Uwe darf kein Heimweh haben - Aliza Korten - E-Book

Uwe darf kein Heimweh haben E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Du magst also unseren Billy gut leiden?«, fragte Andrea von Lehn den scheuen, stillen Jungen, der das Liliputpferdchen Billy zärtlich umarmte. Uwe Breuer nickte stumm. Er sagte selten etwas, obwohl Andrea ihn inzwischen schon ganz gut kannte. Der Junge befand sich im Kinderheim Sophienlust, das ihre Mutter, Denise von Schoenecker, leitete. Mit seinen sieben Jahren hatte er schon allerlei Bitteres erlebt. Uwe stammte von einem Gut in der Lüneburger Heide. Im Tierheim Waldi & Co. tröstete er sich über sein Heimweh nach den zahmen Tieren auf dem Heidehof hinweg. Vor allem das Liliputpferdchen hatte es ihm angetan. Immer wieder kehrte er von den Schimpansen, der Braunbärin und den anderen Insassen des Tierheims Waldi & Co., das von Andrea gegründet worden war, zu dem winzigen Hengst zurück. Auf dem elterlichen Gut Heidehof gab es zwei Ponys, Max und Moritz. Diese liebte Uwe ganz besonders. Auch das Kinderheim Sophienlust besaß Ponys, auf denen die Kinder nach Herzenslust reiten konnten, aber damit hatte es eine besondere Bewandtnis. Wenn Uwe die Ponys anschaute, musste er immer beinahe weinen. Doch er wollte nicht weinen, weil Tante Isi, Tante Ma, Schwester Regine und alle Kinder immer so lieb zu ihm waren und wünschten, dass er fröhlich sei. Aber wie konnte er fröhlich sein, wenn ihm das Herz so unendlich schwer war? Hier, bei Tante Andrea von Lehn, im Tierheim Waldi & Co., war es still und gemütlich. Es roch nach Heu, Stroh und Futtermitteln. Die Schimpansenjungen Batu und Luja trieben ihre Scherze, und die Braunbärin Isabell spielte mit ihren Kindern

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Sophienlust – 153–

Uwe darf kein Heimweh haben

Wird die kleine Gunni ihm das Lachen zurückbringen?

Aliza Korten

»Du magst also unseren Billy gut leiden?«, fragte Andrea von Lehn den scheuen, stillen Jungen, der das Liliputpferdchen Billy zärtlich umarmte.

Uwe Breuer nickte stumm. Er sagte selten etwas, obwohl Andrea ihn inzwischen schon ganz gut kannte. Der Junge befand sich im Kinderheim Sophienlust, das ihre Mutter, Denise von Schoenecker, leitete. Mit seinen sieben Jahren hatte er schon allerlei Bitteres erlebt.

Uwe stammte von einem Gut in der Lüneburger Heide. Im Tierheim Waldi & Co. tröstete er sich über sein Heimweh nach den zahmen Tieren auf dem Heidehof hinweg. Vor allem das Liliputpferdchen hatte es ihm angetan. Immer wieder kehrte er von den Schimpansen, der Braunbärin und den anderen Insassen des Tierheims Waldi & Co., das von Andrea gegründet worden war, zu dem winzigen Hengst zurück.

Auf dem elterlichen Gut Heidehof gab es zwei Ponys, Max und Moritz. Diese liebte Uwe ganz besonders. Auch das Kinderheim Sophienlust besaß Ponys, auf denen die Kinder nach Herzenslust reiten konnten, aber damit hatte es eine besondere Bewandtnis. Wenn Uwe die Ponys anschaute, musste er immer beinahe weinen. Doch er wollte nicht weinen, weil Tante Isi, Tante Ma, Schwester Regine und alle Kinder immer so lieb zu ihm waren und wünschten, dass er fröhlich sei. Aber wie konnte er fröhlich sein, wenn ihm das Herz so unendlich schwer war?

Hier, bei Tante Andrea von Lehn, im Tierheim Waldi & Co., war es still und gemütlich. Es roch nach Heu, Stroh und Futtermitteln. Die Schimpansenjungen Batu und Luja trieben ihre Scherze, und die Braunbärin Isabell spielte mit ihren Kindern Taps und Tölpel, die inzwischen schon zu beachtlicher Größe herangewachsen waren. Die zahme Dohle saß faul auf ihrer Stange und blinzelte, nur Bambi, das Reh, ließ sich wie üblich nicht sehen. Es hatte sich irgendwo im weitläufigen Freigehege des Tierheims versteckt. Billy, das Liliputpferdchen, kam dagegen immer zutraulich auf Uwe zu. Es spürte genau, dass ihm viel Liebe und aufrichtige Zuneigung von dem Jungen entgegengebracht wurden, dessen lustige Sommersprossen durchaus nicht zu seinem stets ein wenig betrübten Gesichtchen passen wollten.

Andrea von Lehn hockte sich zu Uwe auf den Boden. Sie strich sanft über das etwas strubbelige Haar des Buben. »Eigentlich wollte ich mit Billy immer eine Zucht beginnen«, erzählte sie. »Aber es ist nie etwas daraus geworden, weil mir die Zeit fehlte, mich um die Beschaffung weiterer kleiner Pferde zu kümmern.«

»Hm, du hast ja auch genug anderes zu tun.« Uwe nickte. Er sah in diesem Moment aus wie ein kleiner Erwachsener, der alles verstand. »Du bist verheiratet und hilfst deinem Mann in der Tierarztpraxis, und du hast das Peterle, das viel Arbeit macht. Außerdem ist das Tierheim da. Alles kann Helmut Koster hier schließlich auch nicht machen. Ich weiß von meiner Mutti, dass man sich selber um eine Sache kümmern muss, wenn sie klappen soll.«

»Stimmt, Uwe. Du weißt gut Bescheid.« Es war geradezu erstaunlich, dass Uwe auf einmal so viel gesagt hatte. Andrea war froh darüber, denn ihre Mutter und Frau Rennert, die bewährte Heimleiterin in Sophienlust, machten sich Sorgen um den stillen, in sich gekehrten Jungen, der allzu viel von den Ehestreitigkeiten zwischen seinen Eltern mitbekommen hatte. Durch die Vermittlung von Freunden seiner Mutter war der Junge nun seit einiger Zeit in Sophienlust. Er sollte sich erholen und ein wenig von dem vergessen, was er mit angesehen und mitgehört hatte. All das war durchaus nicht für ein Kind geeignet gewesen und hatte sein junges, zartes Gemüt belastet.

»Vielleicht schaffst du es später einmal mit der Zucht von Liliputpferdchen. Es müsste gehen, und man brauchte gar nicht allzu viel Platz für die Pferdchen, weil sie so klein sind«, erklärte Uwe nachdenklich.

»Ich habe Billy seinerzeit einem Pferdezüchter abgehandelt«, erzählte die junge Frau lächelnd. »Unser kleiner Freund stammt aus Amerika, und zwar aus Texas.«

»Toll«, staunte Uwe. »Wirklich toll.«

Er nickte und streichelte das Tierchen. In diesem Augenblick rief jemand: »Uwe, kommst du mit zurück nach Sophienlust?«

Es war Andreas jüngster Bruder Henrik, der herbeieilte. Uwe und Henrik waren auf Fahrrädern vom Kinderheim nach Bachenau gekommen, um Andrea und das Tierheim zu besuchen. Nun hatte sich Henrik an dem berühmten Apfelkuchen seiner Schwester gründlich sattgegessen und wollte wieder zurück, denn auf seiner Seele lasteten noch ein paar Schulaufgaben, die erledigt sein wollten.

»Ja, ich komme, Henrik.«

Henrik war das einzige Kind, an das Uwe sich ein wenig angeschlossen hatte. So war es kein Wunder, dass Henrik, der seine Rolle als Betreuer neuer Heimkinder äußerst wichtig nahm, für seine Schulaufgaben nicht immer die nötige Ruhe fand. Erstens wohnte er nicht in Sophienlust, sondern auf dem Nachbargut Schoeneich bei seinen Eltern. Zweitens hatte er eine Menge anderer Interessen. Er ritt für sein Leben gern und beschäftigte sich im Übrigen mit Begeisterung mit den Belangen der Landwirtschaft, die die Güter Sophienlust und Schoeneich betrafen. Sein Vater, Alexander von Schoenecker, leitete beide Güter. Manchmal wunderte sich Henrik, wie viel seine Eltern leisteten. Denise von Schoenecker, seine über alles geliebte Mutti, war Gutsherrin, Leiterin des Kinderheims Sophienlust und zärtliche Familienmutter in einer Person. Immer fand sie Zeit für denjenigen, der ihren Beistand gerade am nötigsten brauchte. Sie besprach den wöchentlichen Küchenzettel mit Magda, der Köchin von Sophienlust, und sie tat das Gleiche in der großen Gutsküche von Schoeneich mit Martha. Sie tröstete kranke und weinende Kinder, sie las Geschichten vor, sie half auch einmal bei einer schweren Schulaufgabe, und sie redete mit fremden Besuchern, die ab und zu kamen. Es gab eigentlich nichts in Sophienlust oder Schoeneich, wofür seine Mutti nicht in irgendeiner Weise zuständig gewesen wäre. Und sein Vati betreute als Landwirt gleich zwei große Güter, während die meisten Gutsherrn schon mit dem Betrieb eines Gutes mehr als genug zu tun hatten.

Henrik liebte seine Eltern und war stolz auf sie. Leider konnte er jedoch darüber mit einem Buben wie Uwe nicht reden. Er wusste von Nick, seinem älteren Bruder, dass irgendetwas in der Ehe der Eltern Breuer nicht stimmte. Genaueres hatte er nicht erfahren, aber er kannte sich in diesen Dingen ganz gut aus. Die meisten Kinder in Sophienlust waren entweder Waisen, oder es herrschten Schwierigkeiten zu Hause bei ihnen. Natürlich gab es auch Ausnahmen, wie zum Beispiel bei Irmela, die in Deutschland das Abitur machen wollte, während ihre Eltern in Indien lebten, wo ihr Vater Arzt war.

Andrea begleitete die beiden Jungen bis zum Einfahrtstor des Lehnschen Grundstücks. Ihr Mann, Dr. Hans-Joachim von Lehn, hatte die ausgedehnte tierärztliche Praxis von seinem Vater übernommen. Wohnhaus und Praxis befanden sich im gleichen Gebäude. Auf dem Grundstück gab es außerdem das Tierheim Waldi & Co. mit dem dazugehörigen Freigehege sowie einen herrlichen Garten. Dem Tierheim war eine kleine Wohnung für den ehemaligen Zirkusangehörigen Helmut Koster angefügt, der die Tiere sachkundig und liebevoll betreute.

»Wiedersehen, Andrea«, rief Henrik fröhlich. »Bleib zurück, Waldi, wir können dich nicht mitnehmen«, schalt er den Dackel Waldi, Chef und Namenspatron des Tierheims, der kläffend hinter den Fahrrädern herraste, während sich seine Familie ausnahmsweise zurückhielt. Für gewöhnlich befand sich die Dackeline Hexe samt den jungen Dackeln Pucki und Purzel ständig im Gefolge des Familienoberhauptes. Auch die riesige schwarze Dogge Severin, Andreas treuer Begleiter, war zu würdevoll, um hinter den Rädern dreinzubellen. Severin hielt sich dicht an Andreas Seite und leckte sich mit der mächtigen Zunge die Nase.

Langsam kehrte Andrea ins Haus zurück, um nach ihrem Söhnchen Peterle zu sehen, das unter der Obhut einer netten Frau aus Bachenau eifrig mit einigen Stofftieren spielte.

Indessen radelten Henrik und Uwe heimwärts. Wie gewöhnlich sprach Uwe kein Wort. Henrik fand das ausgesprochen langweilig. »Kennst du eigentlich inzwischen die Geschichte von Sophienlust?«, fragte er aufs Geratewohl.

»Nein, nicht richtig, Henrik.«

»Soll ich sie dir erzählen?«, erbot sich Henrik.

»Hm, wenn du Lust hast.« Sonderlich groß war Uwes Interesse nicht. Aber daran hatte sich Henrik im Laufe der Zeit schon gewöhnt. Uwe war nun einmal so.

»Früher hat Sophienlust Nicks Urgroßmutter gehört. Sie ist nur seine Urgroßmutter, aber nicht meine oder die von Andrea und Sascha, weil wir eine verwickelte Familie sind.«

»Eine verwickelte Familie? Was ist das?« Uwe warf dem Freund einen kurzen Blick zu.

»Na ja – es ist schon alles in Ordnung und sehr prima bei uns. Nicht das, was du jetzt vielleicht denkst! Vati war früher schon einmal verheiratet, aber seine erste Frau ist gestorben. Sascha und Andrea kommen aus dieser Ehe. Mutti war auch schon einmal verheiratet. Nicks Vati hieß Dietmar von Wellentin, und Nicks Urgroßmutter war Sophie von Wellentin.«

»Hm, das ist wirklich etwas verwickelt. Wohin gehörst du denn?«

Henrik war entzückt, dass Uwe ihm so viel Aufmerksamkeit schenkte. Es war sonst gar nicht so leicht, ihn für eine Sache zu erwärmen.

»Ganz einfach, Uwe. Meine Mutti kam mit Nick, der damals erst fünf Jahre alt war, nach Sophienlust. Sophie von Wellentin hatte nämlich ein Testament gemacht und ihren gesamten Besitz Nick vermacht. Vorher waren Mutti und Nick ziemlich arm gewesen, glaube ich. Dann aber waren sie plötzlich ganz reiche Leute. Sophienlust war früher ein Gutshaus. Aber Nicks Urgroßmutter hat bestimmt, dass daraus ein Kinderheim werden solle. Das hat meine Mutti auch gleich in Angriff genommen. Dann hatte sie Vati getroffen, der genauso allein war wie sie. Die beiden wussten gleich, dass sie einander lieb haben. Deshalb haben sie auch geheiratet. Und dann bin ich angekommen. Du verstehst jetzt, wieso wir eine etwas verwickelte Familie sind? Sascha und Andrea sind richtig Bruder und Schwester, aber ihre Mutti ist tot. Nicks Vater ist auch tot. Nur mein Vati und meine Mutti leben noch. Aber wir machen da keinen Unterschied. Mutti ist für alle großen und kleinen Kinder die Mutter, und Vati ist zugleich Nicks Vater. Wenn man einander lieb hat, ist das ganz einfach.«

Uwe seufzte. »Hm, wenn man einander lieb hat. Nick ist ein Glückspilz. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Urgroßmutter wie er.«

Henrik erschrak. Er bekam nun Gewissensbisse, denn er hatte Uwe aufheitern wollen. Das schien ihm nicht gelungen zu sein.

Nachdenklich fuhr Uwe fort:

»Es gefällt mir, dass das Haus der glücklichen Kinder einem Jungen gehört.«

»Wenn Nick erwachsen ist, wird er Sophienlust natürlich übernehmen. Aber es dauert noch lange. Er geht jetzt ins Gymnasium und braucht noch ein Weilchen bis zum Abitur. Dann muss er studieren. Deshalb macht unsere Mutti zunächst alles.«

»Meine Mutti ist auch sehr lieb. Sie muss viel arbeiten.«

»Auf eurem Gut?«

»Hm, es ist nämlich kein Geld mehr da. Warum, das weiß ich nicht genau.«

»Blöd, dass die Erwachsenen immer Sorgen mit dem Geld haben. Wenn es nach mir ginge, dürfte es überhaupt kein Geld auf der Welt geben. Man kann doch alles selber machen, was man braucht.«

»Alles?«, zweifelte Uwe, der einen scharfen Verstand besaß. »Könntest du zum Beispiel so ein Fahrrad bauen?«

»Na ja, eben fast alles. Außerdem könnte man auch noch tauschen.«

Uwe versank in Nachdenken. Er sagte nichts mehr. Auch Henrik schwieg, denn bei näherer Überlegung leuchtete ihm ein, dass man ganz ohne Geld nicht auskommen konnte auf dieser schönen Welt.

Nun tauchte das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust zwischen den alten Bäumen auf. Die beiden hatten ihr Ziel erreicht.

Nick, der eigentlich auf den wohllautenden Namen Dominik getauft worden war, kam eben mit einer Gruppe von Kindern auf Ponys von einem Ausritt zurück. An seiner Seite trabte die blonde Irmela, die ausgezeichnet zu reiten verstand und ebenso wie Nick schon manchen Jugendpreis nach Sophienlust geholt hatte.

»Na, wo habt ihr gesteckt?«, fragte Nick fröhlich.

»Bei Andrea. Es gab Apfelkuchen, ätsch«, verkündete Henrik laut, während Uwe schwieg.

»Wir haben in der Försterei Saft und Plätzchen bekommen. Plustere dich bloß nicht auf«, sagte Pünktchen lachend. Sie hatte genauso lustige Sommersprossen im Gesicht wie Uwe. Aber im Gegensatz zu dem Jungen war sie wirklich so fröhlich, wie die braunen Punkte auf ihrer Nase es geradezu verlangten. Sie hieß eigentlich Angelina Dommin und war vor vielen Jahren als verwahrlostes kleines Ding von Nick nach Sophienlust gebracht worden.

»Apfelkuchen und Kakao ist aber besser als bloß Saft und Plätzchen«, behauptete Henrik hochnäsig.

»Streiten wir uns nicht. Wir haben einen schönen Ritt hinter uns«, bemühte sich Irmela die Wogen zu glätten. »Wir sind beim Märchenwald gewesen und haben die Namensbäumchen bewundert, Uwe.«

Uwe gab auch jetzt keine Antwort. Es war wirklich nicht leicht, sich mit diesem stillen Jungen zu unterhalten. Dabei war die Sache mit dem Namensbäumchen im Märchenwald durchaus etwas Besonderes. Es handelte sich dabei um eine Schonung, die an der Stelle angelegt worden war, an der vor längerer Zeit ein Waldbrand gewütet hatte. Im Anschluss daran war eine schöne Sitte entstanden, für jedes Kind, das einmal Aufnahme in Sophienlust gefunden hatte, ein Bäumchen zu pflanzen. Ein Schild mit dem Namen des Kindes musste an dem jeweiligen Stämmchen befestigt werden, sodass im kleinen Märchenwald kein einziges Sophienluster Kind jemals vergessen werden konnte.

Die Schilder fertigte Justus an, der ehemalige Gutsverwalter, der seinen Lebensabend in Sophienlust verbrachte und ein inniger Freund aller Kinder war. Justus betreute auch die Ponys und lehrte die Kinder das Reiten. Er kannte sich auch mit jungen Hunden und Katzen aus und war sozusagen für alles und jedes zuständig, auch für kleinere Reparaturen, für vertrauliche Ratschläge und hin und wieder auch für wohlmeinende Warnungen, wenn der Übermut die Kinder allzu waghalsig werden ließ.

Uwe mochte Justus gut leiden. Auch auf Gut Heidehof gab es einen solchen alten Verwalter. Allerdings lebte er noch nicht im Ruhestand, wie Justus, sondern ging Uwes Mutti nach Kräften zur Hand, obwohl er schon ganz weißes Haar hatte und ihm manches bereits schwer wurde. Der Verwalter hieß Jan. Sogar den Anfangsbuchstaben des Namens hatte er mit Justus gemeinsam.

Uwe sprach jedoch mit niemandem darüber, dass er Justus gernhatte, oder über das Gut, über seine Mutti und alles andere.

Irmela merkte, dass es keinen Sinn hatte, Uwe mit ein paar freundlichen Worten aufzumuntern. Deshalb forderte sie die anderen Kinder auf, mit ihr zu den Ställen zu reiten, um dort die kleinen Pferde sachgemäß zu betreuen, wie es sich für echte Reitersleute gehörte.

Wenig später versammelte sich die frohe Gemeinschaft von Sophienlust im Speisezimmer zum Abendessen. Magda, nach einhelligem Urteil der Kinder die beste Köchin der Welt, hatte einen Nudelauflauf mit Backobst gemacht und brauchte sich für mangelnden Zuspruch ihrer Schutzbefohlenen nicht zu beklagen.

Die Sonne sank, und die Kleinen, zu denen auch der siebenjährige Uwe gezählt wurde, mussten zu Bett gehen, während die größeren Kinder sich um ihre restlichen Aufgaben kümmerten oder Spiele spielten.

Nick und Henrik bestiegen ihre Fahrräder, um nach Schoeneich zu radeln.

»Bis morgen, Pünktchen, bis morgen Irmela«, rief Nick.

»Wir treffen uns im Schulbus«, raunte Henrik seinem Freund Uwe zu. »Setzt du dich wieder neben mich?«

Uwe nickte. Sein kleiner Mund blieb stumm.

*

Denise von Schoenecker umarmte Nick und Henrik zärtlich. »Wie geht’s mit den Hausaufgaben?«, fragte sie ahnungsvoll. »Ist noch etwas zu erledigen? Gegessen habt ihr wohl schon bei Magda in Sophienlust.«

»Nudelauflauf. Ich habe drei Teller geschafft«, seufzte Henrik selig.

»Und die Aufgaben?«

»Ich bin noch nicht fertig«, gestand der Bub treuherzig. »Ich war nachmittags mit Uwe bei Andrea in Bachenau. Die Zeit war knapp, Mutti. Aber ich mache die Aufgabe gleich. Sie ist kinderleicht und geht schnell.«

»Gut, Henrik. Ich schaue nachher nach. Und du, Nick?«

»Bei mir ist es nicht kinderleicht und auch nicht gerade wenig«, sagte der lang aufgeschossene Gymnasiast leise. »Aber ich finde am besten abends Ruhe dazu. Außerdem kann ich Vati fragen, falls ich etwas nicht verstehe. Heute schaffe ich es allerdings bestimmt auch ohne seine Hilfe.«

»Das ist gut, denn Vati hat unseren Gast zur Bahn gefahren und wollte auf dem Rückweg noch in Schönborn vorbeischauen, um etwas zu besprechen. Er wird ziemlich spät zurückkommen. Ich selbst werde inzwischen ein paar Briefe schreiben.«

Denise von Schoenecker sah ihren beiden Söhnen nach, als sie davongingen. Wie gut hatte es das Schicksal mit ihr gemeint! An der Seite von Alexander hatte sie ein neues Glück gefunden, und die Aufgabe, seinen Kindern Sascha und Andrea eine zweite Mutter zu sein, hatte ihrem Leben einen wunderbaren neuen Inhalt verliehen. Manchmal kam es ihr vor, als habe sie Alexander erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal getroffen. Und doch war es schon so viele Jahre her. Sascha, damals noch ein Gymnasiast, studierte heute in Heidelberg. Andrea, seine jüngere Schwester, war sogar schon verheiratet und selbst Mutter eines kleinen Buben.

Ein Segen, dass wir Henrik haben, dachte Denise. So merken wir nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Dann ging sie hinauf in ihr Damenzimmer, um einige liegen gebliebene Briefe zu erledigen.

Es war kurz vor neun Uhr, als Denise Henriks Aufgaben durchsah. Der Junge hatte sein Pensum tadellos erledigt. Er bekam einen Kuss und wurde ins Badezimmer geschickt. Wenig später betete Denise mit ihm und löschte das Licht in seinem hübschen Zimmer, in dem es immer ein bisschen unordentlich war.

Alexander von Schoenecker kehrte erst nach zehn Uhr heim. Denise hatte gerade einen Brief beendet, als er zu ihr ins Zimmer trat.

»Wie ist es dir ergangen, Liebste? Ich habe unseren Freund wohlbehalten in den Zug gesetzt und anschließend in Schönborn über die Rübenpreise kluges Zeug geschnackt. Jetzt bin ich heilfroh, wieder bei dir zu sein, Isi.«

Denise nahm seine sonnengebräunte Hand und schmiegte ihre Wange daran. »Du hast mir gefehlt, Alexander. Immerhin bin ich dazu gekommen, einige dringende Briefschulden abzutragen. Unter anderem habe ich an Frau Breuer geschrieben.«

»Lebt der Junge sich in Sophienlust nun besser ein?«, fragte Alexander, der stets an allem, was im Kinderheim geschah, lebhaften Anteil nahm.

»Nein, leider nicht, Alexander. Uwe ist still und bedrückt. In der Schule meldet er sich so gut wie nie. Der Lehrer ließ mich wissen, dass er sich um das Weiterkommen des an und für sich intelligenten Schülers Sorgen macht. Zwar sind seine schriftlichen Arbeiten einigermaßen in Ordnung, doch nimmt er am mündlichen Unterricht so gut wie gar nicht teil, sondern schaut immer mit betrübtem Gesicht zum Fenster hinaus. Er hat Heimweh.«

»Eine traurige Geschichte, Isi. Frau Breuer hat sicherlich schon genug Sorgen. Hast du ihr mitgeteilt, dass Uwe sich nicht sonderlich gut einfügt?«

»Nein, ich wollte sie nicht belasten. Ich habe ihr nur geschrieben, dass sie für die Heimkosten nichts zu bezahlen braucht. Selbstverständlich finanzieren wir Uwes Aufenthalt in Sophienlust aus der Stiftung.«

»Ja, das ist gewiss im Sinne von Sophie von Wellentin. Weißt du, diese alte Dame hat sich wahrhaftig ein wundervolles Denkmal zu setzen gewusst.«