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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Wir fahren nach München, gehen einmal in die Oper und werden sehen, ob wir der Dame behilflich sein können, Isi«, meinte Alexander von Schoenecker spontan, nachdem seine Frau ihm den Brief einer Bekannten vorgelesen hatte. Denise von Schoenecker war überrascht. »Du willst mich begleiten? Außerdem hast du erraten, dass ich die Absicht habe, mit der Künstlerin zu sprechen. Meinst du nicht auch, ich sollte mich persönlich um eine so wichtige Angelegenheit kümmern? Frau Linden kann nicht zu uns kommen, und vielleicht würde sie sich niemals entschließen, uns die kleine Kitty anzuvertrauen, wenn sie uns nicht kennen lernen würde. Wenn du mitfährst, dann ist die Reise für mich eher eine Erholung und Freude als die Erfüllung einer Pflicht, die mir unser Kinderheim Sophienlust auferlegt.« Das Ehepaar von Schoenecker saß in Schoeneich beim Tee vor dem flackernden Kaminfeuer. Es war eine der seltenen ungestörten Stunden, die den beiden gegönnt waren. Die mannigfachen Pflichten, die mit der Führung der Güter Schoeneich und Sophienlust für Denise mit der Leitung für das in Sophienlust eingerichtete Heim verbunden waren, ließen den beiden wenig freie Zeit. Doch sie beklagten sich deshalb nicht. Sie liebten einander und betrachteten ihre Lebensaufgabe als Glück, nicht als Last. Denise war eine noch sehr jugendlich wirkende Frau von mädchenhafter Schlankheit, mit herrlichem dunklem Haar und lebhaften dunklen Augen. Dass sie früher einmal als Tänzerin auf der Bühne Triumphe gefeiert hatte, konnte man sich bei ihrem Anblick sehr gut vorstellen. Noch jetzt war sie äußerlich sportlich und ritt für ihr Leben gern. Außerdem brachten ihr ihre
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2017
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»Wir fahren nach München, gehen einmal in die Oper und werden sehen, ob wir der Dame behilflich sein können, Isi«, meinte Alexander von Schoenecker spontan, nachdem seine Frau ihm den Brief einer Bekannten vorgelesen hatte.
Denise von Schoenecker war überrascht. »Du willst mich begleiten? Außerdem hast du erraten, dass ich die Absicht habe, mit der Künstlerin zu sprechen. Meinst du nicht auch, ich sollte mich persönlich um eine so wichtige Angelegenheit kümmern? Frau Linden kann nicht zu uns kommen, und vielleicht würde sie sich niemals entschließen, uns die kleine Kitty anzuvertrauen, wenn sie uns nicht kennen lernen würde. Wenn du mitfährst, dann ist die Reise für mich eher eine Erholung und Freude als die Erfüllung einer Pflicht, die mir unser Kinderheim Sophienlust auferlegt.«
Das Ehepaar von Schoenecker saß in Schoeneich beim Tee vor dem flackernden Kaminfeuer. Es war eine der seltenen ungestörten Stunden, die den beiden gegönnt waren. Die mannigfachen Pflichten, die mit der Führung der Güter Schoeneich und Sophienlust für Denise mit der Leitung für das in Sophienlust eingerichtete Heim verbunden waren, ließen den beiden wenig freie Zeit. Doch sie beklagten sich deshalb nicht. Sie liebten einander und betrachteten ihre Lebensaufgabe als Glück, nicht als Last.
Denise war eine noch sehr jugendlich wirkende Frau von mädchenhafter Schlankheit, mit herrlichem dunklem Haar und lebhaften dunklen Augen. Dass sie früher einmal als Tänzerin auf der Bühne Triumphe gefeiert hatte, konnte man sich bei ihrem Anblick sehr gut vorstellen. Noch jetzt war sie äußerlich sportlich und ritt für ihr Leben gern. Außerdem brachten ihr ihre eigenen Kinder, sowie die ihr in Sophienlust anvertrauten Kleinen volles Vertrauen entgegen und liebten sie innig.
Jetzt füllte die Gutsherrin die Tassen nach und reichte ihrem Mann den Zucker sowie das zarte Gebäck in der Silberschale. »Ich könnte telefonieren und mich bei Frau Linden anmelden, Alexander. Wenn es ihr recht ist, fahren wir übermorgen. Was meinst du?«
»Ich bin mit allem einverstanden. Es handelt sich um einen echten Notfall. Das scheint mir klar auf der Hand zu liegen, denn auf das, was Frau Osterloh schreibt, kann man sich gewiss verlassen.«
Denise nickte. »Ja, sie hat ihre Kinder schon vier Mal in den Ferien bei uns einquartiert. Wir kennen die Familie wirklich gut. Eine Empfehlung von Frau Osterloh ist so ziemlich das Beste, was Frau Linden für uns mitbringen kann. Trotzdem möchte ich mit ihr sprechen. Immerhin handelt es sich ja auch in irgendeiner Weise um einen Problemfall.«
»Weil es ein Kind ohne Vater ist? Das hat doch heute nichts mehr zu sagen. Die Mutter ist Musikerin. Bei Künstlern ist man in solchen Dingen sowieso weniger kleinlich als unter bürgerlichen Zeitgenossen. Ich nehme nicht an, dass Rosita Linden in ihrem Töchterchen ein Problem erblickt – eher schon in der Tatsache, dass sie jetzt nicht recht weiß, wo sie die Kleine unterbringen soll.«
Sie beleuchteten den Fall von allen Seiten, und gegen Abend fuhren sie gemeinsam nach Sophienlust, um die Sache mit Frau Rennert, der Heimleiterin, zu erörtern.
Frau Rennert, von ihren kleinen Schützlingen zärtlich Tante Ma gerufen, grauhaarig, erfahren, solide und zuverlässig, war sofort einverstanden. »Wir haben Platz, Frau von Schoenecker. Die kleine Kitty Linden soll uns herzlich willkommen sein. Heidi Holsten wird sich wieder einmal sehr wichtig vorkommen, weil das neue Kind jünger ist als unser Nesthäkchen. Wenn ich einen Vorschlag machen darf, so versuchen Sie doch, Kitty gleich mitzunehmen. Unter den gegebenen Umständen wird Frau Linden gewiss nicht wissen, wie sie ihr Töchterchen zu uns bringen soll. Dass sie die Kleine selber begleitet, kommt ja nicht infrage.«
»Nein, so weit ich Frau Osterloh in ihrem Brief verstanden habe, ist die Künstlerin zwar nun so weit, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, aber sie ist noch pflegebedürftig und ganz gewiss nicht in der Lage, die weite Reise nach Sophienlust anzutreten.«
Da die Unterhaltung sich einige Zeit hingezogen hatte, entschlossen sich Denise und Alexander, das Abendessen mit den Kindern in Sophienlust einzunehmen. Ihre Söhne Nick und Henrik waren sowieso in Sophienlust. Sie waren am Nachmittag mit den Kindern in den Wald geritten, um in der Försterei zu jausen, und kehrten eben zurück. Nick trabte der fröhlichen Reiterschar voran, gefolgt von der blonden Irmela und Pünktchen. Irmela ritt genau wie Nick auf einem großen Pferd. Pünktchen dagegen auf einem Pony. Auch Fabian Schöller, Heidi Holsten und die Geschwister Angelika und Vicky Langenbach waren mit von der Partie. Henrik von Schoenecker bildete das Schlusslicht.
Es war herrlich gewesen, und die Kinder brachten einen gesunden Hunger mit, obwohl sie beim Förster frischen Hefekuchen mit viel Kakao bekommen hatten. Magda, die exzellente Köchin von Sophienlust, konnte sich freuen. Von allem, was sie auftischte, blieb auch nicht ein Krümelchen übrig.
Magda trug den wohlverdienten Ehrentitel der besten Köchin der Welt und war bei Groß und Klein herzlich beliebt. Sie kochte hervorragend und wurde in dieser einmaligen Kunst nicht einmal von ihrer eigenen Schwester erreicht, die die Küche in Schoeneich unter sich hatte.
Bei Tisch drehte sich die Unterhaltung vorwiegend um die kleine Kitty Linden, die vermutlich bereits in ein paar Tagen in Sophienlust Einzug halten würde.
»Ihre Mutti ist eine bekannte Geigerin«, meinte Dominik, genannt Nick. »Ich glaube, ich habe sie schon ein paarmal als Solistin im Rundfunk gehört. Kann das sein?«, wandte er sich an seine Mutter.
»Ja, das ist möglich. Mir ist ihr Name durchaus geläufig«, bestätigte Denise freundlich. »Leider hatte sie einen schweren Unfall. Es scheint vorläufig nicht daran zu denken zu sein, dass sie wieder spielt. Das ist bedauerlich. Deshalb wollen wir ja auch das kleine Mädchen hier aufnehmen.«
Henrik von Schoenecker füllte sich den Teller zum dritten Mal mit Bratkartoffeln und erkundigte sich nachdenklich: »Hat sie sich die Hand verletzt, Mutti? Das muss doch sehr schlimm sein, wenn jemand Geige spielt.«
»Davon stand nichts in dem Brief. Aber da sie allgemein pflegebedürftig ist, wird es wohl mehr sein als nur ein Armbruch oder eine verletzte Hand. Wenn ich Frau Linden besuche, werde ich es wohl erfahren. Es wäre ja wirklich tragisch für sie, wenn sie nicht mehr spielen könnte.«
Denise warf ihrem Jüngsten einen liebevollen Blick zu. Mit seinen knapp neun Jahren machte er sich schon allerlei Gedanken um seine Mitmenschen. Es zeigte sich bei ihm, dass ihre Art, die Kinder zu erziehen, richtig war.
Nun begegneten Denises Augen den Blicken ihres Mannes, der ihr schräg gegenüber saß. Er lächelte und nickte ihr zu. Auch er hatte sich über Henriks Frage, die von Nachdenklichkeit und Mitgefühl zeugte, herzlich gefreut.
Auch die anderen Kinder stellten Fragen. Leider konnte Denise nicht alle beantworten. Nur so viel stand für sie fest, dass die Mutter der kleinen Kitty nach einem schweren Unfall noch pflegebedürftig war. Das junge Mädchen, das die Künstlerin für die Betreuung der kleinen Kitty eingestellt hatte, konnte nicht zugleich Rosita Linden pflegen. Entweder musste Rosita Linden in ein teures Sanatorium übersiedeln, oder das Kind musste eine Zeit lang in die Obhut eines Heims kommen. Bot sich da ein Aufenthalt in Sophienlust, dem Haus der glücklichen Kinder, nicht geradezu an?
Nach dem Essen ließ es sich Denise nicht nehmen, Heidi Holsten persönlich zu Bett zu bringen, weil Schwester Regine, die Kinderpflegerin, gerade ihren freien Tag hatte. Sogar für ein Gute-Nacht-Lied nahm Denise sich die Zeit.
»Wird die kleine Kitty bei mir schlafen, oder bekommt sie das leere Zimmer nebenan, Tante Isi?«, fragte Heidi hellwach und gar nicht schläfrig. »Wenn sie nebenan wohnt, könnte ich meine Tür offen lassen und auf sie achtgeben. Mit drei Jahren ist man nämlich noch sehr klein und fürchtet sich, wenn man allein bleiben soll.« Heidi kam sich sehr wichtig vor, weil nun ein um zwei Jahre jüngeres Kind ins Haus kommen sollte.
Denise strich über Heidis blondes Köpfchen und erklärte beruhigend, dass man diese wichtige Entscheidung Frau Rennert und Schwester Regine überlassen werde. Aber der Vorschlag, die Tür zwischen den beiden Zimmern nicht zu schließen, sei wunderbar.
Endlich konnte die Familie von Schoenecker in den Wagen einsteigen und zurück nach Schoeneich fahren.
»Hast du auch alle Schulaufgaben fertig?«, wandte sich der Vater an Henrik.
»Alles, Vati. Aber Nick muss …«
»Ich mache doch immer erst abends die wichtigeren Sachen. Nachmittags komme ich einfach nicht dazu. Es ist aber gar nicht viel heute, und ich finde es ziemlich ekelhaft von dir, Kleiner, dass du zu petzen anfängst. Das ist doch bei uns sonst nicht üblich.« Nick sah seinen jüngeren Bruder vorwurfsvoll an.
»Zankt euch nicht«, begütigte die Mutter. »Mir liegt vor allem daran, dass Henrik gleich ins Bett kommt. Für ihn ist es schon spät genug geworden. Dass du deine Sache ohne besondere Aufforderung machst, halte ich für selbstverständlich, Nick.«
Hinter dem Rücken der Eltern streckte Henrik seinem lang aufgeschossenen Bruder die Zunge heraus, so weit wie möglich. Doch Nick nahm ihm das nicht übel, sondern lachte nur darüber. Er hatte sich früher auch geärgert, wenn sein älterer Bruder Sascha und seine große Schwester Andrea ihn gelegentlich mit »Kleiner« tituliert hatten. So etwas musste man zu ertragen lernen. Außerdem geschah es Henrik im Augenblick ganz recht. Schließlich hatte er versucht, ihn bei seinem Vater anzuschwärzen. Das war etwas, was die Kinder untereinander – nach einem ungeschriebenen Gesetz – niemals tun durften.
Nachdem Henrik im Bett lag, kehrte Denise zu Alexander zurück. Noch immer glommen ein paar Scheite im Kamin, und der Gutsherr legte zwei frische dazu, damit das Feuer ein bisschen mehr Wärme gab. Es war Frühling, aber man spürte am Abend noch die winterliche Kälte.
Alexander neigte sich über seine Frau und legte seine Lippen auf ihre weiche Wange. »Ich liebe dich«, flüsterte er. Dann zog er Denise in seine Arme.
»Ja, ich liebe dich«, wiederholte er leise und andächtig. »Unsere Liebe ist der Quell, aus dem wir täglich unsere Kraft schöpfen.«
*
Rosita Linden war aus der Klinik entlassen worden und in eine Pension übergesiedelt, in der sie für sich, Marianne Weber und ihr Töchterchen zwei Zimmer gemietet hatte. Es war eine jener netten und gepflegten Pensionen, von denen es in Bayerns Hauptstadt so viele gab.
Während Alexander von Schoenecker einen ausgedehnten Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone unternahm, suchte Denise die verunglückte Musikerin auf, um sich mit ihr über das Schicksal ihres Töchterchens zu unterhalten.
Ein junges Mädchen mit ausdrucksvollen braunen Augen unter vollem blondem Haar, einem frischen und doch zarten Gesicht und einem fein gezeichneten Mund empfing Denise.
»Frau Linden erwartet Sie, Frau von Schoenecker. Sie ist sehr dankbar, dass Sie ihretwegen die weite Fahrt nach München auf sich genommen haben.«
Das Mädchen, das einfach, aber mit gutem Geschmack gekleidet war, geleitete die Besucherin zu einer halb offen stehenden, weiß gestrichenen Tür.
In dem hellen dreifenstrigen Zimmer, das die beiden nun betraten, lag eine blasse, dunkelhaarige junge Frau auf dem Sofa. Neben dem Kopfende lehnten Krücken an einem kleinen Tisch. Ein Tablett mit einer Erfrischung stand bereit.
Der schlanke Körper der Genesenden war mit einer leichten Wolldecke bedeckt. Auf dem zartgrünen Wollteppich spielte ein entzückendes kleines Mädchen.
Die Künstlerin machte Anstalten, sich vom Sofa hochzustemmen, doch Denise hinderte sie am Aufstehen.
»Nein, nein, bleiben Sie bitte liegen, Frau Linden. Ich nehme mir einen Sessel und setze mich neben Sie. Sie dürfen sich keinesfalls überanstrengen. Ich würde mir die größten Vorwürfe machen.«
Rosita Linden seufzte und ließ sich auf ihr Kissen zurücksinken. »Ich bin immer noch sehr schwach. Die geringste Anstrengung ist mir zu viel. Herzlichen Dank, dass Sie zu mir gekommen sind, liebe Frau von Schoenecker.«
Denise sah mit leichtem Erschrecken, dass der rechte Arm der Geigerin verbunden war. Henriks Frage hatte also ihre Berechtigung gehabt. Offenbar hatte Rosita Linden auch am Arm eine Verletzung davongetragen.
Jetzt streckte die Verunglückte ihr die linke Hand entgegen. Das bedeutete, sie musste die Rechte schonen.
Denise nahm die zarte, feingliedrige Hand in die ihre. »Ich bin gern nach München gekommen. Man ist immer froh und zufrieden, wenn man einen guten Grund hat, hierherzufahren. Mein Mann hat Karten für die Staatsoper besorgt. Sie sehen, wir kommen nicht allein Ihretwegen, sondern machen zwei Feiertage aus dieser Reise. Ich möchte außerdem einiges einkaufen. Mein Mann inspiziert bereits die Münchener Läden in aller Ruhe und Gründlichkeit.«
»Sie scheinen zu den Menschen zu gehören, die es anderen immer leicht machen, Ihre Freundlichkeit anzunehmen. Darf ich Ihnen Marianne Weber vorstellen, sie ist meine treue Freundin und Helferin. Bei ihr ist Kitty immer gut aufgehoben gewesen. Sie und meine Kleine haben mich auf meinen weiten Konzertreisen stets begleitet.«
Denise reichte dem jungen blonden Mädchen, das sie zu der Künstlerin geführt hatte, die Hand. Marianne Weber deutete einen Knicks an. Denise schätzte ihr Alter auf etwa dreiundzwanzig Jahre und sollte später erfahren, dass sie damit richtig vermutet hatte.
»Kitty, willst du Frau von Schoenecker auch guten Tag sagen?«, forderte die Künstlerin das kleine Mädchen auf.
Kitty Linden, drei Jahre jung, deren dunkelblondes Haar seitlich zu zwei Rattenschwänzchen zusammengebunden war, kam herbei und machte einen beinahe bühnenreifen Knicks, den sie wohl ihrer Mutter abgeschaut hatte.
»Tag, ich bin Kitty. Und wer bist du?«
»Ich bin Tante Isi aus Sophienlust.«
»Du gefällst mir. Du hast so dunkles Haar wie meine Mutti.«
»Ja, Kitty«, sagte Denise. »Ich hoffe, wir werden uns gut vertragen.«
»Ja, ich mag dich leiden, Tante Isi.« Kitty zeigte keinerlei Schüchternheit, sondern kam Denise, die sie doch zum ersten Mal sah, gänzlich unbefangen entgegen. Das zeugte davon, dass Rosita Linden und Marianne Weber trotz des modernen Nomadenlebens, das sie geführt hatten, in der Erziehung des Kindes eine glückliche Hand besessen hatten.
Marianne Weber, die wusste, weshalb Denise die Fahrt nach München unternommen hatte, redete Kitty jetzt zu, mit ihr im Nebenzimmer Bilderbücher anzusehen. Das Kind ging gern mit ihr. So konnten Denise und Rosita Linden ungestört miteinander sprechen. Die angebotene Erfrischung lehnte Denise dankend ab, denn sie hatte im Hotel spät und ausgiebig mit Alexander gefrühstückt, sodass sie jetzt weder Durst noch Hunger verspürte.
»Sie wundern sich vielleicht, dass ich nicht einmal eine Wohnung habe. Aber das brachte meine Arbeit als Solistin so mit sich. Ich hatte einfach keine Gelegenheit, mir ein festes Domizil zu suchen. Deshalb entschied ich mich dafür, in Pensionen zu leben. Hier in München wohnte ich stets in diesem Haus. Man ist gut aufgehoben hier und kann schalten und walten, als gehöre einem alles. Das ist sehr angenehm für mich. Meine gute Marianne sorgt zusätzlich dafür, dass ich mich heimisch fühle. Deshalb habe ich auch auf einer raschen Entlassung aus dem Krankenhaus bestanden. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich die Atmosphäre in der Klinik bedrückte, sobald es mir ein bisschen besser ging. Ich bin ein freier Zugvogel und fühle mich in einem Krankenhaus wie in einem Käfig.«
Denise konnte sich das gut vorstellen. Die ausdrucksvollen, leuchtenden Augen der Kranken zeugten von Temperament und einem starken Willen. Bei aller Zartheit besaß diese Frau einen ausgeprägten Charakter. Sicherlich hätte sie sonst die Härten und Strapazen des Berufs einer Violinsolistin nicht auf sich genommen.
Schon bald erfuhr Denise, dass die Künstlerin bei ihrem unglücklichen Sturz außer der Armverletzung einen Beckenbruch davongetragen hatte.
»Wissen Sie, ich werde immer noch zornig, wenn ich daran denke, Frau von Schoenecker. Es war wohl ein nasser Fleck auf dem Badezimmerboden. Wie ich es fertigbrachte, auszurutschen, weiß ich nicht. Ich verlor einfach das Gleichgewicht, versuchte noch, mich abzustützen, aber es half nichts, ich fiel hin. Und zwar so hart und unglücklich, dass ich mich sofort nicht mehr rühren konnte. Es wurde später ein mehrfacher Beckenbruch festgestellt. Außerdem habe ich mir das Handgelenk gebrochen und die rechte Elle angebrochen. Zwar hindert mich der Beckenbruch jetzt noch am Gehen und Stehen, doch gilt meine eigentliche Sorge und Angst meinem rechten Arm und meiner Hand. Ich weiß nicht, ob ich je wieder werde den Bogen so führen können wie früher. Seit fast drei Monaten bin ich nun nicht mehr aufgetreten. Alle Verpflichtungen musste ich absagen. Wer weiß, ob meine Laufbahn als Künstlerin damit nicht für immer beendet ist.« Ihre Stimme klang dunkel und traurig in diesem Bericht.
Denise sann vergeblich auf ein Wort des Trostes. Es lag auf der Hand, dass Rosita Linden mit jedem Wort die Wahrheit sprach. Wenn sie nicht mehr geigen konnte, weil die Verletzung sie daran hinderte, war ihre Karriere zu Ende.
»Sie sollten jetzt noch nicht die Hoffnung aufgeben, Frau Linden«, meinte Denise leise und warm. »Noch sind Sie Rekonvaleszentin. Also dürfen Sie nicht resignieren. Später sieht man weiter.«
Rosita seufzte. »Der Professor redet immer vom Gehen. Er verspricht mir hoch und heilig, dass ich meine volle frühere Beweglichkeit zurückerlangen werde. Doch ich würde lieber ein wenig hinken, wenn ich mir damit die volle Kraft meines Armes und die Geschicklichkeit meiner Hand erkaufen könnte. Gerade über diese beiden Dinge schweigt sich der Professor aber mit großer Gewandtheit aus, indem er immer rasch von dem großen, schweren Beckenbruch anfängt, der ihm als so schrecklich wichtig erscheint, dass der Arm daneben kaum ins Gewicht fällt.«
»Ich hoffe trotzdem auf Besserung. Wenn Sie es nicht tun, hoffe ich für Sie mit«, erklärte Denise rasch. »Außerdem habe ich im Leben schon mehrmals die seltsame Erfahrung gemacht, dass auch die unerfreulichsten und tragischsten Ereignisse einen Kern in sich tragen können, der sich am Ende für den Betroffenen als gut und segensreich erweist. Das mag für Sie jetzt unglaubhaft und wie eine leere Phrase klingen, aber vielleicht hat das Schicksal etwas mit Ihnen vor, wovon Sie im Moment nichts ahnen. Verlieren Sie also nicht den Mut.«
Rosita lächelte traurig. »Ich fürchte, dass ich den Schicksalsschlag, der für mich richtungsweisend war, schon hinter mir habe, Frau von Schoenecker. Damals, als ich das Kind erwartete und von seinem Vater enttäuscht worden war, blieb mir nur die Musik. Sie tröstete mich, und sie machte mich reich, selbst in den Tagen und Stunden, in denen ich mich arm und einsam fühlte. Wenn mir jetzt das Geigenspiel unmöglich gemacht würde … Ach, ich weiß nicht, was ich dann tun würde.«
Denise schwieg betroffen. Rosita hatte mit solcher Leidenschaftlichkeit gesprochen, dass jede Entgegnung auf diesen Ausbruch ihrer innersten Gefühle taktlos gewesen wäre.