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Amir versucht, sein Leben zu rekonstruieren. Im Garten der Villa seines Vaters steht noch das verrostete Cabriolet, mit dem er zu Zeiten des Schahs die Frauen beeindruckte. An der iranisch-irakischen Front kam die Granate, die ihm seinen Arm abriss. Seine Erinnerungen sind ausgelöscht. Was wissen Mutter und Schwester, die ihn in einer Anstalt für traumatisierte Soldaten wiederfanden? Alle paar Stunden will er reflexhaft an den goldenen Ring greifen, der an seiner verlorenen Hand war. Wer war die mysteriöse Frau, mit der er ihn im goldfunkelnden Basar gekauft hat? Erinnerungen leuchten vor ihm auf. Auf der Suche nach der Liebe seines Lebens streift er durch Teheran. Er findet ein durch Gewalt, Krieg und Lüge zerrüttetes Land und zum Schluss im eigenen Garten eine erschütternde Spur, die in die Zukunft weist. Kompromisslos, vielschichtig und vielstimmig erzählt Shahriar Mandanipur eine atemberaubende Liebesgeschichte und gleichzeitig den Epochenroman von den Umwälzungen im Iran.
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Seitenzahl: 654
Veröffentlichungsjahr: 2020
Amir versucht, sein Leben zu rekonstruieren. Seine Erinnerungen sind ausgelöscht, sein Körper vom Krieg versehrt. Bilder einer mysteriösen Frau, eines goldfunkelnden Basars leuchten vor ihm auf. Auf der Suche nach der Liebe seines Lebens streift er durch Teheran und findet inmitten eines zerrütteten Landes eine zukunftsweisende Spur.
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Shahriar Mandanipur (*1957) studierte Politikwissenschaften und war Soldat im iranisch-irakischen Krieg. Über zehn Jahre lang war er Chefredakteur einer Literaturzeitschrift. Mehrere Gastprofessuren führen ihn immer wieder in die USA, wo er zeitgenössische iranische Literatur und Film unterrichtet.
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Regina Schneider studierte Amerikanistik, Deutsch als Fremdsprache, Spanische Linguistik und Phonetik in München und in Albuquerque. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Anita Desai, Jane Goodall und Slavoj Žižek und ist Dozentin für deutsche Sprache an internationalen Universitäten.
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Shahriar Mandanipur
Augenstern
Roman
Aus dem Englischen von Regina Schneider
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Unionsverlag
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Die Erstausgabe dieses Romans erschien 2018 in englischer Sprache unter dem Titel Moon Brow bei Restless Books, Brooklyn. Die Übertragung aus dem Persischen erfolgte durch Sara Khalili.
Auf Wunsch des Autors wurde die deutsche Fassung aus dem Englischen übersetzt.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde vom SüdKulturFonds in Zusammenarbeit mit Litprom e. V. - Literaturen der Welt unterstützt.
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. (Berlin), der ihre Arbeit unterstützt und ausgezeichnet hat.
Originaltitel: Moon Brow
© by Shahriar Mandanipur 2018
© der Übersetzung ins Englische by Sara Khalili 2018
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: The Picture Art Collection (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31042-1
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AUGENSTERN
PrologEpilogWorterklärungenMehr über dieses Buch
Shahriar Mandanipur: »Die Sprache ist das einzige Zuhause, das mich überallhin begleitet.«
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Shahriar Mandanipur: Mein Weg
Helena Drakakis: Verbotene Früchte
Über Regina Schneider
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Der Schreiberengel auf seinerrechten Schulter notiert:
Er denkt …
Ich werde keine Linderung verspüren, kein Heil erfahren, bevor ich meinen Arm finde und sein Geheimnis entdecke. Meinen Arm, der so allein ist, so lange schon. Meinen linken Arm, verwest und verwaist, Nahrung für den Regen, den Wind und die Sonne … So lange schon hat er nach mir geschrien und gerufen, doch jetzt erst höre ich ihn – ich muss fort, muss durch das Feld der abgerissenen Beine, durch die Wüste ausgebrannter Panzer mit ihren gereckten Kanonenrohren, die an Penisse erinnern, will jenen Bergesgipfel erreichen, wo ich irgendwo, ich erinnere mich nicht an den Ort, zu Boden geschleudert wurde und wo mein Blut sich in die Erde ergoss. Ich weiß, ich muss fort, dorthin, wo Gott, der Allbarmherzige, meinen Arm küsste, meinen Arm segnete, wo mein Arm abfiel, meine Hand abfaulte, und wo aus den Federn der Engelsflügel, die auf die Erde herabgeschwebt waren, Würmer geboren wurden, sich an meinem Fleisch labten und die Farbe neuer Federn annahmen. Und vielleicht, so es in dieser Welt ein Vielleicht noch gibt, sind die Überreste meines Arms weiß geblieben, verstümmelte Gebeine unter dem sengenden Schwert der Sonne oder versunken im Schlamm, wo selbst die himmelsgeborenen Würmer von ihnen abließen …
Ich muss meine Angst überlisten und zurückkehren, einen Gipfel nach dem anderen absuchen, allen Mut sammeln, die steinherzernen Felsen berühren und zu ihnen sagen: O ihr Bergfelsen, wo ist dieses Gefühl geblieben, berührt zu werden? Mit dem habe ich seit Kindheitstagen alles gefühlt, den Teppich, die Federn des Papageis und das Gesicht meiner Mutter. Wo ist der brennende Schmerz in meiner Handfläche von den Peitschenschlägen des Prinzipals? Die schlangenhäutige Kühle der Gebetsperlen … Die Schwielen an den Fingern von tausend Seiten Hausaufgaben … Die Feuchte der Masturbation … Die Kühle amerikanischer Granaten in meiner Hand! O Wind aller Winde, wann hast du alle diese Düfte über die Berge fortgetragen, den Duft der keimenden Brüste des Mädchens, den Schweiß ihres unberührten Schoßes, der meine Hand netzte? Ich werde die Dornen des Stechapfels küssen und sagen: O heilige Dornen, warum habt ihr meinen Arm nicht beschützt vor den aasfressenden Hunden, damit sie nicht die Schicksalslinien auf meiner Handfläche zerfetzen! Jetzt, am Ende des Endes, flehe ich um die verstümmelten Reste meiner Hand, um sie hineinzulegen in meine andere Hand. Ich muss sie sehen, ihr Geheimnis auflösen. Damit ich mich nach all den Jahren des Sehnens und Irrens in Frieden auf ebenjenem Gipfel niedersetzen und Atem schöpfen kann aus der mir zugemessenen Zahl von Atemzügen. Mit trockenen, vielleicht auch salzfeuchten Augen weit hinaus in ein nebliges, vielleicht auch sonniges Tal blicken und laut schreien: Ich spucke auf euch alle, die ihr die Welt so tief in den Schmutz gezogen habt!
Der Schreiberengel auf seinerlinken Schulter notiert:
Er denkt …
O Ihr elenden Begleitengel auf meinen Schultern! Sagt, wie weit meinen Rücken hinab habt Ihr geschrieben? Ihr hinterlistigen Engelsschreiber! Habt Ihr geschrieben bis hinunter zu den roten Wülsten im Fleisch, den Narben der Peitschen der Revolutionsgarden? Haben die Peitschen Eure einstmals geschriebenen Worte nicht ausgelöscht? Und die roten Spuren weiblicher Fingernägel auf meinen Schultern, haben sie Euch erregt? Habt Ihr niedergeschrieben, dass ich brüllte und schrie, nein! Habt Ihr niedergeschrieben, dass ich Kinder sah, die mit schäumenden Mündern aus Fenstern stürzten? Dass ich sah, wie Spatzen von Bäumen und Krähen vom Himmel fielen? Dass ein Hund in der Gasse in Stücke zerbarst? Ihr Engel, die Ihr nur eine Körperöffnung habt, und zwar die in Euren Stiften, die Ihr Eure Beine fest um meinen Hals geschlungen habt, habt Ihr niedergeschrieben, dass auch Ihr Erfüllungsgehilfen wart in diesem Verbrechen? Ihr wart doch bei mir, habt mit angesehen, wie rundum alle starben! Jeder, egal ob er um sein Leben rannte oder stehen blieb, ob er seine Kinder umarmte, ob er die letzte Nacht gevögelt hatte oder gebetet. Sie alle starben. Jedes Kind, das von der Brust säugte, jede Katze, die sich leckte, und gar jede Fliege: Sie alle starben. Habt Ihr niedergeschrieben, dass all jene, die sich versteckten, in den Kellern verfaulten, und dass weißer Rauch wie Kampfer und Kattun aus den sieben Körperöffnungen der Toten quoll?
Schreibt nieder, dass ich schreie! O Ihr Mistkerle, die Ihr vom Himmel herabgestiegen seid, Ihr habt alles getötet!
Der Schreiberengel auf seinerrechten Schulter notiert:
Vom bodentiefen Fenster in Reyhanehs Zimmer schaut er hinaus in den verregneten, kahlen Garten, und ein Gedanke fährt ihm durch den Kopf …
Gut, dass der zweite Stock immer der zweite Stock bleibt.
Sein Blick folgt dem Nebel, der vom Boden unter den nackten Bäumen aufsteigt, ein zögerlicher Nebel mit einem Hauch von Violett. Der Klang von Regenwasser in den Dachrinnen des alten Gebäudes schwillt hörbar an.
»Wie kann es sein, dass du in deinen Träumen nichts vom Gesicht des Mädchens siehst?«, fragt ihn Reyhaneh.
»Weiß nicht. Ihr Gesicht ist verschwommen. Vielleicht sehe ich es ja, aber es bleibt nicht im Gedächtnis haften. Vielleicht ist es auch mit einem Tschador bedeckt … Ich weiß es nicht. Manchmal erinnere ich mich an ihr Haar, schemenhaft. Lange Haare, bis über ihre Brüste hinunter. Vielleicht habe ich sie nackt gesehen. Ihre Brüste von ihren Haaren bedeckt.«
»He, Vorsicht! Du sprichst mit deinem unschuldigen Schwesterchen!«
»Mach dich nur lustig über mich. Es ist, als ob sie eine Mondsichel auf ihrer Stirn trägt, die so hell erstrahlt, dass ich ihr Gesicht nicht erkennen kann!«
»Du träumst wieder mal.«
»Meine Träume sind keine Einbildung. Immer wieder sehe ich uns beide, wie wir uns gegenseitig einen Ring an den Finger stecken.«
»Na und? Jeder hat seine Wunschträume«, kichert Reyhaneh. »Meiner ist, dass eines Tages ein Prinz vor unserer Haustür steht und um meine Hand anhält.« Dann aber schaut sie ihn einfühlsam an. »Vielleicht hast du eine bittere oder schmerzvolle Erfahrung gemacht, die du unterbewusst vergessen möchtest.«
»Genau das hat mir auch der vertrottelte Irrenarzt in der Klapsmühle erzählt. Aber ich will, dass du meiner Erinnerung auf die Sprünge hilfst. Erzähl! Was ist damals geschehen, das in irgendeinem Zusammenhang mit diesen Träumen stehen könnte?«
»Keine Ahnung! Mit Mädchen hast du dich ja immer prächtig amüsiert, bis zu jenem Tag, da du dich, von allen guten Geistern verlassen, für den Krieg gemeldet hast. Warum eigentlich? Wegen einer schlechten Erfahrung, dachte ich damals, aber da lag ich wohl falsch. Du warst damals ein Kindskopf, der keine Ahnung hatte, was eine schlechte Erfahrung ist. Aber he, Träume sind Schäume! Dass sie dir Angst machen, überrascht mich.«
»Oft packt mich die Angst, und dann wird sie immer größer, weil ich gar nicht weiß, wovor genau ich Angst habe.«
Reyhanehs alter Samowar köchelt leise vor sich hin. Er sieht ihn förmlich, den süßen Duft der vierundvierzig blühenden Sträucher im Garten, der Winterorchideen, der zum Haus herüberschwebt, wie von den durchsichtigen Flügelmembranen einer Libelle getragen.
»Ich weiß nur, dass du geduldig sein musst. Du solltest dich nicht aufregen. Vergiss nicht, Gott hat dir nie den Rücken gekehrt. Du bist in den Krieg gezogen, du bist in der Irrenanstalt gelandet, doch wir haben dich gefunden und heimgeholt. Ein Zeichen dafür, dass Gott dich nie verlassen hat.«
Er starrt auf den Leberfleck in Reyhanehs Gesicht. Gleich oberhalb ihres Lippenbogens. Auf der linken Seite. Leicht verlegen senkt sie den Blick. Er erhebt sich aus dem Bugholzstuhl, geht wieder im Zimmer auf und ab. »Aber ich habe Gott verlassen. Er ist ein Versager. Er hat vergessen, dass er Gott ist. Und außerdem fehlt ihm ja auch kein Arm. Dieser Gott, den du so liebst, was hat er dir in deinem elenden Leben gebracht? Er hat dich zu einer alten Jungfer in diesem verdammten Haus werden lassen.«
Worte wie Dornenstiche sind das, aber entgegen seiner Erwartung lässt Reyhaneh sich nichts anmerken.
Regen, Regen, nichts als Regen. Tropfen kleben an der Fensterscheibe, rinnen an ihr hinab. Zwischen den Schlieren auf dem Glas sieht man in den kahlen Garten. Nackte Mandelbäume, Kirschbäume, die kleinen starren Knospen fest geschlossen. Zwei diagonal perlende Streifen vereinigen sich, werden zu einem. Bedeutet: Eins plus eins ist eins. Nur, dass ein Streifen schneller fließt. Ich müsste mich daran erinnern, wie ich von deinem Schlafzimmer im zweiten Stock durchs Fenster sehen kann, dass der alte Eukalyptusbaum in der oberen Hälfte seiner Krone noch Blätter trägt. Seine Blätter, sein altes Geäst, sein Kuckucksnest von Regenschlieren zerfurcht.
Er bringt es nicht fertig, seinen Alfa Romeo anzuschauen, der seit Jahren verwaist und verlassen unter dem Eukalyptusbaum steht. Verrostet. Die Reifen platt.
»Wie kommt es, dass ich nie ein Fotoalbum hatte? In meinem Zimmer findet sich nichts, gar nichts. Du hast nichts von mir drin gelassen.«
»Damit habe ich nichts zu tun. Vielleicht wusstest du ja, dass du jahrelang nicht zurückkehren würdest, und hast deine Fotos irgendwo versteckt, bevor du fortgingst.«
»War ich damals mit einem Mädchen zusammen?«
Reyhaneh kichert.
Ich mag es nicht, wenn sie so kichert.
»Los, sag schon! Ich erinnere mich bruchstückhaft. Verdammt! Da explodiert so eine beschissene Mörsergranate, und all die vielen Menschen und Erinnerungen, die mir absolut wichtig waren, fliegen einfach so davon, als hätten sie nie existiert. Ich verliere meinen Arm, und es ist, als hätte ich ihn nie gehabt.«
»He! Ich sag dir jetzt mal was, ich will nämlich nicht, dass du mich zum Narren hältst. Meistens meine ich, du hast deine Erinnerungen gar nicht verloren, und das Ganze ist nur ein schlechter Scherz.«
»Sobald ich versuche, mich zu erinnern, schwinden die Erinnerungen. Egal wie, ich muss dieses Mädchen finden.«
»Sie ist ein Traummädchen in einem Traum. Wenn du sie finden willst, musst du also schlafen.«
»Gab es denn ein Mädchen, das mir besonders am Herzen lag?«
»Da gab es einige.«
»Ich meine nicht irgendwelche, ich meine diese eine. Eine, mit der ich länger zusammen war. So etwas wie eine Liebe.«
»Nein. Du hast mitgenommen, was ging.«
»Wie? Was habe ich getan?«
»Du hast nichts anbrennen lassen.«
»Du veräppelst mich!«
»Nein, ich schwöre. Du hast es ordentlich krachen lassen. Warst gut aussehend, hattest einen Haufen Geld, einen Alfa Romeo unterm Hintern. Bei den Frauen hattest du freie Auswahl, alle schmissen sich an dich ran.«
»Weißt du das von mir? Hab ich das gesagt? Dass ich mich amüsiert habe?«
»Was weiß ich. Es war offensichtlich. Du hattest einen Mordsspaß, andernfalls hättest du’s nicht derart ausgekostet.«
»Was? Was ausgekostet?«
»Eine nach der anderen abzuschleppen, feiern am Strand, oder unter deinesgleichen bei irgendwelchen steinreichen Sprösslingen in luxuriösen Strandvillen. Du hast ja keine Ahnung, wie gerne ich mal mitgekommen wäre. Du Idiot! Weißt du überhaupt, dass ich noch nie das Meer gesehen habe? Während ich hier, in diesem Haus, eine verschleierte Gefangene war, hast du die Puppen tanzen lassen. Gott allein weiß, wie viele Mädchen du gehabt und dann weggeworfen hast, wie gebrauchte Taschentücher.«
Ich will nicht, dass sie so mit mir spricht – zornig, gehässig oder traurig. Das Gluckern in den Regenrinnen klingt genauso wie damals in der Irrenanstalt, wie in einem Wasserrohr.
»Irgendetwas nervt dich, sobald ich über die Vergangenheit spreche. Was zum Teufel habe ich denn getan, das dich so aufbringt? Sag mir wenigstens das.«
»Nix. Gar nichts hast du getan.«
»Spar dir deinen Sarkasmus. Gewiss, die Explosionen haben meinen Kopf leer geblasen, und die Irrenanstalt hat ihn noch wirrer gemacht, aber ich bin nicht blöd. Ich habe an deiner Tür gelauscht. Du hast geweint.«
»Wie kommst du darauf, dass ich mich selbst beweint habe? Vielleicht habe ich ja um meinen Bruder geweint.« Sie versucht, ihren Blick vom leeren Ärmel seines schief geknöpften Hemds abzuwenden.
Amir bemerkt es. »In der Klapse gab es einen Typen, der seinen rechten Arm verloren hatte. Danach, so erzählte er, zwang ihn der Hunger, seinen abgetrennten Arm zu essen. Tagelang lagen sie unter Beschuss durch die Deutschen und saßen fest.«
»Das waren die Irakis!«
»Durch wen auch immer! Schmeckt besser als Hähnchenflügel, sagte er immer. Ich weiß gar nicht mehr, wie der Typ hieß. Jeden Morgen banden wir unsere beiden leeren Hemdsärmel aneinander und spazierten Schulter an Schulter durch die Gänge und den Hof. Auch andere traumatisierte Opfer gingen umher. Und jedes Mal, wenn uns einer der korpulenten zweiarmigen Pfleger entgegenkam, wichen wir ein Stück auseinander, sodass er uns mit Brust oder Hals direkt in die zusammengebundenen Ärmel lief. Dann drehten wir uns flugs zu ihm herum, umzingelten ihn, und der Anstaltsaffe saß in der Falle.«
Er lacht in sich hinein. Reyhaneh verzieht keine Miene.
»Wir wurden gezwungen zu beten, also verrichteten wir auch unsere Waschungen gemeinsam. Er wusch meine Hand, ich seine. Er kannte die Gebetsrituale. Die Pfleger knoteten unsere Ärmel dann immer auseinander, aber wir banden sie wieder zusammen, und er sprach die Gebete für mich mit. Wenn ich also vor mich hinträumte und er plötzlich niederkniete, zerrte er mich mit nach unten, und ich wusste, dass ich mich kniend nach vorne beugen und mit der Stirn den Boden zu berühren hatte.«
»Und? Worauf willst du hinaus?«
»Ich will damit sagen: Lass mich meinen Ärmel auch an deinen binden.«
In den leeren Kammern seiner Erinnerung beginnt es, laut zu hallen …
Ich müsste doch wissen, dass dieser Garten dort draußen so daliegt, wie er immer dalag. Er steht immer noch unter diesem Zauber. Im schwelenden Nachtnebel verwandeln sich sieben Kuckuckspärchen in Stein und fliegen bei Tagesanbruch davon. Abu-Yahya, der Vater des Todes, versteckt sich wie immer hinter dem Kirschbaum des heiligen Khezr. Mitleidig beobachtet er mein Unvermögen, es mit den geistig gesunden Schlächtern aufzunehmen. Er lacht mich aus, allein und verkrüppelt, wie ich jetzt bin, und er fürchtet sich, wenn ich mich vor den Menschen fürchte, denn sie vergessen nichts …
»Sag, Reyha! Auch wenn du denkst, dass ich lüge, egal ob ich einarmig bin, oder von mir aus achtarmig, sag mir alles, was du weißt. In den leeren Kammern in meinem Kopf ist nichts, sie sind einfach leer. Du kannst mich wie einen verkrüppelten Bettler behandeln, das macht mir nichts aus, so tust du deinem Gott ein gutes Werk. Aber bitte rede, auch wenn du mir alles zehnmal sagen musst. Wieso versteht ihr alle nicht, dass das genau jetzt geschehen muss! Andernfalls ist alles verloren.«
Der Samowar köchelt nun schneller und lauter. Dampf zieht durch das Zimmer.
Gut zu wissen, dass im leisen Gebrodel des Samowars nicht das Krachen einer Schrapnell-Granate lauert, die dir jeden Moment den Arm wegreißen kann.
Geister seiner nächtlichen Selbstgespräche auf den Gipfeln ferner Berge streifen einen Winkel seiner Erinnerung.
Meine Herzallerliebste! Gut, dass du nichts weißt von der Einsamkeit eines Offiziers auf Spähposten hoch in den Bergen. Die anderen Offiziere wie auch die einfachen Soldaten verstehen meine Sprache nicht, und ich, ich verstehe ihren Schmerz nicht. Auf den Gipfeln erreichen die Schmerzensschreie der verwundeten Soldaten ihren Höhepunkt … sie können jederzeit ausbrechen, urplötzlich, und immer im Nachhinein, schlagartig. Egal, ob du schläfst oder wachst, Fontänen aus Blut ergießen sich auf die Erde, zerfressen den Boden wie Säure. Egal, ob es schneit oder nicht, der eisige Wind peitscht Schnee und Nebel aus eisigen Mulden auf, trägt ihn hoch hinaus bis in die Gipfel, und dort, dort verstreichen die Tage und Nächte viel langsamer als unten im Tal, wo des Tags der Nebel den Späher einlullt und die Nacht ihm ein Freund ist. Und jederzeit, urplötzlich, können die angstgebeutelten Soldaten mit ihren Kalaschnikows und Sturmgewehren aufeinander losgehen, wie kämpfende Skorpione. Im Vertrauen auf mein wachendes Auge liegen sie im Schlaf, wenn ich nicht meine Pflicht tue, kann es ihr letzter sein. Die Augen des Spähers werden ihm schwer, seine Lider senken sich, vor seinem Blick verschwimmt alles in schwarzer Nacht, während feindliche Soldaten als Nachtschatten umherstreifen, ihr Husten unterdrücken wie zähen Schleim. Nur ein paar Sekunden die Lider schließen, gaukeln dir die Augen vor, nur ein paar Sekunden. Wenn der Feind sich bewegt, werden die Ohren das Wasser in der Feldflasche platschen hören. Beim Entriegeln der Kalaschnikow wird der Verschluss knacken. Das Stolpern der Füße, die gegen Steine stoßen oder auf verstreut liegende Patronenhülsen treten, wird das Ohr hören … Aber die Ohren wissen: Unmittelbar nach der Katastrophe, wenn sie denn kommt, ist da nur noch das Rauschen von Blut.
Im Nebel erscheinen die nackten, vom Winter schwer gebeutelten Bäume dürr und hager. Für ihn sehen sie aus wie die zu Stein gewordenen Prinzen vor der Felsenfestung der bösen Zauberin. Er denkt: Ihr verlogenen Engel, habt ihr die süß duftenden Winterorchideen entlang des Gartenwegs gesehen? Ihre Blätter wachsen spärlich, dafür blühen sie umso prächtiger. Meint ihr nicht, dass irgendetwas in dieser Welt völlig verkehrt läuft?
Der süße Duft der Winterblumen, der in das Zimmer steigt, wie Gas aus einer Giftbombe, streichelt sanft seine Haut, unentwegt, schmetterlingsgleich.
Reyhaneh kratzt an einem kleinen Fleck auf ihrer blassen Haut herum. »Spricht sie nicht mit dir? Denk doch mal nach. Vielleicht spricht sie ja mit dir.«
»Abgesehen von dir spricht niemand wirklich mit mir. Alle quasseln mich voll, damit ich gar nicht erst anfange, ihnen Fragen zu stellen.«
»Du solltest herausfinden, warum dich dieser Traum so beschäftigt. Du quälst dich doch nur selbst. Ich höre dich mitten in der Nacht in deinem Zimmer auf und ab gehen. Aber die Geschichte von diesem Mädchen ist bloß ein Traum.«
»Sie ist mehr als ein Traum. Dieser ganze Mist holt mich auch ein, wenn ich wach bin. Ich sitze oder stehe irgendwo und höre sie hinter mir. Manchmal meine ich, sie flüstert mir im Vorbeigehen zu: ›Hier sind wir sicher! Komm!‹ Doch sobald ich mich umdrehe, um ihr zu folgen, ist da niemand.« Und dann beginnt er zu schreien: »Gerade du, warum kannst du mich nicht verstehen? Würde es dich nicht auch quälen, wenn du ständig diese ganzen Sachen hörst und fühlst?« Er wischt sich den Schaum aus den Mundwinkeln.
Der Schreiberengel auf seinerlinken Schulter notiert:
»Wenn du mich noch ein Mal so anschreist«, faucht Reyhaneh, »dann bin ich ein für alle Mal weg, und du kannst in deinem Zimmer verrotten.«
»Aber die Träume kommen immer wieder und scheinen genau die gleichen zu sein wie die, die ich vergessen habe! Also kann doch nicht alles aus der Luft gegriffen sein!«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass du dir das selbst zuzuschreiben hast. Klar, es hinterlässt zwangsläufig Spuren, wenn ein gesunder Mensch fünf Jahre lang in der Klapsmühle sitzt und den Irren markiert.«
»In der Anstalt habe ich nicht so gelitten wie jetzt. Ich wusste nicht viel, aber ich war im Frieden mit mir. Ihr habt mich dort herausgeschleift. All diese Träume und Fantasien fingen an, als ihr mich in dieses Haus gebracht habt.« Er beginnt zu flehen: »Nicht böse sein, Reyha. Ich kann nichts dafür.«
Draußen vor dem Fenster hängt dieser endlose, traurige Regen. Oder gab es auch mal fröhlichen Regen? Wenn Regen über falschen Orten niedergeht, hört man ihn dann klagen, einen falschen Ort getroffen zu haben? Reyhanehs Augen sind jetzt nicht mehr schön und sanft. Sie blicken mir voller Misstrauen und Zweifel entgegen. Sie starren mich an, als wolle ich sie austricksen. Dabei habe ich hier doch nur sie, meine Schwester. Aber ich weiß, dass sie mir irgendetwas verheimlicht. Ich bin sicher, dass es da Dinge gibt, die sie mir nicht erzählt, damit sie mich der Lüge überführen kann …
Gegen Sonnenuntergang verdichtet sich der Nebel zwischen den Bäumen. Er birgt so viele Geheimnisse und Zeichen in sich. Siehst du sie nicht? Dort im Verborgenen, all die Geheimnisse, die leise weinen. Abu-Yahya weint um den Menschen, dessen Leben er kein Ende setzen konnte. Kannst du ihn sehen?
Reyhaneh blickt hinaus in den Garten, dreht sich um und schaut ihn an, streng, besorgt, misstrauisch.
»Warum schaust du mich so an? Was habe ich dir denn getan? Warum hast du so eine Angst vor mir?«
Ihre weichen, weißen Hände mit den niedlichen, kindhaften Grübchen auf den Knöcheln heben die Porzellanteekanne mit den fein aufgemalten roten Blumen vom Samowar, und als würde sie ein heiliges Ritual vollführen, schenkt sie mir eine Tasse Tee ein, damit ich wieder gesund und heil werde. Wieso? Ich heile jeden Tag. Nur dann nicht, wenn dieser verfluchte Sturm in meinem Kopf losbricht und in meinen Gedächtnislücken die Funken eines Bilds aufflackern. Und die flüsternden Stimmen sind noch schlimmer. Wenn ich ihnen zuhöre, werden sie immer lauter. Einige von ihnen schreien mich an, als hätte ich nichts anderes verdient. Wenn ich nicht hinter das Geheimnis dieser Bilder komme, wirst du mich in Ketten legen müssen – wie einen gefährlichen Irren.
»In einem dieser Bilder sehe ich sie, und ringsherum unzählige Juwelierläden. Wir sind auf dem Basar in Teheran, in der Arkade der Goldschmiede. Wir haben uns nicht verlaufen, wir flanieren im Goldglanz. Schließlich finden wir das eine Juweliergeschäft, das für uns bestimmt war. Ein kleiner Laden, versteckt zwischen tausend anderen, ein Paar goldene Ringe im Schaufenster warten auf uns. Drinnen ein hagerer, alter Mann mit gipsweißer Haut. Es scheint, als wüsste er … als wüsste er irgendetwas …« Er wird leiser.
»Was wusste er?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Na dann … was solls?«
»Schsch!« Er dreht sich um und stiert hinaus ans hintere Ende des Gartens. Fahrig, verzagt, verzweifelt zieht er am Aufschlag seines leeren Hemdsärmels und klemmt ihn sich zwischen die Zähne. Er schmeckt nach Nebel, nach Lavendel und welken Winterblumen.
Meine Herzallerliebste, ich möchte dir etwas über Mörsergranaten erzählen. Mit ihren Riffelungen sehen sie manchmal aus wie die sägeartigen Ränder von Brennnesselblättern. Bevor ihre Splitter dein pralles, saftiges Fleisch durchbohren, hörst du die zischende Granate. Du wirfst dich auf den Boden, denn in dem Moment, wo sie trifft, wird alles, was auf Erden grünt und blüht, im Himmel weiterblühen. Dann liegst du da, auf dem Boden, den Kopf mit beiden Armen bedeckt. Wenn sie unweit neben dir explodiert, bist du Hackfleisch. Oder die Druckwelle reißt dich mit, und du kriegst ein Schütteltrauma. Wenn sie weiter weg einschlägt, fliegen dir trotzdem noch, Wunder weiß wie, die Granatsplitter um die Ohren. Scharfkantige Metalle mit gezackten Rändern schlitzen dir alles auf. Wenn du Glück hast, bohren sie sich in den Boden direkt neben dir oder schießen knapp über deinen Kopf hinweg und prallen auf einen Stein, Klingeling! – was sich anhört wie eine schellende Ziegenglocke. Kein Wissenschaftler kennt ihre Formen. Bloß nicht anfassen; sie sind frisch und heiß. Sie liegen einfach da, direkt neben dir, zu deiner göttlichen Freude. Furchterregend, denn sie führen dir vor Augen, wie kurz der Weg zwischen Leben und Märtyrerhimmel ist. Mein starrer Blick ruhte starr auf einigen davon. Rippen, Falze und Späne, ineinander verzahnt und verkantet, in den unmöglichsten Winkeln. Schärfer als jedes Messer. Hungernd nach magerem, saftigem Fleisch. Manche habe ich angefasst. Sie bergen unsägliche Geheimnisse. Glitschige Dinger sind das, die dir schadenfreudig durch die Finger rutschen wie ein Fisch. Manchmal haben sie eine Form wie Schamlippen, sind wunderschön, symmetrisch, länglich gestreckt, manchmal prahlerisch aufgeschwollen. Sie öffnen sich leicht, im Innern eine Knospe, deren winzige Zellen beides sind, Tod und Lebenselixier … Bei manchen wölben sich die Knospen auch trotzig und ragen frech hervor. Aber zur Hölle mit wohlgeformter Schönheit, mit perfekter Symmetrie; sie sind gekräuselt und geriffelt, hungern nach Fleisch; und genau darum recken sie sich lüstern hervor. Manchmal so weit, dass es scheint, als wollten sie aufplatzen. Sie haben zahllose Falten und Furchen, sind rosafarben, himmelblau oder walnussbraun, so wie die schillernden Blattränder von Petunienblüten. Den spitzen Granatsplittern gleich, die am Boden verstreut herumliegen, kann man ihren dürstenden Schrei nicht hören. Fürchte dich vor diesen Lippen, denn sie werden dich zerreißen …
Mit seinem gebrechlichen Körper, aus dem alle Energie gewichen ist, kann er nichts mehr tun oder sagen. Er geht in sein Zimmer nebenan und bemerkt, dass sich sein Fenster, im Gegensatz zu dem abendlich dämmrig getönten Fenster in Reyhanehs Zimmer, nachtschwarz verfärbt hat. Er legt sich auf den Boden neben sein Bett. Er schläft, damit er wieder träumen kann.
Der Schreiberengel auf derrechten Schulter notiert:
Er träumt …
Sie sind oben auf einem Berg, hinter Felsblöcken, versteckt vor den Blicken der Menschen in der Tiefe. Ist er hier mit ihr wirklich in Sicherheit?, fragt er sich. Sie haben sich hierhergeschlichen, um sich vor den Revolutionsgarden und ihren Informanten zu verstecken. Am Himmel steht ein Halbmond. Er hängt noch tief und sieht aus wie ein lachender Mund oder, so scheint es ihm, wie das breite Grinsen eines Clowns. Augenstern, seine Liebste, sitzt mit dem Rücken zum Mond. Ihr Gesicht kann er nicht sehen. Es ist an der Zeit, denkt er sich, ihr das Geheimnis seines Rückens zu offenbaren. Er knöpft sein Hemd auf, schiebt es hoch, schlägt es um seinen Hals und neigt sich nach vorn.
»Fass mal an.«
Eine zögernde Hand tastet vorsichtig zwischen seinen Schulterblättern. Er genießt die Kühle ihrer Finger. Hinter dem Dornengestrüpp raschelt es leise. Es klingt wie das feine Scheuern von Militärhosenbeinen.
»Geh ruhig tiefer.«
»Wieso?«
»Hab keine Angst.«
Die kühle Hand gleitet tiefer, bis sie an die erste fleischig aufgeworfene Wulst stößt. Die Hand zuckt zurück.
»Keine Angst. Sie beißt nicht!«
Die Hand bewegt sich zurück zu seinen Schultern, dann langsam wieder hinunter bis zu ebenjener Stelle und streicht langsam über die verdickte Wulst nach links. Neugierig, vielleicht auch angewidert fährt sie wieder zurück nach rechts, bis ganz ans Ende der Narbe.
»Tu einfach so, als wäre es ein Schriftzug auf meiner Geburtstagstorte.«
Ein zarter Dufthauch von Kamille liegt in der Luft. Die Hand gleitet weiter nach unten zur nächsten fleischig aufgeworfenen Narbe.
»Sie sind wie Linien in einem Schulheft. Soll ich etwas für dich darauf schreiben?«
Er legt sich auf den Boden am Hang. »Schreib was auf meine Brust.«
Die mondbeschienene Hand hebt an, mit einem Filzstift auf seine Brust zu schreiben.
»Schreib, dass du mich liebst. Nein, schreib, dass wir ineinander verliebt sind.« In seinen Augen liegt ein entrücktes Leuchten, hell und stark wie die kalte Milchstraße, die sich hoch über der Bergspitze dahinzieht. Er fühlt die Kühle der Tinte, schwelgt in der süßen Berührung ihrer zarten Handkante, die, während sie schreibt, auf seiner Brust ruht.
»Ich schreibe es in Keilschrift.«
Dann ist sie fertig. Als Augenstern ihre linke Hand hebt, um die Kappe auf den Filzstift zu stecken, glänzt im Mondlicht der Ring an ihrem Finger. Ob er golden oder silbern glänzt, vermag er nicht zu sagen.
»Leg dich neben mich. Heute Nacht ist die Milchstraße so nah. Für dich und für mich. Wie eine Zudecke.«
Und dann geht es los … Er hört Gelächter, das von tief aus dem Boden unter seinem Kopf nach oben dringt. Ein sarkastisch schallendes Lachen. Es wird lauter. Schwillt zu einem dröhnenden Krakeel an. Er will seinen Kopf vom Boden heben, aber sein Kopf ist zu Stein geworden. Das begrabene Gelächter wird immer lauter. So laut, dass es kleine Staubkörnchen und Kieselsteinchen durch die Luft wirbelt, die sich in seinen Ohren absetzen. Jetzt sind auch sein Rücken und seine Körpermitte zu Stein geworden. Er streckt seine linke Hand nach Augenstern aus, damit sie ihm auf die Beine hilft. Und plötzlich wird die so lustvoll empfundene Schrift auf seiner Brust ganz warm. Es fühlt sich an, als ob jeder einzelne der gleichsam aufgenagelten Keile auf seiner Brust zerfließt und ihm das gleiche ekstatische Glücksgefühl verschafft wie der erste Stoß in den Schoß einer Frau. Kaum ist sein erstes Stöhnen verklungen, da spürt er ein Brennen. Die Keile sind feuerheiß geworden. Und werden immer heißer. Er kann seinen Kopf nicht heben, schaut aber angestrengt an sich hinunter und sieht das feurige Glühen auf seiner Brust. Er schreit lauthals. Die senkrecht aufgenagelten Keile verbrennen seine Haut, durchbohren seine Brust. Er riecht kokelndes Lungengewebe.
Linke Schulter:
Er tut so, als würde er ganz normal, wie in früheren Tagen, eine kleine Runde durch den weitläufigen Garten drehen. Er geht um den baumbestandenen Bereich herum nach rechts, schwenkt dann hinüber zum Kiesweg in der Gartenmitte, der ihn zwischen zwei Spalieren der Winterorchideen hindurchführt. Nach einem kurzen Blick zum Haus biegt er nach links. Und wieder nach rechts. Das dürfte genügen, denkt er, um die ihm neugierig folgenden Blicke von Reyhaneh und seiner Mutter in die Irre geführt zu haben. Es ist an der Zeit, den Garten zu verlassen, so sein prophetisches Mantra, das er in einem fort wiederholt. Er ist sich sicher, wenn er seine Gedanken abschaltet, die wie in einem Kokon gefangen scheinen, wenn er einzig auf seine prophetischen Sinne vertraut, dann wird er es bis nach Teheran schaffen, dort Straße für Straße, Gasse für Gasse absuchen, letztlich an ein Haus, eine Tür oder ein Fenster gelangen, und intuitiv ganz sicher wissen, dass er genau hier richtig ist. Und irgendwie hat er das Gefühl, dass es heute so weit ist, dass heute sein Glückstag ist. Dass eine Tür und ein Fenster seinem Gedächtnis liebevoll auf die Sprünge helfen wird, ohne Täuschungen, ohne Sticheleien und ohne Schelte. Er wird an der Tür klingeln, und das Mädchen seiner Träume wird ihm öffnen.
Und sie wird sagen, wieso kommst du so spät? Komm rein, du armer Leutnant!
Rechte Schulter:
Der ferne Lärm von Teheran, der bis zum Garten dringt, erscheint ihm wie das Trugbild einer Insel am Horizont des Meeres. Er pinkelt an einen Baumstamm, stellt sich vor, dass ihn das von seiner Angst vor dieser Stadt befreien würde, die ihm vor Jahren fremd geworden war. Er erinnert sich an ein paar Straßennamen und wie die einzelnen Straßen zusammenhängen, traut aber der Richtigkeit seines erinnerten Stadtplans nicht.
Wenn ich dann irgendwann auf eine Hauptstraße komme, wird diese mir den Weg weisen, und ich werde so lange gehen, bis ich an ihr Haus gelange. Ich sollte meine Hoffnungen nicht in Reyhaneh und die anderen setzen. Ich kann mich nicht auf sie verlassen. Aber ich muss das Geheimnis um diesen Ring lüften, um Ruhe zu finden.
Es ist das erste Mal, dass er sich derart nahe an die Gartentore begibt. Einer der Wachmänner, in der grünen Uniform der Revolutionsgarden und mit einem Lächeln unter dem bauschigen Bart, tritt aus der Wachstube und grüßt freundlich. »Agha Hadschis Sohn, welch eine Ehre für mich, ich kenne Euch noch gar nicht.«
»Dann kennt Ihr mich jetzt.«
»Natürlich, mein Herr. Ihr lebenden Märtyrer seid Licht und Seele des Imam Khomeini und der Revolution. Ihr verbreitet den Wohlgeruch des Schlachtfelds.«
»Ich bitte Euch! Von Wohlgeruch kann keine Rede sein. Ich rieche schlicht ungewaschen, stinke wie ein Bock. Wie soll ich die rituellen Waschungen ordentlich verrichten, mit nur einer Hand? Dazu braucht man zwei, die eine, um sich mit Wasser zu begießen, die andere, um sich zu waschen.«
»Schon gut, Amir Khan. Männer wie Ihr sind die Segnungen des Islam. Männer wie ich, die nicht das Glück hatten, zum Märtyrer zu werden, können da nicht mithalten.«
»Wart Ihr an der Front?«
»Nein, ich gehörte nicht zu den Glücklichen. Ich wurde für sicherheits- und geheimdienstliche Aufgaben hinter der Front abgestellt.«
»Wie kommt das? Die haben ja sogar so unbrauchbare Leute wie mich genommen.«
»Vertrau auf Gott. Er ist der wahre und einzige Heiler. Ich werde für Eure Genesung beten. Habt Ihr Euren Spaziergang durch den Garten genossen?«
»Ein Spaziergang wie im Himmel. Jetzt will ich noch ein paar Schritte die Straße entlang.«
Der Wachmann lächelt entschuldigend und tritt etwas näher. »Falls Ihr Einkäufe zu machen habt, sagt mir einfach Bescheid. Es wäre mir eine Ehre.«
»Danke, aber das schaff ich alleine.« Er geht auf das Gartentor zu.
Doch der breit gebaute Wachmann versperrt ihm den Weg. »Die Luftverschmutzung in den Städten ist schlimm geworden. Im Radio hieß es, Leute mit Herzproblemen sollten besser nicht ins Zentrum gehen. Lieber die frische Luft hier im Garten genießen!«
Er wird laut, fährt ihn an. »Mein Herz ist stark wie ein Löwe. Mir fehlt nichts, gar nichts.«
Das höfliche Gebaren des Wachmanns schlägt prompt um. »Agha Hadschi hat strikte Anweisung gegeben, Euch nicht nach draußen zu lassen. Verstanden? Geht zurück auf Euer Zimmer!«
Wenn der Kerl nicht gleich zur Seite geht, denkt er bei sich, wird er ihn mit einem Tritt zwischen die Beine außer Gefecht setzen und dann losstürmen, so wie damals, in den alten Zeiten, wenn es Streit gab. Doch da kommt ein zweiter Mann aus der Wachstube. Er ist noch stämmiger. Hellwache Augen, flache Stirn, fettglänzende, fleischige Lippen, sein Bart ist zottelig und schütter, und seine Hand liegt an der Knarre im Hüfthalfter.
Blöde Idee, sich mit denen anzulegen – mit nur einem Arm käme er nicht einmal gegen den Ersten an. »Ihr habt recht, Bruder. Die Luft dort draußen ist zu schmutzig. Geht Ihr gerne für mich und holt ein paar Mal tief Luft.«
Er geht an der Gartenmauer entlang auf einen hinteren Abschnitt zu, der vom Haus her nicht einsehbar ist. Dort springt er hoch und hält sich mit der rechten Hand an der oberen Kante fest. Die Schuhspitzen in die Wand gekrallt, setzt er einen Fuß vor den anderen, zieht die Beine nach und tastet nach Stützpunkten in den Fugen zwischen den einzelnen Mauersteinen. Doch der eine Arm ist nicht stark genug, um seinen Körper die Mauer hochzuziehen, auch ohne das Gewicht seines linken Arms. Zwischen seinen Rippen tobt ein höllischer Schmerz. Die Spitzen seiner Schuhe hinterlassen Kratzer auf den Mauersteinen.
Linke Schulter:
Er fällt …
Scheiß Mauer! Wer war gleich noch mal der Dichter, der vor siebenhundert Jahren über einen Typen schrieb, der so notgeil war, dass er sein Ding in eine Mauerritze schob? Ich für meinen Teil wäre schon froh, wenn diese Mauer eine Ritze hätte, in die ich meine Schuhspitzen stecken könnte.
Er streift seine Schuhe ab und wirft sie über die Mauer. Barfuß lässt es sich bestimmt leichter klettern. Beim vierten Versuch fällt er abermals runter. Völlig außer Atem, gibt er seine affenartigen Sätze und Sprünge auf, hockt sich hin, schlägt mit der Faust auf seine linke Schulter und knurrt in sich hinein.
Du Nichtsnutz! Hättest du dich nicht ein klein wenig anders drehen können, sodass der Granatsplitter irgendeinen anderen Körperteil erwischt hätte, von mir aus auch meinen Schwanz?
In seinem Kopf wirbeln schwarze Löcher durcheinander. Eine Stimme hallt: »Leutnant! Wenn ich Euch einen guten Rat geben darf, Ihr solltet mehr Angst vor einem Blindgänger haben als vor einem Granatsplitter. Gott der Allmächtige hat eine Zündspitze nämlich so geschaffen, dass sie schlagartig losgeht und tief ins Fleisch schießt.«
Aus früheren Aufzeichnungen desSchreiberengels auf seiner linken Schulter:
Als die Feldküche unter Beschuss gerät, liegt der Soldat flach am Boden, die Arme eng um den Kopf gelegt. Eine 60-mm-Granate landet direkt zwischen seinen Schulterblättern, explodiert aber nicht. Die Flügel am unteren Ende der Granate ragen aus seiner zerfetzten Uniform und dem offenen Fleisch heraus. Die es gesehen haben, berichten den anderen, dass der Unglückliche weder aufheulte noch jemandes Namen rief. Auf dem Bauch liegend, bewegte er lediglich seine Finger, als würde er eine Melodie auf den Boden trommeln. Nun ist er seit drei Stunden tot. Keiner wagt, ihn anzurühren. Der Boden hat sein Blut aufgesogen, er liegt mitten in einem Kreis von rotem Dreck.
Ein Soldat, der als Mitglied der Hisbollah und Spitzel verschrien ist, sagt: »Wir können ihn hier nicht einfach so liegen lassen.«
»Bruder«, erwidert Sergeant Neidschi leicht gereizt, »zieh du doch die Granate heraus, ich kümmere mich um den Rest. Mein Vater hat in einem Leichenhaus gearbeitet.«
Der heiße, dunstige Wind wälzt ein Büschel Salzkraut über die Hand der Leiche. Amir, der bis dahin im Schatten auf dem Funkposten gesessen hat, späht durch die Fensteröffnung hinaus. »Wo bleibt der Ambulanz-Helikopter?«
»Ist noch nicht gestartet, mein Herr. Aber vielleicht gibt es ja eine Feldambulanz in der Nähe.«
Er bezweifelt, dass der Ambulanz-Helikopter, der eigentlich geordert war, um ihn samt ein paar Kameraden in die nächstgelegene Stadt zu bringen, um dort ein Bad zu nehmen, überhaupt eintreffen würde. Aber vielleicht würden sie ihn, den Leutnant, ja in der Feldambulanz mitfahren lassen.
»Sein Name ist Ali-Yaar. Er hat uns jeden Abend aus den verfaulten Fleisch- und Gemüsebeständen der Feldküche ein Mahl gezaubert, das so lecker war, dass man am liebsten noch die Finger mitgegessen hätte«, sagt der Hisbollah-Soldat.
Amir lacht. »Gestern war also das letzte Abendmahl, und wir hatten keinen Schimmer.«
Er steht auf und geht hinüber zur Leiche.
»Wo willst du hin?«, brüllt Pourpirar.
»Halt die Klappe, oder ich vergesse mich.«
Die Soldaten wichen zurück, wahrten einen sicheren Abstand. Das Summen der Fliegen kam näher, wurde lauter.
»Für die Gesundheit von Leutnant Yamini, preiset den Propheten Mohammad und seine Nachfahren«, ruft der Hisbollah-Soldat. Niemand folgt ihm, rundum nur Schweigen. Mit seiner Kufiya, die er bis zu diesem Sommer stets missbilligt und zu tragen verweigert hatte, wischt sich Sergeant Neidschi den Schweiß vom Gesicht. Amir kniet neben dem toten Soldaten nieder.
Nein, ich darf sie nicht grob herauszerren. Ich muss sie sanft berühren, sie zärtlich streicheln, ihr sagen, dass ich nicht vorhabe, hier zu verrecken. Sie und ich müssen Freunde sein! Einverstanden, mein Freund?
Durch die sengende Sonne ist das schmale Ende der 60-mm-Granate noch immer feuerheiß. Mit drei Fingern, in sanften Schmetterlingsbewegungen, ertastet Amir die äußere Kontur der Granate bis tief hinein ins Fleisch des Soldaten. Er beginnt, das Geschoss herauszuziehen.
Der Schreiberengel auf seinerrechten Schulter notiert:
Wie so oft, erinnert er sich an ein Märchen …
Es war einmal ein Prinz, der stieg in seine stählernen Schuhe, schnappte sich Pfeil und Bogen und sein Schwert und machte sich auf zur Festung Sangestan. Er lief und lief und lief, jahrelang. Als er die Felsenfestung erreichte, sah er Abertausende andere Prinzen, die ebenso wie er aus Liebe zum schönen Mädchen mit den vierzig Zöpfen gekommen waren, in der Hoffnung, sie zu befreien. Alle waren sie zu Stein geworden, standen erstarrt, Pfeil und Bogen noch immer in der Hand. Er habe nur drei Pfeilschüsse frei, hatte ihm die böse Zauberin gesagt, doch mit jedem Schuss, der sein Ziel verfehlte, würde sich ein Körperteil in Stein verwandeln. Sollte er aber treffen, würde sich in den hohen Mauern der Festung eine Tür auftun.
In diesem Augenblick sprang eine Katze aus einem Hohlraum zwischen den Steinen hervor, in einem jähen Satz, als würde sie einer Maus nachjagen. Der Prinz zielte und schoss den ersten Pfeil. Der landete dicht neben der Katze und prallte an einem Stein ab. Die Beine des Prinzen erstarrten zu Stein. Er spannte den zweiten Pfeil ein. Die Katze stand still, fixierte den Prinzen mit ihren magischen Augen. Ihr Blick sprach tausend Worte – mahnte und warnte, spöttelte und höhnte. Der Prinz schoss den zweiten Pfeil. Doch die Katze machte einen Satz nach links und entkam. Der Rumpf des Prinzen versteinerte bis knapp unter sein Herz. Und die Katze, mit dem für Katzen typischen Grinsen unter den Schnurrhaaren, ließ scheinfromm ihr hämischstes Grinsen blitzen, schlich um ihn herum, als wollte sie sagen: Na los, schieß deinen dritten Pfeil, damit du bis ins Mark zu Stein erstarrst, mitsamt deinem Herzenstraum, das schöne Mädchen zu besitzen.
Er träumt …
Im staubigen Spiegelschaukasten des bescheidenen Juweliergeschäfts funkelt, strahlt und glänzt die Leere. Zwischen vereinzelten Schmuckstücken liegen zwei goldene Ringe nebeneinander. Ein hagerer, alter Mann mit gipsweißer Haut und Haaren so spärlich wie die einer Kokosnussschale steht hinter der Theke. Er nimmt die Ringe aus dem Schaukasten, reicht sie ihnen und nennt den Preis.
Der Alte will uns übers Ohr hauen, denkt Amir. Sein Gold ist unecht, deshalb ist es so spottbillig.
Ungefragt redet der alte Mann drauflos, sagt, dass er keine Nachkommen habe, dass ihn irgendwann dieser Tage der Krebs holen würde. Er könne, so sagt er, das unglückliche Schicksal zweier verliebter Menschen von deren Stirn ablesen, und aus diesem Grund habe er all sein Gold an solche Liebespaare verkauft, noch unter dem Wert der Kupfertöpfe seiner Großmutter. Schweißtropfen rollen über die Pockennarben in seinem Gesicht. Für Amir vereinigt sich in diesen handgeschmiedeten Ringen archaische Rohheit und handwerkliche Meisterschaft. Offenbar haben sie all die Jahre auf alle anderen Kunden bloß grob und unansehnlich gewirkt, um nun unter den Blicken dieser beiden in strahlender Schönheit aufzublühen. Von einem Kräuterstand draußen zieht ein Hauch von Lavendelduft herein.
Nachdem er die Ringe eine Zeit lang betrachtet hat, blickt er auf, sieht plötzlich einen jungen Mann hinter dem Verkaufstisch, dem der Schweiß über das pockennarbige Gesicht rollt. Tieftraurig betrachtet der junge Mann die Ringe und fragt: »Habt ihr die auch zum Kupferpreis erworben?«
Amir erwidert, »Ja«. Der junge Mann streicht sich die schönen Locken von der Stirn. »Der Alte will nichts hinterlassen. Auf irgendeine Art zerstört jeder Vater seinen Sohn«, sagt er und lacht. Es scheint, als würde er über Amir lachen, über seine Unwissenheit.
Mit einem Mal findet er sich allein im Geschäft wieder. Er eilt hinaus.
Rechts:
Er platzt in Reyhanehs Zimmer. Sie ist gerade dabei, sich die Beine zu enthaaren. Erschrocken strafft sie ihren Rock über die Knie.
»Ich erinnere mich! Ein Juweliergeschäft! Wir kauften ein Paar Ringe. Als wir hinausgingen, hörten wir ringsum Gelächter. Spöttisches Gelächter. Ich sagte zu ihr: Gehen wir, irgendwohin, wo es schön ist, wo wir allein sein können. Wo niemand zusieht, wenn wir einander die Ringe anstecken.
Sie wolle gerne meine Verlobte sein, den Ring aber, sagte sie, könne sie nicht tragen.
Das Gold glänzte und funkelte so hell, dass ihr Gesicht ein einziger leuchtender Schein war, oder aber meine Augen waren geblendet. Ich sagte: Jeden Abend werden wir unsere Ringe ablegen, und jeden Morgen werden wir sie einander wieder anstecken. So wird unsere Verlobung Tag für Tag erneuert. Hunderttausend Mal, oder noch mehr. Vielleicht habe ich es auch andersherum gesagt, dass wir uns die Ringe jeden Abend anstecken und sie jeden Morgen wieder ablegen würden.«
»Wusste gar nicht, dass du so ein Süßholzraspler warst.«
»Doch, ich glaube, darin war ich richtig gut. Hilf mir, es wieder zu lernen. Ich bin sicher, sie ist irgendwo dort draußen und denkt, ich sei tot.«
Er prägt sich das Muster der farngrünen Blätter auf Reyhanehs ärmelloser Bluse ein. Und er linst auf ihre schönen, hellen Arme.
Er linst nicht, er gafft begehrlich. Er möchte sein Gesicht näher zu Reyhanehs Arm neigen, um seinen Duft einzuziehen. Nur um diese Erinnerung einzuatmen, die Erinnerung an ihre runde Narbe von der Pockenimpfung mit ihrer glatt glänzenden Oberfläche, die so ganz anders aussieht als der Rest ihres Arms. Einatmen, alles in sich aufnehmen, was sie weiß.
Er will ihn so gerne berühren, ihren Arm. Er will ihn auf der eigenen Haut spüren, ihren festen, molligen Arm. Er weiß, dass Reyhanehs wohlproportionierte Unterarme in diesem Moment schweißnass sind.
Nein, das geht nicht. Ihn hat ganz einfach dieses Gefühl überwältigt, das Gefühl verlorener Erinnerungen, gegenseitiger Berührungen aus Kindertagen. Alles, was sich an Erinnerungen in die Wände und Decken dieses Hauses eingebrannt hat. Die kindliche Verspieltheit der Schwester, die lausbübische Verschmitztheit des Bruders.
Heute Morgen, als ich aufwachte … Ich war im Garten, wo mir dämmerte, dass ich wach war. Der Morgentau auf den süß duftenden Winterblumen schmeckte wie Schießpulver. Der Duft einer einzigen Winterorchidee reicht aus, um einen Garten mit Liebe zu erfüllen. Der Vorbesitzer dieses Gartens war ein kluger Mann. Er pflanzte gleich vierundvierzig dieser Winterorchideensträucher, damit das leise Flüstern ihres Dufts alle in Bann zöge, die hier leben oder zu Besuch sind, und sie an all die Heucheleien erinnerte, die verheerende Folgen gehabt hatten, an all die Menschen, die sie gebrochen und zerstört hatten. Nicht, dass er es zum ersten Mal sähe, aber jetzt, da Reyhaneh an jenem Fleck auf ihrem blassen Knie herumkratzt … Zarte, kühle Haut von Kniekehlen auf seinen Schultern. Wieso lässt sie nicht mich an diesem Fleck herumkratzen? Und heute Morgen im Garten, als ich mich an den Traum vom Basar mit der Arkade der Goldschmiede in Teheran erinnerte … Reyhaneh hat mich etwas gefragt.
»Was hast du gesagt?«
»Früher, es ist schon ein Weilchen her, hast du die Geschichte mit den Ringen anders erzählt. Sind all diese Hirngespinste Teil deiner Spielchen, mit denen du uns zu Tode quälen willst?«
»Ich euch ›zu Tode quälen‹?«, fragt Amir wütend. »Wenn, bin ich derjenige, der gerade zu Tode gequält wird, von ihr.«
Sind da nicht leise Schritte hinter der Tür? In seinen Augen blitzt Zorn auf. Reyhaneh schnappt nach Luft. Er reißt die Tür auf. Die Schritte hatten den weichen Flor des türkisfarbenen Teppichs im Flur vor der Tür platt getreten. Eine Duftwolke schlägt ihm entgegen. Da ist es wieder, genau wie in seinen Träumen, dieses Parfüm, Marke »Augenstern«! Eine sprühende Wolke, tanzt es frisch und ausgelassen um ihn herum, hüllt ihn ein mit seinem zarten Hauch, mit seinem dunstigen Schleier.
»Verdammt noch mal, ich werde verrückt!«, schreit er.
Er hämmert besessen auf den Türrahmen ein, dreht sich in blinder Wut um die eigene Achse, um dann mit der linken Faust noch einmal fest dagegen zu hauen. Sein Armstumpf schwingt durch die Luft, die Schulter knallt gegen den Türrahmen, und er stolpert hinaus auf den Flur. Er stöhnt laut auf, hält sich nicht zurück. Im Gegenteil – alle sollen seinen Schmerz sehen und hören. Im dämmrigen Treppenhaus taucht schemenhaft das ängstliche Gesicht seiner Mutter auf. Er fuchtelt ihr zornig mit der Faust entgegen und verzieht sich wieder in Reyhanehs Zimmer. Mit starrem Blick fixiert er seine Schwester, die verängstigt in der Ecke kauert.
Reyhaneh so zu sehen, gefällt ihm, beruhigt ihn fast. »Wieso hast du so eine Angst vor mir? Habe ich jemals die Hand gegen dich erhoben?«
Reyhaneh hockt völlig fertig auf dem Boden, daneben ihr Teegeschirr.
»Warum hast du an meinem Bett gestanden und mich im Schlaf beobachtet?«, blafft er sie an.
»Ich? Niemals!«
»Außer dir will ich in diesem Haus hier niemanden sehen.«
»Schon gut, Bruderherz. Meine Güte, jetzt steigere dich mal nicht so rein. Ich werds ihnen ausrichten.«
»Ja, sag ihnen ruhig, dass ich verrückt bin. Dass ich auf sie losgehe und sie erwürge, falls sie mir zu nahe kommen.«
Hat er richtig gesehen? Hatte sich Reyhanehs blütenrotes Mündchen tatsächlich zu einem Lächeln verzogen?
»Da gibts nichts zu lachen! Ich kann sie auch mit einer Hand erwürgen. Aber wenn du mir hilfst, werde ich wieder gesund!«
»Ich hab doch gar nicht gelacht. Aber wie, bitte schön, soll eine alte Jungfer, die ständig zu Hause hockt, dir helfen können?«
»Ich habe ein paar Ideen.«
»Erinnerst du dich denn gar nicht an irgendein besonderes Merkmal, das sie hatte? An einen Leberfleck in ihrem Gesicht zum Beispiel? Oder an eine Narbe?«
Sie knackt eine Pistazie auf, streckt sie mir über den Tisch mit den Blumenintarsien entgegen. Dann ein knochenbrecherisches Knacken – wie eine Granate, die splittert … Ein silberhelles Pfeifen – wie eine Säge, die durch Knochen fährt. Wie zartgrün die Nuss, wie beängstigend knochenbleich ihre Schale … Ganz aus der Ferne sagt jemand: »Ich habe den Knochen glatt geschliffen, Soldat!«
»Ich habe dir damals bestimmt von irgendeinem Mädchen erzählt, irgendwas wie: Die hat mein Leben völlig durcheinandergebracht, oder so was Blödsinniges.«
»Du hast mich nie für wert befunden, deine Liebesgeschichten zu hören.«
»Woher weißt du dann so viel über mich?«
»Wenn du mit deinen Freunden telefoniert hast. Oder ich habe gelauscht, wenn sie vorbeikamen. Ihr seid ja so dumm. Habt völlig vergessen, dass ich im Nebenzimmer war. Schamlose Flegel wart ihr.«
Wieder übermannt ihn diese innere Hitze in seinem Körper. Der Schweiß bricht aus. »Hast du einen Schluck Wasser für mich?«, fragt er keuchend.
»Leg dich hin und schlaf ein paar Stunden. Du siehst nicht gut aus.«
»Mein Hirn arbeitet so wie ein normales Hirn. Warum versucht ihr mir alle einzureden, dass ich krank bin?«
»Komm, ich bring dich auf dein Zimmer.«
»Ständig wollt ihr mich ins Bett stecken. Verflucht noch mal! Ich will die Pillen nicht, die ihr mir in den Mund stopft. Die machen mich durstig wie ein Hund, machen mich schläfrig und träge.«
Ich könnte saufen wie ein Loch. Warum dieser Durst, wo es doch regnet! Diese ewig trockene Zunge. Die aufgesprungenen Lippen, die trocken bleiben, auch wenn ich mit der Zunge drüberfahre … Reyhaneh hält mir ein Glas Wasser hin. Am Glas kleben silberne Bläschen … Das Fenster in Reyhanehs Zimmer ist hübsch … Man sieht mehr Regen, mehr Wolken, mehr Tropfen als durch meines. Nicht mal eine Pistazie schälen kann ich.
Reyhaneh geht auf ihn zu, bückt sich, um die Pistazie aufzuheben, die er hat fallen lassen. Das lange Haar seiner Schwester, das in seinen Kindheitserinnerungen, als er mit seiner Mutter zum Badehaus ging, nach Zedern roch, wallt herab bis zum Boden. Der Scheitel in ihrem Haar, eine glitzernde Linie mitten im Schwarz, so schwarz, dass vereinzelte, weiße Strähnen hell hervorscheinen. Er langt hinunter, um es zu berühren.
Reyhaneh richtet sich auf. Ihr Haar streicht durch seine Finger. Sie starrt auf seine Hand. »Was soll das?«
In den Jahren, in denen ich fort war, sind hier Dinge passiert, die mir diese gottverdammten Leute verheimlichen.
»Was soll das?«, herrscht sie ihn an.
»Nichts! Ich wollte einfach nur mal dein Haar berühren, um sicherzugehen, dass du real bist. Nichts, glaub mir! Ich wollte einfach nur …«
Sind es Zeichen der Wut oder Scham, diese winzigen Schweißtröpfchen, die da über ihren Lippen glitzern? »Jahrelang haben Mutter und ich nach dir gesucht, kreuz und quer im ganzen Land, in Hunderten von Krankenhäusern, und es dir nie an den Kopf geworfen«, schreit sie. »Weißt du überhaupt, wie viele Tausend Verwundete wir angesprochen haben, sie nach dir gefragt haben? Sogar in ausgebombten Krankenhäusern haben wir nach dir gesucht. Ich sag dir jetzt mal was. In diesem Haus haben alle die Nase voll von deinen Spielchen. Verstanden?«
»Ich wollte doch einfach nur …«
In meiner Hand spüre ich noch immer den Wunsch, sie zu berühren.
»Wie viele Hände habe ich denn, um meine vielen Wünsche festzuhalten?«
»Für all das, was dir im Kopf herumgeistert, wären tausend Hände nicht genug.«
»All die Jahre im Irrenhaus hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Es gibt keinen besseren Ort zum Nachdenken. Ich kam zu ein paar genialen Erkenntnissen.«
»Ja, genial, das merke ich!«
Sie macht sich lustig über mich. Selbst wenn alle recht haben und ich wirklich den Verstand verloren habe, weiß ich, dass meine Sinne mich nicht trügen. Meine Gefühle sind klar. So wie jetzt, wo ich fühle, dass jemand hinter der Tür steht und lauscht. Wir müssen leise reden. Ich muss abwarten. Reyhanehs Zorn verfliegt immer schnell.
Mit zwei Fingern steckt Reyhaneh sich jeweils eine Haarsträhne hinters Ohr. Wie an einem Modellkopf ringelt sich nun hinter jedem Ohrläppchen eine Haarlocke, schwarz wie ein Skorpionschwanz.
Er klemmt seinen Hemdsärmel zwischen die Zähne und stiert auf den schmalen Spalt zwischen der geschlossenen Tür und dem Fußboden. »Reyhaneh, ich hab Angst!«
Reyhaneh schweigt.
Irgendwie muss ich sie dazu kriegen, dass sie reden. Und egal, was sie sagen, egal, was ich erinnere, ich muss alles auswendig lernen, wie eine Schulaufgabe. Ich muss alles auswendig lernen, damit sie mir nicht irgendetwas anlasten können, das ich nicht getan habe. Dieser Regen, arrogant und schwatzhaft ist er geworden. Immer dann, wenn ich ihn herbeirede, kommt er. Als ich durch den Garten spazierte, sagte ich, Regen, komm! Ergieß dich wie aus Eimern! Auf dass es so richtig schütten und niemand merken würde, dass die Tropfen auf meinem Gesicht keine Regentropfen sind. Ist es lange her, dass ich nach einem Glas Wasser verlangt habe? Reyhaneh schenkt mir ein Glas Wasser ein. Ich muss es mir nur einfach immer wieder vorsagen. Reyha! Sei nett, Reyha! Dann wird Reyha nett sein.
»Du hast allen Grund, Angst zu haben. Du hast es nicht anders verdient. Was immer dir widerfahren ist, es geschieht dir recht. Vor allem solltest du Angst haben vor allem, das dir noch keine Angst macht«, sagt Reyha nach einer Weile.
»Alle haben Angst vor mir, ich aber fürchte nur eine Sache.«
Reyhaneh betrachtet den nassen Aufschlag seines Hemdsärmels. Aus Pflicht- oder Verantwortungsgefühl heraus fragt sie: »Wovor hast du denn Angst?«
»Dass ich die Sehnsucht, sie zu finden, für den Rest meines Lebens in meinem Herzen tragen werde.«
Ihr ist unklar, ob der Tränenschleier vor seinen Augen real ist oder vorgetäuscht.
»Ich habe Angst, dass sie irgendwo auf mich warten wollte und ich den Ort vergessen hab. Denk doch um Himmels willen noch mal scharf nach, ob ich nicht vielleicht doch einen Verlobungsring an meinem Finger hatte.«
»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Nein, ich erinnere mich an keinen Ring an deinem Finger.«
»Warum sehe ich ihn dann ständig in meinen Träumen? Jetzt, in diesem Moment, erinnere ich mich ganz deutlich, wie sie mir ihre Hand entgegenstreckte, wie ich ein bisschen herumspielen und drehen musste, um ihr den Ring anzustecken. Und ich erinnere mich, wie sie auch mir mit drei zarten Fingern einen Ring entgegenhielt, darauf wartete, dass ich den Finger durchstecke.« Er streckt seine Phantomhand aus, um es ihr vorzumachen. »Dass ich meinen Finger durchstecke«, stammelt er. »Und das tat ich. Es funkelt golden … Habe ich dir diese Szene früher mal anders beschrieben?«
»Vielleicht hast du dich ja heimlich verlobt und den Ring abends, als du nach Hause kamst, aus Angst vor Agha Hadschi wieder abgelegt.«
»Ich hatte vor niemandem Angst, und jetzt, wo ich nichts zu verlieren habe, schon gar nicht.«
»Hm! Das sagst du heute. Damals hast du hinter seinem Rücken über ihn geschimpft und gemeckert. Doch ein böser Blick von ihm, und du hast gekniffen. Er war dir gegenüber immer überaus großzügig, hat einiges springen lassen. Dank ihm waren deine Taschen immer gut gefüllt. Ein einziges Mal hast du dich gegen ihn aufgelehnt, hast alles zerstört und dieses Haus zu einem Trauerhaus gemacht.«
»Alles zerstört?«, schnauzt er zurück. »Das kümmert mich einen Dreck!«
»Gestern oder vorgestern hast du mir erzählt, du hättest ihr gesagt, es würde viel mehr Spaß machen, heimlich verlobt zu sein. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich.«
Er erinnert sich nicht, dass er dies zu Reyhaneh gesagt hat.
»Als wir schließlich eine Trauerfeier für dich, als einen verschollenen Märtyrer, begangen hatten, ging es Vater wieder besser. Du hast ja keine Ahnung, wie lange Mutter und ich nach dir suchten, bis wir dich schließlich in dieser Psychiatrischen Klinik fanden. Ich bin sicher, du ziehst wieder deine Schau ab, um uns lächerlich zu machen, ganz wie früher. Doch dieses Haus hat deine Faxen dicke. Kapiert, du Spinner?«
»Aber warum greift meine rechte Hand dann zehn- bis fünfzehnmal am Tag unbewusst hinüber zu meiner linken, um den Ring am Finger zu drehen? Das muss doch eine alte Gewohnheit sein«, murmelt er leise. »So was macht doch nur jemand, der auch wirklich einen Ring trägt. Also habe ich doch einen getragen.«
Ohne Hoffnung auf Trost oder Hilfe stiert er hinaus in den frühabendlichen Garten, vielleicht kann er ja Abu-Yahyas Schatten irgendwo entdecken.
Eins plus eins ist eins. Dieser hier läuft schneller nach unten. Bedeutet, dass man umso schneller fällt, je schwerer man ist.
Reyhaneh dreht sich um und spitzt die Ohren. Auf der Kiesauffahrt ist das Auto des Vaters zu hören.
»Geh in dein Zimmer. Ich muss mich umziehen und runtergehen. Agha Hadschi ist es gewohnt, dass ich ihn an der Haustür in Empfang nehme.«
»Warum hast du eine solche Angst vor ihm? Mach ihm doch die Tür in diesem bunten Kleid auf, das du gerade trägst, anstatt in einem albernen schwarzen Fummel. Er wird dich schon nicht umbringen!«
»Nein, das wird er nicht«, sagt sie. »Er ist schließlich kein Mörder.«
»Ich kann ihn nicht ausstehen. Die Bartstoppeln in seinem Gesicht, der dunkle Schorf auf seiner Stirn vom Gebetsstein. Ich bin sicher, dass er nachts, wenn alle anderen schlafen, einen Gebetsstein erhitzt und ihn auf seine Stirn brennt, um Frömmigkeit und Gottesfurcht vorzutäuschen.«
»Wie dem auch sei, sein Blut fließt in deinen Adern.«
»Du hast noch kein Blut gesehen, du hockst ja immer nur zu Hause rum. Blut ist nichts. Es versickert in der Erde wie Pisse. Und dann ist es weg, wie nie da gewesen. Als ob derjenige, dem es gehörte, nie existiert hat … Ich hoffe, dass Mutter an einem der Abende, da Vater mal wieder auf irgendeiner Trauerfeier und aus dem Haus war, mich von einem Mann empfangen hat, der ein richtiger Mann war.«
Reyhaneh reißt entgeistert die Augen auf.