Augenhöhe statt Strafen - Kathrin Hohmann - E-Book

Augenhöhe statt Strafen E-Book

Kathrin Hohmann

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Beschreibung

Konflikte sind in der Kita an der Tagesordnung. Und das ist auch gut so, denn jeder Konflikt birgt eine Entwicklungschance. Dennoch sind Streitereien und Störungen anstrengend. Wie also damit umgehen, wenn es knallt? "Immer konsequent sein!", hat man so im Ohr. Aber wie können diese Konsequenzen aussehen? Und welche sind sinnvoll, damit ein Konflikt wirklich zur Chance wird?

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Hanel, Gestaltungssaal,

Rohrdorf bei Rosenheim

Satz: Sabine Hanel, Gestaltungssaal

Coverillustrationen: © redstone – shutterstock, © Dzm 1 try – shutterstock,

© pokki77 – shutterstock

Illustrationen im Innenteil: © Kathrin Hohmann, © Sabine Hanel,

© redstone - shutterstock, © Dzm 1 try – shutterstock

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN (Print) 978-3-451-39555-0

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82755-6

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82747-1

Inhalt

Einleitung

1Erziehungsmethoden hinterfragen – Beziehungsmomente kreieren

2Vorbildhaftes Verhalten

3Ausschluss und Auszeiten

4Körperliche Fixierung

5Wenn Fachkräfte laut werden

6Verhaltensampel und Ermahnungssysteme

7Konsequenzen und Strafen unterscheiden

8Zwang beim Essen

9Wiedergutmachung und Einfühlung statt Floskeln

10Partizipation gestalten

11Die Macht der Sprache

12Der pädagogische Werkzeugkoffer füllt sich

Exkurs: Die Reckahner Regeln für Kinder

Exkurs: Adultismus – die Macht der Erwachsenen

Exkurs: Biografische Zugänge entschlüsseln

Exkurs: Strafendes Verhalten minimieren

Exkurs: Was die Wissenschaft sagt

Exkurs: Entschuldigung als Floskel?

Exkurs: Die Gewaltfreie Kommunikation

Danke

Literatur

Ergänzende Links und Podcasts unter https://kathrinhohmann.de/Augenhoehe

Einleitung

Pädagogischen Fachkräften wird die wichtige Aufgabe und gleichzeitig immense Herausforderung zuteil, Kinder alters- und entwicklungsgemäß zu fördern, einen würdigen Umgang mit ihnen zu leben, ihnen als Bindungsanker stets zur Seite zu stehen, sie emotional zu stärken und kognitiv zu bereichern – und das unter zumeist unzureichenden Rahmenbedingungen.

Wer es bei diesem Stresspegel schafft, Kindern stets auf Augenhöhe zu begegnen und auf Strafen zu verzichten, dem gilt allerhöchster Respekt.

Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind zwar seit dem Jahr 2000 unzulässig, doch die Einhaltung des Verbots erweist sich auch heute noch als unbefriedigend. Zumal manch einem gar nicht bewusst ist, wo gewaltvolles Handeln beginnt. Wissend, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, erinnern wir uns an das Zitat von Astrid Lindgren von 1978, welches heute nicht aktueller sein könnte: „[Die Kinder] sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben.“ (ebd.; nach Tünnissen-Hendricks)

Ein Kind, das gesehen, gehört und wertgeschätzt wird, das tragfähige Bindungen mit authentischen, fehlerfreundlichen und zugewandten Erwachsenen aufbauen darf, wird sich später selbst für ein friedvolles Miteinander einsetzen.

Wünschen wir uns also ein friedliches Miteinander, ist es an uns, den Kindern dieses vorzuleben! Wir säen die Samen der Zukunft. Denn: Geliebte Menschen fangen keine Kriege an!

Dieses Buch will pädagogischen Fachkräften vielfältige, liebevolle und gleichzeitig klare Denkanstöße schenken, um die eigenen Erziehungsmaßnahmen auf dem Weg zu einem beziehungsvollen Miteinander kritisch zu reflektieren. Es möchte ermuntern, den eigenen pädagogischen Werkzeugkoff er neu zu sortieren, die bestehenden Werkzeuge zu schärfen, zu polieren und sich vielleicht auch von dem ein oder anderen verrosteten Werkzeug zu trennen.

1Erziehungsmethoden hinterfragen – Beziehungsmomente kreieren

Kinder stecken voller Tatendrang und Neugierde. Sie sind geboren, um sich die Welt zu erschließen, sich und ihre Umwelt kennenzulernen, sich auszuprobieren, zu spielen, zu lachen, ihre Ziele zu verfolgen und dafür zu kämpfen, zu weinen – zu leben. Jedes Kind bringt seine Individualität, seinen Charakter, sein Temperament, seine Stärken und seine eigene Geschichte mit in die Gruppe. Es lernt, seinen Handlungsspielraum tagtäglich auszuloten.

Für pädagogische Fachkräfte ist es eine herausfordernde Aufgabe, die Kinder in ihren Emotionen und gelebten Konflikten zu begleiten. Den Sinn hinter dem Verhalten eines Kindes zu erkennen ist manchmal nicht ganz einfach und kann auch zu Fehldeutungen führen. Werden aufgrund dessen zum Beispiel disziplinierende Maßnahmen angewandt, die nicht zum Erfolg führen, stellt sich bei den Fachkräften leicht Verärgerung, Ratlosigkeit, Überforderung oder auch Resignation ein. Das professionelle Handeln kann durch solche Gefühle überlagert und erschwert werden. Dann kann es passieren, dass Kinder in Konfliktsituationen angeschrien, beschimpft, beschämt oder ausgegrenzt werden. Ungewollt schleichen sich unter Umständen „pädagogische Kunstfehler“ ein (vgl. Hehn-Oldiges 2021; Prengel 2020).

Allgemeine Arbeitsbedingungen, wie der Fachkraft-Kind-Schlüssel, durch die der Rahmen auch für die Begleitung kindlicher Konflikterfahrungen gesteckt wird, sowie die Belastungen durch herausforderndes Verhalten von Kindern können zur Folge haben, dass es Fachkräften manchmal schwerfällt, sensitiv und responsiv zu agieren.

Es droht die Gefahr, dass Konflikte vorschnell unterbrochen und die Bedürfnisse von Kindern aufgrund der Erschöpfung der Fachkräfte unzureichend wahrgenommen werden können (vgl. Remsperger 2011; Nürnberg 2018). Pädagogische Fachkräfte sind gefordert, sich bedingungslos auf die Lebensumstände der Kinder einzulassen, sie in der Regulation ihrer Gefühle zu unterstützen. Diese „Dauerpräsenz“ kann zur Folge haben, dass die Erwachsenen ihre eigenen Stimmungen vermindert wahrnehmen oder gar unterdrücken (vgl. Viernickel & Voss 2012, S. 165ff.).

1.1Kinder brauchen Regeln – oder?

In der Sonnengruppe sitzen die Kinder mit Fachkraft Lisa im Kreis. Gemeinsam möchten sie das nächste Ausflugsziel besprechen. Völlig euphorisch und mit großer Vorfreude sprechen die Kinder durcheinander. „Ein Kind nach dem anderen“, sagt Lisa und reicht Sami den Erzählstab. Aus dem Augenwinkel sieht sie Lucas, der in der Bauecke währenddessen seine Lego-Stadt weiterbaut. Ihre Kollegin Natascha öffnet die Tür, schaut in den Gruppenraum und sagt: „Bei dir ist ja was los. Soll ich dir mal helfen, damit hier etwas Ruhe reinkommt und die Kinder hören?“ Lisa schüttelt den Kopf. Bei Natascha sitzen die Kinder gerade auf ihren Stühlen und wissen genau: Wer dazwischenredet, wird in den nächsten Minuten nicht drangenommen. Für Natascha sind Kontrolle und Ordnung in einer Gruppe wichtig, und sie fordert die Kinder daher zu Disziplin und Gehorsam auf.

Fachkraft Natascha wünscht sich, dass die Kinder auf diese Weise zu Selbstkontrolle und Selbstregulierung befähigt werden. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Kontrolle von außen zur Kontrolle von innen wird, also durch das Disziplinieren Selbstdisziplin wächst. Beobachtungen aus dem Kita-Alltag belegen hingegen, dass Kinder eher „außer Rand und Band“ geraten, wenn der kontrollierende Erwachsene ihnen den Rücken kehrt, ganz nach dem Sprichwort: „Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch“ (vgl. Gordon 2014, S. 31). Machtmethoden motivieren eher zum Widerstand, zur Rebellion oder zum Lügen.

Wünschen wir uns hingegen junge Menschen, die lernen, sich selbst und ihr Verhalten zu kontrollieren, benötigen sie die Freiheit, eigene Erfahrungen zu machen und selbst Entscheidungen zu treffen. „Kinder lernen nur dann, ein Verhalten, das Erwachsene als störend empfinden, zu kontrollieren und zu begrenzen, wenn die Erwachsenen ihnen ähnliche Rücksicht erwiesen haben. Kinder wenden Selbstkontrolle an, um Regeln zu folgen, wenn ihnen die Chance gegeben wurde, sich mit den Erwachsenen an der Diskussion zu beteiligen, wie diese Regeln aussehen sollen“ (ebd., S. 32).

Für ein gemeinsames respektvolles Miteinander und einen funktionierenden Alltag sind Abstimmungen über Strukturen sowie Kenntnis und Respekt gegenüber den gegenseitigen Werten in Gruppen unumgänglich. Deshalb werden in der pädagogischen Praxis Regeln formuliert, die dazu dienen sollen, Klarheit in den Erwartungen aneinander herzustellen und Grenzüberschreitungen gegenüber anderen zu vermeiden.

Regeln dienen einem friedvollen Miteinander und sollen auf Augenhöhe vermittelt werden. Verstehen Kinder den Sinn einer Regel und sind am Entstehungs- und Aushandlungsprozess beteiligt, so hat diese Aussicht auf Erfolg (vgl. Scherwath 2021b, S. 92f.). Gerade für Kinder, die neu in eine Einrichtung kommen, können Regeln haltgebend sein und als Ankerpunkt dienen. Sie schenken Sicherheit und geben Orientierung. Eine sinnvolle Vermittlung, die grundsätzlich als Gebot das konstruktive Verhalten benennt und vorbildhaft von den Fachkräften in Beziehungen vorgelebt wird, führt dazu, dass Kinder die Regeln verstehen lernen.

Vorsicht ist hingegen geboten, wenn Regeln mit Macht und Dominanz durchgesetzt werden und sich die Kinder zur Einhaltung aufgrund der Angst vor Konsequenzen und Strafen gezwungen sehen.

Kinder machen sich für die eigenen Bedürfnisse stark und lernen erst mit den Jahren, die Gefühle, Anliegen und Bedürfnisse der anderen einzubeziehen. So fürchten Kinder in der Autonomiephase zum Beispiel um ihre gewonnene Freiheit. Bereits in alltäglichen Situationen wie dem Essen oder Schlafen können innere Konflikte entstehen und ein Gefühl der Unterwerfung und Ohnmacht beim Kind auslösen.

Auch wenn die Regeln der Gruppe oder Einrichtung den Kindern vertraut sind, sind Verstöße völlig normal und zunächst wenig besorgniserregend. Jedes Kind zeigt sein bestmögliches Verhalten, und ein Regelverstoß geschieht immer aus einem für das Kind wichtigen Grund.

Werden Regeln nicht eingehalten, sollten Fachkräfte nach möglichen, für das Kind subjektiv sinnvollen Gründen suchen und sich fragen, wie die Regel zukünftig gelebt werden kann.

Nicht zu vergessen ist dabei auch der Entwicklungsstand der Kinder. Im Kleinkindalter beginnen Kinder zu lernen, was sie dürfen und was nicht. Sie merken sich Regeln kurzzeitig, können diese inhaltlich aber noch nicht begreifen. Die Einhaltung einer Regel wie „Wir lösen Konflikte friedlich“ erfordert zunächst, genau zu wissen, was das bedeutet und in welcher Weise diese Regel eingesetzt werden kann, sowie eine große Portion Impulskontrolle in einer aufgebrachten und energiegeladenen Situation. Schubst ein Kind ein anderes, geschieht dies nicht aus Böswilligkeit, sondern vielmehr, weil die intensiven Gefühle das Kind übermannten und nicht haben rational denken lassen. Einige Regeln geraten auch in Vergessenheit, da sie dem Kind im jeweiligen Moment nicht präsent sind oder ein Anliegen wie zum Beispiel der Drang, etwas sofort mitzuteilen, viel mächtiger ist. „Wir hören einander zu und reden nacheinander“ kann zu einer Herausforderung werden, wenn der Informationswunsch groß ist.

Erst im frühen Kindergartenalter versteht das Kind, dass die Kinder der Gruppe sowie die Fachkräfte auch andere Ziele verfolgen als es selbst. Das Selbstkonzept reift, und das Kind beginnt, die eigenen Gefühle von denen der anderen zu unterscheiden. Im Vorschulalter gelingt es den Kindern dann oft schon, sich an Regelerwartungen in bekannten und strukturierten Situationen zu halten. Empathie, das Regelverständnis sowie das gedankliche Hineinversetzen in andere (Perspektivübernahme) entwickeln sich aber erst schrittweise (vgl. Hehn-Oldiges 2021, S. 88ff.).

Was tun bei Regelverletzungen?

Bei Regelverletzungen helfen liebevolle Erinnerungen und Visualisierungen der wichtigsten Regeln sowie das Aufzeigen von Handlungsalternativen. Wird stattdessen gestraft und die Angst vor Strafen als Erziehungsmittel angewendet, reagiert das Kind im Moment angepasst, um die Strafe zu vermeiden. Dies führt jedoch nicht zu nachhaltigen Einsichten (siehe Kapitel 1.5.). Sinnvoller ist es, mit dem Kind das Verhalten zu reflektieren und über eine mögliche Wiedergutmachung nachzudenken, wenn andere Menschen oder Gegenstände zu Schaden gekommen sind. Das kann zum Beispiel durch Trösten des Gegenübers oder den Wiederaufbau eines beschädigten Bauwerkes geschehen (vgl. Scherwath 2021b; Wedewardt & Hohmann 2021).

Im Sinne eines gewaltfreien und umsichtigen Miteinanders entwickelten Jörg Maywald und Annedore Prengel (2020) ein Regelbüchlein, das sich von den „Reckahner Reflexionen – Leitlinien zur Ethik der pädagogischen Beziehungen“ ableitet. Kleine und große Kinder sollen „(...) zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen angeleitet“ werden (Prengel & Maywald 2020, S. 3). Das Regelbüchlein kann für Kinder und Fachkräfte kostenfrei im Internet heruntergeladen werden: https://paedagogische-beziehungen.eu/regelbuechlein/.

Exkurs: Die Reckahner Regeln für Kinder

1.Jedes Kind hat eine gleiche Würde. Jedes Kind ist wertvoll und liebenswert.

2.Ich sorge gut für mich.

3.Ich sorge gut für die anderen.

4.Ich sorge gut für die Dinge und die Umwelt.

5.Wenn ich traurig oder wütend bin, suche ich jemanden, mit dem ich darüber sprechen kann.

6.Wenn mir jemand wehtut oder Angst macht, sage ich: „Stopp!“ Wenn es nicht aufhört, hole ich Hilfe. Hilfe holen ist nicht petzen.

7.Wenn ich jemandem wehgetan habe, mache ich es wieder gut. Bei „Stopp!“ höre ich darauf.

8.Wenn jemand schlecht über mich spricht, glaube ich an mich.

9.Alle Kinder und Erwachsenen bemühen sich, nach den Regeln zu handeln. Das ist nicht immer leicht. Wir helfen uns dabei.

10.Wir denken über die Regeln nach und sprechen über sie. Wir stellen selbst Regeln auf, die allen Kindern oder Jugendlichen helfen.

11.Die Goldene Regel: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!

12.Tu dir selbst und anderen nicht weh!

1.2Grenzen sind notwendig – wozu?

Ein Satz, den Sie sicherlich schon mehrfach gehört haben, lautet: „Kinder brauchen Grenzen!“ Auf den ersten Blick scheint diese Behauptung so logisch, dass er dazu einlädt und Fachkräfte nahezu dazu auffordert, Kindern diese Grenzen zu schenken. Bei näherer Betrachtung wird schnell klar: Grenzen sind dazu da, um sich selbst und andere zu schützen. Kinder lernen mit den Grenzen der Umgebung, der Umwelt, der Kultur, der Strukturen, der Zeit und vor allem der Personen, mit denen sie in Kontakt sind, umzugehen. Denn Grenzen gibt es überall!

Der Familientherapeut Jesper Juul unterteilt grob in die generellen und in die persönlichen Grenzen. Die generellen Grenzen sind die einer Gesellschaft, einer Kita oder einer Familie, die ähnlich wie Normen gelten. Generelle Grenzen sollten regelmäßig auf Aktualität geprüft werden, damit wir sie nicht, wie Generationen zuvor, blind weitertragen – mit der Begründung, dass es schon immer so war und man dies eben nicht tut. So hörten Kinder nahezu aus Prinzip: „Wir sitzen gerade am Tisch und essen ordentlich mit Besteck.“ „Bei Rot bleibst du stehen, bei Grün darfst du gehen.“ Es sind Grenzen des alltäglichen Lebens. Regeln und generelle Grenzen können daher deckungsgleich sein (vgl. Juul 2013, S. 24ff.).

Statt starrer Grenzsetzung von außen benötigen Kinder vielmehr Menschen, die ihre persönlichen Grenzen leben, also Menschen, die vorbildhaft ihre persönlichen, individuellen Grenzen mit anderen konstruktiv teilen und ihre Persönlichkeit offenbaren (ebd., S. 28f.). Dies gelingt am besten, wenn Fachkräfte ihre eigenen individuellen und persönlichen Grenzen erkennen und aussprechen können.

Kinder spüren dann die Persönlichkeit der Bezugspersonen und erleben authentische Beziehungen. Sie brauchen die Erfahrung, wahrgenommen und gesehen zu werden – und zwar so, wie sie sind, mit all ihren Wünschen, Bedürfnissen, Gefühlen und Eigenarten. Allein die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft schenkt dem Kind Anerkennung. Wenn sich die Fachkraft dann dem Kind offenbart, sich zeigt, auf das Verhalten des Kindes oder der Kindergruppe antwortet, ist dies eine Form der Anerkennung und „(...) zugleich eine pädagogisch wirksame Form einer Grenzsetzung.“ (Staats 2014, S. 126).

Während Tom mit einem Baustein auf die anderen klopft, blickt Fachkraft Lisa ihn an und sagt mit warmen und gleichzeitig klaren Worten: „Das ist mir zu laut, ich kann Emma gar nicht mehr zuhören. Tom, ich möchte, dass du aufhörst, den Baustein zu klopfen.“ Lisa äußert ihre Grenze in persönlicher Form in Anlehnung an die Gewaltfreie Kommunikation (statt pauschal zu sagen: „Du darfst das nicht!“). Damit erfährt Tom, wie sein Verhalten auf andere wirkt und welchen Einfluss er auf sein Gegenüber hat. Dabei werden gleichzeitig seine Selbst- und Fremdwahrnehmung und seine Empathie gefördert. Indem Lisa eine Grenze setzt, wird dem Jungen Anerkennung gezeigt und vermittelt, was für die Fachkraft persönlich wichtig ist (vgl. ebd., S. 127f.). Sie kann Tom auch eine Alternative anbieten: „Tom, mir ist es zu laut, wenn die Bausteine aufeinanderklopfen. Ich möchte das nicht. Kannst du auf den Teppich klopfen?“

Fachkraft Lisa fungiert wie ein Leuchtturm; sie wirft ihr Licht in verschiedene Richtungen, schenkt einen liebevollen Blick, ein Lächeln, ist interessiert, zugewandt und strahlt mit innerlicher Präsenz, wodurch sich die Kinder gesehen und wertgeschätzt fühlen. Durch diese Präsenz werden die Stresssysteme der Kinder reguliert (vgl. Scherwath 2021b, S. 46ff.).

Ein weiterer Satz, der ebenfalls noch häufig kursiert, lautet: „Kinder testen Grenzen und manipulieren!“ Hier klingt mit, dass Erwachsene sich zu einem Machtkampf herausgefordert fühlen. Die Kinder jedoch möchten vielmehr auf der Suche nach Kontakt und im Sinne der sozialen Exploration ihr Gegenüber kennenlernen und dessen Grenzen erfahren. Gehen Erwachsene Konflikten aus dem Weg, so kann es durchaus passieren, dass die Kinder immer lauter und beharrlicher werden, bis sie ihre Antworten erhalten bzw. bis sie die Präsenz des Erwachsenen spüren. Hier geht es nicht um ein „Austesten“, sondern um das Bedürfnis nach Anerkennung, nach dem Gesehen-werden-wollen (vgl. Hohmann 2021, S. 177; Juul 2013, S. 31).

Nicht selten wird das Verhalten des Kindes dann zum Problem, weil es den alltäglichen Ablauf behindert oder stört. Ein Kind wird so leicht zum Objekt, das den Alltag belastet, und bekommt einen Stempel aufgedrückt: „Er stört immer!“ „Sie weint bei jeder Kleinigkeit.“ „Das Nesthäkchen bekommt immer, was es will!“ Hier ist äußerste Vorsicht geboten, und es ist Aufgabe der Fachkräfte, hinter das Verhalten zu blicken, dessen Sinn für das Kind zu erkennen und eine wertschätzende Haltung zu wahren, statt willkürlich Grenzen zu setzen (vgl. Hehn-Oldiges 2021, S. 20f.).

Die pädagogische Fachkraft als Vorbild