Aus dem Märchenbuch der Wahrheit - Fritz Mauthner - E-Book

Aus dem Märchenbuch der Wahrheit E-Book

Fritz Mauthner

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Beschreibung

Kurzgeschichten über Allerlei und Besonderes von einem großen Sprachphilosophen.

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Aus dem Märchenbuch der Wahrheit

Fritz Mauthner

Inhalt:

Fritz Mauthner – Biografie und Bibliografie

Aus dem Märchenbuch der Wahrheit

Der Mann ohne Uniform

Der arme Dichter

Die Warte der Liebe

Das große Karussell

Der stille Baumeister

Mahadöh

Das glückliche Lächeln

Lügenohr

Der Blitz und die Regenwürmer

Praktisch

Die Spielerin

Der Kurrendejunge

Der Hochzeitstag

Das Genie

Nazis letzter Wunsch

Die hundertjährige Aloe

Der Invalide

Die Palme und die Menschensprache

Der Donner

Die beiden Kavaliere

Die Göttin Vernunft

Der Löwe

Der große und der kleine Neid

Sancho Pansa

Scherbenfrühling

Die Wahrheit und die Schönheit

Das Schwein und die Taube

Der Diamant im Mörtel

Der Traum im Herbstwald

Das Wachen im Herbstwald

Die schöne Wahrheit und ihr hübsches Dienstmädchen

Draht und Peitsche

Staatsprüfungen

Die Schöpfung des Menschen

Die Sonne als Malerin

Die drei Papageien

Die heilige Mehrheit

Der Pantoffel des Propheten

Havana

Das Kamel

Der Dichter und die Muse

Du und ich

Der Gummiwarenfabrikant

Der bittere Kaffee

Die Eisenbahn

Der Sammler und die Sammlerin

Die Kiesel

Die Frösche

Die Bahn auf die Jungfrau

Das blinde Volk

Don Juans letzte Liebe

Meister Eitel Ich

Der Ball der Tugenden

Das Gewissen

Malthus

Noch einmal

Das Weib

Rosenrote Fenster

Flagranti

Zwei Schuster

Der Buchweizen und die Rechenmeister

Der Nachruhm

Das Gesetz

Die gebärende Löwin

Die Einsamkeit

Der Weltverbesserer und die Bosheit

Königs Geburtstag

Der Kapellenmeister

Nebel

Der Großstädter

Die Jury

Die Bescheidenheit

Das Opfer

Der Bravo

Der Kaiser und der Fuhrmann

Die drei Getreuen

Der Fluß

Die Dankbarkeit

Die Frau aus dem Tierpark

Die Blume ohne Wurzel

Zwei Bettler

Thron und Altar

Timon

Die Giftschlange

Die Schule des Gebens und die Schule des Nehmens

Die Natur

Die heilige Jadwiga

Heinz Dichter

Nachwort zum fünften Bande

Aus dem Märchenbuch der Wahrheit, Fritz Mauthner

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849618346

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Fritz Mauthner – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 22. Nov. 1849 zu Hořitz bei Königgrätz in Böhmen, studierte in Prag Rechtswissenschaft, trat mit einem Sonettenzyklus: »Die große Revolution« (1871), der ihm beinahe eine Anklage auf Hochverrat eingetragen hätte, zuerst literarisch auf und ließ einige kleinere Lustspiele folgen, die auch mit Beifall ausgeführt wurden. Seitdem widmete er sich ausschließlich dem literarischen Beruf, zunächst als Mitarbeiter der deutschen Blätter Prags, und ließ sich 1876 in Berlin dauernd nieder. Einen durchschlagenden Erfolg erzielte er mit einer Reihe satirischer Studien, die den Stil der hervorragendsten deutschen Dichter der Gegenwart parodierten: »Nach berühmten Mustern« (Stuttg. 1879, 28. Aufl. 1895; neue Folge 1880, ebenfalls in zahlreichen Auflagen; Gesamtausgabe 1897). Weitere Sammlungen von kritischen Feuilletons und Satiren sind: »Kleiner Krieg« (Leipz. 1878), »Einsame Fahrten. Plaudereien und Skizzen« (das. 1879, 3. Aufl. 1890), »Dilettanten-Spiegel. Travestie nach Horazens Ars poetica« (Dresd. 1883), »Aturenbriefe« (2. Aufl., das. 1885), »Credo« (Berl. 1886), »Von Keller zu Zola« (das. 1887), »Schmock, oder die literarische Karrière der Gegenwart« (das. 1888), »Tote Symbole« (Kiel 1891). M. veröffentlichte ferner die Erzählungen und Novellen: »Vom armen Franischko« (Bern 1880; 7. Aufl., Dresd. 1886), »Die Sonntage der Baronin« (1880; 3. Aufl., Dresd. 1884), »Zehn Geschichten« (Berl. 1891), »Bekenntnisse einer Spiritistin (Hildegard Nilson)« (das. 1891), »Der wilde Jockey und anderes« (Münch. 1897), »Der steinerne Riese« (Dresd. 1897); sodann die Romane: »Der neue Ahasver« (das. 1881), »Xantippe« (das. 1884. 6. Aufl. 1894), »Berlin W« (I.: »Quartett«, das. 1886; II.: »Die Fanfare«, 1888; III.: »Der Villenhof«, 1890, mehrfach aufgelegt), »Der letzte Deutsche von Blatna« (Dresd. 1886, 5. Aufl. 1890), »Der Pegasus, eine tragikomische Geschichte« (das. 1889, 3. Aufl. 1894), »Hypatia« (Stuttg. 1892), »Der Geisterseher« (Berl. 1894), »Kraft« (Dresd. 1894, 2 Bde.; 3. Aufl. 1899), »Die bunte Reihe« (Münch. 1896), »Die böhmische Handschrift« (das. 1897). Auch veröffentlichte er Fabeln und Gedichte in Prosa u. d. T.: »Lügenohr« (Stuttg. 1892; 2. Aufl.: »Aus dem Märchenbuch der Wahrheit«, das. 1896). Neuerdings erregte M. die Aufmerksamkeit weiterer Kreise durch ein umfangreiches wissenschaftliches Werk: »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« (Stuttg. 1901–02, 3 Bde.), in dem er mit Scharfsinn die Unzulänglichkeit des Ausdrucksmittels der Sprache darlegt.

Aus dem Märchenbuch der Wahrheit

Die dunkle Sehnsucht wollte zu ihrer lieben Schwester, der hellen Wahrheit. Durch alle Himmel war die Sehnsucht geflogen auf weitgespreizten Fittichen, durch alle Meere war sie geschwommen bei Sturm und Wetter, durch alle Spalten der Berge war sie geschlüpft in Dunkel und Not; den Tod nicht scheute die dunkle Sehnsucht um die liebe helle Wahrheit.

Es kam die heilig lachende Stunde des Glücks. Es leuchtete aus selig ernsten Augen, es schimmerte duftend rosig wie Pfirsichblütenglanz, es flüsterte wie Engelston von suchenden Lippen. Die Sehnsucht hatte die Wahrheit aufgefunden.

Alle Sprachen der Menschenerde hatte die Sehnsucht geübt, ihre Schwester zu grüßen und zu fragen. Aber – ach! – die Wahrheit redete anders als irgendeine Sprache der Erde.

Da verstummte die dunkle Sehnsucht; sie nickte traurig und wollte der Wahrheit ihr Teuerstes schenken, ihr liebstes Kind, den kleinen Glauben, auf daß die Wahrheit ihn lehrte und ihn dereinst reich machte mit den Rätselworten ihrer gar anderen Sprache.

Eine Weile trug die Wahrheit den Glauben auf ihrem Arm, wie eine gemalte Madonna den Knaben. Bald aber schüttelte sie lächelnd das helle Haupt und reichte das Kind zurück. Bescheiden zuckte sie leicht mit den herrlichen Schultern, als wollte sie sagen: »Die arme Wahrheit hat leere Hände'.«

Dann gab sie dem Knaben, was sie besaß: ihre Märchen von der Welt; und weil er sie nicht verstanden hätte in den Rätselworten ihrer Sprache, darum war es ein Märchenbuch in Bildern.

Ängstlich nahm der Knabe das Buch; später erst, als er allein laufen gelernt hatte und auch schon allein lesen konnte, da schritt er einsam durch die Welt neben der dunkeln Sehnsucht, und da erblickte er wieder in der stillen Natur und im geschäftigen Menschentreiben das Märchenbuch der Wahrheit.

Der Mann ohne Uniform

Zwei große Heere lagerten einander gegenüber. Ein einsamer Mensch nur schloß sich keinem der Führer an; denn er besaß keine Uniform. Aber er befand sich nicht wohl in seiner Freiheit. Bald glaubte er sich hoch über den beiden Heeren; dann fror er und wünschte sich aus der Sonnenhöhe hinab auf die Erde. Bald glaubte er sich tief im Erdinnern warm gebettet und sicher geborgen; dann aber roch er Grabesmoder und sehnte sich hinauf an das Licht. Gewöhnlich aber schwebte er über den Berggipfeln zur Rechten oder zur Linken der Walstatt und sehnte sich hinab zu einem der Heere, einerlei zu welchem, nur hinab unter Menschen.

Eines Abends trug er es nicht länger. Er wanderte hinab und trat unter den Troß, der hinter dem einen Heere kochte und tanzte und lachte.

»Die Parole!« rief man ihm zu.

Er schwieg.

Da hatte eine der liederlichsten von den Troßdirnen Mitleid mit ihm:

»Ruf du nur: Hie Hinz und Blau! Dann gehörst schon zu uns und kannst lustig sein. Siehst bis jetzt nicht danach aus. Willst essen? Willst mit mir gehn? So sag mal: Hie Hinz und Blau!«

Heiser brachte der einsame Mensch hervor:

»Hie Hinz und Blau!«

Dann tanzte er mit der Dirne. Aber er mochte nicht essen und auch nicht mit ihr gehen. Er stahl sich hinweg vom Troß und drang weiter nach vorne vor. Bei jeder Abteilung wurde er nach der Parole gefragt. Immer mühsamer, immer heiserer brachte er es hervor: »Hie Hinz und Blau!«

Er kannte den Hinz gar nicht persönlich. Und Blau war ihm nicht lieber als eine andere Farbe.

So gelangte er bis an die Vorwacht des Heeres. Es war Nacht geworden und das Feld hallte wider von Hinz und Blau. Da schlich sich der einsame Mensch durch die Wachen hindurch, um vielleicht bei dem anderen Heere zu bleiben und zu kämpfen.

Als er etwa auf halbem Wege zwischen den beiden Lagern war und nur noch leise den Ruf vernahm: »Hie Hinz und Blau!« – da drang auch der Kriegsruf des zweiten Heeres herüber:

»Hie Kunz und Rot!«

Der Mann ohne Uniform blieb stehen. Er kannte auch den Kunz nicht persönlich. Und auch Rot war ihm nicht lieber als eine andere Farbe.

Wo er von beiden Lagern gleich weit entfernt war, blieb er stehen; da führte ein Feldrain. Am Feldrain stand ein Holzkreuz. Der Mann ohne Uniform lehnte sich müde an das Kreuz; aber er reckte die beiden Arme aus und legte sie auf das Querholz und wartete. Die ganze Nacht.

Von beiden Seiten tönten die Schlachtrufe herüber. Von beiden Seiten stiegen Leuchtkugeln auf, die das Heer des Gegners beleuchteten, und von beiden Seiten sausten Granaten, welche das feindliche Lager anzünden sollten. Leuchtkugeln und Brandgranaten flogen hoch über dem Kopfe des einsamen Mannes hin. Die beiden Lager waren erhellt, von Brand und Feuerwerk, aber immer doch hell. Am Feldrain war das Dunkel. Da schien dem Manne der Krieg mit Brand und Mord lustiger, als sein Friede. Und die ganze Nacht beneidete er die Soldaten um ihre Parole und um ihre lustigen Uniformen.

Als der Morgen graute, rückten die Heere gegeneinander los. Von beiden Seiten wurde er zusammengeschossen.

Wieder wurde es Abend und man suchte das Feld nach den Gefallenen ab. Die Toten beider Heere wurden in eine große Grube geworfen. Sie sahen im Tode alle zornig oder lustig aus, oder auch ruhig. Nur einem Toten las man Verzweiflung vom Gesicht. Er lag an einem Holzkreuz und trug allein keine Uniform. Er wurde besonders begraben. Unter dem Holzkreuz.

Der arme Dichter

Der arme Dichter stand vor dem Berge, wo die Unsterblichen wohnen. Eine Zahnradbahn führte hinauf, und er wollte sie benützen. Er klopfte an das Schiebefenster des Schalters und rief vergnügt:

»Ein Billett erster Klasse. Nur hinauf. Kostenpunkt?«

»Tausend Goldkronen Rente,« sagte der Kassierer grinsend; er hatte ihm das Fensterchen nur ein bißchen gelüftet.

Der arme Dichter lachte. »Tun Sie's nicht billiger? Ich hab' kein Geld. Aber ich will und muß hinauf.«

Dabei hob der arme Dichter das Schiebefenster, so scharf auch der Rand war, steckte den Kopf hindurch und lachte den Beamten an.

»Ja,« sagte der, »wir nehmen anstatt der Rente auch das Kapital. Lassen Sie uns Ihren Kopf für Lebenszeit hier, und wir befördern einstweilen das allerwerteste Übrige hinauf.«

»Einverst...« rief der arme Dichter. Und rasch war das Schiebefenster herabgefallen; sein Kopf lag sauber abgeschnitten in der Kasse.

Schon am nächsten Tage wurde der Kopf zurechtgemacht, und dem Kegelklub »Gemütlichkeit« vermietet. Nun schoben Müller und Schulze mit dem Kopf des armen Dichters allwöchentlich Kegel.

Anfangs tat es ihm weh, weil er noch kleine Ecken hatte. Mit der Zeit aber wurde er rund und immer kugelrunder und hielt es endlich für eine Eigentümlichkeit der Dichter, daß ihre Köpfe auf Erden rollen müßten. Nur daß ihn der Kegeljunge immer so heftig in die Rinne schmiß, und er am Ende mit anderen runden Dichterköpfen im selben Kasten lag, das tat seiner Eitelkeit weh.

Werkeltags übten sich an ihm die Jungen; sie klopften mit ihm auch Nüsse auf, und wenn sie müde waren, warfen sie ihn in den Dreck. Das taten sie aber ebenso mit den anderen Dichterköpfen.

Kurz bevor er im Kegelklub »Gemütlichkeit« sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern sollte, kriegte er einen Sprung und wurde ausgeschieden. Er hatte sich die fünfundzwanzig Jahre lang das dumpfe Gefühl bewahrt, daß er eigentlich nicht bestimmt sei, hinunterzurollen, sondern hinaufzufahren. Er meldete sich also an der Kasse und wurde richtig auf den Berg gebracht.

Oben saßen etwa ein Dutzend Herren in den verschiedensten Trachten heiter beisammen. Die Unsterblichen. Ringsumher standen in ebenso bunten Kostümen weit über tausend Körper ohne Köpfe. Des armen Dichters Augen waren durch das viele Rollen schwach geworden, und es dauerte lange, bevor er sein allerwertestes Übrige fand. Er erkannte sich endlich an einem abgerissenen Westenknopf.

»Du, Hans,« sagte er trübselig zu sich selbst, »da bin ich endlich. Setz mich mal auf.«

Schon streckte das allerwerteste Übrige die Hände nach seinem Kopfe aus. Da lachten die Unsterblichen und riefen durcheinander:

»Woran erkennst du ihn denn? Ist es denn gewiß dein Kopf? Ist es überhaupt ein Kopf? Er hat keine Nase! Er hat keine Physiognomie im Gesicht!«

»Wahrhaftig!« rief das Übrige und steckte die Hände wieder in die Hosentaschen. »Du hast keine Physiognomie im Gesicht, hast keine Nase.«

»Ach Gott,« sagte der Dichter weinend, »das kommt nur daher, weil man mit mir Kegel geschoben hat. Dir fehlt ja auch ein Knopf!«

»O, mein lieber Kopf!« rief das Allerwerteste. »Ein Knopf gibt Physiognomie, auch dann noch, wenn er abgerissen ist. Eine Nase aber muß man hier durchaus haben.«

Und unter dem Gelächter der Unsterblichen stieß das allerwerteste Übrige seinen eigenen Kopf mit einem Fußstoß wieder vom Berge hinunter. Sieben

Ein reicher Bauer hatte viele Hunderttausende von Schafen. Wenn er sie zählen wollte, mußte er sich dazu einen Professor kommen lassen, so viel waren ihrer. Der Professor war angestellt für Schafzählerei oder Mathematik.

Der reiche Bauer hatte auch zwei Kinder. Die waren noch klein und hatten für ihre sieben Lieblingsschafe besondere Namen erfunden; für sie gab es ein weißes Schaf, ein braunes, ein schwarzes, ein scheckiges, ein dickes, ein trauriges Schaf und endlich das Hanswurstel.

Einst besuchte den reichen Bauer ein armer Verwandter.

»Hoho!« fragte er die Kinder, weil er dem Vater schmeicheln wollte. »Wieviel Schafe habt ihr wohl?«

»Sieben!« schrien beide Kinder wie aus einem Munde.

»Die dummen Fratzen!« rief lachend der Bauer, und der Professor der Schafzählerei, der gerade zugegen war, fügte ernsthaft hinzu:

»Was sie nicht benennen können, das wissen sie auch nicht, die Kinder.«

Es regnete und die Sonne guckte zu. Hunderttausend Sonnenstrahlen spielten mit hunderttausend Regentropfen, die ihnen verlobt waren. Jeder Sonnenstrahl bemalte den lieben Regentropfen aus seinem Tuschkasten. Jeder Tuschkasten hatte hunderttausend verschiedene Farben. Und es gab keine zwei Tuschkasten, in denen auch nur eine Farbe ganz gleich gewesen wäre. Die Sonnenstrahlen sahen alle die Myriaden von Farben und waren froh.

Ein kleiner Strahl wurde mit dem Bemalen seines Tropfens nicht schnell genug fertig oder hatte ihn zu lieb; genug, er kam der Erde zu nahe. Da fing ihn der Professor der Schafzählerei, sperrte ihn in eine dunkle Kammer und erzählte seinen Schülern im Dunkeln ein langes und breites über die Farben. Schon glaubte der Sonnenstrahl sterben zu müssen, denn der Professor wollte ihn brechen. Da kam zum Glücke die Professorsfrau mit dem Kaffee, und er konnte durch die offene Tür entschlüpfen.

Schneller wie ein Blitz fuhr der Sonnenstrahl hinaus und hinauf, setzte sich rittlings auf einen lustig bemalten Regentropfen, fiel vor Lachen wieder hinunter und setzte sich wieder und rief: »Kinder, fallt nicht um! Wißt ihr, wieviel Farben wir haben? Sieben! Sieben! Der Schafzähler hat's gezählt! Sieben! Alle unsere Tuschkasten zusammen sieben Farben!«

Da gab es unter den seinen Sonnenstrahlen und den verliebten dicken Regentropfen vor Lachen und Ausgelassenheit ein solches Schreien, Purzeln, Schießen, Sterben, Bersten und Tränenvergießen, daß die Frau Sonne, obwohl sie sich selbst vor Lachen schüttelte, ein Ende machen mußte. Sie rief alle Strahlen zu sich heran, barg sie wie eine Glucke unter ihre goldenen unsichtbaren Flügel, hieß sie schlafen und sagte:

»Die wahre Dummheit des Schafzählers kennt ihr noch gar nicht, ihr Schafsköpfe. Er hat den sieben Farben – sieben! – weil er nur die kennt, Namen gegeben. Es sind das Worte. Und auf solchen Worten will er uns nahe kommen wie auf einer Leiter, uns, auf einer Leiter von sieben Sprossen.«

Die Sonne lachte, daß ihre unsichtbaren goldenen Flügel schüttelten und wieder einige Strahlen nach ihren Bräuten blinzeln konnten, wie Küchlein ihre Köpfchen unter der Glucke hervorstrecken. Und der Sonnenrand schimmerte in hunderttausend Farben.

Die Warte der Liebe

Die Liebe wollte unten bleiben, trotzdem es eine wilde Liebe war. Sie wollte keinen hohen Standpunkt gewinnen. Ob sie aber wollte oder nicht, sie stieg immer höher. Nacheinander begrub sie, was sie liebte, und einen Wartturm von Gräbern schüttete sie also langsam auf. Zu unterst lagen dicht die kleinen Gräber ihrer Jugendfreuden, dann kamen nacheinander immer größer und fester die Gräber alles dessen, was sie eigen zu besitzen geglaubt hatte. Als der Hügel oder Wartturm so hoch gewachsen war, daß es einen weiten Ausblick gab, da stand die wilde Liebe oben, sah um sich und trauerte. Ihre Augen waren scharf geworden und grau ihr Haar.

Der wilde Haß blickte mit kleinem Neid zu ihr empor: »Das kann ich auch! So hoch hinauf kann ich auch!« Und der wilde Haß bemühte sich, eine ebenso hohe Warte zu gewinnen. Aber ewig blieb er unten; denn er hatte nichts Liebes, daß er es begrübe.

Das große Karussell

Auf einer schönen und fruchtbaren Ebene lebten Kinder, nackt und bloß und froh. Es gab dort keine Häuser mit Stockwerken, es gab keine Kleider und keine Schule. Eines Tages kam ein alter Schullehrer von Anderswo auf diese Ebene und schüttelte seinen Kopf. Denn die Kinder wußten nicht einmal etwas von der vaterländischen Geschichte, nicht was zuerst und zuletzt geschehen war, und es gab unter den Kindern selbst keine Ersten und keine Letzten. Da baute ihnen der Schullehrer von Anderswo ein ungeheures Karussell. Am Rande der kreisrunden Scheibe standen hölzerne Pferde und Esel, Schlitten und Wagen, hölzerne Hirsche und Ziegen, Löwen und Tiger. Die Kinder aber durften sich setzen, wohin sie wollten. Der Schulmeister nahm in der Mitte Platz und drehte eine Kurbel. Mit der Kurbel setzte er das ganze Karussell in Bewegung und machte noch Musik dazu.

Die Kinder prügelten sich lange um ihre Plätze. Jedes wollte auf dem Hirsch sitzen oder auf dem Löwen oder, auf dem Schlitten, keines auf dem Esel oder auf der Ziege. Als sie endlich untergebracht waren und das Karussell sich drehte, gaben sie sich jedoch zufrieden. Wie aus einem Halse schrien sie alle: Ich bin zuerst, ich bin zuerst! Der vor mir ist der Letzte.

Und weil jedes glaubte den Letzten vor sich zu haben und den Zweiten hinter sich, wurde die Erfindung des Schulmeisters von Anderswo sehr beliebt. Namentlich des Sonntags mußte er von früh bis spät die Kurbel drehen, und die Kinder hopsten auf ihren hölzernen Tieren, spornten sie und peitschten sie, und jedes verlachte seinen Vordermann.

Viele tausend Jahre vorher gab es auf dieser Ebene noch keine Kinder und keine Menschen und keine Sprache. Nur ein großer Wald stand da. Durcheinander gemischt wuchsen riesenhaft in den Himmel hinein moosbewachsene, harzige, schwarze Stämme, die Pyramiden von Nadeln trugen, und andere glatte, graue Bäume, deren Laubkronen sich wie Domeshallen über den Nadelpyramiden wölbten. Auf dem Boden lagen klafterhoch umgerissene Stämme und harte Nadeln und rötliche welke Laubblätter. Bei Sonnenschein bröckelte es im Walde überall in den Baumstämmen am Boden, und an den aufrechtstehenden Bäumen krochen geschäftige Käfer hin und her und freuten sich ihres Lebens. In den Kronen wiegten sich Vögel und auf dem Boden raschelten Schlangen. Wenn es dann wieder geregnet hatte, so ging das Wasser an seine stille Arbeit. Es floß durch die feinsten Röhren in die Bäume hinein, sott in den Kronen Blätter und Nadeln, färbte sie schön und warf sie dann wieder hinunter. Auf dem Boden fraß es die liegenden Stämme und machte aus den harten Nadeln und den roten Blättern einen schönen Teig und hörte nicht auf zu wirtschaften, auf und nieder.

Da kamen Menschen in den alten Wald, zahme Menschen mit zahmen Hunden.

Unter denen war ein gelehrter Hund. Der machte: Wau! vor den Bäumen mit Nadeln und machte: Wau! vor den Bäumen mit Blättern. Da nannten die Menschen die einen Wau oder Fichte und die anderen Wau oder Buche. Und sie brachten ihrem Schöpfer ein Dankopfer, weil er ihnen die Sprache verliehen hatte. Die war schön. Denn außer den sprechenden Menschen konnte niemand wissen, daß die Nadelbäume Fichten und die Laubbäume Buchen hießen.

Die Menschen aber wurden übermütig durch diese herrliche Zaubergabe und benannten jetzt alles, was ihnen einfiel. Wenn ein Hund gegen den Himmel bellte, so sagten sie Oben. Wenn ein Huhn den Boden kratzte, so sagten sie Unten. Die stehenden Bäume nannten sie Leben, die ruhende Erde nannten sie Tod. Die Erde schwieg lange zu der Menschen Sprache, dann schüttelte sie sich eines Abends kurz nach Sonnenuntergang und verschlang die Fichten und Buchen, die bellenden Hunde und die sprechenden Menschen.

Viele, viele tausend Jahre früher gab es eine Zeit, wo man die Zeit noch nicht kannte. Das Zuerst und das Zuletzt war ja noch nicht erfunden, die Sage vom Leben und vom Tod war noch gar nicht erzählt. Dämmernd träumte das Chaos, das war die Nacht. Da ging zum erstenmal die Sonne auf. Ein goldener Trompeter voran und ein schwarz gezäumtes Pferd hinterher. Das Chaos gähnte und fragte: Was? Wecken? Auf?

Wirklich wachte das Chaos auf, und es war der erste Morgen.

Der Trompeter ging voran und schmetterte in die Welt des Chaos hinein: Heute ist heute! Ich bin heute, morgen kommt das schwarze Pferd.

Hinter dem Trompeter stieg die Sonne sieben Stufen hinauf, dann blieb sie stehen zu Mittag. Und wieder sieben Stufen hinab zum Abend.

Hinter der Sonne kam das schwarzgezäumte Pferd und sprach:

»Heute ist heute! Ich bin heute. Die Sonne war gestern, morgen ist der Trompeter.«

Rastlos und ruhelos in ewigem Kreislauf jagen seitdem das Morgen und Heute und Gestern hintereinander her wie die Kinder auf dem Karussell.

Heute zieht der Trompeter das Pferd am Zaum, morgen schlägt es mit den Hinterhufen nach ihm aus, und die Sonne hat ewig hinter sich das Morgen und vor sich das Gestern.

Außer der Welt in einem Schneekristall wohnt eine Frau. Sie heißt die Ewigkeit. Sie kann nicht sprechen. Und wenn sie vom redenden Menschen Worte hört, so lacht die Ewigkeit. Zuerst, Zuletzt, Leben, Tod, Gestern, Heut. Bei solchen Worten lacht sie am lautesten. Denn Frau Ewigkeit stammt aus einer Zeit, wo die Zeit noch nicht erfunden war.

Der stille Baumeister

Er war ein kühner Baumeister und wollte ein weites und reiches Gebäude errichten aus allen Völkern der Erde. Er zeichnete seine Pläne. Als er aber zur Ausführung schreiten wollte, erfuhr er, daß es keinen Mörtel gebe, um Völker zu binden.

Hierauf zeichnete er neue Pläne, kleiner als die ersten, aber immer noch recht groß. Einen Kuppelbau seines eigenen Volkes wollte er schaffen. Da erfuhr er, daß die Leute keine Bausteine sein wollten. Nur wenn man. sie hauen ließ, dann wollten sie Bausteine sein. Der Baumeister aber hatte seinen Plan in Liebe auszuführen gedacht; da ließ er sein Volk.

Nun zeichnete, er einen ganz kleinen Plan, ein Häuschen für sich und die Seinen. Mörtel und Steine lagen schon bereit. Da erfuhr er von einem Gesetze, wonach ein Haus nur bauen dürfte, wer eine Scholle besaß, es darauf zu stellen. Der Baumeister hatte keine Scholle Erde zu eigen, und traurig ließ er Stein und Mörtel verwittern.

Um nun doch etwas zu tun, erklärte er den Leuten seine alten Pläne; doch niemand verstand ihn, nicht die Welt, nicht sein Volk, nicht die Seinen. Niemand.

Da ging der Ärmste aus seinem Hause hinaus, aus seinem Volke und aus der Welt und wurde ein stiller Baumeister. Er sprach nur noch mit sich selbst, nannte sich einen Baudichter und baute fortan große und kleine Gebäude ohne Mörtel, ohne Steine und ohne eine Scholle Erde, sie darauf zu stellen.

Mahadöh

Mahadöh, der Herr der Erde, kam herab zum siebentenmal. Er hatte vom sechstenmal her die Erinnerung an einen großen Moralischen. Diesmal wünschte er, Menschen göttlich zu sehen, Genuß ohne Bitternis zu erfahren, einen Rausch ohne Moralischen.

Als er nun hereingekommen, wo die letzten Häuser sind, ging er mitleidig, aber schnell vorüber. Er achtete kaum auf die gefälligen schönen Kinder und eilte nach der Mitte der Stadt, wo die vornehmsten Häuser stehen und die ersten Familien wohnen.

Zu den Menschen trieb es ihn, ehrlich und opferbereit. Den Tod wollte er auf sich nehmen, wenn er die Ärmsten dadurch loskaufen könnte von Not und Gewissensqual. Aber stärker noch als in den Tod trieb es ihn in die Arme eines liebenden Mitgeschöpfes. Sterben für die Elenden! Ja! Aber auch Leben wecken auf der Höhe der Menschheit.

Und Mahadöh suchte Rausch und Leben auf den Höhen der Menschheit.

Ihn fand ein erstaunliches Weib, die gelehrteste und geistreichste Frau der Zeit. Im Scherz und im Ernst wurde sie nicht anders genannt als die große Philosophin. Dabei war sie auch noch jung und erfreulich anzusehen.

Mahadöh ertrank in Liebe zu ihr, und vor Seligkeit glühte er in ihren Armen, und hätte lieber auf seine Sonne und die Sterne verzichtet, als auf den Anblick ihrer großen klaren Augen, die geheimnisvoll zu ihm sprachen wie seine Sterne mit ihm sprachen zur Nachtzeit.