Anna, die Schule und der liebe Gott - Richard David Precht - E-Book

Anna, die Schule und der liebe Gott E-Book

Richard David Precht

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Beschreibung

Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern.

Unsere Kinder, die heute eingeschult werden, gehen im Jahr 2070 in Rente. Doch wir überfrachten sie mit Wissensstoff, den sie für ihr Leben kaum brauchen werden. Statt ihnen dabei zu helfen, Neugier, Kreativität, Originalität, Orientierung und Teamgeist für eine immer komplexere Welt zu erwerben, dressieren wir sie zu langweiligen Anpassern. Demgegenüber stehen die Erkenntnisse der modernen Entwicklungspsychologie, der Lerntheorie und der Hirnforschung, die an unseren Schulen bis heute kaum berücksichtigt werden. Denn nur was mit Neugier gelernt wird, wird unseren Kindern wichtig und bedeutsam. Und nur was ihnen bedeutsam ist, weckt ihre Kreativität und spornt die Leistungsbereitschaft an. Der Philosoph und Bestsellerautor Richard David Precht fordert: Unsere Schulen müssen völlig anders werden als bisher. Wir brauchen andere Lehrer, andere Methoden und ein anderes Zusammenleben in der Schule. Mit einem Wort: Wir brauchen keine weitere Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!

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Über das Buch

Unsere Kinder, die heute eingeschult werden, gehen im Jahr 2070 in Rente. Doch wir überfrachten sie mit Wissensstoff, den sie für ihr Leben kaum brauchen werden und deshalb auch schnell wieder vergessen. Statt ihnen dabei zu helfen, Neugier, Kreativität, Originalität, Orientierung und Teamgeist für eine immer komplexere Welt zu erwerben, dressieren wir sie zu langweiligen Anpassern.

Demgegenüber stehen die Erkenntnisse der modernen Entwicklungspsychologie, der Lerntheorie und der Hirnforschung, die an unseren Schulen bis heute kaum berücksichtigt werden. Denn nur was mit Neugier gelernt wird, wird unseren Kindern wichtig und bedeutsam. Und nur was ihnen bedeutsam ist, weckt ihre Kreativität und spornt die Leistungsbereitschaft an. Der Philosoph und Bestsellerautor Richard David Precht fordert: Unsere Schulen müssen völlig anders werden als bisher. Wir brauchen anders ausgebildete Lehrer, ein anderes Lernen und ein anderes Zusammenleben in der Schule. Mit einem Wort: Wir brauchen keine weitere Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!

Informationen zum Autor sowie seinen lieferbaren Titeln erhalten Sie am Ende des Buches.

Richard David Precht

Anna, die Schule

und der liebe Gott

Der Verrat des Bildungssystems

an unseren Kindern

Originalausgabe

1. Auflage April 2013

Copyright © 2013 by

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-09282-5

www.goldmann-verlag.de

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Der Kultusministerkonferenz

und allen anderen kreativen Freigeistern,

deren Handeln von Tugend, Genius, Begabung

und einer großzügigen und edlen Veranlagung bestimmt wird.

…und natürlich meinen Lehrern!

Anna und die Schule

Anna malt in der Schule ein Bild. Nach einer Weile tritt der Lehrer hinzu und betrachtet neugierig das Gemalte. »Na, Anna«, fragt er, »was malst du denn da?«– »Ich male den lieben Gott«, antwortet Anna. »Aber, Anna«, widerspricht der Lehrer. »Der liebe Gott– den kann man doch gar nicht malen. Da weiß doch niemand, wie er aussieht.«– »Warten Sie noch fünf Minuten«, sagt Anna, »dann wissen Sie es!«1

Diese kleine Anekdote ist eine der Lieblingsgeschichten eines großen Entertainers: des britischen Pädagogen und Erziehungsberaters Ken Robinson. Für seine Verdienste um die Bildung zum Ritter geschlagen, berät Robinson Theater wie die Royal Shakespeare Company, das Royal Ballet, aber auch die Europäische Kommission, den Europarat und die UNESCO. Seine Botschaft im Hinblick auf das gegenwärtige Schul- und Bildungssystem ist eindeutig und unmissverständlich: Schule tötet Kreativität!

Intelligenz ist das, was man benutzt, wenn man nicht weiß, was man tun soll. Und Kreativität ist das, was man einsetzt, wenn man nicht weiß, was genau dabei herauskommt. Unser Schulsystem, nicht nur in der westlichen Welt, sondern in vielen OECD-Staaten, fördert weder Intelligenz noch Kreativität. Als »Kompetenzen« definiert, durch Lehrpläne festgelegt, in »Fächer« parzelliert, in Fünfundvierzig-Minuten-Häppchen portioniert, in Klausuren und Tests abgefragt und durch Zensuren bewertet, steht von vornherein fest, was exakt ein Schüler tun und was dabei als Ergebnis herauskommen soll.

Gibt es zu unserem bestehenden Schulsystem eine Alternative? Könnte man das, was millionenfach in unseren Schulen auf ähnliche Weise gelehrt wird, auch ganz anders lehren? Wäre eine Schule denk- und machbar, die in weit stärkerem Maße als bisher die Intelligenz und Kreativität unserer Kinder fordert und fördert?

Dieses Buch ist für Lehrer geschrieben, einen Berufsstand, den ich über alles schätze und dem ich als Hochschullehrer an zwei Universitäten selbst angehöre. Es möchte den Hunderttausenden von Lehrern, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen unzufrieden sind, Mut machen und ihnen helfen, aus alten Rollenmodellen und einem ineffektiven überholten System auszubrechen. Es soll sie dazu inspirieren, an einem möglichen und notwendigen Fortschritt im Interesse unserer Kinder mitzuarbeiten. Es möchte ihnen Alternativen vorstellen oder in Erinnerung rufen und Schuldirektoren konkrete Perspektiven aufzeigen, für die es sich lohnt zu kämpfen.

Dieses Buch ist ebenso für Schüler geschrieben. Ich möchte, dass unsere Kinder schon sehr bald in Schulen gehen, in denen ich auch gern gewesen wäre. Dass sie von Lehrern, die ich gern selbst gehabt hätte, ihre Neugier bewahrt und gefördert bekommen. Dass sie ihnen einen Sinn vermitteln für die Schönheiten des Lebens und der unendlichen Wissenswelten, in die einzutauchen einen tiefen und nachhaltigen Lust- und Dimensionsgewinn bedeutet. Dass sie in eine Schule gehen, in der sie sich anerkannt und verstanden fühlen, sodass sie begeistert lernen.

Dieses Buch ist für Eltern geschrieben. Es möchte ihnen Argumente liefern, um gegen eine bestehende Praxis aufzubegehren, die vielen von ihnen Kopfschmerzen bereitet und sie oft ohnmächtig zurücklässt. Es soll zeigen, dass eine Bildungsrevolution in Deutschland machbar ist– und zwar nicht nur langfristig, sondern dass sie unmittelbar bevorsteht. Und dass Kinder, die heute in die Grundschule gehen, bereits davon profitieren werden, falls die Bewegung nur strategisch geschickt vorgeht und konsequent und solidarisch genug ist.

Und dieses Buch ist nicht zuletzt für Bildungspolitiker geschrieben, die in den kommenden Jahren vor gewaltigen Herausforderungen stehen werden. Sie müssen die größte Strukturveränderung unseres Bildungssystems seit den sechziger Jahren ermöglichen und erfolgreich umsetzen. Das Buch möchte dabei helfen, alte Freund-Feind-Linien aus vergangenen Tagen unserer Republik zu überwinden. Und es möchte Mut zum Träumen geben und die Fantasie im Hinblick auf einen neuen sozialen Kubismus anregen.

Die Diagnosen und Perspektiven, von denen dieses Buch handelt, sind dabei nicht aus Naivität geboren wie der Liebreiz der Venus aus dem Schaum. Sie verdanken sich ungezählten Gesprächen mit Schülern, Eltern, Lehrern, Schuldirektoren, Pädagogik-Professoren und Bildungspolitikern. Ich habe mich in viele Klassenzimmer in ganz verschiedenen Schulen gesetzt und dem Schulunterricht des Jahres 2012 beigewohnt. Und ich kenne die weltanschaulichen Hürden auf ideologisch vermintem Terrain ebenso wie die Argumente und Ausflüchte der Sachwalter des Status quo, denen die Mühen der Ebene den Blick auf die Berggipfel längst getrübt haben.

Bei alledem habe ich viel gelernt. Über das Funktionieren und die Beharrungskraft von Systemen und den Selbstverstärkungseffekt von Institutionen. Natürlich auch viel über Menschen und ihre Selbstbehauptungs- und Verteidigungsstrategien. So habe ich mir über die Zeit in Gesprächen abgewöhnt, die bestehende Schulpraxis in Deutschland zu kritisieren. Ich wollte einmal etwas anderes hören als die stets gleichen Argumente.

Ich wollte nicht mehr hören müssen, dass die Schüler an deutschen Schulen ständig dümmer und aufmerksamkeitsgestörter werden. Denn nach Sicht vieler Lehrer können »die Schüler heute nicht mal mehr Zeichensetzung, die Grundrechenarten oder sich eine Stunde lang konzentrieren« etc. Aber permanent schlechter werdende Schülergenerationen gibt es, seit es Schulen und Lehrer gibt. Und auch die heutige Lehrergeneration bestand einmal aus Schülern, die vieles nicht mal mehr konnten.

Ich wollte irgendwann auch nicht mehr hören, dass sich »inzwischen doch unglaublich viel getan« hat, denn mir begegnen an allen Lernorten noch immer hunderttausendfach die alten Schülerklagen über das Schulsystem. Und ich wollte nicht mehr die stets gleiche Schelte hören müssen, warum es gar nicht anders geht, als es derzeit an unseren Schulen Praxis ist, und dass all die Bildungsreformer doch »von nichts eine Ahnung« hätten. »Man kann sie nicht einmal mehr zählen«, entgegnete mir Mathias Brodkorb, der erboste Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, auf meinen Essay im Magazin Cicero,»diese ewigen Ratschlaggeber, die zwar weder den Lehrerberuf erlernt noch je vor einer Klasse unterprivilegierter Erziehungsschwieriger gestanden haben, aber vom Ledersofa aus in lässiger Pose wohlmeinende und möglichst weitreichende Ratschläge erteilen.«2 Dass Brodkorb selbst nie vor einer Klasse gestanden hat, sondern sofort nach dem Studium Berufspolitiker und im Alter von vierunddreißig Jahren Bildungsminister geworden ist, erzählt er nicht.

Natürlich ist das Argument, dass nur wer selbst »vor einer Klasse unterprivilegierter Erziehungsschwieriger gestanden hat«, das Bildungssystem kritisieren darf, befremdlich. Die Einzigen, die noch unsere Schulen reformieren dürften, wären dann Hauptschullehrer in sozialen Brennpunkten, und alle anderen hätten zu schweigen. Nach dieser Logik dürften nur noch Politiker Politiker, nur noch Banker Banker, nur noch Taxifahrer Taxifahrer und nur noch Philosophen Philosophen kritisieren. Und ein Bildungsminister, der kein Lehrer ist, wäre dazu verdammt, den Mund zu halten.

Die Lage, so viel scheint klar, ist angespannt– und das aus gut nachvollziehbaren Gründen. Denn selbst die Verteidiger des gegenwärtigen Zustands unseres Bildungssystems wissen, dass es so, wie es an deutschen Schulen mehrheitlich zugeht, nicht weiter zugehen kann und auch nicht weiter zugehen wird.

Ich habe es mir deshalb zur Gewohnheit gemacht, in persönlichen Gesprächen die Schule, so wie sie gegenwärtig ist, in den höchsten Tönen zu loben. Seitdem schwärme ich gegenüber Lehrern und Schulleitern von den besten Schulen, die wir je hatten. Es sei doch wirklich großartig, wie es an unseren Schulen heute zugeht. Diese tolle Lernatmosphäre! Diese vielen motivierten Schüler! Ist es nicht schier unglaublich, wie hoch das Bildungsniveau heute ist? Und ist Lehrer nicht eigentlich ein Traumberuf? Sofort schütteln viele Lehrer den Kopf über so viel Unwissenheit ihres Gesprächspartners. Da hat doch einer überhaupt keine Ahnung von den Nöten und Notwendigkeiten eines Lehrerlebens, von Stress und Unbehagen, Schulklima und Misserfolg.

Die Pointe daran ist einfach und schlicht. Kritisiert man gegenüber Lehrern die Schule, wird sie verteidigt. Lobt man sie hingegen, wird die bestehende Schulpraxis meist sofort scharf kritisiert. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Fühlt sich der Lehrer als Lehrer angegriffen, verteidigt er sich und das System, in dem er arbeitet (insofern es Teil seiner Identität ist). Wird er aber vom System getrennt, in dem er agieren muss, wird er sich selbst schnell und gern gegen den Druck des Systems verteidigen.

Es gibt aber noch eine weitere Abwehrbewegung gegen jede Transformation des Bildungssystems. Nämlich indem man darauf verweist, was es nicht schon alles an Anregungen, Vorschlägen und revolutionären Ideen auf dem Bildungssektor gegeben hat. Das ist richtig. Und selbstverständlich ist vieles von dem, was in diesem Buch kritisiert und diskutiert wird, nicht neu. Das Gleiche gilt für viele Verbesserungsvorschläge. Manches ist sogar bis zu zweihundert Jahre alt. »Die Arbeit des Philosophen«, meinte Ludwig Wittgenstein einmal, »ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck, nämlich der übersichtlichen Darstellung.«

Schon die Reformpädagogen zu Anfang des 20.Jahrhunderts eiferten mit der Glut von Aposteln und der Güte der Weisen um völlig andere Lehrmethoden und Schulen. Die schwedische Schriftstellerin Ellen Key verkündete 1902 das »Jahrhundert des Kindes«. Die italienische Ärztin Maria Montessori erteilte der autoritären Obrigkeitspädagogik ihrer Zeit eine Abfuhr und erkannte das Kind als »Baumeister seines Selbst«. Der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner forderte, das »Wollen und Können« der Schulkinder zu fördern, statt auf reine Wissensfülle zu setzen, und verlangte eine umfassende Bildung für alle Bevölkerungsschichten. Peter Petersen und Berthold Otto propagierten einen klassenübergreifenden Unterricht sowie eine Einheitsschule für alle Bevölkerungsschichten.

In dem Postulat, dass Kinder so freudig wie möglich durch unmittelbare Erfahrung lernen sollten, statt Lern-Dienst nach Vorschrift abzuleisten, waren sich alle Reformpädagogen einig. Der Weg des Lernens sollte das Ziel sein, nicht ein oktroyierter normierter Wissensstand. Doch eine umfassende Bildungsrevolution hin zu kindgerechtem Lernen blieb aus. Stattdessen haben Schüler, Lehrer und Bildungspolitiker in allen Bundesländern ungezählte in herrlichem Bürokratendeutsch verfasste Reformen, Inventuren, Richtlinien, Vorschläge und dergleichen erlebt. Das Resultat ist ein verwaschener und in seinem Muster nur noch schwer zu erkennender Flickenteppich. So viel Mühe auch in die Verbesserung unserer Schulen gesteckt wurde, wie viele ideologische Grabenkämpfe auch ausgefochten wurden– der gegenwärtige Befund ist unmissverständlich. Nach Erkenntnis von OECD-Studien hat Deutschland inzwischen eines der schlechtesten Schul- und Bildungssysteme unter allen Industrienationen der Welt. Und zwar in allen maßgeblichen Belangen. Pädagogisch so freundlich wie möglich ausgedrückt: »Im internationalen Vergleich schafft es das deutsche Schulsystem weder in der Begabtenförderung noch im durchschnittlichen allgemeinen Bildungsniveau noch im Abbau von Bildungsarmut eine führende Position einzunehmen.«3

Wie konnte das passieren? Warum haben sich die in zentnerschweren Evaluierungen ermittelten und unter Experten weitgehend unstrittigen Reformideen für das deutsche Schulsystem so selten durchgesetzt? Warum ist Lernen an den meisten deutschen Schulen noch immer nicht kindgerecht, wo man sich unter Fachleuten doch schon lange nicht mehr ernsthaft darüber streitet, wie man es kindgerecht machen könnte und müsste? Warum fallen in Deutschland so viele Kinder völlig durch die Maschen des Bildungssystems? Warum sind die Bildungschancen eines Kindes hierzulande stärker als in jeder anderen Industrienation abhängig von der Schicksalslotterie des Elternhauses?

Sind an alledem, wie manche Lehrer meinen, vorwiegend die Eltern schuld? Aber warum sollte es in Deutschland grundsätzlich mehr verantwortungslose Elternhäuser geben als etwa in Frankreich oder Italien? Das Einkommen der Eltern ist im Schnitt nicht geringer, und der Medienkonsum unserer Kinder ist nicht höher als in den meisten anderen OECD-Ländern.

Appelle an verantwortungslose Elternhäuser, ihre Kinder anders zu erziehen, haben noch nie Früchte gezeitigt. Und Klagen über uninteressierte und unaufmerksame Schüler fallen immer auf den Klagenden zurück. In solcher Lage hilft nur ein Umbau des gesamten Systems. Wäre das Schulsystem, so wie es heute besteht, ein Unternehmen, so wäre es längst pleitegegangen. Wäre es ein Staat, wäre es bereits vor Jahrzehnten implodiert. Aber wie bringt man die Verantwortlichen auf allen Ebenen dazu, das System zu ändern, wenn man sich im Zweifelsfall damit rechtfertigen kann, dass– OECD-Studien hin, Eltern- und Schülerklagen her– doch alles »gar nicht so schlecht« sei?

»Gar nicht so schlecht« ist viel zu wenig, wenn es um das Lebensschicksal unserer Kinder geht und die Zukunft der Gesellschaft. Warum sollte uns dafür das Beste nicht gerade gut genug sein?

Weil, so lautet die ehrliche Antwort, die Frage nach dem Besten gar nicht im Zentrum der Debatten um die Schule steht. Statt um Ziele geht es um Befindlichkeiten. Wer seit längerer Zeit etwas zu verantworten hat, empfindet im Regelfall eine starke Aversion gegen Veränderungen. Sie stellen die bisherige Lebensleistung in Frage. Das hat niemand gern. Und die Neigung, das Hergebrachte und das Gewohnte zu verteidigen, wenn wir nur selbst damit in Verbindung stehen, ist eine zuverlässige Komponente unserer Psyche. Große Veränderungen sind stets mit einem Energieaufwand, mit zusätzlichen Anstrengungen, Unsicherheiten und Risiken verbunden. Und wer vieles neu machen will, erscheint schnell als praxisferner Spinner. Gewöhnlich reagiert man auf Verbesserungsvorschläge, wie die Bildungsforscher Stefan Hopmann und Gertrude Brinek von der Universität Wien feststellen, mit Schweigen. Man verhindert so, dass der Kritiker ausreichend öffentliche Resonanz bekommt. Stellt sich die Beachtung trotzdem ein, so spricht man dem Kritiker eilig die Kompetenz ab und unterstellt ihm Aufmerksamkeitssucht oder unlautere Geschäftemacherei. Zur Not gesteht man isolierte Probleme zu und behauptet zugleich, dass diese nicht sonderlich relevant sind. Und wenn alles nichts hilft, kann man sagen, dass die Kritik nicht neu und widerlegt sei.4 Mit einem Buch über die Schule kann man es zumeist jedem nur unrecht machen. Denn was immer man an Verbesserungen vorschlägt, ist entweder »alles längst bekannt« oder »völlig utopisch« und »weltfremd«.

Doch wer, so wäre dagegen zu fragen, kalkuliert, was eigentlich an Nebenwirkungen und schleichenden Katastrophen eintritt, wenn keine Veränderungen an unserem Bildungssystem vorgenommen werden und alles beim Alten bleibt? Die Antwort scheint nicht schwer, denn die Tendenz ist längst da: Unser Schulsystem zerfällt in ein Zwei-Klassen-System. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Und die öffentlichen Schulen verkommen zu Restschulen für Unterprivilegierte.

Das althergebrachte Klassenzimmer-Modell kann und wird in der Zukunft so nicht erhalten bleiben. Die historischen Gründe, die den Frontalunterricht, wie wir ihn kennen, die Fünfundvierzig-Minuten-Taktung, das Unterrichten nach Jahrgängen und die Notwendigkeit von Zensuren, Klausuren und Hausarbeiten einmal auf den Plan gebracht haben, sind eben dies: historisch. Ein Blick auf die Mentalität heutiger Schüler belehrt unmissverständlich darüber. Sie lernen einen »Stoff«, von dem sie wissen, dass sie ihn nach abgelegter Prüfung schnell wieder vergessen dürfen– was sie im Regelfall auch tun. Und sie verstehen dabei intuitiv, dass viele dieser Dinge, so wie sie ihnen beigebracht werden, mit ihrem Leben nicht allzu viel zu tun haben werden, dass sie nicht »wichtig« sind, um ihr immer komplizierteres Leben in einer immer unübersichtlicheren Welt erfolgreich zu gestalten. Die Schule und das wirkliche Leben– noch nie seit Einführung der Schulpflicht hielt das »und« dies beides so sehr auseinander wie heute.

Schon der Römer Seneca formulierte es in ironischer Absicht: dass man in der Schule nicht für das Leben lerne, sondern für die Schule. Heute gilt dies viel stärker als in früheren Zeiten. Kinder, die im Jahr 2013 eingeschult werden, gehen im Jahr 2074 in Rente. Weder für sie noch für ihre Eltern ist sichtbar, dass sie in der Schule auf diese Zukunft vorbereitet werden. Gewiss, es ist eine Zeit, über die keiner etwas Verbindliches weiß. Ob wir (was wahrscheinlich ist) in fünfzig Jahren in einer Welt leben, in der Werbetafeln die Gesichtszüge von Passanten lesen und Turnschuhe Psychoprofile ihrer Träger erstellen,5 oder in einer Welt, die ihre ganzen Anstrengungen darauf gerichtet haben wird, Kriege unmöglich zu machen und das Welthungerproblem zu lösen (was unwahrscheinlich ist)– niemand kann das wissen. Aber vielleicht wäre schon viel gewonnen, wenn wir zukünftige Generationen dazu ermutigen können, ihre Kreativität zur Lösung des Welthungerproblems einzusetzen, statt millionenfache Antworten zu finden auf nie gestellte Fragen.

Manches von dem, was in Zukunft anders sein wird, ist bereits deutlich abzusehen. »Tiefe Kreativität und analytisches Denken sind nicht länger eine Option, sie sind keine Luxus-Fertigkeiten, sondern Überlebenstechniken.«6 Viele traditionelle Berufe wie Reisekauffrau, Apotheker, Bibliothekarin, Schaffner, Steuerberater usw. wird es– so wie wir sie jetzt kennen– in Zukunft nicht mehr geben. Das, was die jüngere Generation heute schon am eigenen Computer erledigen kann, wird als Beruf nur noch mit Sonderexpertenstatus überleben. Millionen Dienstleistungsberufe, die darauf basieren, etwas im Internet zu finden, das jeder selbst finden kann, sterben aus. Die Schlüsselkompetenzen des quartären Sektors– der Welt der hochqualifizierten Berater, der Umwelt- und Gesellschaftsscouts, der Spitzentechnologen und spezialisierten Kommunikationsdienstleister– braucht selbstständig denkende Menschen, kreative Konfliktlöser, führungsstark und in höchstem Maße teamfähig.

Das Standardmodell der Schule ist dieser Herausforderung nicht gewachsen. Ihre Aufgabe seit Einführung der Schulpflicht im 18. und 19.Jahrhundert war es, der Wirtschaft und dem Staat vielseitig verwendbare Fachkräfte ohne allzu signifikante Persönlichkeitsmerkmale bereitzustellen. Gebraucht wurden treue Staatsdiener, Beamte und Angestellte sowie einschlägig ausgebildete Fachkräfte in überschaubaren Tätigkeitsfeldern. Die überwiegend passive Rolle des Schülers in der Schule war sinnvoll und gewünscht und Kreativität außerhalb gelenkter Bahnen so unnötig wie ungewollt. Die Schulstruktur, wie wir sie heute (von Ausnahmen abgesehen) kennen, ist nach diesem Modell konstruiert.

Die heutige Aufgabe der Schule müsste dagegen sein, Kinder auf ein erfülltes Sozial- und Berufsleben in einer zukünftigen Gesellschaft vorzubereiten, sie zur aktiven Lebensgestaltung zu befähigen und zu ermutigen. Dafür müssen sie nicht nur lernen zu lernen– so als handele es sich dabei einzig um eine Technik–, sondern die Schule muss alles dafür tun, dass Kinder und Heranwachsende in ihrem Leben auch dauerhaft lernen wollen.

Der Bildungspolitik fällt dabei die Aufgabe zu, ein System zu schaffen, das allen Menschen eine ganz reale Chance gibt, die Gestaltungsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft tatsächlich nutzen zu können. Freiheit ist keine Frage theoretischer Chancen, sondern eine Frage sozialer Realitäten. Es nutzt niemandem etwas zu sagen: »Du musst deine Chance nutzen!«, wenn man nicht weiß, wie das geht. Kindern aller gesellschaftlichen Schichten nach Kräften dabei zu helfen, ihre Potenziale zu entfalten, ist der Auftrag gegenwärtiger und zukünftiger Bildungspolitik.

Bedauerlicherweise ist auch dieses Terrain noch immer ideologisch stark vermint. In der öffentlichen Bildungsdebatte streiten sich zwei Fraktionen. Einige– sehr laute– Stimmen meinen, das Ziel der Bildungspolitik solle sich allein an den Anforderungen des zukünftigen Arbeitsmarkts orientieren. Andere dagegen rufen den Namen »Humboldt« in die Runde und bestehen darauf, dass Bildung ein Individualrecht sei und deshalb niemals zweckgebunden sein dürfe. »Bildung für sich selbst« oder »Bildung für die Wirtschaft« lautet der Gegensatz.

Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass dieser Widerspruch ein Scheinwiderspruch ist. Denn die richtig verstandenen Interessen der Wirtschaft sind letztlich die gleichen wie die Interessen derjenigen, die möglichst allen Kindern dieser Gesellschaft einen zeitgemäßen Schulunterricht und eine Chance auf ein erfülltes Leben geben wollen. Angesichts der demografischen Entwicklung in unserem Land, in dem es heute so wenige Kinder gibt, legen nicht nur Sozialisten und Humanisten den größten Wert darauf, jedes Kind mitzunehmen. Auch Firmen, Betriebe und Unternehmen können sich die soziale Selektion der Gegenwart schon lange nicht mehr leisten.

Bedauerlicherweise aber zeichnen sich in der Bildungsdiskussion weiterhin drei alte Frontstellungen ab, die eigentlich längst überwunden sein sollten. Die erste ist die soziale Front. Sie betrifft die Abschottungsversuche einiger uneinsichtiger Besserverdienender gegen die bildungsschwache Unterschicht. Man glaubt, man müsste die anderen frühzeitig loswerden, um den eigenen Kindern die besten Karrieremöglichkeiten zu schaffen. Die zweite ist die professionelle Front. Hier kämpfen viele der am Schulsystem Beteiligten und dafür Verantwortlichen– Lehrer, Lehrerverbände, Schuldirektoren und Kultusminister– gegen ihre externen Kritiker, also Eltern, Pädagogik-Professoren, Stiftungen und Journalisten. Die dritte Front schließlich ist die ideologische Front. Sie verläuft zwischen denen, die unser Bildungssystem als Zulieferungsindustrie für die wirtschaftlichen Bedürfnisse unseres Landes sehen, und jenen, die jede kapitalismuskonforme Zweckbestimmtheit auf dem Bildungssektor konsequent ablehnen.

Dabei sind viele Kombinationen denkbar. Der links wählende Bildungsbürger zum Beispiel, der Bildung nicht als Ausbildung für die Wirtschaft verstanden sehen möchte, aber zugleich sehr darauf bedacht ist, dass sein Kind die Schulklasse nicht mit vielen bildungsfernen Mitschülern teilen muss; der Lehrer, der seine schwerwiegendsten Probleme nicht mit Bildungskritikern hat, sondern mit seinen Kollegen; der liberale Unternehmer, der Bildung selbstverständlich zweckgebunden als Ausbildung versteht, aber zugleich ein großes Herz für die Kinder der sozial Schwachen hat und ihnen eine echte Chance geben möchte.

Es wird in diesem Buch gewiss nicht darum gehen, alte, oft lieb gewordene Freund-Feind-Linien zu verstärken. Es möchte auch keine Ideologie bedienen innerhalb eines etablierten Rechts-Links-Schemas. Die Frage nach der Verbesserung unseres Schul- und Bildungssystems ist keine Frage, die sich aufWeltanschauungen wie »liberal«, »konservativ« oder »sozialistisch« reduzieren ließe. Alle diese löchrigen Gefäße reichen nicht aus, den Inhalt zu transportieren, um den es hier geht. Natürlich wird es sich nicht verhindern lassen, dass der eine oder andere Leser dieses Buch aus seinem festgefügten weltanschaulichen Raster heraus beurteilen wird. Doch sollte es gelingen, die veralteten Denkmuster, die die Bildungsfrage so lange gefangen genommen und missbraucht haben, für manch einen aufzubrechen, so wäre ein wichtiges Anliegen erfüllt.

Das größere Ziel aber ist, dass Anna schon in zwei oder drei Jahrzehnten kopfschüttelnd darüber staunen wird, auf welche Weise in Deutschland im Jahr 2013 Kinder unterrichtet wurden. Etwa so, wie wir heute darüber staunen, dass Frauen bis zu Beginn des 20.Jahrhunderts in fast ganz Westeuropa kein Wahlrecht hatten oder noch Anfang der sechziger Jahre in Deutschland selbstständig kein Konto eröffnen und ohne die Unterschrift ihres Ehemanns keinen Mietvertrag unterschreiben durften. Oder wie wir heute nicht mehr nachvollziehen können, wie es in den siebziger Jahren in katholischen Erziehungsheimen vor sich ging. Oder dass Lehrer an öffentlichen Schulen in der Klasse durchaus noch zuschlugen und ihre Schüler heftig an den Ohren zogen und dass es in Autos keine Sicherheitsgurte gab.

Nicht zuletzt möchte ich zeigen, dass eine neue Form der Bildung und des Bildungssystems ohne Zweifel zugleich eine andere Gesellschaft erzeugen wird. Denn die Dilemmata unserer Bildungswirklichkeit sind nur auflösbar in einer Gesellschaft, bei der die Stellschrauben anders eingestellt werden und eingestellt sind. In diesem Sinne ist der Umbau unseres Bildungssystems der vielleicht wichtigste Teil einer großen sozialen Transformation, die mit den zivilbürgerlichen Protesten und der Forderung nach mehr Demokratie und aktiver Beteiligung bereits begonnen hat und die unsere Gesellschaft unzweifelhaft verändern und hoffentlich verbessern wird.

Richard David Precht

Köln, im Februar 2013

1Siehe: www.ted.com/talks/ken_robinson_says_schools_kill_creativity.html

2Brodkorb (2012)

3Quenzel/Hurrelmann (2010), S.23

4Hopmann/Brinek/Retzl (2007), S.14 f.

5Vgl. Stefan Schultz: Urbanes Leben der Zukunft. »Die Stadt beobachtet mich aus Tausenden Augen«. Ein Interview mit IT-Visionär Adam Greenfield. Siehe: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/adam-greenfield-im-interview-ueber-smart-cities-augmented-reality-a-828442.html

6Khan (2012), S.7 (Übersetzung RDP)

Die Bildungskatastrophe

Was ist Bildung?

Bildung ist das, was zurückbleibt,

wenn man das Gelernte wieder vergessen hat.

Georg Kerschensteiner

Das deutscheste Wort

Es gibt Bildungssysteme, Bildungsinstitute, Bildungseinrichtungen, Bildungsminister, Bildungsreisen, Bildungsmiseren, Bildungskatastrophen und neuerdings sogar eine Bildungsoffensive, eine Bildungsrepublik, Bildungsfonds, Bildungskredite, Bildungsgutscheine und Bildungsschecks. Aber was ist Bildung? Und wozu und zu welchem Ende bilden wir, frei nach Schiller, unsere Kinder?

Bildung ist Alles, was man wissen muss, betitelte einst der Anglist Dietrich Schwanitz einen Bestseller. Dass die Naturwissenschaften offensichtlich nicht dazugehörten, motivierte den Wissenschaftspublizisten Ernst Peter Fischer zum Gegenschlag: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Beiden Büchern gemein ist die Vorstellung, dass Bildung gleichbedeutend ist mit Wissen. Oder genauer: mit einem konkreten Bescheidwissen über ausgewählte Dinge. Sie ist, so könnte man daraus folgern, so etwas wie die mentale Vorratsdatenspeicherung kanonisierter Sachverhalte– eine Art innere Bibliothek mit Schnellzugriff. Etwas, das man bei Günther Jauch abrufen kann, um Millionär zu werden. Etwas, woran Gebildete sich erkennen, um sich von Ungebildeten zu unterscheiden.

Aufstieg und Sinn eines solchen Bildungsbegriffs stammen wesentlich aus dem 18.Jahrhundert, aus der Zeit, als das aufstrebende Bürgertum den Besitzern von Rittergütern seine Bildungsgüter entgegensetzte. Wissen ist Macht– die alte Formel des englischen Renaissancephilosophen Francis Bacon bekam nun eine breite gesellschaftliche Bedeutung. Von nun an galt dem Bürgertum Bildung als Synonym für den sozialen Aufstieg– aber auch als Standesprivileg des sogenannten Bildungsbürgertums gegenüber dem Kleinbürgertum, den Bauern und der Arbeiterschaft. Wer gebildet war, wurde geachtet, wenn auch auf einem schmalen Grad an Bildungsetikette. Wie der Adel das Halbseidene, so verachtet der wahrhaft Gebildete den Bildungsphilister und den Bildungsspießer ob seiner Bildungshuberei. Im Zweifelsfall gilt ihm der aufrecht Ungebildete mehr als der Halbgebildete. Was für ein herrlich unverbildeter Typ rühmte einst der Sportmoderator Dieter Kürten den Fußballtrainer Michael Lorkowski.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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