktion mit anderen: ihren Peers. Vermittelt über eine Vielzahl von Wirkmechanismen nehmen Peerinteraktionen Einfluss auf die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (vgl. Rodkin & Ryan, 2012; Rubin, Bowker & Kennedy, 2009; Zander, Kreutzmann & Hannover, 2017). Um die sozialen Strukturen im Klassenzimmer objektiv abbilden zu können, hat die Bildungsforschung in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Vielzahl an standardisierten Erhebungsinstrumenten und Methoden hervorgebracht. Auch in der Praxis von Lehrerinnen und Lehrern ist es mitunter bedeutsam, die Peerbeziehungen und die Integration von Lernenden in die Schulklasse adäquat erfassen und beschreiben zu können. Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick über zwei gebräuchliche Verfahren zur Messung von Peerbeziehungen in pädagogischen Kontexten: standardisierte Fragebögen und die soziale Netzwerkanalyse (SNA). Lehrende können die mithilfe der hier vorgestellten Instrumente und Methoden gewonnenen Informationen dazu nutzen, zielgerichtete Maßnahmen für ihren Unterricht abzuleiten, um sozialer Ausgrenzung im Klassenzimmer vorzubeugen und soziale Eingebundenheit, Wohlbefinden und Motivation der Lernenden zu stärken.

2.1       Die Messung von Peerbeziehungen mittels standardisierter Fragebögen

Vor allem in mittleren und groß angelegten Untersuchungen, sogenannten Large Scale Assessments (z. B. die PISA-Erhebungen; OECD, 2017), sind diese und ähnliche Selbsteinschätzungsskalen sehr gebräuchlich. Sie stellen eine etablierte Erhebungsmethode mit einer eigenen Forschungstradition dar und lassen sich in Bezug auf die Erfüllung der drei psychometrischen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität empirisch auf ihre Qualität prüfen (Bühner, 2011; Kromrey, Roose & Strübing, 2016). Darüber hinaus lassen sich Fragebögen im Vergleich zu anderen Methoden, wie Interviews, Beobachtungen oder auch die soziale Netzwerkanalyse (s. u.), testökonomisch einsetzen, d. h., sie sind sowohl kosteneffizient als auch sparsam, was den zeitlichen Aufwand für die beteiligten Kinder und Jugendlichen sowie die Lehrenden anbelangt. Konzeptionsbedingt lässt sich mittels Selbsteinschätzungsskalen in Fragebögen nur die subjektive Wahrnehmung der befragten Personen abbilden (Fiedler, 2014; Sedlmeier & Renkewitz, 2013). Oft ist gerade diese Innensicht der Befragten von Interesse, da davon ausgegangen wird, dass Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Umwelt Einfluss auf das Verhalten des Individuums nehmen (z. B. Selbstkonzept und Leistung, siehe z. B. Hannover et al., 2018). Ausführliche Einführungen in die Konzeption und Auswertung von Fragebögen für Lehrende an Schulen finden sich beispielsweise bei Hesse und Latzko (2017) sowie Helmke (2017).

2.2       Die Messung von Peerbeziehungen mittels sozialer Netzwerkanalyse

Eine Alternative zur klassischen Fragebogenmethode mit dem Potenzial einer objektiven Messung von Peerbeziehungen ist die soziale Netzwerkanalyse (SNA), auch bekannt unter dem Begriff Soziometrie2 (Moreno, 1934). Obgleich die SNA erst vor wenigen Jahren in den Fokus der Bildungsforschung rückte (Herz, 2014; Moolenar, 2010; Zander, 2013), ist sie in anderen Bereichen der Sozialwissenschaften schon länger prominent vertreten (Knoke & Yang, 2008; Moolenar, 2010) und verfügt daher über ein breit ausdifferenziertes Methodenrepertoire, das in den nachfolgenden Abschnitten skizziert werden soll.

2.2.1     Netzwerktypen und Datenerhebung

In einem typischen Instrument zur Erfassung eines sozialen Netzwerkes werden die Lernenden gebeten, ihre besten Freundinnen und Freunde anzugeben (vgl. Knoke & Yang, 2008). Die Lernenden erhalten dazu eine Liste aller Mitglieder der Klasse, auf der sie diejenigen Peers ankreuzen können, mit denen sie befreundet sind. Alternativ werden sie gebeten, die Namen ihrer Freunde oder Freundinnen in der Klasse aus dem Gedächtnis heraus aufzuschreiben. Der Vorteil, der sich aus der Vorlage einer Liste aller Mitglieder eines Netzwerks ergibt, liegt in einer stärkeren kognitiven Auseinandersetzung mit dem Material (Marsden, 2011), wodurch verhindert wird, dass Lernende bei der Beantwortung wichtige Verbindungen vergessen (Borgatti, Everett & Johnson, 2013). Bei jüngeren Befragten wird häufig das Ankreuzen oder Aufschreiben der Namen durch ein Kurzinterview ersetzt (z. B. bei Krull, Wilbert & Hennemann, 2014).

Neben sogenannten affektiven Netzwerken (z. B. Freundschaften, Sympathie, Beliebtheit) können auf diese Weise auch sogenannte kognitiv-instrumentelle Netzwerke von Lernenden erfragt werden (z. B. Hilfe und Austausch). Welcher dieser beiden Netzwerktypen adressiert wird, hängt von der zu beantwortenden Ausgangsfrage ab (Zander, Kreutzmann & Hannover, 2017; Zander, 2013). Für die Erfassung eines kognitiv-instrumentellen Netzwerktyps wäre beispielsweise die Frage »Wen fragst du bei deinen Hausaufgaben um Hilfe?« angemessen, wohingegen die Frage »Wen lädst du zu deiner Geburtstagsfeier ein?« auf ein affektives Netzwerk abzielt. Vor allem in Hinblick auf affektive Netzwerke ist nach wie vor umstritten, ob bei der Erhebung neben Positivnennungen (z. B. »Wen magst du?«) auch negative Nominationen (»Wen magst du nicht?«) erfragt werden sollten (Frederickson & Furnham, 2001). Der Vorwurf an dieser Stelle lautet, dass die Abfrage negativer Nominationen wie eine psychologische Intervention wirke und unmerklich vorhandene Antipathien durch die Fragestellung erst sichtbar gemacht würden oder eine Norm entstünde, dass es angemessen sei, Peers in der Klasse explizit abzulehnen (Bell-Dolan, Foster & Sikora, 1989; Cillessen, 2009; Rubin, Coplan et al., 2011). Dies allein ist ein gutes Argument dafür, in pädagogischen Kontexten lediglich positive Nennungen zu erfragen. Andererseits zeigen verschiedene Forschungsarbeiten (Herz, 2014; Veenstra et al., 2010), dass es gerade die negativen Nominationen sind, die ein besonders aufschlussreiches Bild über die Peerbeziehungen liefern. Veenstra et al. (2010) konnten beispielsweise anhand der gleichzeitigen Betrachtung von positiven und negativen Nominationen zeigen, dass die geringe Eingebundenheit in ein Freundschaftsnetzwerk als alleiniges Merkmal nicht vorhersagt, ob Lernende zum Ziel von Bullying werden. Erst ein zusätzlicher hoher Grad an Ablehnung, also negativen Nominationen, machte Lernende vulnerabel für Bullying.

Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Netzwerkdaten liegt darin, ob bei der Abfrage gerichtete (Englisch: directed) oder ungerichtete (Englisch: undirected) Beziehungen erfasst werden. In gerichteten Netzwerken (z. B. Freundschafts- oder Hilfenetzwerke) ist ausschlaggebend, von welcher Person eine Nominierung ausgeht. So kann beispielsweise aus der Tatsache, dass Person A die Person B als Freund oder Freundin genannt hat, nicht geschlossen werden, dass auch Person B die Person A als Freund oder Freundin nominiert. In ungerichteten Netzwerken hingegen wird lediglich erfasst, ob zwischen Person A und Person B