Aus der Tiefe - Oscar Wilde - E-Book

Aus der Tiefe E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

Weltliteratur von Oscar Wilde - kongenial neu übersetzt von Mirko Bonné

Oscar Wildes langer Brief aus dem Gefängnis an seinen früheren Geliebten Lord Alfred „Bosie“ Douglas ist eine Lebensbeichte. Um ihn zu gewinnen, setzte Wilde alles aufs Spiel, seine Ehe, seine Familie, sein Ansehen, seinen Ruhm und sein Vermögen. Gegen den prüden viktorianischen Zeitgeist setzte er seinen Dandyismus, die Feier der diesseitigen Freuden bis hin zur Verschwendung. Es folgte der Absturz ins Bodenlose: Ein öffentlicher Prozess, in dem er zur Unperson gemacht wurde. „Aus der Tiefe“ ist eine erschütternde Geschichte von verratener Leidenschaft und eine unvergleichliche Liebeserklärung. In dem Band enthalten sind weitere Briefe aus dem Gefängnis sowie die „Ballade vom Zuchthaus Reading“.

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Seitenzahl: 415

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Das ist das Cover des Buches »Aus der Tiefe« von Oscar Wilde, Mirko Bonné

Über das Buch

Weltliteratur von Oscar Wilde — kongenial neu übersetzt von Mirko BonnéOscar Wildes langer Brief aus dem Gefängnis an seinen früheren Geliebten Lord Alfred »Bosie« Douglas ist eine Lebensbeichte. Um ihn zu gewinnen, setzte Wilde alles aufs Spiel, seine Ehe, seine Familie, sein Ansehen, seinen Ruhm und sein Vermögen. Gegen den prüden viktorianischen Zeitgeist setzte er seinen Dandyismus, die Feier der diesseitigen Freuden bis hin zur Verschwendung. Es folgte der Absturz ins Bodenlose: Ein öffentlicher Prozess, in dem er zur Unperson gemacht wurde. »Aus der Tiefe« ist eine erschütternde Geschichte von verratener Leidenschaft und eine unvergleichliche Liebeserklärung. In dem Band enthalten sind weitere Briefe aus dem Gefängnis sowie die »Ballade vom Zuchthaus Reading«.

Oscar Wilde

Aus der Tiefe

Gefängnisbriefe und Die Ballade vom Zuchthaus Reading

Herausgegeben und übersetzt von Mirko Bonné

Mit einem Nachwort von Colm Tóibín

Hanser

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Oscar Wilde

Impressum

Inhalt

Briefe

Briefe von April 1895 bis Februar 1897

De profundis

Briefe von Mai 1897 bis März 1898

Ballade

Die Ballade vom Zuchthaus Reading

Anhang

Nachwort

Personenregister

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

Zeittafel

Briefe

Briefe von April 1895 bis Februar 1897

An Lord Alfred Douglas

Kgl. Gefängnis Holloway

Montagabend [29. April 1895]

Mein liebster Junge,

diese Zeilen sollen Dich meiner unsterblichen, meiner ewigen Liebe versichern. Morgen ist alles vorbei. Sollten Gefängnis und Schande mein Schicksal sein, so bedenke, dass meine Liebe zu Dir und zur Vorstellung, dass Du mich ebenso liebst — zu diesem sogar noch göttlicheren Glauben —, mich in meinem Unglück stützen und, so hoffe ich, mir ermöglichen werden, meinen Kummer aufs Duldsamste zu ertragen. Ist das Ziel und der Ansporn in meinem jetzigen Leben die Hoffnung, nein eher die Gewissheit, Dir in irgendeiner Welt wiederzubegegnen, ah! — so muss ich deswegen weiter hier auf dieser Welt leben.

Der liebe XXX kam mich heute besuchen. Ich gab ihm etliche Nachrichten an Dich. Er sagte mir eine Sache, die mich beruhigte: Es solle meiner Mutter nie an etwas fehlen. Ich habe immer für ihren Lebensunterhalt gesorgt, und der Gedanke, dass sie Entbehrungen zu verkraften haben könnte, machte mich unglücklich. Was Dich betrifft (holder Junge, christusgleich Dein Herz), was Dich betrifft, bitte ich Dich, sobald Du alles Dir Mögliche getan hast, geh nach Italien, komm zur Ruhe und schreib diese liebreizenden Gedichte mit der Dir dabei eigenen, so sonderbaren Anmut. Halt Dich von England fern, egal, was man Dir sagt. Gäbe es auf Korfu oder einer verwunschenen Insel irgendwo eines Tages ein kleines Haus, wo wir zusammen leben könnten, oh, das Leben wäre süßer, als es je war! Deine Liebe hat breite Schwingen und ist stark, Deine Liebe dringt durch meine Zellengitter bis zu mir und tröstet mich, Deine Liebe ist das Licht all meiner Stunden. Ich weiß, Leute, die nicht wissen, was Liebe ist, werden schreiben, sobald sich das Los gegen uns wendet, ich hätte einen schlechten Einfluss auf Dein Leben gehabt. Sollten sie das, so schreib ihnen, entgegne ihnen, dass dem nicht so ist. Unsere Liebe war immer schön und immer edel, und sollte ich in einer entsetzlichen Tragödie am Ende der Dumme sein, dann deshalb, weil das Wesen dieser Liebe keiner verstanden hat. In Deinem Brief von heute Morgen sagst Du etwas, das mir Mut macht. Ich muss es mir merken. Du schreibst, es sei Dir und mir gegenüber meine Pflicht, trotz allem doch zu leben. Ich glaube, das stimmt. Ich werde es versuchen und will es tun. Unterrichte Du bitte Mr. Humphreys von Deinen Schritten, sodass er mir beim nächsten Besuch berichten kann, wo Du steckst. Ich glaube, Anwälte dürfen Häftlinge ziemlich oft besuchen. So könnte ich mich mit Dir austauschen.

Ich bin so froh, dass Du weggegangen bist! Ich weiß, was Dich das gekostet haben muss. Ich hätte Todesängste bei dem Gedanken gehabt, dass Du in England bist und vor Gericht Dein Name genannt wird. Ich hoffe, Du hast Ausgaben von all meinen Büchern. Meine wurden alle verkauft. Ich strecke Dir die Hände entgegen. Oh, möge ich leben, um Dein Haar und Deine Hände zu spüren. Ich glaube, Deine Liebe wird über mein Leben wachen. Sollte ich sterben, möchte ich, dass Du ein angenehmes, friedvolles Leben irgendwo führst, mit Blumen, Bildern, Büchern und viel, viel Arbeit. Versuch, bald von Dir hören zu lassen. Ich schreibe Dir diesen Brief mitten in einer gigantischen Qual — dieser lange Tag im Gericht hat mich völlig erschöpft. Liebster Junge, unter allen jungen Männern der süßeste, geliebteste und liebenswerteste. Oh, warte auf mich! Wart auf mich! Ich bin auch jetzt, so wie immer seit dem Tag, als wir uns trafen, sehnlichst und mit unsterblicher Liebe Dein

Oscar

An Lord Alfred Douglas

[? 2, Courtfield Gardens]

[Mai 1895]

Was Dich betrifft, so hast Du mir in der Vergangenheit die Schönheit des Lebens geschenkt und wirst das ebenso in Zukunft, so es eine Zukunft gibt. Deshalb werde ich Dir auf ewig dankbar dafür sein, dass Du mich stets mit Anbetung und Liebe erfüllt hast. Diese Freudentage waren unsere Morgenröte. Noch in Angst und Schmerz, in Kummer und Demütigung, fühle ich jetzt, dass mir meine Liebe zu Dir und Deine zu mir mein Leben bedeuten, göttliche Empfindungen, die mich alle Verbitterung erdulden lassen. Nie in meinem Leben war jemand lieber als Du, nie war eine Liebe größer, heiliger, schöner …

Lieber Junge, im Vergnügen oder im Gefängnis waren mir Du und der Gedanke an Dich alles. Oh! Behalte mich immer im Herzen — nie bist Du meinem fern. Ich denke viel mehr an Dich als an mich selbst, und quält mich auch manchmal der Gedanke an furchtbare, schändliche Leiden, der schlichte Gedanke an Dich reicht aus, mich zu stärken und meine Wunden zu heilen. Sollen allein Schicksal, Nemesis oder die ungerechten Götter die Schuld an allem haben, was passiert ist.

Jede große Liebe hat ihre Tragödie, und so jetzt auch unsere, doch Dich gekannt und mit so tiefer Hingabe geliebt zu haben, Dich eine Zeit lang in meinem Leben gehabt zu haben, die einzige Zeit, die ich für unvermindert wundervoll halte, das ist mir genug. Meiner Leidenschaft fehlen die Worte, aber Du kannst mich verstehen, nur Du. Unsere Seelen wurden füreinander geschaffen, und weil ich Deine kenne, da ich sie liebe, hat meine viele Übel überwunden, hat die Vollkommenheit verstanden und ist eingegangen ins göttliche Wesen der Dinge.

Schmerz, so er kommt, kann nicht ewig dauern; bestimmt werden Du und ich uns eines Tages wiedersehen, und mag dann mein Gesicht eine Kummermaske und mein Körper vor Einsamkeit ausgemergelt sein, Du, nur Du wirst die Seele wiedererkennen, die schöner ist, weil Deiner begegnet, die Seele des Künstlers, der in Dir sein Ideal fand, des Liebhabers der Schönheit, dem Du als ein makelloses und vollkommenes Wesen erschienst. Jetzt denke ich an Dich als einen Jungen mit goldenem Haar und Christi Herz in Dir. Ich weiß jetzt, wie viel größer als alles andere die Liebe ist. Du hast mich das göttliche Geheimnis der Welt gelehrt.

(Brief unvollständig erhalten.)

An Lord Alfred Douglas

[? 2, Courtfield Gardens]

[Mai 1895]

Mein Kind,

heute wurde darum ersucht, die Urteile einzeln zu verkünden. Taylor wird wahrscheinlich in diesem Moment verurteilt, sodass ich hierher zurückkommen konnte. Meine süße Rose, meine zarte Blume, meine Lilienlilie, ich werde womöglich im Gefängnis die Kraft der Liebe erkunden. Ich werde sehen, ob mir das bittere Wasser nicht süß wird durch die Heftigkeit der Dir entgegengebrachten Liebe. Ich habe Momente durchlebt, in denen ich dachte, klüger wäre, sich zu trennen. Ah! Momente von Schwäche und Irrsinn! Jetzt sehe ich, dass dies mein Leben verschandelt, meine Kunst ruiniert und die musikalischen Akkorde unterbrochen hätte, die eine vollkommene Seele ausmachen. Auch mit Schlamm bedeckt werde ich Dich preisen, aus den tiefsten Abgründen werde ich zu Dir schreien. In meiner Einsamkeit wirst Du bei mir sein. Ich bin entschlossen, nicht aufzubegehren, sondern durch Hingabe an die Liebe jeden Frevel hinzunehmen, meinen Körper entehren zu lassen, solange meine Seele stets das Bild von Dir bewahrt. Von Deinem seidigen Haar bis zu Deinen zarten Füßen bist Du die Vollkommenheit für mich. Vergnügen verbirgt die Liebe vor uns, Schmerz jedoch enthüllt sie in ihrem Wesen. O liebstes der Geschöpfe, sollte einer zu Dir kommen, verletzt von Stille und von Einsamkeit, entehrt, ein Gespött den Menschen — oh! Du kannst ihm die Wunden schließen, indem Du sie berührst, und wiederaufleben lassen seine Seele, von Unglück einen Augenblick lang schon erstickt. Nichts wird Dir dann schwerfallen, und bedenke, diese Hoffnung ist, was mich weiterleben lässt, diese Hoffnung allein. Was die Weisheit für den Philosophen ist, was Gott für seinen Heiligen, bist für mich Du. Dich in meiner Seele zu bewahren, das ist das Ziel dieser Pein, die Menschen Leben nennen. O mein Liebling, Du, den ich über alles gernhabe, weiße Narzisse auf einem ungemähten Feld, denk an die Last, die auf Dich fällt, eine, die allein die Liebe leichtmacht. Doch sei darum nicht traurig, sondern froh, mit unsterblicher Liebe die Seele eines Menschen erfüllt zu haben, der in der Hölle jetzt jammert und doch den Himmel im Herzen trägt. Ich liebe Dich, ich liebe Dich, mein Herz ist eine Rose, die ihr Blühen Deiner Liebe verdankt, mein Leben ist eine Wüste, durchweht von der köstlichen Brise Deines Atems und mit kühlen Quellen, die Deine Augen sind; der Abdruck Deiner kleinen Füße erschafft mir schattige Täler, der Duft Deines Haares ist wie Myrrhe, und wohin Du auch gehst, verströmst Du den Duft des Cassia-Baums.

Hab mich immer, immer lieb. Du warst die höchste, die vollkommene Liebe meines Lebens; es kann keine andere geben.

Ich beschloss, nobler und schöner wäre, zu bleiben. Wir hätten nicht zusammen sein können. Ich wollte nicht als Feigling oder Fahnenflüchtiger dastehen. Ein falscher Name, eine Verkleidung, ein gehetztes Leben, das alles ist nichts für mich, dem Du wardst offenbart auf jenem hohen Hügel, wo verklärt wird alles Schöne.

O süßester aller Jungen, von allen Lieben meistgeliebt, meine Seele hängt an Deiner, mein Leben ist Dein, und in allen Welten voll Weh und Wonne bist Du mein Ideal von Bewunderung und Freude.

Oscar

An Robert Ross

[Ihrer Majestät Gefängnis, Reading]

Samstag [30. Mai 1896]

Lieber Robbie,

gestern konnte ich meine Gedanken nicht sammeln, da ich Dich bis zu dem Tag nicht erwartet hatte. Wenn Du zu mir kommst, bist Du dann so gut und sagst immer am Tag vorher Bescheid? Alles Plötzliche regt mich nur auf.

Du sagtest, Douglas will mir einen Gedichtband widmen. Bitte schreib ihm auf der Stelle und sag ihm, er soll nichts dergleichen tun. Ich könnte eine solche Widmung weder annehmen noch zulassen. Der Vorschlag ist widerwärtig und grotesk. Außerdem hat er leider eine Reihe Briefe von mir in seinem Besitz. Ich möchte, dass er diese unverzüglich und ohne Ausnahme Dir aushändigt — Dich bitte ich, sie zu gegebener Zeit zu versiegeln. Falls ich hier sterbe, wirst Du sie vernichten. Falls ich überlebe, werde ich sie selbst vernichten. Es soll sie nicht geben. Der Gedanke, dass sie in seinen Händen sind, ist furchtbar für mich, denn obwohl meine unglückseligen Kinder natürlich nie meinen Namen tragen werden, wissen sie dennoch, wessen Söhne sie sind, und muss ich versuchen, sie von möglichen weiteren widerlichen Enthüllungen oder Skandalen abzuschirmen.

Außerdem hat Douglas ein paar Sachen, die ich ihm geschenkt habe: Bücher und Schmuck. Ich möchte, dass er Dir auch diese aushändigt — für mich. Ich weiß, unter Umständen, die auszuführen müßig ist, hat er ein paar Schmuckstücke weggegeben, einige aber hat er noch, so das goldene Zigarettenetui, die Perlenkette und das Emaillemedaillon, das ich ihm letztes Weihnachten geschenkt habe. Ich möchte sichergehen, dass er nichts von dem behält, was ich ihm je geschenkt habe. Bitte versiegle alles und bewahre es auf. Die Vorstellung, dass er etwas trägt oder besitzt, was ich ihm geschenkt habe, ist mir besonders zuwider. Natürlich kann ich die grässlichen Erinnerungen an die zwei Jahre, in denen ich das Pech hatte, ihn um mich zu haben, nicht abschütteln, so wenig wie Erinnerungen an die Weise, mit der er mich in den Abgrund des Verderbens und der Schande gestürzt hat, nur um seinen Hass auf seinen Vater und andere unwürdige Auswüchse zu befriedigen. Aber ich will ihn nicht im Besitz meiner Briefe oder Geschenke wissen. Ich weiß, dass mir, selbst wenn ich diesen elendigen Ort hinter mir lassen sollte, nur mehr ein Leben als Paria bevorsteht — voller Schande, Armut und Geringschätzung —, doch werde ich dann wenigstens weder etwas mit ihm zu tun haben noch ihm erlauben, mir nahe zu kommen.

Schreib ihm also bitte sofort und krieg diese Sachen: Bis ich nicht weiß, dass Du sie hast, werde ich noch unglücklicher sein als sonst. Dich darum zu bitten, ist unschön, ich weiß, zumal er Dir womöglich mit rüpelhaften Beschimpfungen antworten wird, wie er es gegenüber Sherard getan hat, als er daran gehindert wurde, weitere meiner Briefe zu veröffentlichen, doch bitte ich Dich inständig, Dich darum nicht zu kümmern. Sobald Du sie erhalten hast, schreib mir bitte und widme Dich in Deinem Brief wie schon im letzten auch allen interessanten Neuigkeiten von Literatur und Bühne. Lass mich wissen, wieso Irving das Lyceum verlässt usw., was er spielt; was in jedem Theater gegeben wird, wen Stevenson in seinen Briefen aufs Korn nimmt — alles, was meine Gedanken für eine Stunde ablenken kann von dem einen widerwärtigen Thema meiner Haft.

Schreibst Du Douglas, so zitiere meinen Brief besser vollständig und freiheraus, damit er keine Schlupflöcher für Ausflüchte hat. Eigentlich kann er unmöglich ablehnen. Er hat mein Leben ruiniert — damit sollte er sich zufriedengeben.

Ich bin tief berührt von Lady Wimbledons Freundlichkeit. Es ist sehr gütig von Dir, mich besuchen zu kommen. Liebe Grüße an More, den ich so gern sehen würde.

O. W.

Hat sich irgendetwas bei Carlos Blacker und Newcastle ergeben? Der Prozess. Die Sphinx hat ein paar von D.s Briefen an mich — sie sollten ihm unverzüglich zurückgegeben oder vernichtet werden.

O. W.

An den Innenminister

Ihrer Majestät Gefängnis, Reading

2. Juli 1896

An den ehrenwerten Oberstaatssekretär Ihrer Majestät für das Innenministerium.

Die Eingabe des oben genannten Häftlings bekundet demütig, dass er nicht bestrebt ist, die schrecklichen Vergehen, deren er zu Recht für schuldig befunden wurde, in irgendeiner Weise zu beschönigen, hinweisen möchte er jedoch darauf, dass derlei Vergehen Formen sexuellen Wahns sind und als solche nicht nur durch die moderne pathologische Wissenschaft, sondern gleichfalls durch zahlreiche moderne Gesetzgebungen anerkannt, so besonders in Frankreich, Österreich und Italien, wo die betreffenden Gesetze mit der Begründung aufgehoben wurden, dass diesen Delikten Erkrankungen zugrunde liegen, die von einem Arzt behandelt werden müssen, und keine von einem Richter zu bestrafende Verbrechen darstellen. In den Werken bedeutender Wissenschaftler wie Lombroso und Nordau, um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen, wird dies besonders mit Blick auf die enge Verbindung zwischen Wahn und literarischem wie künstlerischem Temperament betont, wobei Professor Nordau in seinem 1894 erschienenen Buch über »Degeneriertheit« dem Bittstellenden als besonders typischem Beispiel für dieses fatale Gesetz ein ganzes Kapitel gewidmet hat.

Der Bittstellende ist sich inzwischen sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die drei Jahre vor seiner Verhaftung in intellektueller Hinsicht den glanzvollen Höhepunkt seines Lebens bildeten (vier Stücke aus seiner Feder wurden mit großem Erfolg auf die Bühne gebracht, nicht nur in England, Amerika und Australien, sondern in fast jeder europäischen Hauptstadt, daneben erschienen zahlreiche Bücher, die im In- und Ausland großes Interesse erregten), und dennoch litt er während dieser ganzen Zeit an der fürchterlichsten Form von Erotomanie, welche ihn seine Frau und Kinder, sein hohes Ansehen in der Londoner und Pariser Gesellschaft, seine europaweite Anerkennung als Künstler, die Ehre seines Namens und seiner Familie, ja seine ganze Menschlichkeit selbst vergessen ließ, wodurch er zur hilflosen Beute abscheulichster Leidenschaften und einer Bande von Leuten wurde, die nur auf ihren eigenen Vorteil aus waren und ihn dann in sein grässliches Verderben trieben.

In der beständigen Befürchtung, dieser Wahn, der sich zuvor in monströser sexueller Perversion gezeigt hat, könnte sich auf sein gesamtes Wesen und Denken ausdehnen, schreibt der Bittstellende diese Einlassung mit der ernstlichen Bitte, sie möge umgehend Berücksichtigung finden. So furchtbar jeder wirkliche Wahn ist — der Schrecken des Wahns ist nicht weniger entsetzlich und verdirbt die Seele nicht minder.

Länger als dreizehn abscheuliche Monate ist der Bittsteller nun dem furchtbaren System der Einzelhaft ausgesetzt; ohne jeglichen menschlichen Austausch; ohne Schreibutensilien, die zu verwenden einen zeitweise ablenken könnte; ohne geeignete oder ausreichende Bücher, die für jeden schreibenden Menschen so wichtig sind, so lebensnotwendig für die Wahrung des mentalen Gleichgewichts; verurteilt zu absolutem Schweigen; abgeschnitten von allem Wissen über die Außenwelt und ihrer Lebendigkeit; ein Dasein, das aus bitteren Herabwürdigungen und fürchterlichen Entbehrungen besteht, grässlich ob seiner allgegenwärtigen Monotonie aus trostlosen Aufgaben und krank machenden Entbehrungen; die Verzweiflung und das Elend dieses einsamen und kaputten Lebens noch verstärkt durch den Tod seiner Mutter, Lady Wilde, an der sein Herz hing, wie dadurch, den seiner jungen Frau und seinen zwei Kindern überantworteten Ruin als solchen erkannt zu haben.

Mit besonderer Erlaubnis darf der Bittstellende zwei Bücher je Woche lesen — nur ist die Gefängnisbibliothek äußerst klein und dürftig: Sie verfügt über kaum zwanzig für einen gebildeten Menschen geeignete Bücher. Jene, die auf Wunsch des Häftlings freundlicherweise hinzugefügt wurden, hat er gelesen und wiedergelesen, bis sie nahezu alle Bedeutung für ihn verloren. Ihm bleibt praktisch nichts zu lesen: Die Welt der Ideen ist ihm ebenso verschlossen wie die wirkliche; ihm wird alles genommen, was ein verwundetes und erschüttertes Gemüt trösten, zerstreuen oder heilen könnte — und so grauenhaft alle körperlichen Entbehrungen des modernen Gefängnislebens sind, sie sind nichts verglichen mit dem umfassenden Mangel an Literatur für jemanden, für den die Literatur einmal das Größte im Leben war, die Weise, wie Vollkommenheit verwirklicht werden, durch die, und nur durch sie, der Intellekt sich lebendig fühlen könnte.

Es ist nur natürlich, dass, während er in dieser Stille lebt, dieser Einsamkeit, dieser Isolierung von allen menschlichen und menschenwürdigen Einflüssen, diesem Grab für die noch nicht Toten, den Bittstellenden Tag und Nacht zu jeder wachen Stunde die Angst vor absolutem und totalem Wahnsinn quält. Er ist sich bewusst, dass sein künstlich von allen rationalen und intellektuellen Interessen ausgeschlossener Verstand nichts tut und nichts tun kann, als über jene Formen sexueller Perversität und abscheulicher Ausprägungen der Erotomanie nachzudenken, die ihn von Rang und Ruhm zu Zelle und Zuchthaus gebracht haben — unvermeidlich, dass dies geschehen würde. Der Verstand wird zum Denken gezwungen, und enthält man ihm die Grundlagen für gesunde geistige Beweglichkeit wie Bücher, Schreibutensilien, Kumpelei und Kontakt mit der lebendigen Welt und dergleichen vor, so fällt er, leidet er unter sinnlichen Monomanien, mit Sicherheit krankhaften Passionen, obszönen Fantasien und verderblichen, entweihenden und zerstörerischen Gedanken zum Opfer. Verbrechen werden vergessen oder vergeben, Laster leben weiter: Sie bauen ihr Heim in dem, der ihnen durch grauenhaften Zufall oder Schicksal zum Opfer fällt; eingenistet in sein Fleisch, breiten sie sich wie ein Aussatz über ihn aus; sie zehren an ihm wie eine seltsame Krankheit; am Ende werden sie zu einem wesentlichen Teil des Menschen. Keine noch so innigliche Reue vertreibt sie, keine noch so bitteren Tränen spülen sie weg — und durch seine grausame Isolierung von allem, was eine zuschanden gegangene Seele retten könnte, reicht der Gefängnisalltag das Opfer weiter wie einen an Hand und Fuß Gefesselten, nur damit er besessen und belastet wird von Gedanken, die er am meisten verabscheut und denen er daher nicht entkommen kann.

Seit mehr als einem Jahr erträgt dies der Bittstellende. Er erträgt es nicht länger. Im deutlichen Bewusstsein einer drohenden Geistesgestörtheit, die sich nicht nur auf einen Wesensteil beschränkt, vielmehr sein Wesen in Gänze zu erfassen droht, ist es sein Wunsch, ja betet er dafür, seine Strafe möge ihm nun erlassen werden, damit ihn Freunde ins Ausland bringen und er sich in medizinische Obhut begeben kann, um von dem sexuellen Wahn, an dem er leidet, geheilt zu werden. Er weiß nur zu gut, dass seine Karriere als Dramatiker und Schriftsteller zu Ende ist, dass sein Name aus dem Kanon der englischen Literatur getilgt wurde und nie wieder darin Eingang finden wird; dass seine Kinder seinen Namen nicht mehr tragen können und ihm ein unbedeutendes Leben in einem entlegenen Land bevorsteht. Er weiß, dass ihn nach dem auferlegten Bankrott die bitterste Armut erwartet und dass alle Freude und Schönheit des Daseins ihm auf immer genommen sind — und doch hält er bei aller Trostlosigkeit zumindest an der Hoffnung fest, nicht geradewegs aus dem Zuchthaus ins Irrenhaus überstellt zu werden.

So furchtbar die Auswirkungen des Gefängnissystems sind — ein System, so grauenhaft, dass es Herzen verhärtet, die es nicht bricht, und diejenigen, die das System verkörpern müssen, im selben Maße brutalisiert wie diejenigen, die sich ihm zu unterwerfen haben —, zumindest zählt zu seinen Zielen nicht der Wunsch, die menschliche Vernunft zu zerstören. Auch wenn das System gar nicht beabsichtigt, Menschen besser zu machen, will es sie doch ebenso wenig in den Wahnsinn treiben, weshalb der Bittstellende eindringlich darum ersucht, ihm möge erlaubt werden, sein Leben fortzusetzen, solange ihm noch etwas Verstand bleibt, solange Worte noch eine Bedeutung und Bücher eine Botschaft haben, solange noch eine gewisse Möglichkeit besteht, dass durch Medizin und humane Behandlung das Gleichgewicht eines erschütterten Gemüts wiederhergestellt und die Gesundheit einem Wesen zurückgegeben werden kann, das einmal Unverdorbenheit kannte — solange noch Zeit ist, das Innenleben von einem abstoßenden Wahn zu befreien und die Seele, wenn auch nur für kurze Zeit, reinzuwaschen.

Der Bittstellende ersucht den Innenminister insofern eindringlichst, so er dies wünscht, die Meinung von irgend anerkanntem medizinischen Experten darüber einzuholen, was die Einzelhaft in Stille und Isolation für jemanden unvermeidlich zur Folge hätte, der bereits an sexueller Monomanie in schauderhafter Ausprägung leidet.

Ferner möchte der Bittstellende darauf hinweisen, dass sein körperlicher Gesundheitszustand hier zwar ein in vielerlei Hinsicht besserer ist als in Wandsworth, wo er zwei Monate lang wegen eines umfassenden körperlichen und geistigen Zusammenbruchs aufgrund Hunger und Schlaflosigkeit im Hospital lag, dass er aber seit Beginn seiner Haft das Hörvermögen seines rechten Ohrs fast vollständig durch einen Abszess eingebüßt hat, der Ursache für eine Perforation des Trommelfells ist. Der hiesige Amtsarzt hat erklärt, dass er zu keinerlei Abhilfe in der Lage sei und dass mein Ohr sein Hörvermögen wohl komplett einbüßen werde. Der Bittstellende hingegen ist überzeugt, dass ihm unter der Obhut eines Spezialisten im Ausland sein Gehör erhalten bleiben könnte. Der bedeutende Aurist Sir William Dalby versicherte ihm, es bestehe bei richtiger Pflege überhaupt kein Grund, warum sein Ohr taub werden sollte. Aber obwohl der Abszess nun bereits seit Haftbeginn andauert und sich das Gehör von Woche zu Woche verschlechtert, wurde noch nicht einmal ein Behandlungsversuch unternommen. Drei Mal spülte man das Ohr zu Untersuchungszwecken mit klarem Wasser, das ist alles. Der Bittstellende ist deshalb natürlich besorgt, das andere Ohr könnte, wie so häufig, auf gleiche Weise angegriffen sein und zum Elend eines zerrütteten und geschwächten Gemüts das Grauen einer kompletten Taubheit hinzutreten.

Auch sein Augenlicht, auf das er wie die meisten Literaten immer besonders achten musste, hat durch das erzwungene Leben in einer weiß getünchten Zelle mit nachts flackernder Gasflamme sehr gelitten: Er stellt große Schwäche und Schmerzen in den Sehnerven fest und sieht Gegenstände selbst aus geringer Entfernung verschwommen. Während des Ausgangs im Gefängnishof verursacht das helle Tageslicht dem Sehnerv häufig quälende Schmerzen, sodass nun seit vier Monaten Anzeichen von nachlassendem Sehvermögen eine Quelle schrecklicher Angst darstellen und, sollte der Bittstellende seine Haft fortzusetzen haben, nach aller erdenklichen Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit von zunehmender Geistesgestörtheit und Verlust des Verstandes Blindheit und Taubheit hinzukommen.

Es gibt weitere Befürchtungen, auf deren Gefahrenquellen der Bittstellende aus Platzgründen aber nicht eingehen kann. Die Hauptgefahr besteht für ihn in der Geistesgestörtheit, der Hauptschrecken in der Geistesgestörtheit, daher gilt sein Gebet der Hoffnung, seine lange Haft mit dem damit verbundenen Zusammenbruch möge als ausreichende Strafe betrachtet und die Haft nun beendet und nicht nutzlos oder rachsüchtig verlängert werden, bis der Wahnsinn sowohl Seele wie auch Körper für sich als Beute beansprucht hat, um sie derselben Herabwürdigung und derselben Schande auszusetzen.

Oscar Wilde

An More Adey

[Ihrer Majestät Gefängnis, Reading]

Freitag [25. September 1896]

Mein lieber More,

über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Ich hatte Angst, Bobbie könnte krank und dies der Grund für die Verzögerung sein. Es war eine wahre Freude, so ausführlich von ihm zu hören und mir vorstellen zu können, wie sein alter Witz und sein sympathisches Scherzen das ganze Haus erfassen — ich hoffe, es geht ihm bald wieder gut. Bitte danke seiner Mutter für ihre freundlichen Nachrichten. Ich bin sehr froh, dass sie verschont geblieben ist und während seiner Krankheit auf Bobbie aufpassen konnte.

Ich danke Dir sehr, dass Du dem Innenminister geschrieben hast. Hoffentlich wird es etwas bewirken. Nur scheint das Mitgefühl ja vergeblich an die Türen der Bürokratie zu klopfen, und in ebendem Maß, wie sie straft, tötet die Macht, was einmal gütig und sanftmütig in einem Menschen war: Ohne es zu bemerken, verliert man seine natürliche Freundlichkeit oder hat Angst davor, Gebrauch von ihr zu machen.

Trotzdem hoffe ich, dass sich etwas machen lässt. Ich gebe zu, dass ich der Aussicht auf einen weiteren Winter in Haft mit Grauen entgegensehe — eine entsetzliche Vorstellung. Man muss lange vor Tagesanbruch aufstehen und in der finster-kalten Zelle bei flackernder Gasflamme mit seiner Arbeit beginnen; durch das vergitterte Fensterchen scheint nur Düsternis Eingang zu finden; und oft vergehen Tage, ohne dass man auch nur einmal im Freien war — Tage, an denen man erstickt, Tage, die endlos sind in ihrer dumpfen Eintönigkeit aus Apathie oder Verzweiflung. Könnte ich entlassen werden, bevor es Winter wird, wäre das mehr als alles für mich. Am 19. November werde ich achtzehn Monate von diesem schwarzen, ekelhaften Leben hinter mich gebracht haben — vielleicht wird sich ja dann etwas machen lassen. Ich weiß, Du wirst Dein Bestes tun … ich kann Dir gar nicht sagen, wie viel mir Deine große, wundervolle Freundlichkeit bedeutet.

Was meine Kinder betrifft, so meine ich, sie sollten um ihrer selbst willen wie auch um meinetwillen nicht dazu erzogen werden, mich mit Hass oder Verachtung zu betrachten — ein Vormund aus der Verwandtschaft meiner Frau käme deswegen nicht infrage. Natürlich sähe ich es gern, würde Arthur Clifton das Amt übernehmen. Bitte also Arthur darum, nunmehr mein Rechtsbeistand zu sein — Humphreys ist als solcher so gar nicht zu gebrauchen: Obwohl Leverson seine exorbitante Rechnung beglichen hat, kam Humphreys kein einziges Mal wegen meines Bankrotts zu mir — was zur Folge hatte, dass ich völlig grundlos für zahlungsunfähig erklärt wurde. Falls Arthur zustimmt, mein Rechtsbeistand zu werden, kann er mich auf Antrag beim Innenminister hier im Anwaltszimmer für eine Stunde ohne Anwesenheit eines Wärters besuchen kommen, die ganze Sache mit mir besprechen und dann meiner Frau zu allem schreiben. Ich würde mich gut aufgehoben fühlen, übernähme Arthur die Vormundschaft für meine Kinder. Und sein anwaltlicher Rat wäre von großem Nutzen. Könnte er mich in den nächsten zwei Wochen besuchen kommen, wäre das ganz großartig.

Der Auszug aus Lady Wimbledons Brief hat mich tief berührt. Dass sie ein wohlwollendes Andenken an mich bewahrt und meiner Zukunft mit Vertrauen, ja Hoffnung entgegensieht, erhellt mir viele furchtbare Stunden der Herabwürdigung oder Verzweiflung. Ich habe versucht, aus der Erinnerung die Florentine Tragedy zu Papier zu bringen — aber nur Bruchstücke davon sind mir noch präsent, weil ich mich außerstande sehe, mir etwas auszudenken: Die Stille, die völlige Einsamkeit, die Abschottung von allen menschlichen und menschlich machenden Einflüssen töten die Hirnleistung ab; das Hirn verliert seine Lebendigkeit, in der Monotonie des Leidens liegt es in Ketten. Doch mache ich mir Notizen zu Büchern, die ich lese, und schreibe Zeilen und Wendungen von Dichtern ab — der bloße Umgang mit Feder und Tinte hilft mir. Das Grauen der Haft ist das Grauen kompletter Verrohung: Es ist der immerzu vor einem liegende Abgrund, der sich auf dem eigenen Gesicht und den Gesichtern derer, die man sieht, täglich selbst einbrennt. Ich klammere mich an mein Notizbuch — das hilft mir. Bevor ich es hatte, haben sich meine Gedanken in sehr schlimmen Kreisen nur um sich selbst gedreht.

Ich freue mich, dass Du und Robert Sherard befreundet seid. Ich bezweifle nicht, dass er sehr indiskret ist, nur ist er ebenso treu und hat meine Briefe vor der Veröffentlichung bewahrt. Ich weiß, alles darin war Ausdruck törichter, unangebrachter, halbherzig erwiderter Zuneigung zu jemandem von rohem und gefühllosem Wesen, mit einer ungeschlachten Gier und gewöhnlichen Gelüsten, ebendeshalb wäre ihre Veröffentlichung ja so beschämend gewesen. Der Galgen, an dem ich baumelnd in die Geschichte eingehe, ist schon hoch genug. Es ist nicht nötig, dass ihn ausgerechnet dieser eine Mensch um seiner eigenen Eitelkeit willen noch grässlicher macht.

Ich freue mich, dass Pierre Louÿs eine so große Bekanntheit erlangt hat. Er war extrem gebildet, feinsinnig und vornehm. Vor drei Jahren sagte er zu mir, ich müsse mich zwischen seiner Freundschaft und meiner fatalen Verbindung mit A. D. entscheiden. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass ich mich augenblicklich für das gemeinere Wesen und den schwächeren Verstand entschied. In welchem Irrsinnssumpf ich gesteckt habe! … Aus Deinem Schweigen ersehe ich, dass er sich noch immer weigert, meine Geschenke und Briefe zurückzugeben … Wie furchtbar die Vorstellung, dass er noch immer die Macht haben sollte, mich zu verletzen, und daran eine merkwürdige Freude findet … Ich will heute lieber nicht mehr von ihm schreiben. Er ist zu schlimm, und draußen tobt ein Sturm …

Armer Aubrey. Ich hoffe, er wird wieder. Er hat eine wundersam neue Persönlichkeit in die englische Kunst eingebracht und war ein Meister in seiner Darstellung fantastischer Anmut und des Zaubers des Unwirklichen. Seine Muse hatte schreckliche Lachanfälle. Hinter seinen grotesken Figuren schien eine merkwürdige Philosophie zu lauern …

Was meine Kleidung anbelangt, so brauche ich eigentlich nur meinen Pelzmantel — alles Übrige kann ich im Ausland beschaffen. Mach Dir keine Umstände. Ich hoffe, Arthur kommt und bringt mir gute Neuigkeiten von Dir und Robbie. Immer Dein

Oscar

An Robert Ross

[Ihrer Majestät Gefängnis, Reading]

[November 1896]

(…) Frankreich von Lina Munte. Konnte nichts unternommen werden, um das Ensemble aufzustocken und Einnahmen zu erhalten? Ich wäre durchaus bereit, alle Bühnenrechte an Salomé vorerst Lugné-Poë zu übertragen. Ich denke, Robert Sherard hätte da einen Rat. Oder Stuart Merrill.

(6) Ich habe Salomé auf eigene Kosten bei der Librairie de I’Art Indépendant herausgebracht. Das Stück gehört also mir. Ich erhielt keinerlei Abrechnung von ihnen. Ich frage mich, ob eine Neuauflage nicht ratsam wäre, da das Stück ja gespielt wird? Das sollte sich arrangieren lassen, sodass ein bisschen Honorar oder Geld fließt. Sherard oder Merrill werden da tätig, da bin ich mir sicher.

(7) Auf diese rein geschäftlichen Angelegenheiten wird vielleicht More Adey die Güte haben zu antworten. So sein Brief allein Geschäftlichem dient, darf ich ihn entgegennehmen. Ich meine, er wird Deiner literarischen und überaus freundlichen Nachricht, die mir der Leiter soeben vorgelesen hat, nicht ins Gehege kommen.

Persönlich, lieber Robbie, weiß ich wenig zu sagen, was Dich erfreuen könnte. Die Ablehnung meines Begnadigungsgesuchs hat mich getroffen wie ein bleischweres Schwert. Ich merke, wie mich ein dumpfer Schmerz betäubt. Ich hatte mich von Hoffnung genährt, und jetzt nährt sich die Qual in ihrem Heißhunger von mir, als wäre sie verhungert an ihrer eigenen Gier. Allerdings gibt es etwas mehr Güte in dieser miesen Gefängnisluft als früher — man hat es an Sympathie für mich nicht fehlen lassen, und so fühle ich mich nicht mehr völlig von menschlichen Einflüssen ausgeschlossen, was mir bisher Grauen und Ungemach verursacht hat. Und ich lese Dante, mache Exzerpte und Anmerkungen aus Freude, Feder und Tinte nutzen zu können. Und so scheint es mir auf vielerlei Art besser zu gehen, weshalb ich auch wieder anfangen will, Deutsch zu lernen — hier scheint ja wirklich der geeignete Platz dafür zu sein. Allerdings ist da ein Stachel — so bitter wie der des Apostels Paulus, wenn auch ganz anders —, den ich mir mit diesem Brief aus dem Fleisch ziehen muss. Er besteht in einer Nachricht, die Du mir auf einen Zettel geschrieben hast. Behielte ich sie für mich, so weiß ich, sie wüchse in meinem Kopf an (wie Giftiges im Dunkeln wächst) und gesellte sich zu anderen furchtbaren Gedanken, die an mir nagen … Das Denken ist für die, die allein, stumm und gefesselt dasitzen, kein »geflügelt lebend Wesen«, wie Plato es sich vorstellte, sondern etwas Totes, Grauenhaftes Ausbrütendes, wie ein dem Mond seine Monster darbietender Morast.

Ich meine natürlich Deine Bemerkung, ich hätte mich dadurch, dass ich die tiefe Bitterkeit meiner Empfindungen für Alfred Douglas zum Ausdruck brachte, um das Mitgefühl anderer gebracht oder liefe Gefahr, dass dem so sei — auch glaube ich, dass mein Brief ausgeliehen und anderen gezeigt wurde, indem man den Teil über ihn mit einer Schere herausgeschnitten hat. Nur möchte ich nicht, dass meine Briefe als Kuriositäten herumgezeigt werden — es ist mir zutiefst zuwider. Ich schreibe Dir offen als einem der liebsten Freunde, die ich habe oder je hatte — zumal es mich mit ein paar Ausnahmen nur noch sehr wenig berührt, wenn mir das Mitgefühl anderer verloren geht. Kein Mensch von meinem Ansehen kann in den Morast des Lebens fallen, ohne dass ihm von weniger wichtigen Leuten in reichem Maße Mitleid gezollt würde — und ich weiß, dass zu lange Stücke Zuschauer ermüden. Meine Tragödie hat viel zu lange gedauert — ihr Höhepunkt ist vorbei, ihr Ende ist schäbig, und ich bin mir der Tatsache wohl bewusst, dass ich, ist das Ende erst da, als ungebetener Gast in eine Welt zurückkehre, die mich nicht haben will — als ein revenant, wie die Franzosen sagen, als einer, dessen Gesicht durch die lange Haft grau und schmerzverzerrt ist. So grauenhaft die Toten sind, wenn sie aus ihren Gräbern auferstehen, die Lebenden, die aus Gräbern steigen, sind noch grauenhafter.

All das weiß ich nur zu gut. Hat man für achtzehn furchtbare Monate in einer Gefängniszelle gesessen, sieht man Dinge und Menschen, wie sie wirklich sind. Der Anblick lässt einen versteinern. Glaub nicht, ich würde ihm die Schuld an meinen Lastern geben. Er hatte mit meinen so wenig zu tun wie ich mit seinen. Die Natur war uns hierin beiden eine Stiefmutter. Ich gebe ihm die Schuld daran, dass er den Menschen, den er ruiniert hat, nicht zu würdigen wusste. Solange meine Tafel rot war von Wein und Rosen, was kümmerte es ihn? Mein Genie, mein Leben als Künstler, meine Arbeit und die Ruhe, die ich dazu brauchte, galten ihm nichts verglichen mit seinen hemmungslosen und vulgären Gelüsten nach einem ordinären ausschweifenden Leben; seine Geldgier; seine unaufhörlichen gewalttätigen Szenen; seine einfallslose Selbstsucht. Von Zeit zu Zeit habe ich während dieser zwei vertanen müden Jahre zu entkommen versucht, nur hat er es immer geschafft, mich zurückzuholen, vor allem indem er drohte, sich etwas anzutun. Als dann sein Vater in mir eine Methode sah, seinen Sohn zu quälen, und der Sohn in mir die Chance sah, seinen Vater zu ruinieren, und ich zwischen zwei Menschen stand, die nach abgeschmacktem Berüchtigtsein gierten, blind für alles außer ihrem fürchterlichen Hass aufeinander — da setzten mich beide unter Druck, der eine durch Visitenkarten und Drohungen, der andere durch private, eigentlich ja halböffentliche Szenen, briefliche Drohungen, Sticheleien, Spötteleien … Ich gebe zu, dass ich den Kopf verlor. Ich ließ ihn machen, was er wollte. Ich war konsterniert, zu keinem Urteil imstande. Ich tat den einen fatalen Schritt. Und jetzt … sitze ich hier auf einer Bank in einer Gefängniszelle. In allen Tragödien gibt es ein groteskes Element. Er ist das groteske Element in meiner. Denk nicht, ich würde mir keine Schuld geben. Ich verfluche mich Tag und Nacht, weil ich so irrsinnig war, ihn mein Leben beherrschen zu lassen. Gäbe es ein Echo in diesen Mauern, es würde für immer »Irrer!« rufen. Ich schäme mich in Grund und Boden für meine Freundschaft mit ihm. Denn nach ihren Freundschaften kann man Menschen beurteilen. Sie sind für jeden ein Prüfstein. Und ich empfinde meine Freundschaft mit Alfred Douglas als entwürdigendere, schmerzlichere Schande … fünfzigtausendmal entwürdigender und schmerzlicher … als, sagen wir, meine Verbindung mit Charley Parker, von der Du eine ausführliche Darstellung in meinem Prozessbericht lesen kannst. Erstere ist mir eine tägliche Quelle geistiger Demütigung. An Letztere denke ich nie. Sie stört mich nicht. Sie ist belanglos … Ja, meine ganze Tragödie erscheint mir zuweilen grotesk, sonst nichts. Denn infolgedessen, dass ich es zuließ, in die Falle zu tappen, die mir Queensberry gestellt hatte — die Falle, die er im Orleans Club unverhohlen platzierte, um mich zu ködern —, infolgedessen geht der Vater als der gütige Patron erbaulicher Märchen in die Geschichte ein, wird der Sohn zum Kinde Samuel — und sitze ich im tiefsten Morast von Malebolge zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade. An gewissen Plätzen hier ist es mit Ausnahme der wirklich Verrückten niemandem gestattet, zu lachen, und selbst in ihrem Fall verstößt es gegen die Verhaltensvorschriften — sonst würde ich wohl darüber lachen … Im Übrigen lass Alfred Douglas bitte nicht denken, ich würde ihm unwürdige Motive unterstellen. Motive hatte er wirklich noch überhaupt keine im Leben. Motive sind etwas Intellektuelles. Er hatte lediglich Leidenschaften. Und derlei Leidenschaften sind Götzen, die um jeden Preis Opfer verlangen und im vorliegenden Fall ein lorbeergeschmücktes gefunden haben. Er selbst kann nicht umhin, wenigstens etwas Reue zu empfinden. Wirklich wahrzuhaben, was er getan hat, wäre eine zu schwere Bürde für ihn. Aber er soll manchmal daran denken. Erzähl mir also in Deinem Brief, wie er lebt, von seinen Beschäftigungen, seinem Lebenswandel.

Und so habe ich mir nun in diesem Brief den Stachel herausgerissen. Deine kleine hingekritzelte Zeile hat mir furchtbar zu schaffen gemacht. Jetzt denke ich nur noch daran, dass Du wieder ganz gesund wirst und endlich die wundervolle Geschichte von dem kleinen Restaurant mit dem seltsamen Fleischgericht für verschwiegene Gäste aufschreibst. Bitte empfiehl mich mit dem Ausdruck meines Dankes Deiner lieben Mutter wie auch Aleck. Die vergoldete Sphinx dürfte wundervoll wie immer sein. Und sende von mir alles, was in meinen Gedanken und Gefühlen gut ist, und so viele Grüße und Huldigungen sie entgegenzunehmen geruht, Lady Wimbledon, deren Seele ein Heiligtum für die Verwundeten und eine Zufluchtsstätte für die Gepeinigten ist. Zeig diesen Brief niemandem und komm in Deiner Antwort auch nicht darauf zurück. Erzähl mir von dieser Welt der Schatten, die ich so sehr geliebt habe. Und von seinem Leben und seiner Seele erzähl mir auch. Ich wüsste gern, was mich gestochen hat — ist mein Schmerz doch voller Mitleid.

Oscar

An More Adey

[Ihrer Majestät Gefängnis, Reading]

18. Februar 1897

Mein lieber More,

der Anstaltsleiter hat mir freundlicherweise erlaubt, Deinen Brief anzusehen und ihn umgehend zu beantworten.

(1) Mit welcher Freude ich ihn gelesen habe, brauche ich nicht zu sagen. Ich hoffe, Dich, Robbie und Ernest Leverson am Samstag, den 27., zu sehen. Mit besonderer Genehmigung darf das Gespräch eine Stunde dauern und in einem privaten Raum stattfinden. Ein Wärter wird anwesend sein, was uns aber nicht stören muss. Drei Besucher sind erlaubt. So können wir bestimmt alle geschäftlichen Angelegenheiten besprechen. Geschäftliches mit Dir, Ernstes mit Ernest, Unfug mit Robbie.

(2) Die Vollmacht für Lugné-Poë füge ich bei. Bitte richte ihm meinen Dank für seine Freundlichkeit aus. Von einem so angesehenen Dichter vertreten zu werden, entzückt mich.

(3) Was den von mir so getauften »Einlagenfonds« betrifft, so handelt es sich hierbei um eine Geldsumme, die mir persönlich zur Verfügung steht und nicht der Begleichung meiner Schulden dient, sondern der Hilfe und Unterstützung meiner Person wie auch der Hilfe für jene, die ich liebe, etwa meine Mutter, und ich bin mir sicher, dass nach Abzug aller Ausgaben für meine liebe Mutter eine gewisse Summe übrig bleiben wird, womöglich keine kleine. Ich beabsichtige, davon in Raten zunächst meine Ehrenschulden zu begleichen, sobald ich mir sicher bin, dass genug für mindestens anderthalb Jahre eines Lebens in Freiheit bleibt, in denen ich mich sammeln kann. So schulde ich etwa Charles Wyndham, um nur ein Beispiel von weiß Gott viel zu vielen zu nennen, £ 300 für nie geleistete literarische Arbeit — verhindert natürlich durch meinen Prozess. Wenn möglich werde ich ihm die Hälfte zurückzahlen. Aber ich will das persönlich machen, sobald ich entlassen wurde. Was des Weiteren Miss Napier betrifft, so wurde das Geld meiner Frau vorgeschossen (£ 50) und werde ich es persönlich zurückzahlen, sobald ich entlassen wurde. Ich weiß nicht mehr, ob Mrs. Napier meiner Frau etwas geliehen hat. Die Schulden von 50 Pfund bei meiner alten Freundin lasse bitte umgehend Ernest Leverson in meinem Namen begleichen. Ich bin mir sicher, Ernest wird verstehen, dass ich den Leuten zunächst nur die Hälfte zurückzahlen kann und erst später nach und nach alles. Davon, wenn wir uns treffen. Es ist nur eine Woche bis dahin. Ehrlich gesagt würde ich gern abwarten, was meine Frau vorhat, ehe ich ihr unter die Nase reibe, dass ich gütige und großzügige Freunde habe. Sie hat kein Recht, aus unserem Ehevertrag einseitig Vorteil zu ziehen, sodass für mich nichts bleibt.

(4) Ich sagte Dir, ich würde Alfred Douglas schreiben. Noch arbeite ich an dem Brief. Es ist der wichtigste Brief meines Lebens, denn eigentlich wird es darin um meine künftige Einstellung zum Leben gehen, um die Art und Weise, wie ich der Welt wieder begegnen möchte, um meine charakterliche Entwicklung — um das, was ich verloren habe, was ich gelernt habe und was ich zu erreichen hoffe. Endlich sehe ich ein wirkliches Ziel vor mir, auf welches meine Seele einfach, unbefangen und mit Recht zuhalten kann. Bevor ich Dich und Robbie treffe, muss ich den Brief abschließen, damit ihr versteht, zu wem ich geworden bin oder vielmehr dem Wesen nach und mit diesem Ziel vor Augen zu werden anstrebe. Mein ganzes Leben hängt davon ab. Ich werde den Brief Robbie schicken, der ihn sorgfältig lesen und jedes Wort sorgfältig abschreiben muss, für mich. Nachdem dann Du ihn gelesen und sichergestellt hast, dass er korrekt kopiert ist, schickst Du ihn für mich A. D. Ich kenne seine Adresse nicht. Ich hoffe, bis Dienstag fertig zu sein.

An den lieben Frank Harris meine besten Grüße und meinen Dank. Dir für immer meine innigste Dankbarkeit.

Oscar Wilde

De profundis

An Lord Alfred Douglas

Ihrer Majestät Gefängnis Reading

(Januar bis März 1897)

Lieber Bosie,

nach langem und vergeblichem Warten habe ich beschlossen, Dir selbst zu schreiben, ebenso in Deinem wie in meinem Interesse, da ich nicht glauben mag, dass ich zwei lange Jahre Haft durchgemacht habe, ohne je nur eine Zeile von Dir zu erhalten, irgendwelche Neuigkeiten oder gar Nachrichten, außer solche, die mir wehgetan haben.

Unsere unselige und höchst beklagenswerte Freundschaft endete für mich in Ruin und öffentlicher Schande, doch die Erinnerung an unsere alte Zuneigung begleitet mich oft, und der Gedanke, dass Abscheu, Verbitterung und Verachtung für immer den Platz in meinem Herzen einnehmen sollen, den einmal Liebe innehatte, stimmt mich sehr traurig — und Du selbst dürftest in Deinem Innern spüren, dass es besser wäre, mir zu schreiben, während ich hier liege in der Einsamkeit des Gefängnislebens, anstatt meine Briefe ohne meine Erlaubnis zu veröffentlichen oder mir ungefragt Gedichte zu widmen, würde die Welt dann auch nicht erfahren, welche Worte voll des Kummers oder der Leidenschaft, der Reue oder Gleichgültigkeit Du als Deine Erwiderung oder Deine Rechtfertigung zu senden beliebst.

Zweifellos, in diesem Brief — in dem ich von Deinem Leben und meinem zu schreiben haben werde, von der Vergangenheit und von der Zukunft, von Süßem, das zu Bitterem wurde, wie von Bitterem, das sich womöglich einmal in Freude verkehrt —, in diesem Brief wird von sehr vielem die Rede sein, das Deine Eitelkeit bis ins Mark verletzen muss. Sollte dem so sein, so lies den Brief wieder und wieder, bis das Deine Eitelkeit zur Strecke bringt. Solltest Du darin etwas finden, dessen Du Dich zu Unrecht bezichtigt fühlst, so vergiss nicht, dass man dankbar dafür sein sollte, dass es Fehler gibt, deren man zu Unrecht bezichtigt werden kann. Sollte darin eine einzige Passage stehen, die Dich zu Tränen rührt, dann weine, wie wir im Gefängnis weinen, wo der Tag wie die Nacht Tränen vorbehalten ist. Es ist das Einzige, was Dich retten kann. Solltest Du Dich bei Deiner Mutter beschweren — wie Du es gemacht hast, als ich in meinem Brief an Robbie meine Verachtung für Dich zum Ausdruck gebracht habe —, damit sie Dir schmeichele und Dich von Neuem einlulle in Selbstgefälligkeit oder Dünkel, so wirst Du völlig verloren sein. Solltest Du nur eine einzige falsche Entschuldigung für Dich finden, so wirst du bald hundert finden und genau das sein, was du vorher warst. Behauptest Du immer noch, wie in Deiner Antwort an Robbie, ich würde Dir »unwürdige Motive unterstellen«? Ha! Du hattest im Leben noch keine Motive. Du hattest lediglich Appetit. Ein Motiv ist ein intellektuelles Ziel. Dass Du »sehr jung« gewesen seist, als wir Freunde wurden? Dein Fehler war nicht, dass Du so wenig vom Leben wusstest, sondern dass Du so viel davon wusstest. Die Morgendämmerung der Knabenzeit mit ihrer zarten Blüte, ihrem klaren, reinen Licht, ihrer Freude an Unschuld und Erwartung, hattest Du lange hinter Dir. So schnell Du rennen konntest, warst Du von Romantik zu Realismus übergegangen. Auf einmal faszinierten Dich die Gosse und alles, was darin kraucht. Damit fingen die Schwierigkeiten an, deretwegen Du meinen Beistand gesucht hast, und ich, so unklug gemessen an dem, was auf dieser Welt als Klugheit gilt, gewährte ihn Dir aus Mitleid und aus Güte. Du musst diesen Brief ganz durchlesen, mag auch jedes Wort für Dich zum Feuer oder Messer des Wundarztes werden, sodass das zarte Fleisch brennt oder blutet. Denk daran, dass der Narr in den Augen der Götter und der Narr in den Augen der Menschen sehr verschieden sind. Wer rein gar nichts von den Ausdrucksformen der Kunst in ihrer beständigen Umwälzung oder den Stimmungsschwankungen des Denkens in dessen beständigem Fortschritt, vom Pomp der lateinischen Zeile oder von der viel klangvolleren Musik des vokalisierten Griechisch, von toskanischer Skulptur oder elisabethanischem Lied weiß, kann dennoch voll der allerholdesten Klugheit sein. Der wahre Narr, der, den die Götter verspotten oder verderben, ist der, der sich selbst nicht kennt. Ich war zu lange so einer. Du warst zu lange so einer. Lass es bleiben. Hab keine Angst. Das schlimmste Laster ist Oberflächlichkeit. Was immer man sich bewusst macht, ist richtig. Denk auch daran, dass alles, was Dich unglücklich macht, wenn Du es liest, für mich das größere Unglück darstellt, weil ich es schreibe. Mit Dir haben es die unsichtbaren Mächte sehr gut gemeint. Sie haben Dich die merkwürdigen und tragischen Ausprägungen des Lebens so sehen lassen, wie man Schatten in einem Kristall sieht. Das Haupt der Medusa, das lebendige Menschen zu Stein verwandelt, durftest Du gefahrlos im Spiegel betrachten. Du selbst bist frei unter den Blumen gewandelt. Mir wurde sie genommen, die schöne Welt voller Farbe und Bewegung.

Als Erstes möchte ich Dir sagen, dass ich mir schreckliche Vorwürfe mache. Während ich in Sträflingskleidung hier in dieser dunklen Zelle sitze, ein in Ungnade gefallener und ruinierter Mann, mache ich mir Vorwürfe. An den schlaflosen, durchquälten Nächten voller Angst, an den langen monotonen Tagen voller Schmerz bin ich selbst schuld. Ich gebe mir die Schuld daran, zugelassen zu haben, dass eine unintellektuelle Freundschaft, eine Freundschaft, die nicht vorrangig darauf abzielte, Schönes zu erschaffen und zu betrachten, mein Leben völlig beherrschte. Von Anfang an war die Kluft zwischen uns zu groß. Du hast schon für die Schule wenig getan, noch weniger wurde es im Studium. Du hast nicht verstanden, dass ein Künstler, und besonders so einer, wie ich es bin, einer, könnte man sagen, dessen schöpferische Qualität von der Intensivierung seiner Persönlichkeit abhängt, für die Entwicklung seiner Kunst der Gesellschaft von Ideen, intellektueller Atmosphäre, Ruhe, Frieden und Einsamkeit bedarf. Du hast meine Arbeit bewundert, sobald sie beendet war — hast die glänzenden Erfolge meiner Premierenabende und die sich anschließenden glänzenden Bankette genossen. Du warst stolz, natürlich warst Du’s, der innige Freund eines so angesehenen Künstlers zu sein — doch welcher Voraussetzungen es für die Schaffung eines Kunstwerkes bedarf, konntest Du nicht verstehen. Ich drechsle mir hier keine rhetorischen Übertreibungen zurecht, sondern spreche von absoluter Wahrhaftigkeit gegenüber offenbaren Tatsachen, wenn ich Dich daran erinnere, dass ich während der ganzen Zeit, in der wir zusammen waren, nie eine einzige Zeile geschrieben habe. Ob in Torquay, Goring, London, Florenz oder anderswo, solange ich Dich an meiner Seite hatte, war mein Leben völlig steril und unkreativ. Und mit nur wenigen Unterbrechungen warst Du, wie ich leider sagen muss, ja immer an meiner Seite.

Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich im September 93, um nur einen Fall von vielen herauszugreifen, ein paar Zimmer gemietet habe, um ungestört arbeiten zu können, weil ich das mit John Hare vertraglich vereinbarte Stück nicht geschrieben hatte und er mir deshalb Druck machte. In der ersten Woche hast Du Dich nicht blicken lassen. Wir waren — wen wundert’s — in der Frage des künstlerischen Wertes Deiner Salomé-Übersetzung verschiedener Ansicht, weshalb Du Dich damit begnügt hast, mir läppische Briefe in dieser Sache zu schicken. In jener Woche schrieb ich den ersten Akt von An Ideal Husband bis ins kleinste Detail fertig, so, wie er schließlich aufgeführt wurde. In der zweiten Woche kamst Du wieder und hatte ich mein Schreiben praktisch aufzugeben. Jeden Vormittag kam ich um 11.30 Uhr in der Hoffnung zum St. James’s Place, ich würde Gelegenheit haben, nachzudenken und zu schreiben ohne die Unterbrechungen, wie sie selbst ein ruhiger und friedlicher Haushalt wie der meine unweigerlich mit sich bringt. Aber der Versuch war vergeblich. Um zwölf fuhrst Du vor und bliebst, Zigaretten rauchend und plaudernd, bis halb zwei, bis ich Dich zum Lunch ins Café Royal oder ins Berkeley einzuladen hatte. Der Lunch mit seinen liqueurs