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Roter Rauch der sich aus der Spitze eines tiefschwarzen Zauberstabes durch den Raum schlängelt und seine nebeligen Hände wie eine totbringende Schlange um den Hals seines Opfers legt. Ein blutiges Band, geknüpft zwischen zwei Brüdern, wodurch der eine den anderen vermag mit sich in das ewige Tal der Verdammnis zu reißen. Das glänzende Schwert einer Amazone, das unter gellenden Rufen unaufhaltsam durch die Lüfte schnellt. Noch wenige Monate zuvor wären solche Geschichten bloß der regen Fantasie des 12-jährigen Mädchens mit den feuerroten Haaren entsprungen, während es wie gewöhnlich allein und abgesondert von seinen Mitschülern im karg bepflanzten Schulhof lungerte. Wie hätte Aurelie auch ahnen sollen, dass sich ihr Leben schlagartig ändern würde. Dass ihr eine kleine schwarze Katze auf wundersame Art und Weise das Tor zur Welt der Wesentlichen öffnen würde. Eine Welt voller sonderbarer Wesen, geflügelter Volantare, glitzernder Elfen und routineliebender Kobolde. Doch das neue Leben auf Maginburgh, der hohen Schule für Zauberei, wird für Aurelie nicht nur eine Zerreißprobe zwischen der Sehnsucht nach der heimatlichen Geborgenheit und der unbändigen Suche nach ihrem wahren Selbst, sondern birgt auch große Gefahren. Angriffe der erbarmungslosen Anhänger des bösen Magiers Det Onda trüben die vermeintliche Sicherheit der Burgmauern und verwandeln Maginburgh nach und nach in einen Ort der Furcht, der den Freiheitsdrang der jungen Zauberin zwischen beiden Welten gefangen hält. Als ihre Mutter in dessen Fänge gerät, begibt sich Aurelie auf die gefährliche Reise in den verborgenen Wald. Kann es der unerschrockenen Zauberschülerin gelingen ihre Mutter zu befreien oder bewahrheitet sich die Legende, das es eine unwesentliche Wesentliche sein wird, die den unumkehrbaren Zauber, der Det Onda an sein ewiges Verlies fesselt, bricht und dadurch eine finstere Machtherrschaft einleitet?
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Wo Liebe, da Magie
Bs
„Aurelie, wo bist du nur immer mit deinen Gedanken“, seufzte Alice Bell und blickte dabei in den Mittelspiegel ihres blitzblauen, sicher 20 Jahre alten Ford Escorts in Richtung der karamellbraunen lederbezogenen Rückbank, auf der ein kleines Mädchen mit langen feuerroten Zöpfen saß und mit ihren großen blauen Augen aus dem Fenster starrte.
Die Worte ihrer Mutter drangen nur dumpf zu ihr durch, zu oft hatte sie diesen Satz schon aus ihrem Mund gehört.
Schon so viele Male hatte die Schuldirektorin Miss Gallagher ihre Mutter ins Rektorzimmer diktiert, um die unzureichende Lernbereitschaft des 12-jährigen Mädchens zu kritisieren. Der quadratische fensterlose Raum war an allen Seiten mit dunklen Möbeln vollgestellt. In den Eichenholzregalen sammelten sich in Reih und Glied neben schweren alten Lexika alle bedeutenden literarischen Werke von der Renaissance bis zur Moderne. Miss Gallagher schien ebenfalls einer vergangenen Epoche entsprungen zu sein. Ihr schneeweißes Haar war adrett nach oben gesteckt, nicht eine Strähne wagte sich hervorzustehen. Die breiten Schulterpolster ihres mausgrauen Blazers verschlungen die Schultern der zierlichen alten Dame geradezu. Dennoch wirkte das strenge Kostüm, als ob es für sie gemacht worden wäre. Noch nie hatte Aurelie Miss Gallagher in einem anderen gesehen. Das Mädchen hatte sich oft gefragt, ob die faltige Frau auch damit ins Bett ging. Oder hingen in ihrem Kleiderschrank etwa zwanzig idente Stücke des farblosen Baumwollzweiteilers?
Der auf drei Seiten geschlossene Schreibtisch der Direktorin war auf einer kleinen Anhöhe errichtet, sodass die geringe Körpergröße der Schulleiterin optimal kaschiert wurde. Allein ihr Oberkörper ragte hinter dem gemaserten Holz hervor. Direkt über dem unbequemen Metallklappstuhl, der mit einem Abstand von drei Metern zum Arbeitsplatz der Direktorin in der Mitte des Raumes platziert war, drang unangenehm weißes Licht aus den an der Decke befestigten lang gezogenen Neonröhren. Der von oben herab geworfene, strafende Blick von Miss Gallagher hätte selbst der unschuldigsten Seele ein schlechtes Gewissen eingeredet und erzeugte unweigerlich das Gefühl, als müsste man sich dem jüngsten Gericht stellen.
Alice Bell kannte die ständig wiederholende Predigt der Direktorin schon auswendig. Sie musste sich regelrecht bemühen, mit ihren Lippen nicht schon die Worte zu formen, die eine Sekunde später von der kleinen Dame, deren Stirn mit Sorgenfalten durchzogen war, als ob ein Pflug dort seine Bahnen gezogen hätte, ausgesprochen wurden. Grob zusammengefasst ging es um Respekt, Verantwortung und darum seinen Platz in der Gesellschaft zu erkennen. Vor allem aber darum, dass früher alles besser war.
Miss Gallagher pochte während ihrer Ansprache mit dem runzligen Zeigefinger auf die glatt polierte dunkle Schreibtischoberfläche. Nie war auch nur ein einziger Gegenstand darauf zu sehen. Weder Stifte noch ein Stück Papier. Alles schien in den unzähligen, mit Messingknöpfen versehenen Schreibtischladen fest weggesperrt zu sein. Zur Vervollständigung des düsteren Bildes des Raumes gab es weder Pflanzen noch sonstige Dekoration. Keine Bilderrahmen. Kein Teppich. Keine Kerzen. Wenn da nicht die farbenprächtigen Einbände der unzähligen Bücher in den Wandregalen gewesen wären, wäre das Zimmer wohl gänzlich mit dem schmucklosen Grau des Kostüms der Direktorin verschmolzen.
Nachdem Miss Gallagher ihre aus Intervallen von Wut, Enttäuschung und Erziehungsratschlägen bestehende Ansprache beendet hatte, versprach Alice Bell, wie jedes Mal, Besserung und schlich mit beschämt nach unten gerichtetem Blick andächtig aus dem streng nach Mottenkugeln riechenden Zimmer. Die Direktorin verfolgte mit ihren blitzenden grünen Augen, die sie unter ihrer riesigen Hornbrille immer wieder fest zusammenkniff, jeden Schritt.
Aurelie wartete, wie jedes Mal, ungeduldig vor der Türe, bis ihre Mutter endlich wieder heraustrat. Ohne auch nur ein Wort zu sprechen, fasste Alice Bell ihre Tochter an der Hand und zog sie schnellen Schrittes den leeren Schulflur entlang in Richtung Ausgang.
Das Mädchen hasste es ihrer Mutter Kummer zu bereiten. Es war ja nicht so, dass sie nicht lernen wollte, ganz im Gegenteil. Es gab so viele Dinge, die sie interessierten, doch diese verbargen sich nur selten in den staubigen Lehrbüchern, sondern waren vielmehr außerhalb des Klassenzimmers zu finden. So konnte sie stundenlang Schmetterlinge beobachten oder nach seltenen Pflanzen im Wald suchen. Das Mädchen war auch keinesfalls jedem Lesestoff abgeneigt, solange der Inhalt genauso lebhaft gestaltet war wie ihre eigene Fantasiewelt. Sie liebte es mit Feen und Einhörnern durch magische Wälder zu tanzen. Ihre Mutter musste sie fast täglich in den Nachstunden ermahnen, wenn sie wieder heimlich mit einer Taschenlampe bewaffnet unter der Bettdecke ein Kapitel nach dem nächsten verschlang. Zu Schade, dass die alten Märchenbücher, in denen das Mädchen, deren niedliche Stupsnase über und über mit winzigen Sommersprossen übersäht war, so gerne schmökerte, nie zur Schullektüre gehörten.
Die endlosen Schulstunden voller trockener Vorträge und das ständige Von-der-Tafel-Abschreiben zermürbten Aurelies Abenteuergeist. Warum sollte sie in Büchern darüber lesen, was sie außerhalb der farblosen Wände des Schulgebäudes hautnah erleben konnte? Dort lernte man sicher nicht, die vielfältigen Vogelarten an ihrem Zwitschern zu erkennen oder wie man köstliche Beeren und Pilze von deren ungenießbaren Geschwistern unterschied. Genauso wenig wie man sich mit Hilfe von Fuhrmann und dem großen Bären aus der Dunkelheit navigieren konnte.
Es gelang ihr auch ohne die unzähligen Wiederholungen, die ihre Lehrer Tag für Tag fast gebetsartig vortrugen, spielend am Tag vor den Schularbeiten den Unterrichtsstoff in ihr Kurzzeitgedächtnis einzuverleiben, sodass sie sämtliche Testfragen korrekt beantworten konnte.
Auch wenn das Mädchen mit dem dichten Haar, dass wie die Flammen eines Feuers wilde Wellen schlug, ihre Zeit lieber für sinnvollere Aktivitäten genutzt hätte, war das stolze Freudenstrahlen ihrer Mutter, die jedes Sehr Gut zumindest eine Woche an den Kühlschrank pinnte, nicht mit Gold aufzuwiegen.
So sperrte sie sich vor wichtigen Klausuren selbst in ihrem Zimmer ein, um sich den unliebsamen Lesestoff einzuprägen.
Während der Unterrichtsstunden hingegen hatte Aurelie hart mit sich zu kämpfen sich nicht von jedem Geräusch und jeder Bewegung im Freien ablenken zu lassen. So war sie auch dieses Mal wieder Mitten in der Mathematikstunde bei Mr. Griffiths aufgesprungen und ans Fenster geeilt, um die Eichhörnchen zu beobachten, die auf der großen alten Eiche im Schulhof Fangen spielten. Erst als der großgewachsene Lehrer seine behaarten Hände, die mehr an die Tatzen eines Wolfes erinnerten, auf ihre Schultern gelegt hatte, war sie unsanft aus ihrem Tagtraum gerissen worden. Die schrillen Rufe des hageren Mannes, der stets überdimensionierte Hemden trug, die unordentlich und knitternd in die beige Cordhose gestopft waren, lagen ihr noch immer unangenehm im Ohr.
„Was fällt dir nur ein, Aurelie Bell? Geh sofort wieder zurück auf deinen Platz. Das werde ich Miss Gallagher melden, dann kannst du was erleben!“
Aurelie blickte nachdenklich aus dem Autofenster auf die verschlafenen Straßen des Örtchens Bredhurst. Es bereitete ihr großen Kummer, dass ihre Mutter erneut den Supermarkt, in dem sie tagsüber arbeitete, hatte vorzeitig verlassen müssen. Sie hatte es schwer genug ganz alleine für die kleine Familie zu sorgen, alle Rechnungen zu bezahlen und ihrer Tochter dabei nicht einen einzigen Wunsch abzuschlagen. Dennoch verlor diese nie ein böses Wort. Sie beschwerte sich nie. Egal wie müde sie war, die zierliche Frau mit der langen blonden Mähne und dem strahlend schönen Gesicht kam stets mit einem Lächeln auf den Lippen nach Hause. Ein Blick in die gutherzigen braunen Mandelaugen, die unter den kecken Stirnfransen hervorlugten, ließ jeden Groll sofort verfliegen.
Ihr Ehemann, Marlon Bell, war ums Leben gekommen als Aurelie gerade einmal vier Jahre alt war. Ihren hellglänzenden silbernen Ehering hatte sie seither nicht eine Sekunde abgenommen. Trotz der häufigen Avancen unzähliger attraktiver Verehrer war es für die Blondine undenkbar sich neu zu verlieben. Schließlich vermisste sie ihren Marlon jeden einzelnen Tag. Wenn sie Aurelie abends einen Gutenachtkuss auf die Stirn gab und in die kullernden blauen Augen des Mädchens, in denen – genau wie in jenen ihres Vaters – rechts und links ein winziger gelber Punkt am äußeren Pupillenrand glänzte, blickte, spürte sie oft einen wehmütigen Schmerz in ihrer Brust. In solchen Momenten überkam sie selbst nach all den Jahren noch eine tiefe kraftraubende Trauer.
Nach nur wenigen Minuten Fahrt kam das verrostete Gefährt unter klappernden Geräuschen vor dem kleinen charmanten Backsteinhaus in der Kemsley Street Road, dessen unteren Stock Alice Bell mit ihrer Tochter bewohnte, zum Halten.
Das Häuschen wirkte wie ein Fremdkörper zwischen den links und rechts angrenzenden, modernen Bauten, die einander bis ins kleinste Detail glichen und vor denen sich immergrüne Kunstrasen wie Teppiche in einer Empfangshalle ausbreiteten. Schon oft hatten teuer gekleidete Scouts namhafter Baufirmen an die dicke dunkelgrüne Türe des Backsteinhäuschens geklopft. Nur zu gern hätten die Immobilienhaie auch dieses Stück Altertum in ihre Fänge gebracht, um es gegen eine klobige Garage auszutauschen. Doch Miss Clive, der das Grundstück gehörte und die den oberen Stock des Hauses bewohnte, warf den Männern in den glatt gebügelten Anzügen stets den Kochlöffel um die Ohren, wenn diese ihr bei dem Versuch ihr einen Verkauf schmackhaft zu machen mit dicken Geldbündeln vor dem Gesicht herumwedelten. Wie die Geier warteten sie auf das Ableben der rüstigen Dame, die schon 85 Jahre auf dem Buckel hatte. Obwohl sie mit ihrer gebückten, auf einen hölzernen Gehstock gestützten Haltung nach außen hin zerbrechlich und schwach wirkte, war die Rentnerin mit der schneeweißen Turmfrisur alles andere als träge. So konnte man durch die eierschalenfärbigen Vorhänge im oberen Stock des Hauses nach Einbruch der Dunkelheit erkennen, wie sie ihren Wischmopp zu 20er-Jahre Musik durch die Wohnung schwang und dabei wild von einem Bein auf das andere hüpfte.
Nachdem Aurelie aus dem alten Wagen, der erleichtert darüber endlich pausieren zu dürfen eine staubige Rauchwolke aus seinem Auspuff ausprustete, ausgestiegen war, warf sie ihrer Mutter einen möglichst betrübten und schuldbewussten Blick zu. Sie wusste, dass Alice Bell diesem nicht lange widerstehen konnte. Schon nach wenigen Sekunden zog die schlanke Blondine das Mädchen fest an sich heran, wuschelte ihr durch die rote Mähne und küsste sie sanft auf die Stirn.
„Wer braucht schon Mathematik?“, der breite Mund lachte, sodass die strahlend weißen Zähne mit der kaum wahrnehmbaren charmanten Zahnlücke zwischen dem ersten und dem zweiten Schneidezahn weit hervorragten.
Das Leben war einfach viel zu kurz, um sich lange zu grämen.
Auf der dunkelroten Fußmatte aus Kokosfasern vor der smaragdgrünen nach oben hin rund geschwungenen Eingangstüre des Häuschens räkelte sich eine nachtschwarze Katze und blinzelte mit ihren mandelförmigen gelben Augen vorsichtig den letzten Sonnenstrahlen des Tages entgegen. Verschlafen streckte sie ihre Vorderpfoten weit nach vorne, schüttelte kurz das niedliche runde Gesicht und kam sodann mit freudigem Blick auf Aurelie zugelaufen. Das Mädchen herzte das samtweiche Tier und hob es sanft auf ihren Arm, sodass dieses ihre nasse Nase an der Wange ihrer Menschenfreundin reiben konnte.
„Oh, Dinky, heute hat mich Mr. Griffiths schon wieder bei Miss Gallagher angeschwärzt“, schluchzte Aurelie in das Ohr der Katzendame, die – als ob sie jedes Wort genau verstanden hatte – tröstend den Kopf auf ihre Schulter legte.
Dinky trieb sich schon so lange Aurelie denken konnte in den Straßen des kleinen Örtchens herum. Niemand wusste zu wem sie gehörte. Manchmal war das umtriebige Tier wochenlang verschwunden, sodass Aurelie Spuren aus Leckerlies vom Waldrand bis zu dem kleinen Backsteinhäuschen legte, um dem geliebten Haustier den Weg nach Hause zu zeigen. Doch dieses tauchte stets im richtigen Moment wieder unversehrt auf und verlangte mit kratzenden Pfotenkreisen am Küchenfenster Einlass. Es war als würde sie spüren, wenn Aurelie einen Seelentröster brauchte. Zwar liebte das Mädchen mit dem feuerroten Haar ihre Mutter über alles, doch gab es auch Geheimnisse, die sie nur Dinky anvertrauen konnte. Nur der sanften Fellschnauze konnte sie erzählen, wie oft sie ihren Vater schmerzlich vermisste und dass sie dessen beruhigende Stimme in manchen stillen Momenten noch immer in ihr Ohr flüstern hörte.
Marlon Bell war ein stattlicher, starker Mann gewesen. Sein dichtes rotblondes Haar hing ihm struppig über die Augen, wenn er es wieder einmal verabsäumt hatte rechtzeitig zum Friseur zu gehen. Seine Bartstoppeln kitzelten rau, wenn man seine Wangen daran rieb. In seiner Gegenwart fühlte man sich sicher und geborgen. Jedes Mal, wenn Marlon Bell von seinen tagelangen Reisen als Versicherungsvertreter wieder heimkehrte, brachte er seiner Tochter statt einem Stofftier oder einer Puppe ein seltenes Pflänzchen mit. Die Blumen und Gräser wurden sodann sorgfältig und behutsam getrocknet und in ein Büchlein geklebt. Wenn das rothaarige Mädchen ihr Pflanzenbuch durchblätterte, fühlte sie sich ihrem Vater so nah, als würde sein Geist nicht von ihrer Seite weichen.
Menschenfreunde hatte Aurelie hingegen kaum. Die anderen Kinder fanden das Mädchen mit der farbenfrohen Wallemähne, das lieber die ganze Mittagspause lang still und einsam unter den kargen Bäumen im Schulhof sitzend dem Wind lauschte, anstatt mit ihnen Himmel und Hölle zu spielen oder Seil zu springen, sonderbar. Sie wussten auch nicht, wie sie damit umgehen sollten, dass Aurelie oft derart in Tagträume versank, dass sie ihre Umwelt völlig ausblendete und minutenlang nicht mehr ansprechbar war. Das rothaarige Mädchen hegte auch nicht den Wunsch ihre Zeit mit den anderen Schülern zu verbringen. Sie teilte keinerlei Interessen mit ihnen und riefen die wenig tiefgründigen Gespräche nur heftiges Gähnen bei ihr hervor.
Es war erst gegen sechs Uhr als Aurelie am nächsten Morgen ihre ozean-blauen Augen aufschlug. Gähnend wanderte ihr Blick auf den kleinen hölzernen Wecker, in dem ein goldener Sekundenzeiger fleißig tickend voranschritt. Marlon Bell hatte ihn seiner Tochter zum vierten Geburtstag geschenkt und dabei voller Stolz erzählt, dass sich das antike Stück schon seit vielen Generationen im Familienbesitz befand.
„Der Wecker kennt die rechte Zeit“, habe Urgroßvater Bell immer dann in seinen ergrauten Kinnbart gemurmelt, wenn er die filigranen goldenen Verzierungen, die sich am äußeren Rand des rötlichen Nussbaumholzes entlang schlängelten, mit Bohnerwachs polierte.
Aurelie erhob sich – verwundert darüber, dass die vielen mit Filzstift selbst gemalten Einhörner, Feen und anderen Fabelwesen, die jede Stelle der sonst perlmuttweißen Wände ihres Zimmers schmückten, schon so früh am Morgen in grellen Farben strahlten – pfeilartig aus dem Bett. Dinky, die wie so oft gewartet hatte, bis Mutter Bell auf dem graukarierten Zweisitzer-Sofa mit Schaumstoffpolsterung im Wohnzimmer eingeschlafen war, um sodann auf leisen Samtpfoten in Aurelies Zimmer zu schleichen, wurde fast von dem kuscheligen purpurnen Bettüberwurf, auf dem sie sich gemütlich wie eine Zimtschnecke eingerollt hatte, geschleudert. In letzter Sekunde war es ihr noch gelungen die scharfen Krallen in die roten Fasern zu rammen. Mit ihren mandelförmigen gold-gelben Augen blickte das über die Bettkante hängende Tier das Mädchen vorwurfsvoll an. Doch Aurelie sprang, ohne Notiz von Dinkys unsanftem Erwachen zu nehmen, schwungvoll aus dem lichtbraunen Rattanbett und eilte zu einem der doppelflügeligen Holzkastenfenster. Als sie ihren Kopf zwischen den schweren taubenblauen Gardinen hindurchschob, breitete sich ein Strahlen in den dunkelblauen Augen aus und ließ die gelben Punkte am Rande der Pupillen aufleuchten. Sie gluckste vor Freude darüber, dass Bredhurst sich ihr in ein weißes Schneekleid gehüllt zeigte und hüpfte aufgeregt zum großen aus Fichtenholz geschreinerten Bauernschrank, der in der hinteren rechten Ecke des quadratischen Zimmers aufgestellt war. Fast stürzte sie dabei über die unzähligen Bücher, die turmförmig überall am Boden des Raumes gestapelt waren. In Windeseile kramte sie ihre verstaubten knallgelben Winterstiefel mit der warmen Lammfellfütterung aus den Untiefen des Schrankes hervor, indem sie die unzähligen darüber geschichteten Kleidungsstücke in hohem Bogen über ihre Schulter nach hinten schleuderte. Voller Enthusiasmus stülpte sie sich ihre altmodischen aber wohlig warmen Wollstrumpfhosen und ihren allerliebsten sandfarbenen Strickpullover mit Stehkragen über, mummelte sich mit einem aus dicker Wolle gehäkelten Schal, der dazu passenden Mütze und einer prallgefüllten braunen Daunenjacke derart ein, dass man von ihrer schlanken Figur gar nichts mehr erkennen konnte. Dann packte sie die verdutzte Dinky, die gerade dabei war, ihr schwarzes Samtfell mit feinen Pfotenschwüngen sauber zu lecken, wie eine Zeitungsrolle unter den Arm und öffnete so leise wie möglich die alte knarzige Holztüre zum Wohnzimmer, in dem Alice Bell noch gerädert von der langen Arbeitswoche tief und fest schlief. Auf Zehenspitzen schlich das Mädchen durch den liebevoll eingerichteten Raum, der zugleich als Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer diente, bis zum grün gemaserten Portal, das nach draußen führte. Aurelie wusste genau, wie man die massive Brettertüre kaum hörbar öffnen konnte. Zuerst musste man diese mit gedrückter Klinke ein paar Millimeter langsam nach vorne pressen, dann die Klinke vorsichtig loslassen und im gleichen Moment die Türe schwungvoll einen Spalt, der gerade so breit war, dass sich das wie in einen fluffigen Wattebausch gepackte Mädchen gerade noch durchschieben konnte, nach hinten ziehen.
„Auf geht‘s Dinky!“, flüsterte Aurelie in vielversprechendem Ton.
Sie blickte tief in die mandelförmigen Katzenaugen, als ob sie sich eine Antwort erhoffen würde, während sie das Fellbündel auf die dunkelrote Fußmatte absetzte. Das grazile Tier war jedoch alles andere als begeistert davon, die warme Stube verlassen zu müssen. Der frostige Windstoß, der durch das seidige schwarze Deckhaar bis zur Unterwolle durchdrang, ließ den schlapp herunterhängenden Schwanz auf sein doppeltes Volumen aufsträuben.
Doch Aurelie dachte nicht daran, auf ihren Ausflug zu verzichten. Sie stapfte schnellen Schrittes die Kemsley Street Road entlang. Vorbei an den naturweißen kubischen Häusern, die mit ihren bekiesten Flachdächern und den wenig lichtbringenden anthrazitfarbenen Fenstern an unfreundliche Gesichter erinnerten. Nach nur wenigen Metern erreichte sie ein großes Feld, dessen Grasbewuchs man durch die dicke Schneedecke nur mehr erahnen konnte. Dahinter präsentierten die mächtigen Tannen des Church Wood stolz ihr neues Winterkleid. Dinky hatte schon befürchtet, dass Aurelie auch heute wieder dieses Ziel auserkoren würde. Nur schwer gelang es der Katze dem Mädchen, das wie ein Gummiball durch den Schnee zu hüpfen schien, zu folgen. Die zarten Pfoten sanken immer wieder tief in die kalt-nasse Schaumkrone ein. Sie hätte Aurelie trotz der feuerroten Strähnen, die unter der grauen Wollmütze hervorleuchteten, wohl schon längst aus den Augen verloren, wenn diese nicht immer wieder angehalten hätte, um sogleich mit einem großen Satz in den Schnee zu springen und am Boden liegend mit wild wedelnden Armen und Beinen einen Schneeengel zu formen. Aurelie liebte den Winter. Während die anderen Kinder vor ihren Kaminen mit heißem Kakao und Marshmallows abzuwarten schienen, bis der Frühling wieder ins Land zog, fühlte sie sich pudelwohl, wenn ihre Wangen sich in einen lebendigen Rotton färbten, als ob sie sich von der frostigen Brise geschmeichelt fühlen würden.
Schließlich erreichten die beiden Wanderer den Waldrand, an dem sich eine riesige Tanne neben der anderen pompös aufreihte. Die Baumfront schien den dahinterliegenden düsteren Church Wood wie eine schützende Armee zu bewachen. Immer wieder durchbrach ein lautes Ästeknacken die morgendliche Stille. Für so manch anderen hätten diese Geräusche schon gereicht, um in Furcht und Panik die Flucht zu ergreifen. Doch Aurelie kannte den Wald wie ihre Westentasche. Sie hatte schon jede Höhle erkundet, jeden Strauch erforscht und war auf jeden Baum geklettert. So oft war sie stundenlang auf dem moosigen Boden gesessen und hatte beobachtet wie Rehe sich in graziösen Sprüngen ihren Weg durch das Dickicht suchten.
Zielstrebig wanderte das rothaarige Mädchen an den ersten Baumreihen vorbei, bis sie direkt vor ihren schneebedeckten Stiefeln die Abrücke von vier kleinen Zehen mit spitzen Krallen entdeckte. Da sich die vorderen Ballen des Abdruckes nicht mit den hinteren Ballen überschnitten, konnte es sich nur um einen Fuchs handeln. Hellauf begeistert und in der Hoffnung dem farbenprächtigen Waldbewohner zu begegnen folgte Aurelie der Schneespur Pfote für Pfote weiter in den Wald hinein. Diese endete schließlich unter einer majestätischen alten Fichte, die derart weit in den Himmel reichte, dass Aurelie das Ende der Baumkronen gar nicht erblicken konnte. Gut versteckt zwischen Laub und hervorstehendem Wurzelwerk war der Eingang zu einer kleinen Höhle erkennbar. Aurelie kniete sich auf den angezuckerten Boden und beugte ihren haubenbedeckten Kopf so tief in Richtung der dunklen Öffnung, dass die roten Locken den Boden berührten. Als erfahrende Abenteurerin hatte sie für solche Momente stets eine kleine Taschenlampe in ihrer Jackentasche verstaut. Mit dem schmalen Lichtstrahl leuchtete sie in das Innere des Erdlochs. Dort waren verschachtele unterirdische Gänge verborgen. Wohin diese wohl führten?
Während ihr Kopf in der Bodenöffnung verschwand, überhörte Aurelie das dumpfe Knarren aus den oberen Regionen der gewaltigen Fichte völlig und bemerkte nicht, dass plötzlich ein langer morscher Ast unter der schweren Last der Schneedecke nachgab, sich vom Rest des Baumes abtrennte und nach unten stürzte, während er die darunterliegenden Äste wie ein gewaltiges Geschoss mit sich riss. Erst als sich das geballte Astwerk nur mehr wenige Meter über ihrem Körper befand, drang das laute Getöse endlich zu ihr vor. Doch es war zu spät. Selbst ein hastiger Seitwärtssprung konnte sie nicht mehr vor einem Zusammenstoß bewahren. In leicht geduckter Haltung erstarrte das Mädchen zur Salzsäule und hielt sich im Reflex schützend die Hände vor das mit kleinen Sommersprossen überzogene Gesicht.
So konnte sie nicht sehen, wie sich von einer Sekunde in die andere Dinkys schlanker Katzenkörper, der sich nur wenige Meter entfernt auf dem Stamm eines umgefallenen Baumes sitzend bemühte, die nassen Pfötchen trocken zu lecken, in undurchsichtigem schwarzem Nebel auflöste. Die Schwaden formten sich nach und nach in eine menschliche Silhouette, bis letztlich statt dem Katzentier eine rundliche Dame mit wildem weißrotem Lockenschopf auf dem Baumstumpf stand. Im nächsten Moment zückte die kleingewachsene Person einen dünnen, nach vorne spitz anlaufenden Holzstab aus der rotkarierten Schürze, die unter einem langen braunen Ledermantel mit dunkelgrauer Wollfütterung hervorblitzte, hielt diesen wie ein Dirigent in Richtung des niederdonnernden Astes und sprach laut die Worte CorpusTempusa Remorarium.
Aurelies Herz pochte so laut, dass sie es tief im Inneren ihres Kopfes hören konnte. Sie wagte es kaum zu atmen. Doch als sie auch nach einer Minute noch immer nicht unter dem Astwerk begraben wurde, öffnete sie vorsichtig die blitzblauen Augen und blickte durch ihre weit gespreizten Finger schräg nach oben. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Doch das unerklärliche Bild blieb auch noch unverändert, als sie die Hände vom Gesicht nahm, sich aufrichtete und den Kopf steil gen Himmel streckte. Die üppige Masse aus schneebedeckten Ästen schwebte nur gut einen halben Meter über ihrem Kopf. Freistehend. Schwerelos. Den Naturgesetzen trotzend.
Träumte sie? Oder war sie etwa ohnmächtig geworden? Oder? Nein. Sie konnte doch nicht tot sein. Oder etwa doch? Ungläubig hob sie die rechte Hand und ließ die spitzen Baumnadeln durch ihre Finger gleiten. Der harzige Baumgeruch drang in ihre Nase. Nein, es war keine Einbildung. Die Äste schwebten tatsächlich. Während sie mit den Fingerspitzen die feuchten Äste entlang tastete, versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen.
„Geh schon zur Seite mein Kind!“
Erst jetzt realisierte Aurelie die Gestalt, die nur wenige Meter von ihr entfernt auf dem umgekippten Baumstamm stand und angestrengt das dünne Holzstäbchen in die Höhe streckte. Der Anblick zog sie gänzlich in ihren Bann. Als würde ein Gespenst vor ihr stehen. Das Mädchen starrte so tief in das faltige Gesicht, dessen Nase wie ihre eigene von unzähligen Sommersprossen geziert wurde, dass sie die gelben Punkte am rechten und linken äußeren Rand der in blaue Farbe gehüllten Pupillen ganz genau erkennen konnte.
„Zur Seite sollst du gehen!“, wiederholte die Dame ihre Worte in so bestimmendem Ton, dass Aurelie sich wie ferngesteuert folgsam in langsamen seitlichen Schritten immer weiter aus der Fallrichtung des Astwerkes bewegte, ohne dabei ihren Blick nur eine Sekunde von der pummeligen Dame abzuwenden.
Nachdem sie den Gefahrenbereich verlassen hatte, ließ die alte Frau den hölzernen Stab in ihrer Hand erleichtert nach unten sacken, wodurch der Ast wieder aus seinem Erstarrungszustand befreit wurde und mit lautem Getöse auf den gefrorenen Boden prallte.
Erschrocken durch den unerwarteten Lärm drehte Aurelie sich um die eigene Achse. Jene Stelle, an der sie zuvor am Boden gekniet war, war völlig vom Astwerk verschlungen worden. Dem Mädchen stockte der Atem, als ihm bewusstwurde, dass seine Neugierde ihm diesmal fast das Leben gekostet hätte. In den Untiefen des Waldes hätte bestimmt niemand seine Leiche gefunden. Wahrscheinlich wäre diese ein abwechslungsreiches Mahl für die fleischlustigen Waldbewohner geworden.
Als Aurelie ihren Kopf wieder zu Seite drehte, war ihre Retterin schon wieder verschwunden. Sie eilte zu dem Baumstamm, doch weit und breit war nichts und niemand zu sehen. Wo war sie nur hin? Oder hatte sie sich die schürzenbekleidete Frau nur eingebildet? Nein, da. Ihr Verstand spielte ihr keine Streiche. Auf der dünnen Schneeschicht, die die Oberseite des Stammes benetzte, zeichneten sich eindeutig die Abdrücke von Frauenstiefeln mit breitem Absatz ab. Die Abenteurerin umkreiste das Holzwerk, um eine Fährte aufzunehmen. Es war nirgends eine Spur zu entdecken. Hatte sich die heldenhafte Dame einfach in Luft aufgelöst?
Ratlos schlenderte Aurelie zurück zur Waldgrenze. Während sie durch das an die Kemsley Street Road angrenzende Feld stapfte, suchte sie angestrengt nach einer logischen Erklärung für die merkwürdigen Ereignisse. Sie war ja schon oft derart in ihre Tagträume versunken, dass sie die wahre Welt um sich herum völlig ausblendete, aber diesmal war es anders. Diese Geschichte schien nicht ihrer Fantasie entsprungen zu sein.
Als sie die Türklinke der grünen Eingangstüre des kleinen Backsteinhäuschens öffnete, strömte ihr bereits der Geruch von frischen Pfannkuchen in die Nase.
„Na, du kleine Ausreißerin? Ich wette, du hast einen Bärenhunger mitgebracht“, rief Alice Bell ihrer Tochter mit freundlicher Stimme zu.
Aurelie warf die nassen Stiefel und die schneebedeckte Jacke unsanft in die Ecke des langgezogenen Vorraumes und eilte in die Wohnküche. Sie fiel ihrer Mutter, die gerade dabei war, den ovalen mintgrünen Holztisch mit geblümten Frühstücksgeschirr zu decken, in die Arme. Freudig erwiderte die schlanke Frau, deren lange blonde Strähnen in morgendlicher Manier wild nach oben standen, die herzliche Umarmung.
„Dinky war es heute wohl zu kalt, um dich zu begleiten“, lachte Alice Bell und zeigte in Richtung des kleinen Holzofens auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, vor dem sich die schwarze Katze entspannt am Dielenboden räkelte.
Alice Bell war nicht sonderlich erstaunt über die neue Lieblingsbeschäftigung ihrer Tochter, die in letzter Zeit fast täglich einen Kochlöffel schwingend durch den Garten hüpfte und immer wieder Simsalabim und Hex-Hex rief, während sie Miss Clives alte Kochschürze, die über und über mit kleinen Gänseblümchen bestickt war, fest um die braune Daunenjacke gebunden trug. Das Mädchen mit den feuerroten Wellen hatte sich schon im Kleinkindalter ständig neue kreative Spiele ausgedacht. Während andere Kinder sich ohne Computerspiele oder die gute alte Flimmerkiste zu Tode langweilten, konnte Aurelie aus ein paar Holzstücken oder Steinen imposante Segelschiffe zaubern, die munter die regen Wellen des Ozeans bezwangen, um ihre Teeladungen sicher in den nächsten Hafen zu schippern. Grashalme und Blätter verwandelten sich spielend in ein ganzes Dorf, in dem sich alle Bewohner freundlich auf der Straße grüßten. An manchen Tagen war sie Höhlenforscherin, an anderen leitete sie eine Safari in Afrika. Wen konnte es da noch wundern, dass ein simpler Kochlöffel ausreichte, um sie in die mächtigste Hexe Englands zu verwandeln.
Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, was es mit der neuen Schürzenliebe auf sich hatte, war Alice Bell heilfroh, ihre Tochter wieder so ausgelassen spielen zu sehen. Schließlich war diese so geknickt gewesen, weil Dinky sich nun schon seit fünf Tagen nicht mehr hatte blicken lassen.
Zufrieden wandte Alice Bell ihren aus dem Wohnzimmerfenster gerichteten Blick in den kleinen Vorgarten, der im Vergleich zu den rechts und links anschließenden sorgfältig gemähten Rasenflächen schäbig ungepflegt wirkte, wieder dem nussig duftenden Blechkuchen zu, den sie soeben aus dem uralten kleinen Backrohr in der wild zusammengeschusterten Küche geholt hatte. Heute war schließlich ein ganz besonderer Tag.
Es war genau heute vor 13 Jahren gewesen, als Marlon Bell vor lauter Aufregung die geräumige Wohnung im ersten Stock eines kleinen knallroten Mietshauses in Mayfair, die er gemeinsam mit seiner geliebten Frau bewohnte, nur mit einer Unterhose bekleidet verlassen hatte. Erst als ihm auf der Straße stehend und mit beiden Armen wild ein Taxi herbeiwinkend die Knie zu schlottern begannen, bemerkte er die fehlende Beinbekleidung und stürmte peinlich berührt wieder das Stiegenhaus hinauf. Vor der Wohnungstüre hielt ihm Alice Bell bereits seine dunkelblauen Levis-Jeans entgegen.
„Wir haben noch genügend Zeit“, versuchte die junge Frau mit den knalligen pinken Strähnen im schulterlangen blonden Haar ihren Mann zu beruhigen, während sie immer wieder tief ein- und ausatmete.
Sie strich dabei in kreisenden Bewegungen über ihren kugelrunden Bauch, der unter dem lachsfarbenen Seidenkleid weit nach vorne ragte. Nur wenige Stunden später wiegte sie das kleine rosa Bündel mit den tiefblauen Kulleraugen und den vereinzelten feinen roten Härchen auf dem weichen Köpfchen in ihren Armen und war sich sicher, dass das der vollkommenste Moment ihres Lebens war.
Zurück in der Gegenwart war Aurelie noch immer mit der cremefarbenen Blumenschürze bekleidet, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Miss Clive am Küchentisch saß und sich gierig ein Stück ihres Macadamia-Geburtstagskuchens in den Mund schob. Dabei lugte sie unentwegt auf die liebevoll verpackten Geschenke, die vor ihr auf dem mintgrünen Esstisch lagen.
„Na, dann mach sie eben auf, bevor du dich noch verschluckst!“, Alice Bell konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
Aurelie ließ sich das natürlich nicht zweimal sagen. Freudig schnappte sie sich zuerst das Päckchen mit dem silber-metallic schimmernden Papier. Mit den Fingerspitzen zog sie an der roten Schleife und öffnete vorsichtig Millimeter für Millimeter die Klebestreifen. Sie wusste, dass die alte Miss Clive ihr Geschenksmaterial wie einen Schatz hütete. Die funkelnde Umhüllung hatte Aurelie bestimmt schon an vier oder fünf Geburtstagen entpackt. Es war ein ungelöstes Rätsel, wie es der rüstigen Dame gelingen konnte Geschenke in den unterschiedlichsten Größen mit ein und demselben Papierstück immer genau passend zu umwickeln.
Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht des Geburtstagskindes und die kleinen Sommersprossen schienen ein wildes Tanzfest auf der niedlichen Stupsnase zu feiern, als eine nigelnagelneue rotkarierte Schürze aus feinem Leinenstoff zum Vorschein kam.
„Dann musst du nicht mehr das alte Ding da anziehen“, raunzte Miss Clive und zeigte mit den langen dürren Fingern auf die abgewetzte Blumenschürze an Aurelies Körper, deren Träger augenscheinlich schon mehrfach abgerissen und neu angenäht worden waren.
Das Mädchen sprang von dem dreibeinigen Holzschemel, auf dem sie Platz genommen hatte und warf dankbar ihre Hände um den Hals der faltigen Frau.
„Na, na, na. Nicht gleich so ein Freudenausbruch wegen einer läppischen Schürze“, Miss Clive hätte nie zugegeben, wie gerührt sie von der herzlichen Umarmung war.
Die Rentnerin mit der aufgedrehten Turmfrisur, die sich dank dem großzügigen Einsatz von Haarspray steinhart anfühlte, wenn man darüberstrich, gab sich nach außen hin stets grimmig. Es sollte ja niemand auf die Idee kommen sich mit ihr anzulegen. Erst bei näherem Hinsehen zeigte sich ihr großzügiges und mitfühlendes Herz.
Aurelie tauschte ihre Bekleidung sofort gegen die neue Errungenschaft. Als war als hätte Miss Clive es erahnen können, dass das ausgesuchte Stück rein zufällig der Schürze, die die mysteriöse Frau im Wald getragen hatte, wie ein Ei dem anderen glich.
Das zweite Geschenkspäckchen war in dunkelrotes, gewelltes Papier gehüllt. Aurelie erkannte an Form und Gewicht sofort, dass es sich um ein Buch handeln musste. Diesmal riss sie die Verpackung unsanft auf, sodass sie in kleine Stücke zerpflückt wurde. Miss Clive zuckte bei dem Geräusch zusammen, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel gekratzt hätte. Den strafenden Blick der alten Dame, die wie bei jedem feierlichen Anlass ihren guten Schal aus Fuchsfell trug, bemerkte Aurelie gar nicht, als sie den ledernen Einband des Büchleins in den Händen hielt, auf dem kunstvoll in geschwungenen goldenen Buchstaben die Worte Mr. Ponentius Spruchfibel eingraviert waren. Im Inneren kamen dicke vergilbte Seiten zum Vorschein, auf denen mit schwarzer Tinte wirr klingende Spruchformeln verewigt waren. Auf manchen Seiten standen nur wenige seltsame Wörter, andere waren ganz und gar leer.
„Es scheint als hätte dein Vater als er jung war auch gerne Zauberer gespielt“, erzählte Alice Bell, die sich mittlerweile hinter ihre Tochter positioniert hatte und über deren Schulter in das Büchlein blickte, während sie ihr sanft über den Rücken streichelte.
„Das gute Stück hatte er ganz hinten im Kleiderschrank versteckt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es aufbewahrt habe. Erst durch deine neue Vorliebe fürs Hexen ist es mir wieder in den Sinn gekommen. Dein Vater hätte gewollt, dass du es bekommst.“
An diesem Abend konnte die schöne Blondine ihre Tochter nur schwer dazu bewegen, den neu gewonnenen Schatz zur Seite zu legen. Aurelies Augenlider waren schon träge vom vielen Lesen und kippten immer wieder kraftlos nach unten. Erst als der Kopf des rothaarigen Mädchens zur Seite kippte, gelang es ihrer Mutter den abgewetzten Ledereinband aus dem festen Fingergriff zu befreien.
Trotz der Müdigkeit fand das Mädchen in dieser Nacht keinen erholsamen Schlaf. Sie wälzte sich rastlos hin und her. In der einen Minute war ihr so kalt, dass ihre Zehen bibberten, in der anderen so heiß, dass ihr das Oberteil des gestreiften Baumwollpyjamas am verschwitzen Oberkörper klebte. Als sie ihre kleine Taschenlampe zur Hand nahm und in Richtung des hölzernen Weckers leuchtete, stellte sie fest, dass es Punkt Mitternacht war. Nein, halt. Der zarte goldene Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr. Hatte der tapfere Kerl nach all den Jahren meisterlicher Sprintleistung etwa genau an ihrem Geburtstag seinen Geist aufgegeben?
So sehr sie sich auch bemühte ins Traumland zu versinken, jedes Mal wenn sie die Augen schloss, geisterten nur die selben Bilder der rundlichen Dame aus dem Wald durch ihren Kopf. Warum hatte die alte Frau dieselben gelben Punkte wie sie in ihren Pupillen? Oder war sie das etwa selbst gewesen? Angereist aus der Zukunft, um ihr eigenes Leben zu retten? Oder hatte ihr Geist ihren Körper verlassen und die Gestalt einer alten Frau angenommen? Das Rätselraten ließ Aurelie schließlich doch noch in einen tiefen Schlaf fallen, der erst durch das unsanfte Rütteln an ihrer Schulter am nächsten Morgen durchbrochen wurde.
„Aurelie, komm schon! Du musst zur Schule!“
„Mein Wecker hat den Geist aufgegeben“, murmelte das gähnende Mädchen, während sie sich die unzähligen roten Strähnen aus dem Gesicht zupfte.
„Was redest du denn da, er hat doch schon drei Mal geklingelt“, widersprach Alice Bell verständnislos und tippte mit dem Zeigefinger auf die kleine Weckuhr, die tatsächlich kurz nach sieben Uhr anzeigte.
Aurelie quälte sich aus dem Bett. Sie fühlte sich als wäre sie gerade aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Ihre Glieder schmerzten bei jedem Schritt. Beim Gedanken daran, dass Dornröschen nicht vom Prinzen wach geküsst, sondern von der schreienden Königin geweckt wurde, musste sie aber dennoch kurz schmunzeln. Lustlos zog sie ihre Kleider über, die ihre Mutter ihr schon am Vorabend auf dem schwarz gepolsterten Drehstuhl, der vor dem Schreibtisch aus hellem Ahornholz, der mit Büchern so vollgeräumt war, dass keine einzige freie Fläche mehr ersichtlich war, stand, zu Recht gelegt hatte. Alice Bell hatte schon geahnt wie schwer es Aurelie fallen würde montags aus dem Bett zu kommen. Da die Morgenmüdigkeit ihrer Tochter meist mit einer sehr eigenwilligen Kleiderwahl einherging, war es für alle Beteiligten besser, wenn ein Erwachsener diese in die Hand nahm.
Dieser Montag war für Aurelie besonders schlimm. Das flaue Gefühl im Magen verging auch in den ersten Unterrichtsstunden nicht. So saß sie ausnahmsweise still auf ihrem Platz und lauschte wie die übrigen Schüler teilnahmslos dem Vortrag des Lehrpersonals. Das schrille Läuten der Schulglocke löste noch größeres Unbehagen in ihr aus. Sie hasste die Pausen. Die Lehrer waren so sehr mit ihrem Kaffeeklatsch beschäftigt, dass sie die anarchischen Revierkämpfe und bösen Streiche ihrer Schützlinge gar nicht bemerkten. Während Aurelie im Sommer Ballungsräume meiden konnte, indem sie sich gemütlich unter die Bäume im Hof setzte, war es in der kalten Jahreszeit nicht so einfach sich zurückzuziehen. Der kleine Pausenraum, in dem in Reih und Glied langgezogene Metalltische und unbequeme Bänke aufgestellt waren, bat kaum Rückzugsplätze. Aurelie schlich lange herum, bis sie endlich eine stille einsame Ecke fand. Auch der Verzehr des übriggebliebenen Geburtstagskuchens konnte ihre Stimmung nicht erhellen. Gestern hatte er ihr noch so viel besser geschmeckt.
Auch wenn das Mädchen sich für das langweilige Gequatsche ihrer Mitschüler nicht sonderlich interessierte, kam sie nicht umhin das Tuscheln der gruppierten Mädchen unweit von ihr zu bemerken, die immer wieder ihre Köpfe zusammenschoben, in ihre Richtung blickten und dabei quietschend kicherten.
„Ihre Haare sehen aus wie Feuer, das sollte unbedingt gelöscht werden“, hörte sie Amy Gritzwood sagen, die dabei ihre blonden, sorgfältig zu zwei Fischgrätenzöpfen geflochtenen Haarsträhnen hin und her warf.
Aurelie konnte das groß gewachsene Mädchen aus betuchtem Hause überhaupt nicht leiden. Nach außen hin gab sich Amy als Musterschülerin, erzielte in allen Klausuren nur Einsen und war stets höflich und zuvorkommend zum Lehrpersonal. Hinter der Fassade verbarg sich ein wahrer Schelm. Amy Gritzwood liebte es sich auf Kosten anderer lustig zu machen. Sie war neckisch und schadenfroh. Am liebsten gab sie sich mit weniger schlauen Mitschülerinnen ab, denen sie ihre diabolischen Streiche unbemerkt in die Schuhe schieben konnte. So kam sie stets ungestraft davon. Keiner der Erwachsenen traute ihr solche Gemeinheiten zu. Als Lieblingsopfer hatte sie Susan Riedel auserkoren. Das etwas fülligere Mädchen mit den schulterlangen haselnussbraunen Haaren war erst vor wenigen Monaten mit ihrer Familie und deren kniehohen weißgrauen Bobtail nach Bredhurst gezogen. Amy machte dem schüchternen Mädchen gleich am ersten Schultag weis, dass die Mädchentoilette defekt sei und sie daher auf das Jungenklo gehen müsse. Sodann wartete sie während der Pause vor der Toilettentüre, bis Susan diese wieder verließ, zeigte mit dem Finger auf die beleibte Mitschülerin und begann lauthals einen Sprechchor einzuleiten, in den bald alle versammelten Mitschüler einstimmten.
„Susan Riedel hat einen Schniedel! Susan Riedel hat einen Schniedel!“.
Noch wochenlang wurde Susan von ihren Mitschülern mit dem neu kreierten Nachnamen gehänselt, bis selbst Mr. Griffiths bei der Bekanntgabe der Noten der Mathematikschularbeit der Name Susan Schniedel herausrutschte. Amy war wahnsinnig stolz auf ihr Werk. Doch wie es nun mal mit solchen Hänseleien ist, legt sich der anfängliche Enthusiasmus rasch wieder. So geriet auch dieser Spitzname wieder in Vergessenheit. Ein neuer Plan musste her. Es behagte der blonden Klassensprecherin nämlich ganz und gar nicht, dass die unverblümte und lockere Art des nach Amys Einschätzung geradezu fettleibigen Mädchens bei den männlichen Mitschülern durchaus Gefallen zu finden schien. Amy passte es ganz und gar nicht in den Kram, dass sie ihre hart erkämpfte Aufmerksamkeit mit jemanden teilten musste.
So hatte sie in Susans Namen einen Liebesbrief an den begehrtesten Jungen der Schule verfasst: Ryan Mac Dubh. Ryan war nicht nur ein toller Sportler und Leader sowohl des Basketball- als auch des Eishockeyteams, sondern sah mit seinem dichten schokoladenbraunen Haar, das er lässig nach hinten frisiert trug, auch noch hinreißend aus. Amy hatte schon lange entschieden, dass sie und Ryan einmal heiraten sollten. Sie hatte den Eindruck, dass es nur mehr wenig Flirtversuche bedurfte, bis Ryan ihr endlich die lang ersehnte Frage stellen würde: Willst du mit mir gehen?
So kam es ihr gänzlich ungelegen, dass Susan Riedel ihr dazwischenfunkte. Sie musste die unliebsame Rivalin ein für alle Mal aus dem Rennen werfen.
Ryan, dem der eng zusammengefaltete rosa Zettel, auf dem sein Name in schnörkeligen Buchstaben geschrieben stand, während der Deutschstunde von seinem Banknachbarn zugesteckt worden war, öffnete das Briefchen und las dessen Inhalt zunächst still und unbemerkt. Doch die letzten Worte waren so lustig, dass ihm ungewollt ein geräuschvolles Kichern entfleuchte. Alle seine Klassenkameraden richteten sofort neugierig ihre Blicke auf ihn und auch das Interesse der Klassenlehrerin Miss Sweeney wurde sofort geweckt.
„Ryan Mac Dubh. Das scheint ja sehr amüsant zu sein, was du da liest. Dann wäre es doch nur fair, wenn du die ganze Klasse daran teilhaben lässt.“
Als Ryan der Aufforderung nicht nachkommen wollte und nur beschämt nach unten blickte, setzte sie nach: „Oder willst du lieber einen Eintrag im Klassenbuch?“
Die Drohung zeigte Wirkung. Ryan folgte und trug Wort für Wort der eindeutig in Mädchenhandschrift verfassten Zeilen laut vor:
Lieber Ryan,
ich schreibe dir, weil ich mich unsterblich in dich verliebt habe.
Ich habe schon seit Wochen mit meinem Hund das Zungenküssen geübt und bin mittlerweile schon richtig gut.
Willst du mein erster menschlicher Kusspartner sein?
In Liebe
deine Susan Riedel
Das Klassenzimmer bebte vor lauter Gelächter. Selbst die Mundwinkel der strengen Miss Sweeney entgleisten für einen kurzen Moment nach oben, bevor sie wieder in gewohnt militärischem Ton für ordentliches Benehmen sorgte.
„Ruhe! Was soll denn das Affentheater? Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr!“, sie klopfte mit dem hölzernen Zeigestab mahnend auf die vollgeschriebene Tafel.
Susan war indes mit weit geöffnetem Mund auf ihrem Platz in der ersten Reihe gesessen und hatte minutenlang versucht das Weinen zurückzuhalten. Als Amys boshafter Blick in ihre Richtung blitzte und sie an dem hämischen Grinsen erkannte, wem sie diese Blamage zuzuschreiben hatte, brach der salzige Tränendamm. Susan rannte – die Hände schützend vors zornig rote Gesicht gehalten – aus dem Klassenzimmer. Danach war sie eine ganze Woche lang krankgemeldet gewesen.
Es gab also guten Grund für Aurelie nichts Gutes zu ahnen, als Amy Gritzwoods Handlanger Sarah Alastair und Mindy Shaw die boshafte Mädchenrunde verließen und schnurstracks auf sie zu kamen. Beide Mädchen trugen gerillte Einwegplastikbecher, randvoll mit Wasser gefüllt, in ihren Händen. Aurelie erkannte schnell, dass ihr wohl eine kalte Dusche bevorstand und blickte hoffnungsvoll auf die andere Seite des Pausenraumes, wo sich Miss Sweeney angeregt mit Mr. Griffiths unterhielt. Die zierliche Lehrerin dachte aber gar nicht erst daran, ihre Augen auch nur eine Sekunde von ihrem Gesprächspartner abzuwenden.
„Feuer muss gelöscht werden“, riefen die beiden Widersacherinnen in kicherndem Ton und hoben dabei ihre Arme hoch in die Luft, um die glasklare Flüssigkeit genüsslich auf die rote Haarpracht zu ergießen.
Die blonde Drahtzieherin stand wie gewohnt in sicherer Entfernung und gab bloß durch das schadenfrohe Grinsen zu erkennen, dass dieser Streich aus ihrer Feder stammte.
Aurelie überkam ein unbändiger Zorn. Der Gedanke daran, dass Amy Gritzwood erneut ungeschoren davonkommen würde, stach wie ein spitzer Gegenstand in ihre Magengegend. Es war einfach nicht fair, dass jeder sich von dem scheinheiligen Lächeln blenden ließ. War denn keiner in der Lage die hinter der Lipglossfassade versteckte hässliche Boshaftigkeit zu erkennen?
Als die runden Wasserperlen gerade dabei waren der Schwerkraft folgend auf sie herabzuregnen, riss Aurelie reflexgesteuert blitzartig ihre Arme nach oben und schirmte ihren Kopf schützend mit den Handflächen ab. Die kaltnassen Tropfen wechselten mit einem Mal die Richtung, als ob sie von einem unsichtbaren Schutzschild abprallen und zurückfedern würden. Anstatt sich auf das rothaarige Mädchen zu ergießen, formte das Wasser einen Strahl, suchte sich seinen Weg zwischen den Köpfen der beiden Ausgießer hindurch und traf schließlich mit voller Wucht mitten in das Gesicht der völlig verdutzten Amy Gritzwood. Die zierliche Blondine blickte fassungslos an sich hinunter. Das klatschnasse Haar klebte wie Kaugummi an der hellrosa Seidenbluse, aus der nach und nach die Farbe entwich, bis sich durch den feuchten Stoff die Bügel des weißen BHs deutlich abzeichneten. Ein gellender Schrei hallte durch den Pausenraum, so laut, dass selbst Miss Sweeney ihn nicht ignorieren konnte. Wütend stapfte sie mit ihren Absatzstiefeln aus grünem Veloursleder, die bei jeder Berührung mit dem Boden laut klackerten, in Richtung der Mädchen, um die sich mittlerweile eine Schar lachender Mitschüler gebildet hatte. Es gab niemandem im Raum, der Amy Gritzwood diese Schmach nicht wenigstens ein bisschen gegönnt hätte. Selbst Sarah Alastair und Mindy Shaw, die sich zwar überhaupt nicht erklären konnten, was soeben passiert war, aber auch keinen Gedanken daran verschwendeten es herauszufinden, gelang es nur schwer sich das schelmische Grinsen zu verkneifen. Schließlich waren sie schon oft genug für Amys Streiche bestraft worden.
„Könnt ihr euch denn nicht ein einziges Mal ordentlich benehmen? Amy Gritzwood, von dir hätte ich so ein Verhalten wirklich nicht erwartet!“, zischte Miss Sweeney, während sie ihren kurzen marineblauen Rock, den sie während ihres Gespräches mit Mr. Griffiths ungeniert etwas nach oben hatte rutschen lassen, wieder in Richtung Knie zupfte.
Die sonst so schlagfertige Amy brachte indes kein Wort heraus, so erschüttert war sie darüber, dass sie nun selbst zur Lachnummer geworden war. Noch bevor sie Sarah Alastair und Mindy Shaw, die versuchten ihre leeren Plastikbecher möglichst unauffällig hinter dem Rücken zu verstecken, „Das werdet ihr mir noch büßen“ ins Ohr flüstern konnte, tauchte das Gesicht von Ryan Mac Dubh im Hintergrund der Schülertraube auf. Nicht nur er, die gesamte Basketballclique hatte sich zum lachenden Mob gesellt. Amys zartes Gesicht färbte sich nach und nach in einen satten Rotton, bis ihr Kopf eher einer Tomate glich. Schüchtern verschränkte sie die Hände vor der Brust, um Einblicke der Jungenschar in ihre transparente Bluse zu verhindern. Gefolgt von den Augen der gesamten Schülerschaft schritt die gefallene Königin sodann hastigen Ganges, den Kopf tief nach unten gebeugt, wortlos aus dem Pausenraum in Richtung Mädchentoilette.
Sarah Alastair und Mindy Shaw genossen noch einen kurzen Moment die unverdiente Anerkennung für die mutige Tat, bis sich die Schüler wieder genüsslich ihrem Mittagessen widmeten. Aurelie stand indes noch immer wie angewurzelt mit erhobenen Händen im Raum und versuchte zu begreifen, was soeben passiert war. Hatte sie denn als einzige gesehen, wie das Wasser auf unerklärliche Weise die Richtung gewechselt hatte? Oder war es nur schon wieder ein Tagtraum gewesen?
Das Klingeln der Pausenglocke riss Aurelie aus ihren Gedankenkreisen, die zwischen echter Magie und ersten Anzeichen einer Geisteskrankheit hin und her wanderten. Grübelnd folgte sie ihren Mitschülern in den Klassenraum und nahm ihren Platz ein. Amy Gritzwoods Schulbank blieb in dieser Stunde leer.
Zeitgleich im 20. Geschoss eines gigantischen Gebäudekomplexes am Südufer der Themse in London. In einem langgezogenen Büroraum, in dem mindestens 100 durch Sichtblenden voneinander getrennte, in einem monotonen Grauton gehaltene Schreibtische gänzlich idente Arbeitsplätze bildeten, blinkte auf einem der silbernen Computermonitore plötzlich ein großer roter Punkt auf der dort eingeblendeten Landkarte auf.
„Na, was haben wir denn da?“, murmelte die kleine Gestalt mit den hoch emporstehenden Ohren, die sie problemlos in alle Richtungen drehen und wenden konnte und stellte dabei einen vollgefüllten Kaffeebecher so unsanft ab, dass das braune Gesöff fast auf die makellos staubfreie Tischplatte überschwappte.
Das Wesen, das nicht höher als 50 cm sein konnte, steckte in einem grauen Baumwollanzug, der es zwischen den gleichfarbigen Schreibtischen fast unsichtbar werden ließ und trug eine winzige schwarze Krawatte um den Hals. Die Haut war leicht grünlich gefärbt, als ob es etwas Verdorbenes gegessen hätte. Auf dem Kopf und aus den Ohren wucherte gekräuseltes borstiges Haar. Die strengen nachtschwarzen Augen und die tiefe Falte zwischen den wuscheligen grauen Augenbrauen ließen die Gestalt verbittert wirken. Die Mundwinkel waren weit nach unten gezogen, als ob der kleine Herr noch nie in seinem Leben gelacht hätte. Durch die spitzzulaufenden dunkelgrünen Fingernägel erschienen die dünnen knochigen Finger unendlich lang.
Der Winzling zog sich mit den zum Körper unproportional langen Armen an den Lehnen des schwarzen, rollbaren Schreibtischstuhles nach oben. Die kurzen Beine baumelten frei in der Luft, als er sich mit rüttelnden Bewegungen in eine bequeme Sitzhaltung manövrierte.
„Sieh an, sieh an, ein Verstoß in Bredhurst“, hörte man den grimmigen Kobold leise mit sich selbst sprechen, während er mit dem Zeigefinger das kleine schwarze Rädchen auf seiner Computermaus hinunterschnellen ließ, wodurch sich die Landkarte auf dem Computerschirm vergrößerte.
“Bredhurst Primary School. Na, wen haben wir denn da?“, setzte er sein Selbstgespräch fort und hämmerte dabei wild in die Touchscreen-Tasten der silbernen Tastatur.
Prompt öffnete sich eine Unzahl von Fenstern mit Eingabemasken, in die der Kobold unleserlichen Quellcode eingab. Plötzlich zog er seine wild wuchernden Brauen soweit nach oben, dass der tiefe Krater seiner Stirnfalte fast völlig glattgebügelt wurde. Das zartgrüne Gesicht erstarrte.
„Das ist doch nicht möglich!“, er tippte mit festem Druck auf die Taste seiner Tastatur, auf der ein Telefonhörer abgebildet war.
Sowohl auf der Taste als auch auf dem funkverbundenen Ohrhörer, der tief in der rechten, spitz anlaufenden Ohrmuschel der Gestalt steckte, blinkte sogleich im Sekundentakt ein weißes Licht auf. Mit den langen Fingernägeln schlug der Kobold die Zahlenfolge 3643 im Nummernblock an. Das Blinken wandelte sich in ein dauerhaftes oranges Leuchten. Eine hohe piepsende Frauenstimme meldete sich auf der anderen Leitung.
„Ja, bitte?“
„Ich habe hier einen nicht registrierten Wesentlichen auf dem Schirm“, meldete der Kobold kurz und knapp, ohne sich anmerken zu lassen, dass er die soeben ausgesprochenen Worte selbst nicht glauben konnte.
Die Dame am anderen Ende erkannte die Dringlichkeit der ungewöhnlichen Meldung sofort. Mit einem aufgeregten „Ich schicke jemanden“, wurde das Gespräch ohne Verabschiedung beendet, was sich dem Kobold nur durch das Erlöschen des kleinen LED-Leuchtpunktes auf der Tastatur bemerkbar machte.
Nur wenige Augenblicke später hastete ein groß gewachsener, gutaussehender Mann mit an den Seiten graumeliertem Haar in den mit einer meterhohen Fensterfront ausgestatteten Büroraum. Er eilte an den unzähligen identen Arbeitsplätzen, an denen Tisch für Tisch kleine grünliche Gestalten mit ihren langen dünnen Fingern unbeirrt in rasanter Geschwindigkeit in die Tasten schlugen, vorbei. Allesamt trugen sie schmucklose graue Anzüge mit winzigen schwarzen Krawatten. Keiner von ihnen wagte es den Blick vom Bildschirm abzuwenden, doch die langen spitzen Ohren drehten sich neugierig in Richtung des impulsiv durch den Raum schreitenden Mannes. Dieser trug einen klassischen fast bodenlangen schwarzen Mantel, darunter einen schicken graumelierten Mohair-Anzug, ein weißes Hemd aus Baumwolltwill und eine schmale schwarze Krawatte. Sämtliche Kleidungsstücke saßen bei jeder Bewegung so faltenfrei, dass sie ihm nur auf den Leib geschneidert sein konnten. Hinter ihm eilte eine zierliche junge Frau in einer enganliegenden weißen Rüschenbluse und einem geradegeschnittenen knielangen beigen Rock nach, die trotz der hohen farblich zum Rock passenden Pumps nur 160 cm groß sein konnte. Während sie dem stattlichen Herrn wie ein Schatten durch den Raum folgte, schob sie immer wieder ihre große schwarze Hornbrille nach oben, die ihr bei jedem zweiten Schritt wieder auf die Nase rutschte. Eng vor der Brust hielt sie eine dick gefüllte dunkelblaue Mappe fest umschlungen, als befände sich darin ein Schatz verborgen.
„Und hier, Miss Butterpopp, sehen Sie das Herzstück unserer Agentur“, sprach der attraktive Mann, ohne seinen nach vorne gerichteten Blick auch nur eine Sekunde zu seiner Gesprächspartnerin abzuwenden.
„Keine wesentliche Tätigkeit entgeht unseren Satelliten. Wir werden sofort darüber informiert, wenn gegen das oberste Prinzip der Wesentlichenverfassung verstoßen wird, dass da lautet?“, der Anzugträger stoppte mitten im Satz, blieb abrupt stehen, drehte sich um die eigene Achse und starrte der Blondine mit dem adretten Pferdschwanz und den schmal gezupften Augenbrauen erwartungsvoll in die großen bernsteinfarbenen Augen.
„Die Wesentlichen haben ihre Erscheinung und Tätigkeit vor den Unwesentlichen stets verborgen zu halten“, antworte Miss Butterpopp wie aus der Pistole geschossen.
„Sehr gut, wie ich sehe haben Sie sich gut vorbereitet“, der großgewachsene Mann lächelte eine Sekunde so breit, dass seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen.
Schon schien es um Miss Butterpopp geschehen zu sein. Die perlweißen Wangen färbten sich in ein gesundes Pink, als die junge Frau merkte, dass ihre Unterschenkel sich wie Pudding anfühlten und sie sich mit einem Mal der Ohnmacht nahe fühlte. Doch noch bevor sie ihre Schnappatmung wieder regulieren und eine Antwort, die gleichermaßen verführerisch wie distanziert sein sollte, formulieren konnte, drehte sich das Objekt ihrer Begierde wieder um und wanderte schnellen Schrittes weiter zu jenem Computermonitor, auf welchem das rote Licht noch immer unaufhaltsam aufblinkte. Daneben tänzelte der grünliche Kobold, der es nur schwer ertragen konnte aus seiner üblichen Routine entrissen zu werden, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
„Mr. Williams, Sir, ich habe hier eine Meldung aus Bredhurst. Die Anwendung von Magie vor einer Vielzahl von Unwesentlichen wurde registriert. Doch die besagte Person ist nicht in unserer Wesentlichendatenbank erfasst“, strömte es aus der grünlichen Gestalt, die es sichtlich nicht gewohnt war wortvolle Gespräche zu führen, so schnell heraus, dass sie sich fast verschluckte.
Sie sprang schwungvoll auf den Schreibtischsessel und zoomte die Landkarte in jenem Bereich, in dem der rote Punkt taktvoll vor sich hin blinkte, immer näher heran, bis auf dem Bildschirm schließlich das karge Innere des Pausenraumes der Bredhurst Primary School zu erkennen war.
Der ansehnliche Mann, bei dem es sich um keinen Geringeren als Mr. Sean Claude Williams handelte, der als Vorstandsmitglied der FAB Agency, die unter Aufsicht und Leitung des Wesentlichenrats arbeitete, musste sich tief hinunter beugen, um einen Blick auf den Bildschirm erhaschen zu können.
„Alle Wesentlichen weltweit sind in unserer Datenbank erfasst, es kann sich also nur um einen Fehler handeln“, sprach er ungläubig.
„Ich stimme Ihnen zu, Sir, es sei denn bei der besagten Person handelt es sich um eine Unwesentliche“, der ausschließlich rational denkende Kobold konnte den sinnentleerten Inhalt seiner Worte selbst nicht glauben.
Schließlich waren Unwesentliche nicht in der Lage Magie anzuwenden. Sie waren schlichtweg banal und gewöhnlich.
„Ausgeschlossen!“, Mr. Williams warf dem grünen Wunderling mit den nachtschwarzen Augen einen strafenden Blick für dessen Worte, die er für einen unangebrachten Scherz hielt, zu.