Aus dem alten Wien - Adalbert Stifter - E-Book

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Adalbert Stifter

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Beschreibung

Adalbert Stifter zeichnet in dreizehn Kurzgeschichten ein buntes Kaleidoskop der Stadt Wien, das für Wiener wie Besucher der Stadt gleichermaßen faszinierend ist. In seinem typischen klaren und scharf beobachtenden Stil berichtet der Autor in kurzweiligen Anekdoten und Beobachtungen über die Kaiserstadt - und der Leser ist verblüfft über Veränderungen wie Ähnlichkeiten zum heutigen Wien. Dabei greift Stifter auch Themen wie Umweltschutz oder den Wert des Konsumverzichts auf, die aktueller nicht sein könnten. Mit Fußnoten werden die historischen Orte und Begebenheiten eingeordnet und so der Bezug zum heutigen Wien hergestellt. Auch einzelne, heute unübliche Ausdrücke werden erklärt.

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Kapitelübersicht

 

Aus dem alten Wien

Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des Sankt Stephansturmes

Ein Gang durch die Katakomben

Der Prater

Die Streichmacher

Leben und Haushalt dreier Wiener Studenten

Die Wiener Stadtpost

Der Tandelmarkt

Die Karwoche in Wien

Warenauslagen und Ankündigungen

Wiener Wetter

Ausflüge und Landpartien

Wiener Salonszenen

 

 

 

Aus dem alten Wien

Wie in längst vergang’nen Tagen

Sich die Sachen zugetragen.

 

Was ich hier von Wien sage, stammt aus Wien vor der sogenannten Neugestaltung1, also, wie sie jetzt sagen, aus dem alten Wien. Nicht jedermann wird das alte Wien verachten, und wir, die wir älter werden, verachten es am wenigsten. Ich hatte einmal eine Freundin, sie war sehr schön, ich hätte mich beinahe in sie verliebt — oder vielmehr, ich war in sie verliebt; verbiß aber die Sache und ließ mir nichts merken. Sie war ein wildes, hochfahrendes, aber auch wieder ein herrliches Ding. Die Farbe ihres Angesichts war fast brauner, als es sich für ein Mädchen ziemt. Oft meinte ich, ich müßte ihre kräftigen, roten Lippen so sehr küssen, daß sie bluteten. Sie neckte mich mit Übermut, liebte mich aber doch nach ihrer Art. Nach einer Trennung von vielen Jahren, in denen wir jedes an einem andern Orte lebten, sah ich sie als eine sanfte, edle Mutter, als eine liebreiche Gattin und als eine vortreffliche Hausfrau wieder, und als müßte sich alles an ihr geklärt und gemildert haben, so war auch ihre Hautfarbe viel weißer geworden, sodaß sie jetzt als alternde Frau fast schöner war, als einstens als blühendes Mädchen. Ich saß mit Verehrung gegen sie an ihrem Tische, hatte aber doch eine gewisse Wehmut in dem Herzen, und konnte dieser Wehmut nicht Meister werden. Erst in meinem Gasthofe erkannte ich, daß ich ihre Fehler vermißte. Ich war ein Narr; aber die Sache war nicht anders. Ich hatte auch einmal einen Vetter, er war ein leidlich guter Mensch, und ich war ihm herzlich zugetan. Als ich ihn nach langer Abwesenheit mit einigen Widerwärtigkeiten ausgerüstet wiederfand, konnte ich ihn nicht mehr leiden. Es wird mir bei Wien mit seinen guten und bösen Veränderungen ein wenig so gehen, wie bei meiner Freundin und bei meinem Vetter. Die im alten Wien fröhlich waren, werden die harmlosen Dinge, welche in diesen Blättern folgen, ansehen, wie die ausgebleichte Schleife einer Geliebten, die jetzt alt geworden ist und von der sie nicht einmal wissen, wo sie sich befindet.

 

Adalbert Stifter

 

Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des Sankt Stephansturmes

So entrollen wir denn vorerst vor dem geneigten Leser dieser Blätter die ungeheure Tafel, auf der dies Häusermeer hinauswogt, ein Leben in sich tragend, so bunt und heiter, daß man wähnt, es diene nur dem Augenblicke und der Stunde, und die Göttin, die hier herrschet, sei die Freude — und sie ist es auch — denn der Mensch, die Tausenden, die hier strömen, arbeiten, sorgen, sich vergnügen und in Hast und bewundernswertem Geschicke die Frucht jeder Minute zu brechen wissen — sie ahnen es nicht, daß sie Lettern2 sind, heitere, schöne Lettern, womit die Muse das furchtbare Drama der Weltgeschichte schreibt; sie fühlen es nicht, daß hier der Herzschlag einer großen Monarchie ist, die im Rate der Völker sitzt und das Geschick des Erdballes bestimmen hilft, und daß von diesem Herzschlage die Frische und Gesundheit der andern Glieder abhängt — sie wissen es nicht und können es nicht wissen; aus Gemüt und Streben jedes einzelnen baut sich jener Geist der Zeit zusammen, der die Tat gebiert, die Tat und das Antlitz des Jahrhunderts, oft des Jahrtausends — keiner tat die Tat und formte das Antlitz, aber alle taten’s, wenn sie auch dann vielleicht dastehn und staunen — das Blut, der einfach rote Balsam, strömt fröhlich durch alle Adern des ganzen Körpers und ahnt nicht, daß es selbst dies Wunderwerk von Körper aufgebauet hat: das Volk, das hier jubelnd strömet, jeder seinem Zwecke, meist dem der Freude dienend, dieses Volk bauet rastlos emsig in Kindern und Kindes-Kindes-Kindern an einem Baue, den es nicht kennt, nach einem Plane, den es nicht weiß — sie bauen unermüdlich fort, und stürzt einer, so steht schon wieder ein andrer mit Hammer und Kelle an seinem Platze und sputet sich — und wenn der Bau fertig ist, so erstaunen die einigen, die eben zugegen sind! Dann geht einer hin und erzählt in vielen Blättern, wie das alles gekommen ist, aber auch er weiß es nicht. — Weise Lenker waren bei dem Baue, aber auch sie konnten nur Teile sehen und bestimmen. — Wer das Ganze anbefahl und überwachte, den hat noch nie ein Auge gesehen!

Nun, lieber Leser, schaue dir noch einmal im Geiste dieses bewegte Leben an, und es wird dir bedeutungsvoller scheinen als vordem, und dann, wenn du dein Herz vorbereitet hast zu Erhabenheit und Scherz, zur Freude wie zur Betrübnis — dann folge mir, daß wir unsere Augen schweben lassen über dieser Riesenscheibe, die da wogt und wallt und kocht und sprüht und sich ewig rührt in allen ihren Teilen.

Wenn man Süd und Südwest ausnimmt, so mag der Wanderer kommen von welcher Weltgegend immer, und er wird, bevor er noch ein Atom von der großen Stadt erblicken kann, schon jene schlanke, zarte, luftige Pappel erblicken, die still und ruhig in einem leichten blauen Dufte steht und die Stelle anzeigt, an der sich die noch nicht gesehene riesige Stadt hindehnet, dann, wenn er weiter geht, reitet oder fährt, münden sich allerwärts Straßen, wie Adern, zusammen, der Gefährten werden immer mehr, die schneller oder langsamer teilnahmslos an ihm vorüberjagen, wie Treibholz, demselben Strudel zu, bis sich endlich rechts und links, nah und ferne die Massen der Stadt heben, hier sanft rauchend und hinausdämmernd, dort nahe schreitend mit Dächern, Giebeln, Türmen, funkelnden Punkten — bis er endlich bei einer unscheinbaren Barriere hineintritt, und nun schlagen die Wogen über ihm zusammen. Eine endlose Gasse nimmt ihn auf; ein Strom, der schmutzige und glänzende Dinge treibt, wird immer dichter und immer lärmender, je näher er jener Pappel kommt, die er aber jetzt nirgends sieht — ja dort tritt sie vor, ein dunkler, schlanker, riesiger Stift in der glänzenden Luft — nein, sie ist es nicht; denn weiter rechts steht mit einem Male eine noch größere, ruhigere, graublau dämmernd, den Adler auf der Spitze tragend — diese ist’s — man sieht fast das zarte Laubwerk an ihrem Schafte emporstreben. — Jetzt tritt wieder eine Häuserpartie dazwischen — die Gasse will kein Ende nehmen; allerorts Drängen und Brausen und Vergnügen und Freude, nur dem Fremdling will es einsam werden in dieser tosenden Wüstenei. Fast betäubt geht er weiter; mit einem Male ist die Gasse zu Ende und auch die Stadt. Ein weiter grüner Platz voll Laubgrün und geputzter Menschen steht vor ihm, aber jenseits wieder eine Stadt, die ewig unerreichbare Pappel wieder in ihrer Mitte tragend. — Unverdrossen durchschreitet er den seltsamen Garten; ein finsteres Tor schlingt ihn ein; eine Versammlung glänzender Paläste tritt um ihn herum und nimmt ihn in die Mitte, ihn hier und dort hindurchgeleitend, immer zu neuen, fast noch glänzenderen weisend. — Dem armen Landbewohner ist’s, als seien hier ja gar keine Häuser, lauter Paläste und Kirchen — seine Pappel ist verschwunden — hier oder dort taucht wohl ihre Spitze ein wenig vor, dann wieder lange nicht, dann wieder auf einmal an einem ganz anderen Orte. — Er geht darauf zu, weicht ein wenig an dieser Ecke ab, dann an jener, es kommt Gasse an Gasse, aber er erreicht sie nicht — ja, dort sieht die Spitze wieder hervor, gerade hinter ihm. Sind ihrer denn unzählige? — — »Nein, mein Guter, aber du gehst in der Irre — siehe hier, wo die endlos große Tafel auf dem Hause ist, ist eine Herberge: da ruhe aus, erquicke dich, siehe von deinem Fenster aus dem Schwalle zu, der ewig unerschöpflich um jene Ecke flutet, und gewöhne dich an ihn — dann morgen früh mit Tagesanbruch geh mit mir, ich führe dich bis zur Spitze deiner geliebten Pappel empor und zeige dir von dort herab die Zauberei dieser Welt.«

 

* * *

 

So. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Es werden wenige sein von allen denen, die jetzt noch unter uns schlummern, welche schon den Anblick genossen haben, der unser harret; denn sie können das Bett nicht verlassen oder haben niemand, der ihnen dazu verhelfen könnte, schon so früh heroben auf dieser Spitze sein zu können. Dort gegen Norden hinaus, wo die leichten weißen Nebel ruhen und ziehen, ist die Donau, und die dunklen Streifen, die sich im Nebel zu wälzen und mit ihm zu ziehen scheinen, sind schöne Auen, durch die der edle Strom wallet3. — Weiter hinaus, das luftige, im Morgengrau schimmernde Fahlrot, ist das Marchfeld, und jener blaue Hauch durch den Himmel, der sich eben mit der ersten Milch des Morgens lichtet, sind die Karpaten und die Berge gegen Ungarn. Sie schweifen wie ein aus Luft gewobenes Band um den ganzen Osten, der bereits überraschend schnell in ein immer feineres Licht aufblühet, und schwimmen dort wie in unermeßlicher Ferne in die Luft hinaus. Aber was ist jener Berg gleich rechts daran mit der zum Erschrecken nahen, weißglänzenden Zeichnung? Er steht eine Tagereise weit von hier gegen Südwesten und ist der Schneeberg, das letzte jener Häupter, die, mit manchem silberweißen Helm und Panzer bedeckt, in jenem Zuge stehen, der vom Lande Schweiz an durch Tirol hinausreicht und dann, zwischen unserm Lande und der Steiermark laufend, hier mit einem Male ein Ende nimmt. Rechts von ihm siehst du die blaue Mauer weiter westwärts springen, bis sie dir jene dunklen Rücken decken, die uns breit und schwer den auch noch dunklen Westhimmel umlagern. Wie sie auch jetzt mit dem wilden Schwarz um den sich hellenden Himmel liegen, so wirst du doch sehen, wenn über ihnen die Sonne steht, wie sie anmutige Höhen sind, üppige Laubschöße, in denen die weißen Landhäuser herumgestreut sind, und die Dörfer und die Schlösser, in deren Schatten die tausend verschlungenen Wege laufen, sodaß diese Höhen wie ein riesenhafter heitergrüner Park um die große staubende Stadt herumlaufen, ihren Westen wie ein sanfter Bogen gürtend. Mitten nun auf dieser dunklen Länderscheibe, die du eben mit deinem Auge aus dem Himmel herausgeschnitten, gerade unten zu deinen Füßen liegt die schwarze Stadt, unberührt von der Morgenröte, die bereits über ihr heraufflammt, dieses Bild des gestrigen Treibens, nun unbeweglich ruhig, wie in Todesschlummer gestürzt, gespenstig starr heraufglotzend, als wäre sie tot, von keinem einzigen Laute erschüttert, als hier und da von dem grellen Schlag einer geblendeten Nachtigall, die, den stillen Nacht- und Morgenhauch in ihren Gliedern fühlend, mitten im Steinmeere von grünen Zweigen träumt und einen Lieb- und Angstruf tut — — doch horch, das erste Lebenszeichen des schlafenden Ungeheuers gibt sich eben kund. Hörst du das ferne Rasseln durch eine Gasse, als ob Kriegsgeschütze im Galopp führen? Es sind die ersten Fähren, die beginnen, dem ungeheuren Magen seine heutige Nahrung zuzuführen, Fleischerwagen sind es, die durch die Schläfer rasseln und donnern und in ihre Träume reichen, ohne sie wecken zu können; denn sie haben es schon tausendmal gehört. Jetzt ist es wieder stille — feurige Landzungen ragen durch den Himmel und legen ein sanftes Purpurrot auf die grauen Steine um uns, die Rippen dieses Turmes, auf dem wir stehen. — Siehst du, ein graues Schimmern läuft schon hie und da durch Teile der Stadt, die dir immer größer wird und ihre Glieder, gleichsam wie im Morgenschlummer dehnend, über Hügel und Täler hinausstreckt — und in dem Schimmer blitzen rote Funken auf wie vortauchende Karfunkel4, es sind Fenster, an denen sich die Morgenröte fängt. —Jetzt rasselt es wieder, und an mehreren Stellen; jetzt fängt sich’s auch hier und dort in andern verworrenen Tönen zu regen an, und dort und da erbraust es sanft wie Atemzüge eines Erwachenden — die Nebel sind von der Donau verschwunden und sie wird sichtbar wie ein stiller, goldner Bach. Einzelne Rauchsäulen heben sich bereits aus der Stadt — das Brausen schwillt — — hui! ein Blitz fliegt an unsern Turm: die Sonne ist herauf!! Die unten aber haben sie noch nicht — jetzt — ganz draußen brennt plötzlich ein Teil der Stadt an; wie es blitzt und von Zeile zu Zeile lodert! Jetzt brennt’s auch dort, jetzt dort, jetzt in der ganzen Stadt, ihr Rauch vermehret sich und wallt wie ein goldner trüber Brodem5 in die Morgenglut hinein. Ganze Gassen schimmern im Morgenglanze, ganze Fensterreihen belegen sich mit Gold — Turmkreuze und Kuppeln funkeln — von einzelnen Türmen fallen die sanften Klänge der Glocken zum Morgen-Ave6. In den Gassen regt sich’s; schwarze Punkte werden sichtbar und bewegen sich und schießen durcheinander, sie werden immer mehr, einzelne frische Schalle schlagen herauf, das Rollen, Rasseln und Prasseln wird immer dichter, das verworrene Tönen ergreift alle Stadtteile, als ob sich Gassen und Häuser durcheinanderrührten, bis ein einziges dichtes, dumpfes, fortgehendes Brausen unausgesetzt durch die ganze Stadt geht. Sie ist erwacht. Indes schwingt sich die Sonne siegend und lächelnd wie ein silbern reines Schild immer höher über das wirre Babel7 empor.

Und nun, da der Tag alles ins Klare gebracht hat, lasse unsere Blicke durch dies schöne Schauspiel wandern, ehe der Wind sich hebt und der Staub seinen schmutzigen Schleier über ganze Teile der Stadt und jenen schönen Schmelz der Fernsicht legt.

Der Teil gerade zu unsern Füßen ist die eigentliche Stadt. Wir sehen sie wie eine Scheibe um unsern Turm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Türmen, ein Durcheinanderliegen von Prismen, Würfeln, Pyramiden, Parallelepipeden8, Kuppeln, als sei das alles in toller Kristallisation aneinandergeschossen und starre nun da so fort. — In der Tat, von dieser Höhe der Vogelperspektive angesehen, hat selbst für den Eingeborenen seine Stadt etwas Fremdes und Abenteuerliches, sodaß er sich für den Augenblick nicht zu finden weiß. Wie eine ungeheure Wabe von Bienen liegt sie unten, durchbrochen und gegittert allenthalben, und doch allenthalben zusammenhängend, nur die Gassen nach allen Richtungen sind wie hineingerissene Furchen und die Plätze wie ein Zurückweichen des Gedränges, wo man wieder Luft gewinnt. Senkrecht im Abgrund unter uns liegt der Platz St. Stephans, die Menschen laufen auf dem lichtgrauen Pflaster wie dunkle Ameisen herum, und jene Kutsche gleitet wie eine schwarze Nußschale vorüber, von zwei netten Käferchen gezogen, und immer mehr und mehr werden der Ameisen und immer mehr der gleitenden Nußschalen. Dort, nur durch eine dünne Häuserschicht von uns getrennt, steht die schöne schwarze Kuppel St. Peters, von dieser Höhe erst sichtbar, wie weit sie die Häusermasse überragt — hinter ihr der freundliche Turm der Schottenabtei, links das schlanke Stift St. Michaels, dann die Augustiner, die Kapuziner und zwischen ihnen allen — selber eine kleine Stadt — die ehrwürdigen Gebäude der kaiserlichen Hofburg. Dann schwingt sich von Süd gegen Ost herum die Häusermasse des Kärntnerviertels, durchschnitten von dem sanften Bogen der Kärntnerstraße, der menschenwimmelnden — dort ragen die Franziskanertürme, weiter links die der Universität9 empor, und dort gegen Nordwest — du kleines bescheidenes Türmchen! St. Ruprecht, ältestes der Stadt — und wieder links davon die zart durchbrochene Spitze von Maria am Gestade — und noch andere und andere Türme, Giebel, Erker und Balkone. — — Aber sieh, auch das Volk dieser Stadt ist erwacht und fängt sein Tagewerk zu betreiben an. Man könnte dessen Charakter weissagen aus der Stunde des Erscheinens auf dem Schauplatze der Beschäftigung — doch eh wir dies tun, wirf noch einen Blick weiter hinaus über die Grenzen der eigentlichen Stadt — siehe, dort ist ein seltsamer Garten, in den du gestern gelangtest, als plötzlich die lange Vorstadtgasse abbrach. Wie ein breiter, grüner Gürtel läuft er um die Stadt herum, einst Glacis10 der Festung, nun in der Tat ein anmutiger Garten, mit grünen Rasenplätzen bedeckt, nach allen Richtungen von Alleen durchschnitten, ein wohltätig Luftreservoir, dahin sich in der Abendkühle gerne und zahlreich die Bevölkerung ergießt, um sich zu ergehen und freier aufzuatmen.

Und jenseits dieses Gartens, in ungeheurem Kreise herumgeschlungen, breit hinausgelagert, liegt erst jene Masse, die dieser Hauptstadt eigentlich ihre Größe gibt, die Masse der Vorstädte, ich glaube, man zählt deren bereits fünfunddreißig — mit größtenteils sehr schönen Fronten stellen sie sich im Kreise gegen das Glacis auf, gleichsam in ihrem Hereinschieben gegen die Stadt hier an einer unsichtbaren Grenze anhaltend und sich anstaunend; denn weiter dürfen sie gegen den luftigen, gesundheitbringenden Garten des Glacis nicht vordringen: aber dafür machen sie sich draußen breit und fressen immer weiter und weiter den Raum hinweg; denn siehst du, obwohl sie dort gegen Südwest über einen Hügel steigen, dann sanft ins Tal sinken, dort breit auseinanderfließen bis ans Gestade des Donauarmes, ja denselben überschreiten, das jenseitige Inselgestade dicht überfüllend, dann wieder steigen und wieder sinken ans Ufer des Flusses Wien und dann jenen ersten Hügel anklimmen — obwohl sie an manchen Stellen fast unübersehlich breit hinausgehen, bis sie sich allmählich mit mehr und mehr Gärten mischen, die weißen Punkte der Häuser einzelner auseinanderstreuend, und endlich an das grüne Gefilde stoßen, das wohl die Grenze der Stadt, nicht aber der Häuser ist; denn weit und breit in dasselbe herumgestreut liegen die Landhäuser, winzige weiße Punkte, herüberleuchtend wie ferne Segel in einem duftigen, grünblau dämmernden Meere — obwohl schon unzählige der einstigen Dörfer um Wien von den Vorstädten verschlungen sind und jetzt als Städte noch meistens ihren einstigen Dorfnamen führen: so ist des Wachsens und des Bauens noch immer kein Ende; denn siehe dort hinaus gen Süden, wo der schöne sanft dunkelgrüne Rücken des Wienerberges hinüberziehet, da siehst du auf seiner Höhe eine kleine Säule, die Spinnerin am Kreuz genannt. — Dort herein, gerade auf uns zu führt eine mächtige Straße, sie kommt von unserm Hafen Triest und knüpft uns an den ganzen Süden. — Nimm nun das Fernrohr hier und suche die Straße; dort, wo jene ferne, schwache Staubwolke aufgeht, muß sie sein — — nun was siehst du? Einen langen Zug, Wagen an Wagen, langsam fahrend, alle gegen die Stadt — an ihnen vorüberjagend hinein und hinaus die vielerlei leichten Wagen und Reiter und zwischen ihnen wandelnd die Fußgänger und Wanderer und Herden von kleinem Vieh und Wagen, die weder zu jenen ganz schweren noch zu diesen leichten gehören. Jene schweren Wagen, die du siehest, bringen vielnamige Waren in die Stadt, aber ein großer Teil derselben, die du mit einem dunkelroten Stoffe beladen siehst, kommt von jener Gegend, aus der du hinter dem Berge einzelne Rauchsäulen aufsteigen siehest, und bringt unablässig und unermüdlich jenes Materiale, woraus sich dieses riesige Häusergewimmel nach und nach erbaut hat: die Ziegel — und im Wienerberge liegen noch und harren unermeßbare Schichten von Ton, daß man noch ein Wien und noch eins und weiß Gott wie viele aneinander fortbauen könnte, bis der Berg erschöpft und eben, aber auch von der Stadt verschlungen wäre! Und sieht man so zu, wie sie sich sputen und treiben und wirken, so sollte man meinen, sie hätten auch nichts anders im Sinne.

Und da du das Rohr einmal in Händen hast, so gehe nun damit etwas links — siehst du am Rande der Stadt jenes palastähnliche Gebäude? Es ist ein Wagenraum, aber für große, mächtige Wagen, deren gleich immer eine ganze Reihe aneinandergehängt daraus hervorfährt, von furchtbaren, unbändigen Rossen gezogen; ihr Schnauben ist erschütternd und der Dampf ihrer Nüstern geht als hohe, dunkle Säule durch den Himmel; sie zermalmen jeden Widerstand, und ihrem Laufe vergleicht sich nur der Flug des Vogels, und dennoch nur ein Mensch, ein kleiner Mensch, du würdest ihn mit deinem Rohre kaum sehen, mit einem sanften Druck seiner Hand bändigt er die Rosse, daß sie dastehen, still und fromm wie zitternde Lämmer. Ei — dort fährt er ja — siehe, die dunkle Linie schiebt sich durch die Saaten hin — sieh zu, eh sie dir enteilt. Schon steht die erste Rauchwolke weit hinter ihr am Himmel, aber auch ihre zweite und ihre dritte — jetzt deckt sie jener Abhang, jetzt ist sie wieder sichtbar, deutlich hinausschwebend — jetzt ist sie verschwunden, und nur der Rauch zerstreut sich langsam am Himmel.

Wie das majestätisch ist! Und der Mensch, das körperlich ohnmächtige Ding, hat das alles zusammengebracht; die furchtbar gewaltige Naturkraft, blind und entsetzlich, hat er wie ein Spielwerk vor seinen Wagenpalast gespannt und lenkt sie mit dem Drucke seines Fingers — und so wird er auch noch andere, noch innigere, noch grauenhaftere seinem Dienste unterwerfen und allmächtig werden in seinem Hause, der Erde. Die Welt wird immer schöner und großartiger — fast ist es betrübend, sterben zu müssen!

Hast du hier den Menschen in seiner Stärke gesehen — gehe nun mit dem Rohre einen Finger breit links und du siehest ihn in seiner Schönheit. Ein alter, vornehm belasteter Palast steht am oberen Ende eines Gartens: es ist das Schloß zu Belvedere. — Ein kleiner schwacher Mann ruhte einst dort aus von seinen Taten, die die Frucht eines eisernen Willens waren, der in dem kleinen schwachen Manne wohnte, und die in ihrer Gewalt durch Europa klangen und wie einen Halm die Säulen brachen, auf denen der gefürchtete fanatische Halbmond stand. — Jetzt ist es still in den Hallen des Schlosses; denn der kleine schwache Mann ist längst begraben, und obwohl an Hunderte von Helden in dem Schlosse sind, obwohl ein Kranz der schönsten Frauen dort weilet und Rinder und Rosse, Hirsche und Reiter und Wälder und Felsen, Gärten und Blumen und aller Tiere eine unzählige Menge: so ist es doch dort totenstille; denn als Bilder, als schöne, ehrwürdige Blüten der Menschenseele hängen sie dort, dicht Wand an Wand bedeckend, als Denkmal der Größe, der Tiefe, der Liebe, der Innigkeit des menschlichen Herzens. Es ist eine würdige Nachkommenschaft des Helden, der einst hier gewandelt.11

Weiter vorn ist der Sommerpalast des Fürsten von Schwarzenberg und rechts davon die gewaltige Kuppel der Kirche des heiligen Karolus mit ihren zwei schlanken, fast orientalischen Säulen, gleich daneben das symmetrische Gebäude mit dem schönen Blechdache ist die polytechnische Schule und von da weiter links, an schönen, fast palastähnlichen Privatgebäuden vorüber, trifft dein Auge auf ein Haus von großem Ansehen und Umfange — es ist ein seltsam Haus; man macht darinnen ein Ding, das an sich von geringem, man möchte sagen, von gar keinem Gebrauche ist — aber durch Übereinkunft schlummert in dem Dinge der Inbegriff aller andern, und es wird täglich erstrebt, heiß erstrebt von Millionen Händen und täglich weggeworfen von Millionen Händen: das Geld, ein Ding, erst harmlos erdacht zur Bequemlichkeit der Menschen, ein hohler, unbedeutender Vertreter der wahren Güter, um sie, die großen, plumpen, unbequemen, nicht allerorts mitführen zu dürfen — dann sachte wachsend in mählicher Bedeutung, unsäglichen Nutzen gewährend, Dinge und Völker mischend in steigendem Verkehr, der feinste Nervengeist der Volksverbindungen — endlich ein Dämon, seine Farbe wechselnd, statt Bild der Dinge selbst Ding werdend, ja einzig Ding, das all die andern verschlang — ein blendend Gespenst, dem wir, als wäre es Glück, nachjagen, — ein rätselhafter Abgrund, aus dem alle Genüsse der Welt empor tauchen und in den wir dafür das höchste Gut dieser Erde hineingeworfen haben, die Bruderliebe; denn sein leichter Verkehr (ein Herzogtum kann man in einer Tasche tragen) reizt zur Anhäufung, sein Allwert lockt zum Erwerb, dieser, der saure, zum Genuß als Lohn; und dieser als Afterglück reizt zur Steigerung, weil keiner dem lechzenden Herzen hält, was er versprach, und so geht es fort; wieder Erwerb, wieder Genuß, immer steigend, immerzu — größerer Gewinn, größerer Genuß, und der da stürzt in der hastigen Jagd, hat dann Neid und Groll gegen die andern, weil er wähnt, er sei arm. — Und so in toller Verkehrtheit des Begriffes »Glück« jagen Völker, jagt fast die Menschheit in zitternder Hast nach der Wechselmarter: Erwerben und Verzehren, indes ihm sein einzig Glück aus den Händen fällt; hold und selig zu spielen im Sonnenschein der Güte Gottes wie der Vogel in den Lüften: selig und arm — — nein, nicht arm; denn zum Bedürfnis ist eine Überfülle da, und reich und glücklich macht die Liebe und die Fröhlichkeit der tausend um uns herum Mitspielenden. — — Aber es muß wohl so sein, so gewiß, als es einst anders werden wird; in dem riesenhaft angelegten Erziehungsplane des unbegreiflich rätselhaften Geschlechtes, Mensch genannt, wird es wohl liegen, daß er auch diese Erfahrung mache, und von ihr zu andern und wieder andern sich rette, bis die kurzen Jahrtausende seiner Kindheit vorübergegangen sind und der Jüngling sich sacht des sanften Gutes in sich bewußt wird, das ihn zu stillerer Menschheit weiterführen wird, seiner moralischen Freiheit. — Und somit rolle das Geld seinem Zwecke und seiner Bestimmung entgegen.

Gleich links von dem Münzhause12, bloß durch jenen blauen Wasserfaden getrennt (es ist der Neustädter Kanal13), liegt ein anderes Gebäude, wo man auch ein Ding aus Metall macht, das beinahe so nützlich ist wie das Geld und fast nicht so schädlich, nämlich die Kanonen, die Zähne, die wir dem Fremden weisen, wenn ihn nach unserem Gute gelüstet14 — sie sind nur ein zeitweiliges Gut und taugen nur so lange, bis einmal die gesamte Menschheit vernünftig wird. Dann hat bloß hie und da das Söhnlein eines Vornehmen ein solch Ding zum Vergnügen, das man ihn losschießen lehret des wundersam starken Schalles wegen. Bis aber jene Zeit kommt, sind noch immer solche Häuser nötig, wo man sie macht, und auch solche, wie du wieder weiter links eins siehest, ein großes, schönes Haus wie der Palast eines großen Fürsten. Es steht dort gerade an jener Straße, wo du so sehr aus- und einfahren siehest, und ist geschnitten von mächtig großen Pappeln, die in einer Allee dahin führen. — Wenn du das Rohr auf sein Mittelschild richtest, so kannst du die Aufschrift lesen: »Patria laeso militi«, zu deutsch: »Das Vaterland dem beschädigten Krieger«. Es ist das Invalidenhaus15, und zwar, wie gesagt, nur so lange tauglich, als man auch das Kanonenhaus braucht, aber es lebt noch keiner, der es wüßte, wann jene Zeit kommen wird, da beide nicht mehr nötig sind. Die Straße, die an dem Gebäude vorüberführt und deren Lauf du auch außer der Stadt dort in dem gelben Felde an dem leichten Staubstreifen, der sich hinauszieht, verfolgen kannst, ist die nach Ungarn und in den Orient, Tag und Nacht befahren von den kleinen Rossen des Ungarlandes, deren oft fast eine Herde vor einem Wagen läuft, gelenkt und ermuntert von jenem malerischen Menschenschlage mit den weiten weißen Beinkleidern und dem breiten Hute, der ein verbranntes, höchst ausdrucksvolles Gesicht beschattet. Es sind noch unverkennbar die Nachkommen der Söhne der Steppe. Aber auch noch eine andere Straße haben wir nach dem Orient, eine noch ergiebigere, ob es gleich auf ihr nicht so wimmelt wie auf dieser, und gar kein einzig Stäubchen ist. — Wie einen breiten schimmernden Silberbach siehest du sie dort hinausgehen durch jenen dunkelgrünen Laubwald. Es ist unser schöner Strom, die Donau, und der Laubwald ist der Prater, der Garten von Wien. Große schimmernde Häuser gehen auf dieser Straße abwärts, Menschen und Waren aller Art nach Osten führend, darunter auch jene zierlichen, schlanken Fähren, die Geburt unserer Zeit, die Dampfschiffe, abwärts fliegend wie die Wasserschwalbe, aufwärts ruhig wandelnd wie ein Schwan, mit der Gewalt seiner Ruder die Macht der Welle überwindend. Sieh, es wallet dort am Eingange des Waldes die mächtig große, weiß und rote Fahne, ein Zeichen, daß noch heute eines jener Feuerschiffe abgehen wird. — Ei, dort steht ja der schwarze Punkt am Ufer, siehst du, draußen auf dem breiteren Wasserbande rechts, wo jene Mühlen sind, das ist das Schiff. Wie viel Freude, wie viel Tränen wird der schwarze Punkt heute noch sehen.

Nun geh noch weiter links, stromaufwärts, da sind zwei dunkle Linien über dem Strom, fast parallel, sie sind die zwei Brücken, die nordwärts führen, die eine links, uralt, für Wagen und Wanderer nach dem Norden, die andere rechts, neu und bloß für die Wagenzüge der Eisenbahn. Am Eingange des Praters siehst du auch den Bahnhof. Besieh dir auch rechts ab von den Brücken jenseits des Stromes jene gelblich fahle Fläche, wogend von Getreide und schier unermeßlich hinausgehend bis zum Horizonte, der in matter Farbe an dem Himmel verschwimmt — mit dem Segen Gottes ist das Feld überdeckt, Nahrung und Heil für die Hauptstadt, aber auch einstens einmal Glück, einmal Unglück bringend; es ist das Feld von Aspern und von Wagram16. Man hat vor nicht langer Zeit dort einmal eiserne Körner gesäet, und wer weiß, ob nicht die Millionen goldner, die eben dort der Ernte entgegenreife, eine Frucht der eisernen sind; denn dort haben die Völker gelernt, daß einer besiegt werden konnte, der bis dahin unbesieglich schien. Da man jene Körner säete mit vielen tausend Arbeitern, da war diese Stelle, auf der wir stehen, gedrängt von Menschenangesichtern, und jede andere Stelle unter uns, wo nur der Turm immer eine Lücke gegen jene Seite zeigte, wenn nur so groß wie ein Menschenauge: da war auch ein solches Auge, und alle die Antlitze und alle die Augen waren gerichtet nach der einen Stelle, nach dem Saatfelde — und manches Auge dort wird ahnungsvoll hieher geblickt haben nach der luftigen befreundeten Pappel seiner Stadt, und in manchem brechenden wird diese Spitze noch wie ein Phantom gezittert haben. Der Tag ging vorüber, die Kämpfer gingen vorüber, und die Natur hüllte schamhaft einem Blumenteppich auf diese Stelle.

Wenn du nun noch weiter links gehst, so streift dein Blick über die Inselstadt, die unser Strom vor wenig Jahren so arg heimgesucht hat.17 Wieder auch dieser Turm war der Ort, von wo aus tausend Blicke auf jene Stätte schauten, wie Häuser und Eis ruhig zum Himmel emporstarrten, und wo sie angstvoll harrten, ob die aus Schollen gebaute Stadt über die andere emporwachsen werde, ob nicht — und draußen lag es gegossen weithin wie ein silberner Spiegel blitzend, die Dörfer und Häuser hineingelegt wie ein schwarzer Punkt; der graue Märzhimmel wie eine ruhige matte Kuppel sah unbeweglich nieder, und wo die Sonne das Grau durchdringen konnte, da legte sie flimmernde Mosaik und prachtvoll glitzernde Bilder auf den furchtbaren Spiegel. Die Wasser rannen wieder ab und manches Leben mit — aber die Inselstadt steht wieder heiter und glänzend da, und die Flut von Leben, die hier wogt, schloß sich über jene verlorene, wie die Luft an jener Stelle wieder zusammenfließt, wo man sie verwundet hat.

Willst du nun wieder zur Stelle gelangen, von der wir unsere Rundschau begonnen haben, so schreite von der Inselstadt links, dann über den kleinen gewundenen Strom (eine zu uns hereingesendete Ader der Donau) durch eine Masse von Vorstädten, die gerade dort, wo das Glacis wegen kriegerischer Übungen und Festlichkeiten ohne Baumpflanzung gelassen ist, eine lang gedehnte, schimmernd weiße Linie ziehen, darunter jenes neue Haus, das sich so mächtig und fast ägyptisch ernst und schwer dem Sandplatze entlang zieht — es ist das neue Kriminalgebäude18. — Wenn einst jene vernünftige Zeit erscheint, wo man keine Kanonen mehr nötig haben wird, da wird auch dieses Haus unbrauchbar werden und vielleicht erschallen dann Freudengesänge in den Zellen, wo jetzt die Reue und Verzweiflung brütet — oder vielleicht ist das feste Haus längst in Staub zerfallen, und etwas anderes steht wieder an seiner Stelle, ehe jene Zeit gekommen.

So wie dies Haus vor innerem Unheil wahret, so wahrt das andere rechts gegenüber vor äußerem. Es ist die erste große Alserkaserne19, ein regsamer Bienenstock von Krieger- und Waffengewimmel.

Nun gehe noch jenen Schutt von Häusern durch, der links sich über die Höhe lagert, ein Gewirr vielnamiger Vorstädte: Josephstadt, Altlerchenfeld, Neubau, St. Ulrich, Mariahilf, Leimgrube usw. . . . So, und nun siehst du wieder den sanft grünen Rücken mit der kleinen Säule, den Wienerberg, und unsere Rundschau ist vollendet.

Siehe, die Sonne ist unterdes heraufgestiegen und gießt ihren Schimmer weithin und blendend über all den Schmelz und die Abenteuerlichkeit und Mannigfaltigkeit der ungeheuren Stadt. — Den Schauplatz haben wir durchgangen . . . und nun, welch ein Volk wohnt und treibt in diesen tausend Mauern?!

Obwohl die Sonne dem Landmanne draußen und uns hier oben längst schon aufgegangen ist, obwohl wir schon mit dem Auge die ganze Stadt durchwandelt haben, so bricht doch für diese unten erst der Morgen an, und ihre Regsamkeit beginnt. — Es ist ein tausendgestaltig, ein seltsam Volk, durcheinandergewürfelt mit allen Vortrefflichkeiten und Tugenden und mit allen Leidenschaften und Lastern, und wenn du sagen gehört, wie Frohsinn und Herzensgüte, so wie Scherz und Schalkheit der eigentliche Grundzug dieses Volkes sei, und obwohl es wahr ist, was man dir sagte: so hoffe doch nicht, daß du dieses am ersten oder zweiten oder zehnten oder hundertsten Tag herauskostest. — Diese Stadt muß wie ein kostbares Nachessen langsam, Stückchen für Stückchen mit Prüfung ausgekostet werden, ja, du mußt selbst ein solches Stückchen geworden sein, ehe der ganze Reichtum ihres Inhaltes und die Reize ihrer Umgebungen dein Eigentum geworden sind. Nur der langsamen und anhaltenden Beobachtung gibt sie sich hin, aber dann tief und innig und nachhaltend. Darum geht mancher von hier fort und trägt nichts mit als ein Getümmel in seinem Kopfe. Erst lerne jede Öde überwinden, die dich fassen wird, wenn du täglich aus deiner Wohnung gehst und täglich andere Menschen auf der Gasse siehest; wenn du an Orten der Freude bist und alles um dich braust und jubelt, ohne sich um dich zu kümmern, daß es dir fast gespenstisch einsam wird — harre nur, gehe immer aus, sei immer hier, werde gemach einer aus ihnen, und siehe, in geheimer Neigung wirst du alle auf der Gasse erkennen, ja so erkennen, daß du den Fremden sogleich herausfindest. Sie werden überall mit dir reden, sie werden dich einladen, sie werden dir Freude zuteilen; denn du bist jetzt einer der Ihren, sie erkennen dich und geben sich dir — — und wie du auch jetzt befremdet auf diese Häuser hinabsiehst, wer weiß, ob nicht in einem derselben noch im süßesten Morgenschlummer die zwei Augen zugedeckt sind, in deren Himmel du rettungslos versinken wirst, daß du dann die Stadt ein Paradies heißest, die dich jetzt noch mit so widerstrebenden Elementen anfaßt; — und hüte dich nur, man trägt hier wunderschöne Augen, und von der Herzensliebenswürdigkeit der Wiener haben die Frauen einen mächtig großen Teil empfangen.

Nun geht das Treiben an, sieh, wie auf dem Platze unten der Menschen immer mehr werden; die Fiaker fahren an und stellen sich auf, die großen eisernen Riegel vor den Gewölben lüften sich und der Reichtum der Auslagen beginnt sich zu entfalten, ein blendend Verführungsmittel für das schöne und schönheitsliebende Geschlecht. Und wie sie alle laufen und durcheinanderwimmeln, als fürchteten sie sämtlich, zu spät zu kommen. Da fahren die Wagen und bringen in tausend kleineren Gefäßen das Weltmeer »Milch«, das heute verzehrt werden soll — Stand an Stand drängt sich auf dem Markte, mit Lebensmitteln belastet. Eine Million Tiere ist heute nachts gestorben, daß alle diese unten zu essen haben; ein Wald von Pflanzen wurde abgemähet und hereingebracht — da gehen die Mägde mit ihren reinlichen Einkaufskörbchen und tauchen hinein in das wogende Gesurre — — siehe, auch schon eine Karosse, die über den Platz rollt — und all die Geschäftsleute erscheinen und die Beamten, die in ihr Amt gehen — und es mehrt sich Rauch und Staub über der Stadt; der Wagen und Kutschen werden immer mehr, sodaß ein unausgesetztes Donnern gedämpft heraufschlägt zu unserer luftigen Einsamkeit — — siehe, wie lieblich! Der Morgenhimmel sammelt nach und nach seine Vormittagswolken und die Sonne legt deshalb auf die ausgebreitete Stadt hier Schattenbilder, dort Lichtblicke, daß sie unten liegt wie der Schmelz einer schönen Gold- und Silberstickerei und ihre Größe kannst du daraus abnehmen, wie dort draußen die Ringe der Vorstädte in einem schwachen blauen Dufte schwimmen, während die nahen Teile der Stadt mit der Klarheit eines Camera obscura-Bildes heraufsehen. Nun erblickt man auch schon die Wagen des Adels und reicher Privaten über das glatte Kirchenpflaster unseres Platzes rollen, am Trottoir20 des Hauses zieht sich ein ununterbrochener schwarzer Strom von Menschen hin, wie wimmelnde Insekten — Trommelschlag — dort um die Ecke rücken Grenadiere21: schön und gleich wie eine wandelnde Mauer schiebt sich’s auf den lichten Platz heraus, vor derselben weicht und hinter ihr schließt sich das schwarze Gedränge — die Fenster öffnen sich und schöne neugierige Augen schauen heraus; oder die gestickte Mütze und der rote Schlafrock eines Müßiggängers oder Spätlings, für den es jetzt erst frühmorgens ist; die Musik und die Krieger ziehen vorüber, und eine neugierige Schar, teils Männer, teils Knaben, ziehen ihnen im Taktschritte nach.

Endlich öffnen sich auch die Fenster jenes schönen Hauses, und die Vorhänge fliegen hinauf. Wer mag dort wohnen? Ganz gewiß jemand, bei dem Mitternacht erst Abend ist und später Vormittag Morgen. So, nun sind sie alle erwacht, und der Tag ist da — — nein! Einer oder der andere vielleicht schlummert noch; siehe, dieser wallende, brodelnde Kessel, er treibt und quirlt, als sei das so obenhin und gehe nach irgend einem geheimen unabänderlichen Gesetze fort: aber da sind einige in dieser Stadt, du würdest sie auf der Gasse nicht von den andern kennen, diese sitzen an dem schweren Arbeitstische; ihnen ist von noch einem Höheren die Formel dieses Treibens und Lebens anvertraut, daß sie sich schön und glückselig entwickle und nicht jetzt und jetzt in Wirrsal überschlage — alle fühlen die Wohltat ungehemmten Ganges, aber keiner den Zauber, durch den es geschieht — nur wenn er, sei es auch leise, gehemmt wird, dann meint er, es gehe alles gefehlt und er könnte es besser machen. Laß sie, es ist so die Art des menschlichen Geschlechtes! Mancher nun von denen, auf die ich oben deutete, mag wohl noch zur Zeit, als wir heraufstiegen, bei der Lampe gesessen und der Formel nachgesonnen haben, und als da unten das Leben, für dessen Wohl er sorgt, erwachte, löschte er die Lampe aus und suchte kurzen Schlummer — oder auch er suchte ihn nicht, sondern wandelt jetzt unter den Wachenden wie einer aus ihnen und läßt sich von seinen Untergebenen berichten, was sie meinen und was not tut. Ist dir dieses Treiben noch nichtig? Wächst dir nicht eine furchtbare, ernste Bedeutung aus dem Gewirre dieses Häusermeers empor? Ein Stück und manchmal schon bedeutende Stücke der Weltgeschichte wurden hier geprägt und werden noch gepräget werden.

Aber lasse selbst Weltgeschichte Weltgeschichte sein und denke und male dir nur recht deutlich die Geschichte eines einzigen Tages, einer einzigen Nacht, wie sie hier etwa sein mag. Es ist kein Glück auf dieser Erde, es sei so groß und innig, daß es nur eben noch ein Menschenherz ertragen kann: heute Nacht war es in diesen Mauern. Der verzagende Jüngling — es waren zwei Lippen, so unerreichbar wie die Sterne des Orion — heute streiften sie zum erstenmal über die seinen, und da saß er auf seiner Stube und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, daß er’s festhalte, ja, daß er’s nur begreife, das Glück, und daß es ihm beim Licht des Tages nicht entschwinde. — Das Kind entschlief im Arme einer neuen, fast fabelhaft schönen Puppe. — Eine Jungfrau lag vor dem Bilde der Gebenedeiten22 und flehte, daß jeder Tag so schön sei wie heute, denn sie war mit dem Längstgeliebten eingesegnet23 worden. — Einer hat das große Los gezogen — Einer in den Armen der schönsten Frau gezittert — Tausend Lippen mögen sich geküßt, tausend Arme ineinander geschlungen haben. — Dem Dichter erschien in der trunkenen Sommernacht sein Ideal zum erstenmal sichtbarlich, und der Astronom zählte die Sterne. — Eine Mutter besuchte mit der Lampe nach Mitternacht ihre rosenroten, schlummernden Engel — Geizhälse zählten das Geld — Träume zuckten durch tausend Herzen — Wüstlinge feierten eine Orgie — Der Spieler trug das ganze Vermögen von zwei andern nach Hause — und was da ruhte im sorgenfreien Schlummer, über das wurde feenhaft der goldgestickte Traumteppich gewoben, daß sie sanken und schwebten in einem Meere der Wunder. Aber auch, es gibt keinen Jammer und kein Unglück, es sei mir gräulich immer: heute war es auch in dieser Stadt. — Der Tod ging in hundert Häuser und zerdrückte überall ein Herz. — Ein blasser Mann lud eine Pistole, im Zimmer neben ihm schläft sein Weib und Kind, morgen ist Kassenuntersuchung, und dann Festung24, wenn er nicht früher — — er wischt die Stirn, es ist ihm märchenhaft ferne, wie er auch einmal unten gegangen wie eben die Nachtwandelnden und unschuldig war wie sie. — Tausend Kranke zählten die ewig zögernden Schläge unserer Turmuhr, und die Wächterin schlief neben ihnen. — Jenes Mädchen zerdrückt vor Schmerz das Glas von dem Brustbilde des schönen falschen Mannes, daß ihr das Blut von den Händen rinnt. — Eine andere öffnet unter tausend angstvollen Herzschlägen dem Verführer ihre Zimmertüre. — Verschmähte Liebe klagt im Liede ihr Leid in die Nacht hinaus und eine Wachtel daneben schlägt leichtsinnig darunter. — Auf sorgenvoller Armut liegt der Schlummer wie Blei, und die Lusttöne heimkehrender Schlemmer klingen in ihn hinein. — Das Laster martert seinen Verehrer, und durch Höhlen und Säle schreitet der Vorwurf und webt ein Stachelhemd um das Herz des Schlummernden — die Träume legen heiße Steinhüllen darüber, indessen oben die Sterne ruhig glitzern, das Rollen der Wagen einzelner wird und endlich, so wie die Reden und Fußtritte spät Heimkehrender, gänzlich schweigt. Diese Zeit ist um zwei Uhr nachts herum — — dann gemach lichtet sich der Himmel, und bald beginnt jenes Rasseln der Nahrungswagen, indes der Tag heraufkommt und die Sonne, so mild und unschuldig über die Stadt aufgehend wie über einen grünen Grasteppich, in dem die Tierchen spielten oder schlummerten und nun freudig an ihr Tagewerk gehen werden.

Welch eine Fülle, unermeßlich reich an Freude und an Schauer, liegt nicht in der Geschichte einer einzigen Nacht einer solchen Stadt — und unten treibt sich alles harmlos fröhlich und ist harmlos fröhlich; denn der einzelne Unglückliche wird nicht gesehen in dieser Menge oder er macht ein Gesicht so heiter wie sie, weil er stolz oder starrköpfig ist.

Sie alle, die du unten so winzig wandeln siehst, sie reden, grüßen sich, es schallt das Pflaster unter ihrem Fußtritte, aber wir hören es nicht, es ist stumm unter dem allgemeinen Brausen, wie wenn die dunkle Herde der Grundeln25 in der Tiefe des Wassers, das ober ihnen wallt, ein und aus durch die Gassen und Tore ihrer großen, feuchten steinernen Stadt schlüpfet.

Was treibt und bewegt nun alle, daß sie ebenso rastlos strömen und dringen und eilen, als würden bunte Schnüre durch die Gassen gezogen?

Was?! Es ist kein Interesse, so hoch und niedrig es in der Menschheit sei, das da nicht wirkt, um jenen treibenden, kreisenden Wirbel zu erzeugen. — Da ist die breite, mächtige, schmähliche Basis der Menschheit, die Habsucht mit ihrer Stiefschwester, der Verschwendung. — Ihre Opfer siehest du zu Tausenden unten gestachelt rennen, daß sie es einem andern zuvortun und ihm Weg und Zeit abgewinnen, daß es einkehre in ihr Haus, auf daß es wieder glänzend hinausgehen könne. — Der eine trägt schon den Gewinn in der Tasche und hastet weiter; der andere trägt ein furchtbar pochend Herz, denn alles kann heute noch verloren sein — und Erwerben, Erraffen, Erlisten den ganzen Tag so fort und fort, und morgen wieder von Neuem begonnen. — Dann ist der Hunger, er treibt zu den Tausenden der abenteuerlichsten Leistungen und Arbeiten, daß er nur verscheucht werde, der bleiche und schmutzige Geselle — da geht die Grisette26 und läßt Wimpel und Flagge wallen, daß sie nur die Gier anlocke, die in müßiger Weise herumlauert, um sich zu sättigen und zu ekeln — da geht der Gewerbsmann aus der fernen Vorstadt und trägt die fertige Arbeit den Kunden zu — der Müßiggänger treibt sich — der Eitle hat die schönsten Kleider an und zeigt sie — ihm vorüber, nachlässig gehalten, geht der Dichter und trägt ein Himmelreich durch das Getose — und der Liebende hat eben die zwei Augen leuchten gesehen — die Zöglinge werden von dem Lehrer in die Luft geführt — der Künstler trägt seine Herzensträume, die Himmelsmelodien, die Farbenwunder in seinem Kopfe mit, an den vergebens die Wellen des äußeren Brausens schlagen — ein unglücklich jammernd Frauenherz sucht den kühlen, dunklen Dom unter uns, daß es sich in Andacht ergieße, und der Architekt steht neben ihr und bewundert die Dichtung, die sie hier mit Stein und Mörtel aufgebaut haben — und Tausende strömen nach rechts und links, die all das nicht tun, sondern ein und derselben, obwohl vielgestaltigen Göttin nachjagen, der Freude. — — Indes geht der glänzende Tag gemach herauf, so freundlich oder so gleichgültig, wie über eine prachtvolle Wildnis — sein leuchtendes Blau wird beschmutzt von den quellenden Rauchsäulen. — Indes die außen treiben, geht es auch im Innern der Häuser nicht minder lebhaft zu. Es wird gekauft und verkauft, gehämmert und geschnitten, gearbeitet und gefördert; viele tausend Zeilen werden geschrieben, viele tausend gedruckt, musiziert und gespielt, und an die tausend Hände sind beschäftigt in millionfacher Gestalt, das zu bereiten, was heute verzehrt werden soll; denn wenn der Hammer der Uhr unter uns die Stunde zwölf schlägt, von da an ist jede Stunde eine Eßstunde, und dem letzten Mittagmahle im Palaste reicht das erste Abendessen in einer Kammer die Hand, wenn es nicht etwa noch früher kommt als jenes. Und dann ruhen die Geschäfte und die Welt des Vergnügens beginnt. — Siehest du draußen auf dem Bergesabhang die weißen Punkte im Grünen leuchten? Das sind ihre Landhäuser, das sind die Orte ihrer Lustfahrten, dahin gehen Wagen aller Art und bringen in das Grüne; — dort wogt die Stadt hinaus, daß du meinst, alle seien an den einen Ort gefahren, und wenn du an den andern kommst, so sind auch alle dort, und wenn du in die Stadt wanderst, so geht keiner ab. Tag und Nacht wird gesonnen, tausend Hände sind in Bewegung, daß neue Altäre ersonnen, neue Altäre gebaut werden der tausendäugigen Göttin Vergnügen, und überall wird es ausgebreitet und überall wird es in den Weg gelegt, geschmückt, mit großen Zetteln an die Mauern geklebt, was heute noch zu haben ist, daß man sich daran ergötze — und da sind alle Sorten von den Späßen des Hanswurstes27 im Prater an bis zu dem höchsten Genusse der Kunst, und jeder sucht sich, was ihm und dem heutigen Tage zusteht — indes geht Glück und Unglück dieses Tages gelassen seines Weges und beseligt hier ein Herz und drückt dort eins entzwei — aber die Menge weiß das eine nicht und nicht das andere. — Dort klingt Musik und Freude, dort geht die Schar der Spazierenden, hier ein angehender Selbstmörder, dort ein Jüngling, eben aus der Einsamkeit des Landes gekommen, dem sein Herz in diesem Gewirre vor Heimweh zerspringen möchte — und lustige Reiter jagen vorüber und lachen sich zu — indes entzündet sich sachte die Abendröte und flammet von jenen Bergen herüber dem weiten Lande seinen Abschiedsgruß zu, und auch dem kleinen Pünktchen Wien. Und wenn die Oper ausgeklungen und die Vorhänge der Theater gefallen, die Wagen heimrollen, die Zecher die Schenken verlassen, so zünden sich die Sterne an und sehen nieder, und eine Nacht folgt wie die gestrige und ein Tag wie der heutige — — und so schieben sie sich fort, einer gleich dem andern und jeder so verschieden von dem andern, und so bauen sie im eigenen Treiben und Rollen freitätig und doch bewußtlos jenes rätselhafte Ding auf, das Schicksal, vor dem Reiche entstehen und vergehen, ohne es berechnen zu können, und das wir doch selber durch langsamen tausendfältigen Beitrag an Tugenden und Lastern aufgerichtet haben.

Die Glocke unter uns verkündet Mittag und von den hundert Türmen der Stadt hallt es nach — so lasse uns denn wieder hinabsteigen. Tauche denn nun getrost in dieses Treiben, und es wird an dir sein, dir Glück oder Unglück darinnen zu suchen; beides ist in Menge da zu haben.

Nimm die Menschen und Bilder, wie sie kommen. Jetzt ein kleines unbedeutendes Wesen, jetzt ein tiefer Mann voll Bedeutung; jetzt Scherz, jetzt Ernst, jetzt ein Einzelbild, jetzt Gruppen und Massen — und alles dies zusammen malet dir dann zuletzt Geist und Bedeutung dieser Stadt in allem, was in ihr liegt, sei es Größe und Würde, sei es Lächerlichkeit und Torheit, sei es Güte und Fröhlichkeit. So, nun steige hinab und trete an das nächstbeste Individuum und beachte es und studiere es, und werde gemach auch einer aus diesen allen, welche in Wien leben, und leben und sterben wollen nur in Wien.

Ein Gang durch die Katakomben

Wir sind so gewohnt worden, unsere Voreltern als gute dumme Hanse zu betrachten, daß, wenn von was immer für geistiger Größe die Rede ist, wir sogleich mit den Fortschritten unsrer glorreichen Zeit da sind, worunter jeder die versteht, in der er gelebt hat, und daß, wenn von einer Torheit die Rede ist, die dort oder da geschehen, wir sogleich schreien: »Dies ist doch unglaublich; so etwas geschieht in dem Jahre 1842!« Ich aber frage: »Warum sollte es denn nicht geschehen?« Was wir auch in gewissen Richtungen gewonnen haben, so blieb es doch meistens nur Eigentum einzelner oder weniger — was wir verloren haben, das verloren alle. Ich will mich deutlicher erklären. Die Wissenschaft, der Gewerbfleiß, in gewissen Zweigen auch die Kunst (aber weniger) haben erstaunliche Fortschritte gemacht — aber das Gute, ich meine das Menschlich-Gute, was diese Dinge brachten, wie vielen wurde es zuteil? Oder liegt nicht die Masse in eben den Banden des Rohen gefangen wie einst, nur sind diese Bande beweglicher und polierter — und von denen, die sich in den Besitz des menschlich Erworbenen setzten, der Wissenschaft, der Politik, der Kunst, bei wie vielen ist es zuletzt Sitte und Schmuck des Herzens geworden, als ein wirklich Menschliches? Oder tragen sie es nicht als toten Schatz, als bloßes Wissen oder Können in sich, es höchstens zu Nützlichem verwendend, nicht zum Guten? Ja durch vervielfältigte geistige und leibliche Verkehrsmittel sind wir feiner, glatter, geschmeidiger geworden, wie Kiesel, die sich aneinander abreiben: aber ist deshalb der Kiesel innerlich weniger hart? Mit Betrübnis und Entsetzen müssen wir erfahren, wenn heute diese Politur, diese, ach, so fälschlich »Bildung« getaufte Politur von der Leidenschaft durchbrochen wird, daß da Feuerflammen herausfahren, wie wir sie kaum in alter oder ältester Zeit gesehen haben, — oder gibt an Gräßlichkeit und Ausschweifung die Französische Revolution irgendeiner Tatsache der frühern Zeit etwas nach? — Unverkennbar ist es zwar, daß wir fortschreiten; denn solche Szenen der Weltgeschichte werden, gottlob, seltener — aber wann wird jene Zeit kommen, in der ein Krieg ebenso ein Unding der Vernunft sein wird, wie ein Trugschluß schon heute ein logisches Unding ist? — Es ist ein seltsam, furchtbar erhabenes Ding, der Mensch!! Und schwindelnd für das Denken des einzelnen ist der Plan seiner Erziehung, die ihm Gott als Geschenk seiner sittlichen Freiheit übertragen, daß er sie in Jahrtausenden, vielleicht in Jahrmillionen vollende! — — Wie lange, wieviel Billionen Jahrtausende muß dann die Großjährigkeit dauern? Ich sagte oben, daß, was wir verloren haben, alle verloren. In der Glätte und Verflachung unsrer Zeit ging alle tiefe Gemütskraft und Glaubenstreue unsrer Voreltern unter, was sie auch immer unter uns stellen mag an Wissen und Erfahrung: fromme Kraft stellt sie weit über uns, und diese war allen gemein, sie war Geist der Zeit; denn nur der bringt das Bleibende hervor, was er durch Individuen zwar wirkt, aber er erzeugt selbst die Individuen. Darum baute dieser Sinn einst jene rührend erhabenen Kathedralen und malte jene Bilder, die wir heute bloß bewundern können, aber trotz aller Trefflichkeit unserer technischen Mittel nicht mehr nachmachen, indes unser Zeitgeist auf das sogenannte Praktische geht, worunter sie meistens nur das Materiell-Nützliche, oft sogar nur das Sinnlich-Wollüstige verstehen; daher wir Eisenbahnen und Fabriken bauen, während sie Dome und Altäre, und wenn es ja heutzutage eine Kirche werden soll, so wird sie wieder sehr nützlich gebaut, oder sie sähe, wie ich es leider in meinem Vaterlande schon erfahren, wenn sie keinen Turm hätte, einem Zinshause ähnlich. Ja, oft nicht einmal bewundern mehr kann die Zeit jene kräftig schönen Werke der Vorzeit; denn wieviel Tausende werden täglich über den Platz von St. Stephan gehen, ohne von dem Dome desselben etwas anders zu wissen, als daß er sehr groß ist. Wenn mir jemand den Aberglauben unserer Voreltern einwenden will, so muß ich ihm leider entgegnen, daß heute der widerwärtige Indifferentismus der sogenannten gebildeten Klassen zu dem alten Aberglauben, den die Massen nicht abgelegt haben, noch hinzugekommen ist — und zuletzt ist Aberglaube schöner, heiliger, kräftiger als jene sieche Kraftlosigkeit des Indifferentismus, der bei den Worten: Gott, Unsterblichkeit, Ewigkeit nichts denkt und sie nur als Redeformen in dem Munde führt, die er überkommen hat, wie andere Worte, bei denen er auch nichts denkt. Dies ist neben dem so vielen Nützlichen der Buchdruckerei eine Schattenseite derselben, daß, seit sie die Bücher so vervielfältigen, tausend und tausend Menschen aus der Welt gehen, ohne darin einen einzigen Gedanken gehabt zu haben; denn sie lesen sich einen gewissen Vorstellungskreis, eine Art Natur zusammen und sagen ihn so lange sich selber und andern vor, bis sie sterben, und wissen nicht, daß sie selber in der Welt gar nichts gedacht haben; darum hat sogar auch unsere Literatur etwas so Wässeriges und Familienähnliches, während die der Alten so frisch und so unmittelbar ist, trotz der Einfalt und Naivität, die wir heute belächeln.

---ENDE DER LESEPROBE---