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Beschreibung

Die Medizingeschichte hat sich in der Vergangenheit geweitet zu einer Kulturgeschichte des Medikalen. Erforscht werden zwar weiterhin aufsehenerregende Krankheiten und Seuchen, die ganze Generationen und Gesellschaften fest im Griff hatten, berühmte Ärzte, Heiler oder auch Patienten und deren Biographien, medizinische Einrichtungen vom Operationssaal bis zum Sanatorium und mehr oder weniger erfolgreiche Therapien. Indes haben sich die Perspektiven auf die Phänomene verändert. So gilt heute das Interesse vor allem den Einstellungen und Praktiken, die mit Gesundheit und Krankheit zu tun hatten, sowie dem Prozess der "Medikalisierung". Für solche prozessbezogenen Aspekte ist ein epochenübergreifender regionalgeschichtlicher Ansatz besonders ergiebig. Umgekehrt weitet eine Kulturgeschichte des Medikalen auch den Horizont für neue regionalhistorische Fragen, etwa danach, wie medikale Regionen und Räume entstanden und entstehen und wie sie sich mit anderen vergleichen lassen. Der Tagungsband widmet sich diesen Fragestellungen in Längsschnitten vom (späten) Mittelalter bis in die Zeitgeschichte.

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FORUM SUEVICUMBeiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen

HerausgegebenvonDietmar Schiersnerim Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V.

Band 14

FORUM SUEVICUMBeiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen

Band 14

Aus Sorge um die Gesundheit

Geschichte der Medizin in der Region

Herausgegeben vonPeer Frieß und Dietmar Schiersner

Einbandmotiv: ‚Die Impfstube‘. Gemälde von Reinhard Sebastian Zimmermann (1815-1893).Zeppelin Museum Friedrichshafen, Leihgabe der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke.

Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung derStadt Memmingen und der Sparkasse Memmingen-Lindau-Mindelheim.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© UVK Verlag 2021

– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg

ISSN 1431-9993

ISBN 978-3-7398-3176-3 (Print)

ISBN 978-3-7398-8176-8 (ePDF)

ISBN 978-3-7398-0575-7 (eEPUB)

IN MEMORIAM

ROLF KIEßLING

(1941–2020)

Vorwort

Selten war es offensichtlicher, dass der analytische Blick in die Geschichte besser verstehen lässt, was in der Gegenwart vor sich geht. In unserem Jahrhundert, zu Beginn des dritten Jahrzehnts, gewann die Sorge um Gesundheit eine Wirkungsmacht, wie dies kaum jemand erwartet hätte. Der gesunde, leistungsfähige und in jeder Hinsicht optimierte Mensch ist seit Jahrzehnten ein zentrales Leitbild unseres Verhaltens, auf das Politik und Märkte eingestellt sind, vom Verbraucherschutz bis zum Bioprodukt aus dem Discounter. Medizinische Dienstleistungen werden nachgefragt wie nie. Gleich nach der Feuerwehr genießen Ärzte, dann Kranken- und Altenpfleger seit vielen Jahren kontinuierlich höchstes Ansehen unter den Berufen. Dass sich solche Rankings nicht unbedingt in der Entlohnung bemerkbar machen oder dass beispielsweise die Zahl der übergewichtigen Kinder in Europa und den USA ständig zunimmt, ist als Problem identifiziert und bewegt Interessenverbände, Aktivisten und Öffentlichkeit.

Indes nimmt im Zeichen der Pandemie die Bedeutung des Medikalen nicht einfach nur weiter zu, sondern erfährt eine Steigerung, die die gesellschaftlichen Subsysteme in ein neues Verhältnis zueinander bringt: religiöse Deutungsmuster haben ihre öffentliche Relevanz nahezu vollkommen verloren, selbst ökonomische Interessen müssen sich einem effizienten Seuchenschutz unterordnen – jedenfalls solange staatliche Hilfen für Akzeptanz sorgen, in vielen Fällen auch darüber hinaus. Die einen sehen eine Stärkung traditioneller familialer Rollenmuster, die anderen eine Schwächung bürgerschaftlicher Sozialität in Nachbarschaft und Vereinswesen. Freiheitsrechte werden von manchen, ob zutreffend oder nicht, als prekär empfunden. Die Pandemie legt jenen, die sonst kaum Gehör fänden, Worte in den Mund. Medien nehmen Konflikte auf, arbeiten an der Polarisierung der Meinungen und werden selbst zu Getriebenen. Kurzum: Die Gesellschaft als Ganzes ist unter disruptive Spannungen geraten und verändert sich nachhaltig. Möglicherweise ist, was aber erst in der historischen Rückschau greifbar werden kann, damit auch ein langfristiger Mentalitätswandel verbunden.

Solche Phänomene sind freilich nicht neu: Gravierende Folgen ebenso für Frömmigkeit und Religiosität wie für die wirtschaftlichen Strukturen in Oberitalien einerseits und Oberdeutschland andererseits werden der spätmittelalterlichen Pest zugeschrieben; die frühneuzeitliche Syphilis wird mit einem tiefgreifenden Wandel des Zeitbewusstseins in Verbindung gebracht – um nur zwei Beispiele zu nennen. Dabei ist es nicht einmal so entscheidend, welche tödliche Gewalt von Krankheiten tatsächlich ausging oder ausgeht; es ist nicht zuletzt die von der Mortalität allerdings nicht zu trennende Sorge ums Gesundbleiben, die Wirkung und Macht entfaltet(e). Sie trug bei zur Sakralisierung spätmittelalterlicher Reichsstädte oder barocker Landschaften, ließ ein ausdifferenziertes Hospitalwesen und vielfältiges medizinisches Angebot in den Städten entstehen, half dabei, ganze Länder und Staaten politisch zu integrieren, und machte sogar Dörfer zu Kurmetropolen.

Damit sind jene Themen angesprochen, die den Schwerpunkt der 17. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. vom 15. bis 17. November 2019 bildeten. Zuallererst den Vortragenden ist an dieser Stelle dafür zu danken, dass sie sich auf das Unternehmen, vielfältigen Formen und Beispielen medikaler ›Regiogenese‹ nachzugehen, einließen und – mit einer Ausnahme – ihre Beiträge für den vorliegenden Sammelband verschriftlicht haben. Angela Schlenkrich M.A. sei für ihr wie stets versiertes Lektorat und die angenehme Zusammenarbeit, Uta C. Preimesser vom inzwischen in München ansässigen UVK-Verlag für die gewohnt souveräne Begleitung der Drucklegung und dem Memminger Medien-Centrum für den qualitätvollen und zuverlässigen Druck des Buches gedankt. Die Finanzierung des Tagungsbandes wurde maßgeblich ermöglicht durch die Unterstützung der Stadt Memmingen. Mit dem historischen Rathaussaal wurde den Teilnehmern zudem die passende Umgebung für die Tagung zur Verfügung gestellt, die vom Geschäftsführer des Memminger Forums und Kulturamtsleiter Dr. Hans-Wolfgang Bayer und dessen Mitarbeiterinnen auf bewährte Weise organisiert wurde. Oberbürgermeister Manfred Schilder und dem Memminger Stadtrat gebührt unser Dank, ebenso der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau und ihrem Vorstandsvorsitzenden Dipl.-Volkswirt Thomas Munding für deren namhaften Beitrag zur Drucklegung des Buches. – Möge es den Leserinnen und Lesern Einsichten vermitteln und Freude bereiten.

Die Herausgeber widmen diesen 14. Tagungsband in der Reihe Forum Suevicum Prof. Dr. Rolf Kießling (1941–2020). Der leider viel zu früh verstorbene langjährige Vorsitzende des Memminger Forums (1996–2011) trug entscheidend dazu bei, wenn die Tagungen und Publikationen des Forums heute auch über die landesgeschichtliche Disziplin hinaus als wichtige Beiträge historischer Forschung und Diskussion gelten dürfen. Rolf Kießling hat die Planungen zur medizinhistorischen Tagung vom Herbst 2019 noch begleiten können und die Diskussionen auf der Konferenz bereichert. Die in allen Beiträgen zum Tragen kommende Berücksichtigung der Raumwirksamkeit – hier: medikaler Prozesse – war im zeitlebens ein zentrales Anliegen. Dem Andenken des Forschers, Lehrers und Freundes sei dieses Buch gewidmet.

Zorneding und Weingarten

 

im September 2021

Peer Frieß und Dietmar Schiersner

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

PEER FRIESS/DIETMAR SCHIERSNER

Einführung

I. Städtisches Gesundheitswesen

STEFAN DIETER

Heilige Helfer. Frömmigkeit und Krankheit im spätmittelalterlichen Kaufbeuren

PATRICK STURM

Flucht und Meidung. Reaktionen auf die Pest in spätmittelalterlichen Reichsstädten

ANNEMARIE KINZELBACH

Reichsstädtische Hospitäler und Region in der Vormoderne

MICHAEL BAUMANN

Da man weder Doctores noch Apotecken hat. Selbstmedikation mit den Rezepten des Ulmer Buntschriftstellers Martin Zeiller

PEER FRIESS

Der Memminger Gesundheitsmarkt in der Frühen Neuzeit

WOLFGANG SCHEFFKNECHT

Segner oder gelehrter Mediziner? Die medizinische Tätigkeit der frühneuzeitlichen Scharfrichter im Bodenseeraum und in Oberschwaben

II. Medizin auf dem Land

CLAUDIA RIED

Chance zur gegenseitigen Annäherung? Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in christlich-jüdischen Gemeinden Bayerisch-Schwabens während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

ELENA TADDEI

Die Verwaltung des ›Irrsinns‹ im Kronland Tirol am Beispiel des Landarztes Franz von Ottenthal (1818–1899)

RALPH HÖGER

Orte der Heilung? Die württembergischen Irrenanstalten Schussenried und Zwiefalten (1875–1914)

MARIA CHRISTINA MÜLLER-HORNUF

Religiöser Wahn. Zur Deutung religiöser Praktiken am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg

SARAH WALTENBERGER

Kneipps Wörishofen. Ein Dorf wird Kurort

III. Übergreifende Gesundheitspolitiken

CHRISTINE ROGLER

Vormoderne Daseinsvorsorge? Ländliche Badestuben im Kurfürstentum Bayern

WOLFGANG PETZ

Die Einführung der Pockenschutzimpfung in der bayerischen Provinz Schwaben

CHRISTINE WERKSTETTER

Stillen, Nichtstillen und Säuglingssterblichkeit im Jahrhundert der Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt

Autorenverzeichnis

Nachweis der Abbildungen

Abkürzungsverzeichnis

ADB

Allgemeinde Deutsche Biographie

BA

Bezirksamt

BayHStA

Bayerisches Hauptstaatsarchiv

BSB

Bayerische Staatsbibliothek

CAHJP

The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem

Diss.

Dissertation

DStChr

Die Chroniken der Deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert

FA

Fürstlich und Gräflich Fuggersches Familien- und Stiftungsarchiv

fl.

Gulden

FS

Festschrift

GVBl.

Gesetz- und Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern

HAB

Historischer Atlas von Bayern

HBG

Handbuch der Bayerischen Geschichte

HistA BKH KF

Historisches Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren

HRR

Heiliges Römisches Reich

k.A.

Keine Angabe

kr.

Kreuzer

LCI

Lexikon der christlichen Ikonographie

LG

Landgericht

LK

Landkreis

LMA

Lexikon des Mittelalters

MGbl

Memminger Geschichtsblätter

MInn

Ministerium des Innern

NDB

Neue Deutsche Biographie

NF

Neue Folge

RP

Ratsprotokolle

Sp.

Spalte

StA

Staatsarchiv

StadtA

Stadtarchiv

SUB

Staats- und Universitätsbibliothek

SuStBA

Staats- und Stadtbibliothek Augsburg

Univ.

Universität

Veröff.

Veröffentlichung(en)

Veröff. KfgLK BW

Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg

Veröff. SFG

Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft e.V.

VLA

Vorarlberger Landesarchiv

ZBLG

Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte

ZHVS

Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben

ZWLG

Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte

PEER FRIESS/DIETMAR SCHIERSNER

Einführung

Wer auch nur oberflächlich die Forschungsaktivitäten im deutschsprachigen Raum zur Kenntnis nimmt, der bemerkt: Medizingeschichte boomt – und das nicht erst, seit die Corona-Pandemie die ›Sorge um die Gesundheit‹ ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt hat. In Deutschland, Österreich und der Schweiz beschäftigen sich über 40 Institute schwerpunktmäßig mit medizingeschichtlichen Fragestellungen.1 Mehr als 100 Museen und Sammlungen widmen sich der Medizin im allgemeinen bzw. der bunten Vielfalt medizinhistorischer Themen von der Anästhesie bis zur Psychiatrie im besonderen.2 Eine Vielzahl von Ausstellungen und wissenschaftlichen Tagungen belegen die Produktivität der medizinhistorischen Forschung auf nationaler und internationaler Ebene.3 In den letzten Monaten wurden knapp 50 Symposien zu den unterschiedlichsten medizinhistorischen Fragestellungen organisiert. Die Bandbreite der Themen reichte von ›Objekte als Quellen der Medizingeschichte‹ über ›Hof- und Leibärzte in der Frühen Neuzeit‹ bis zu ›Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland‹.

Dieser kursorische Überblick belegt nicht nur die gegenwärtige Attraktivität medizinhistorischen Forschens insgesamt; er zeigt auch ausschnitthaft die Vielfalt der Perspektiven – denen im übrigen viele weitere aktuelle hinzuzufügen wären. Sieht man sich die einzelnen Beiträge dieser Tagungen an, wird außerdem deutlich, wie die im Grunde klassischen Themen der Sachkultur und Personengeschichte eine innovative Richtung bekommen. Gerade als Körpergeschichte nimmt die Medizingeschichte, um hier nur noch einen Aspekt zu nennen, gendergeschichtliche Ansätze seit Jahren sehr gewinnbringend auf.

Die Medizingeschichte hat sich offenkundig längst geweitet zu einer Kulturgeschichte des Medikalen. Erforscht werden zwar weiterhin aufsehenerregende Krankheiten und Seuchen, die ganze Generationen und Gesellschaften fest im Griff hatten, berühmte Ärzte und Ärztinnen, Heiler oder auch Patientinnen und Patienten und deren Biographien, medizinische Einrichtungen vom Operationssaal bis zum Sanatorium und mehr oder weniger erfolgreiche Therapien. Indes haben sich die Perspektiven auf diese Phänomene verändert. So gilt heute das Interesse ganz im Sinne der Neuen Kulturgeschichte oder der Historischen Anthropologie vor allem den Einstellungen und Praktiken, die mit Gesundheit und Krankheit zu tun hatten, sowie dem Prozess der sog. ›Medikalisierung‹. Bezeichnet wird damit einerseits ein spezieller Aspekt von obrigkeitlicher bzw. staatlicher ›Biopolitik‹,4 andererseits aber auch der generelle säkulare Bedeutungszuwachs, den medikale Diskurse im Alltag der ›westlichen‹ Zivilisationen über Jahrhunderte hinweg gewannen, während religiöse Bewertungen und Strategien ihren Stellenwert verloren.5 Nicht nur der ökonomische Rang, sondern auch die mentale Präsenz, den bzw. die das medizinische System gegenwärtig bei uns hat, ist vorläufiges Ergebnis einer langfristigen Entwicklung.6

›Medikalisierung‹ schließt dementsprechend auch politisch-fiskalische, ökonomische, soziale oder mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen mit ein. Die Einführung einer Impfung etwa ist nicht nur im Hinblick auf deren medizinhistorische Genese und Wirkungsgeschichte von Interesse. Vielmehr lässt sich z. B. auch fragen, welche Effekte die Maßnahmen für die Bürokratie, die ggf. schichten- oder gruppenspezifische Wahrnehmung des Staates oder das Bedrohungsbewusstsein der Menschen zeitigten.7 Wallfahrten, die Berührung bestimmter Reliquien oder das Sprechen von Gebeten sind – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – nicht nur Phänomene der Frömmigkeitsgeschichte und unter religiösem Aspekt bedeutsam; solche ›vormodernen‹ Praktiken geben auch Aufschluss über das Verhältnis von individueller und sozialer Dimension von Krankheit, woran sich, noch fundamentaler, erkennen lässt, wie sehr die Semantiken im Begriffsfeld von ›Krankheit‹ und ›Gesundheit‹ vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext abhängig waren bzw. sind.

Liegt der Schwerpunkt der aktuellen medizinhistorischen Forschung stärker auf derartigen thematischen, epochen- oder personenbezogenen Fragestellungen, war es Ziel der Tagung des Memminger Forums, die verschiedenen Ansätze integrativ zu verbinden, um am Beispiel Schwabens und seiner Nachbarn die Entstehung und Entwicklung einer medikalen Region näher zu untersuchen. Nicht der herausragende Arzt, das vorbildliche Krankenhaus oder die Folgen einzelner Seuchen sollten im Fokus stehen, sondern vielmehr die Frage, was die Menschen in einer Region aus Sorge um ihre Gesundheit unternahmen, um sich vor Krankheit und Tod zu schützen.

Gerade ein solch epochenübergreifender landeshistorischer Ansatz kann die aktuellen prozessbezogenen Fragestellungen einer Kulturgeschichte des Medikalen aufgreifen und den Horizont für neue Fragestellungen öffnen. Aus diesem Blickwinkel geht es dann beispielsweise nicht mehr nur um die Darstellung der medizinischen Versorgung in einer Stadt oder Region, sondern darüber hinaus um die Frage, ob oder wie entsprechende Einrichtungen – vom Pilgerziel über das Spital bis zum Kurzentrum – kommunikative Zusammenhänge im Raum schufen und medikale Regionen entstehen ließen, die sich gegebenenfalls mit anderen vergleichen lassen. In einem abstrakteren Verständnis gehören hierher auch die inzwischen häufiger verfolgten Fragestellungen einer Raumgeschichte des Medikalen, die den Blick z. B. auf transitorische Räume wie Wartezimmer oder Krankenwagen lenkt. Immer geht es dabei darum, wie Räume durch medikale Praktiken generiert werden.8

Dieser zentralen Thematik nähern sich die für den Druck überarbeiteten Vorträge auf verschiedene Weise. Die ebenso klassische wie pragmatische Gruppierung der Aufsätze nach Stadt, Land und raumübergreifenden Ordnungen kann ganz in diesem Sinne als dezidiert raumsensibler Zugriff verstanden werden. Die Gliederung folgt der Strukturierung der Tagung des Memminger Forums vom 15. bis 17. November 2019. Dem städtischen Gesundheitswesen (Sektion 1) wurden medikale Phänomene auf dem ›Land‹ (Sektion 2) an die Seite gestellt. Regional übergreifende Gesundheitspolitiken (Sektion 3) nahmen ergänzend eine Perspektive ›von oben‹ ein. Zeitlich erstrecken sich die Tagungsbeiträge vom späten Mittelalter bis in die Zeitgeschichte. Räumlich umfasst ihr Horizont im Schwerpunkt das südlich der Donau gelegene Schwaben, ergänzt um Beiträge aus den Nachbarregionen Bayern, Tirol, Vorarlberg und Württemberg.

Die der städtischen Perspektive gewidmete erste Sektion eröffnet STEFAN DIETER, der am Beispiel der Reichsstadt Kaufbeuren zeigt, wie sich das spätmittelalterliche Vertrauen auf die Wirkmächtigkeit von Heiligen als Nothelfer auf das konkrete Handeln einer Stadtgesellschaft auswirkte und in der sakralen Topographie einer Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung niederschlug. Insbesondere die Auswahl der Patrozinien für die um Kaufbeuren errichteten Kirchen und Kapellen erweist sich für die zentrale Fragestellung der Tagung als aufschlussreich. Wenn man das Bildprogramm der städtischen Kirchen mitberücksichtigt, entsteht ein über die Stadtmauern von Kaufbeuren hinausgreifender, gleichsam medikaler Sakralraum, in dem dreizehn der Vierzehn Nothelfer zum Schutz der Bewohner aufgeboten wurden.

Dass den Menschen des Spätmittelalters zugleich bewusst war, wie begrenzt die Wirkung der Anbetung von Heiligen war, macht PATRICK STURM deutlich. Wirklichen Schutz vor Seuchen schien nur die Flucht geboten zu haben. An zahlreichen Beispielen süddeutscher Reichsstädte zeigt er, dass das spätmittelalterliche Konzept der Flucht aus der Stadt in die umliegenden Dörfer oder Nachbarstädte im Laufe des 16. Jahrhunderts durch verschiedene Vermeidungsstrategien zunächst ergänzt und dann schrittweise abgelöst wurde. Dadurch wurde einerseits die weitere Verbreitung der Seuche eingedämmt und andererseits die Handlungsfähigkeit städtischer Gremien auch in Pestzeiten gewährleistet. Dieser rationalere und pragmatischere Umgang mit der Seuche zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der auf Abschottungs- und Quarantänemaßnahmen setzte, verwandelte gleichzeitig das ursprünglich als positiv und gesund wahrgenommene Umland in eine zumindest in Seuchenzeiten bedrohliche und krankmachende Nachbarschaft.

ANNEMARIE KINZELBACH untersucht drei ganz unterschiedliche Institutionen: das Leprosorium und das Spital der Reichsstadt Überlingen sowie das von den Fuggern 1560 gestiftete Schneidhaus in Augsburg, eine der ältesten privaten chirurgischen Einrichtungen in Europa. Gemeinsam ist ihnen eine weit ausgreifende Raumwirksamkeit. So kamen etwa die Patienten des Fugger’schen Schneidhauses aus insgesamt 467 verschiedenen Orten der näheren und weiteren Umgebung Augsburgs. Gleichzeitig wird deutlich, dass Gründung und Betrieb derartiger medizinisch-karitativer Einrichtungen immer auch eine die jeweilige Herrschaft stabilisierende Wirkung entfalteten.

MICHAEL BAUMANN konzentriert sich mit seiner Analyse der Arbeiten des Ulmer Polyhistors Martin Zeiller auf die nichtakademische Verbreitung medizinischen Wissens in der Frühen Neuzeit. Die große Resonanz und weite Verbreitung seiner Schriften resultiere, so Baumann, aus dem Umstand, dass Zeiller sich ganz bewusst als Nicht-Mediziner präsentierte, der medizinisches Wissen für diejenigen anbot, die sich keinen Arzt leisten konnten. Die empfohlenen Rezepturen enthielten daher auch keine teuren Zutaten, sondern gehörten eher zum Arsenal der ›Dreckapotheke‹. Mit seiner Buntschriftstellerei befriedigte Zeiller die Bedürfnisse einer breiten Leserschaft und schuf so gleichsam einen virtuellen medikalen Raum.

Dass sich nicht nur mit der Publikation derartiger Beratungsliteratur Geld verdienen ließ, sondern dass das gesamte Gesundheitswesen einer Stadt auch als begehrter und umkämpfter Markt verstanden werden kann, ist der Leitgedanke des Beitrags von PEER FRIESS. Am Beispiel der Reichsstadt Memmingen zeichnet er die fachliche Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung des medikalen Angebots während der Frühen Neuzeit nach, wie es sich in den, das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage regulierenden Ordnungen für Bader, Barbiere, Hebammen, Wundärzte, Apotheker und Physici widerspiegelt. Ergänzt um heimliche und geduldete Laienheiler bot der Memminger Gesundheitsmarkt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Versorgungsniveau, das zum Teil weit über die Stadtgrenzen hinaus wahrgenommen wurde und die Reichsstadt zu einem anerkannten regionalen Zentrum medizinischer Versorgung im südlichen Ostschwaben machte.

Die medizinische Tätigkeit der Scharfrichter untersucht WOLFGANG SCHEFFKNECHT anhand von Beispielen aus dem Bodenseeraum und aus Oberschwaben. Er kann nachweisen, dass magische Praktiken seit dem 16. Jahrhundert langsam in den Hintergrund traten und Scharfrichter auf vielen Feldern der medizinischen Heiltätigkeit aktiv waren. Dies wurde ihnen anfangs in ihren Bestallungsurkunden auch ausdrücklich erlaubt. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich allerdings wachsende Einschränkungen zugunsten der mit ihnen konkurrierenden Stadtärzte und Chirurgen feststellen. Dass es den Scharfrichtern dennoch gelang, bis zum Ende des Alten Reiches ihr Recht auf veterinär- und humanmedizinische Aktivitäten zu bewahren, lag u. a. daran, dass sich kleinere Herrschaften nur durch die Gewährung des dadurch generierbaren Zusatzeinkommens die statuswahrende Anstellung eines Scharfrichters leisten konnten.

Mit ihrem Beitrag, der die zweite Sektion einleitet, schlägt CLAUDIA RIED die Brücke in die Neuzeit. Sie untersucht die Rolle, die jüdische Ärzte bei der Versorgung der Bevölkerung Bayerisch-Schwabens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielten. Dabei wird einerseits deutlich, dass für die Patienten die religiöse Überzeugung der sie behandelnden Ärzte kaum von Bedeutung war. Andererseits kann Claudia Ried zeigen, wie die behördliche Praxis jüdischen Ärzten das Leben so schwer machte, dass viele gut qualifizierte Mediziner lieber auswanderten, als unter den restriktiven Bedingungen weiter in Bayern zu arbeiten.

Der Beitrag von ELENA TADDEI weitet den Horizont nicht nur auf die Südseite der Alpen, sondern richtet den Blick gleichzeitig auf psychische Erkrankungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als medizinisches Phänomen wahrgenommen wurden. Anhand der bekannten Aufzeichnungen des Tiroler Landarztes Franz von Ottenthal konnte Taddei zeigen, wie auch dieser Bereich des Gesundheitswesens einer schrittweisen Professionalisierung und staatlichen Reglementierung unterworfen wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts verfügte das Kronland Tirol über drei staatliche psychiatrische Kliniken, in denen sich fachlich geschultes Personal der Kranken annahm, die aus der gesamten Region in diese Einrichtungen gebracht wurden.

Ähnlich war die Situation in dem von RALPH HÖGER untersuchten Württemberg. Die beiden von ihm näher betrachteten Einrichtungen in Zwiefalten und Schussenried waren staatliche Behörden, die der Regierung in Stuttgart unterstanden und jeweils für einen bestimmten Bezirk zuständig waren. Trotz dieser landesweiten Bedeutung entfalteten sie allerdings im lokalen Umfeld keine besondere Raumwirkung nach außen. Die Kliniken bildeten vielmehr autarke und abgeschottete Räume mit einer systematischen Binnengliederung. Dies entsprach den therapeutischen Ansätzen der Zeit, die den Patienten durch klare Strukturen und geregelte Tätigkeiten eine Rückkehr in den bürgerlichen oder bäuerlichen Alltag ermöglichen wollten. Die sich im Laufe des Untersuchungszeitraums von 1870 bis 1914 wandelnden therapeutischen Ansätze standen in unmittelbarem Bezug zur räumlichen Gestaltung bzw. Umgestaltung der Anstalten, wobei das Hoheitsrecht über den Raum eine zentrale Rolle für den Anstaltsalltag spielte.

Dass ›religiöser Wahn‹ im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit knapp 40 % zu den häufigsten Diagnosen bei Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Einrichtungen zählte, veranschaulicht MARIA CHRISTINA MÜLLER-HORNUF in ihrem Vortrag über die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Ähnlich wie in Württemberg oder Tirol begegneten die dort tätigen Fachärzte diesem Phänomen sehr kritisch, sahen sie doch oft im Wirken der Geistlichkeit bzw. in der Religion an sich Ursachen oder zumindest Katalysatoren von Wahnvorstellungen. Aus den erhaltenen Patientenakten der aus dem gesamten Bezirk Schwaben nach Kaufbeuren bzw. Irsee verlegten Kranken ließ sich feststellen, dass insbesondere in der ländlichen Bevölkerung religiös konnotierte und/oder induzierte Wahnvorstellungen deutlich stärker verbreitet waren als in den Städten der Zeit.

SARAH WALTENBERGER greift mit ihrer Arbeit über Bad Wörishofen das auch bei anderen Beiträgen angeklungene Thema der Badekultur auf. Der Schwerpunkt ihrer Ausführungen liegt allerdings weniger auf therapeutischen Methoden oder der Frage nach der Gesundheitswirkung der auf Kneipp zurückgehenden Wasserkur, sondern auf der durch ihn angestoßenen sprunghaften Entwicklung des Ortes. Dabei kann sie zeigen, dass die anfänglich skeptisch zurückhaltenden Honoratioren Wörishofens zu geschickten Vermarktern Kneipps wurden, was eine Fortsetzung der Prosperität auch nach dem Tod des weithin berühmten Geistlichen ermöglichte.

Die abschließende dritte Sektion widmet sich ›Übergreifenden Gesundheitspolitiken‹. CHRISTINE ROGLER untersucht die Rolle der Bader als soziale Akteure im Kurfürstentum Bayern. Die in Altbayern als Ehaftgewerbe besonders privilegierten ländlichen Badestuben bildeten ein Netz von Einrichtungen für die medizinische Elementarversorgung der ländlichen Bevölkerung. In zahlreichen Streitfällen wird zwar deutlich, dass die Dorfbevölkerung die gesetzlich vorgeschriebene Basisfinanzierung der Bader als große Last empfand. Da es aber keine praktikablen Alternativen gab, wurde das System auch von der Hauptstadt München aus grundsätzlich unterstützt. Konkret geschah das u. a. dadurch, dass die Behandlung mittelloser Landbewohner orientiert an einer allgemeinen Taxordnung – den heutigen Fallpauschalen vergleichbar – aus der Armenkasse bezahlt wurde.

›Modern‹ und zukunftsweisend agierte das gerade eben erst zum Königreich erhobene Bayern dann mit der Einführung der verpflichtenden Pockenschutzimpfung im Jahre 1807. WOLFGANG PETZ kann in seinem Beitrag nachweisen, dass die frühen Versuche einzelner Ärzte in Oberschwaben, durch Variolation (mit Menschenpocken), später dann auch durch Vakzination (mit Kuhpocken) einen Schutz vor den endemisch auftretenden Pocken aufzubauen, zwar partiell erfolgreich waren, dass eine nachhaltige Bekämpfung der Krankheit aber erst durch den mit staatlicher Macht verordneten Impfzwang gelang. Zumindest in den ersten Jahren bedurfte es zusätzlich der Überzeugungsarbeit engagierter Geistlicher, um Vorbehalte und Widerstände in der Bevölkerung zu überwinden. Insofern gingen von der Gesundheitspolitik integrierende Wirkungen für das junge Staatswesen aus, deren Tragweite nicht unterschätzt werden darf.

Tradierte Verhaltensweisen prägten auch den Umgang der Mütter mit ihren Säuglingen, wie CHRISTINE WERKSTETTER in ihrem Beitrag herausarbeitet. Dabei stellt sie nicht nur eine zunehmende Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt fest, sondern beschreibt auch, wie der natürliche Vorgang des Stillens zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse sowie ärztlicher Anweisungen und Ermahnungen wurde. Das Erfahrungswissen von Hebammen trat dabei zunehmend in den Hintergrund, um am Ende des 18. Jahrhunderts den Vorstellungen akademisch ausgebildeter Ärzte Platz zu machen. Diese setzten sich in zahlreichen Schriften für das Stillen des eigenen Kindes ein und kritisierten das offenbar weit verbreitete frühe Füttern der Säuglinge mit Milchbrei und Mus. Letztlich orientiert an der Theorie der Physiokraten wollten sie dadurch die Kindersterblichkeit senken und die Prosperität des Landes durch einen Anstieg der Bevölkerung fördern. Nachhaltigen Erfolg hatten sie allerdings nicht, da die Obrigkeit offenbar nicht gewillt war, das Stillen des eigenen Kindes anzuordnen.

Lässt man die Ergebnisse der einzelnen Beiträge Revue passieren, dann zeigt sich, dass das aus organisatorischen Gründen für die Tagung und für diesen Sammelband gewählte räumliche Ordnungsprinzip der historischen Wirklichkeit nur unzureichend entspricht. Es wird vielmehr deutlich, wie städtische Maßnahmen einerseits auf das Land wirkten und andererseits das Land auf städtischen Zentren bezogen war. Bereits in der Schlussdiskussion der Tagung wurde daraus die etwas pointierte These abgeleitet, dass vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart die urbanen Zentren zwar Taktgeber der Medikalisierung und damit prägend für die Ausformung einer regionalen medikalen Struktur und Kultur waren. Ohne Rückkoppelung und Verflechtung mit dem Umland geschah dies jedoch kaum. Eine Umkehr der medikalen Ausrichtung innerhalb der untersuchten Regionen erfolgte zumindest in einzelnen Segmenten im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Einrichtung psychiatrischer Anstalten, die ganz bewusst im ländlichen Raum gegründet wurden, und der wachsenden Popularität von Kur- und Badeorten, deren Einrichtung an frühere Traditionen anknüpfte.

In vielen Beiträgen wurde außerdem deutlich, dass dem Bemühen staatlicher Obrigkeiten, ein geordnetes, dem Gemeinwohl dienendes und modernen Standards genügendes Gesundheitswesen aufzubauen, eine erstaunlich lang anhaltende Beharrungskraft tradierter, teilweise magischer, überwiegend aber humoralpathologischer Vorstellungen entgegenstand. Das zeigte sich bei der heilenden Tätigkeit von Scharfrichtern im Bodenseeraum ebenso wie bei dem Wirken der Bader in Bayern oder von Laienheilern in Tirol. Die offenbar im engsten familiären Umfeld und von frühester Kindheit an erfolgende Vermittlung grundlegender Vorstellungen von gesund sein und krank werden sind durch staatliche Maßnahmen nur schwer zu beeinflussen und lassen sich am ehesten noch mit dem Konzept der longue durée fassen.

Wie ein roter Faden zieht sich durch nahezu alle Beiträge die Bedeutung von Religion und Kirche für die Deutung und die Bewältigung von Krankheit. Ob bei der Seuchenprophylaxe oder dem Umgang mit psychisch Kranken, stets spielten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein religiöse und spirituelle Faktoren neben oder zusammen mit der handwerklichen bzw. wissenschaftlich fundierten medizinischen Betreuung eine gewichtige Rolle. Die Aufklärung, so scheint es, stellte zumindest für den Bereich des Gesundheitswesens in der Region – jenseits der rein akademischen Welt – keine Wasserscheide zwischen einem spirituell-geistlich geprägten, letztlich mittelalterlichen, und einem rational-säkularen neuzeitlichen Gesundheitsverständnis dar. Auffällig ist gleichzeitig, dass konfessionelle Unterschiede für die Behandlungen von Patienten nachrangig waren.

Daneben haben die Vorträge auch deutlich gemacht, dass es eine Reihe von Forschungsdesideraten gibt, die es wert sind, angegangen zu werden. Dazu zählt zum einen die für Schwaben bislang wenig untersuchte Entwicklung von den Narrenhäusern der Frühen Neuzeit zu den Psychiatrischen Kliniken des 19. Jahrhunderts.9 Zum anderen gilt das für die Geschichte der oberschwäbischen Bäderkultur. Auch die Untersuchung einzelner Spezialfragen, wie z. B. nach der Entstehung eines medizinischen Marktes oder nach der Bedeutung jüdischer Ärzte, steht zumindest in Süddeutschland erst in den Anfängen. Es bleibt daher zu wünschen, dass dieser Sammelband nicht nur dazu beiträgt, ein differenzierteres Bild von der Region Schwaben als medikaler Landschaft entstehen zu lassen, sondern auch dazu anregt, die offenkundig gewordenen Lücken dieses Bildes durch weitere Forschungen zu füllen.

1https://www.fachverband-medizingeschichte.de/kopie-von-datenbanken (aufgerufen am 1.9.2021).

2https://www.fachverband-medizingeschichte.de/copy-of-institute (aufgerufen am 1.9.2021).

3 Ausweislich der Auflistung des Internet-Fachportals H-Soz-Kult wurden in den vergangenen 20 Jahren knapp 400 medizinhistorische Tagungen durchgeführt. Als Beispiele für jüngere Ausstellungen seien genannt ›Eine göttliche Kunst. Medizin und Krankheit in der Frühen Neuzeit‹ (Gotha 2019), ›Medicus. Die Macht des Wissens‹ (Speyer 2019/20), ›Pest. Eine Spurensuche‹ (Herne 2019/20).

4 Zu diesem Begriff MICHEL FOUCAULT, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979, Frankfurt am Main 2006.

5 Einen Überblick über die vielfältigen Aspekte des Medikalisierungsbegriffes bieten WOLFGANG UWE ECKART/ROBERT JÜTTE, Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 312–318 (mit einer Bibliographie).

6 Vgl. für den deutschsprachigen Raum insbesondere die wegweisenden Regionalstudien von UTE FREWERT, Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 62), Göttingen 1984, und FRANCISCA LOETZ, Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 2), Stuttgart 1993, die jeweils unterschiedliche Medikalisierungsbegriffe favorisieren.

7 Beispielhaft nehmen neuerdings MALTE THIESSEN, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 225), Göttingen 2017, oder CHRISTINE HOLMBERG/STUART BLUME/PAUL GREENOUGH (Hg.) The Politics of Vaccination. A Global History, Manchester 2017, solche Perspektiven ein.

8 DAGMAR HÄNEL/ALOIS UNTERKIRCHER, Die Verräumlichung des Medikalen, in: DIES., Medikale Räume, Bielefeld 2010, S. 7–20.

9 Auch die Mitwirkenden der Tagung › ›Irrsinn‹ in Oberschwaben. Historische Exkursionen von der Gründung staatlicher psychiatrischer Einrichtungen bis ins späte 20. Jahrhundert‹ (12.10.2019, Bad Schussenried) gingen in ihren Beiträgen nicht hinter die Schwelle von 1800 zurück (https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8547).

I. Städtisches Gesundheitswesen

STEFAN DIETER

Heilige Helfer. Frömmigkeit und Krankheit im spätmittelalterlichen Kaufbeuren

Dieser Beitrag nimmt nicht die verschiedenen Institutionen und Personen in den Blick, die sich im spätmittelalterlichen Kaufbeuren der Pflege und Heilung von Kranken widmeten. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang beispielsweise das Spital zum Hl. Geist und das Siechenhaus jenseits der Wertach oder auch die Ärzte, Seelschwestern und Apotheker. All dies ist bereits quellenbasiert und fundiert dargestellt worden.1

Im Mittelpunkt steht vielmehr der Versuch, sich der religions- und frömmigkeitsgeschichtlichen Seite von Krankheit und medikalem Handeln im späten Mittelalter am Beispiel der Reichsstadt Kaufbeuren anzunähern. Für die Menschen jener Zeit war nämlich über die rein körperlichen Gesichtspunkte von Krankheit hinaus deren Einordnung in das christliche Weltbild von grundlegender Bedeutung: So konnte Krankheit als Strafe Gottes oder eines Heiligen angesehen werden; es war aber gleichzeitig möglich, die himmlischen Mächte zur Linderung der Leiden anzurufen, allen voran Christus selbst, der als höchster aller Ärzte galt, aber auch die unter ihm stehende große Schar der Heiligen.2 »Sie spielten«, so der Medizinhistoriker Kay Peter Jankrift, »für die Behandlung von Krankheiten und die Hoffnung auf Heilung während des gesamten Mittelalters eine kaum zu hoch einzuschätzende Rolle.«3 Eng mit diesem Komplex verbunden war für die spätmittelalterlichen Menschen das Thema ›Tod und Sterben‹: Ein jäher Tod, in der Regel durch Krankheiten hervorgerufen, ließ keine Zeit für die Vorbereitung auf das Jenseits, etwa durch Beichte und Sterbesakrament, und ohne diese, dessen war man sich sicher, war man den teuflischen Mächten schutzlos ausgeliefert.4 Damit fiel die Hoffnung auf himmlische Hilfe bei Krankheit zusammen mit der auf himmlischen Beistand in der letzten Stunde.

Parallel zur Entwicklung etwa im ökonomischen Bereich – man denke an die immer breitere Auffächerung der verschiedenen Berufszweige – kam es gegen Ende des Mittelalters auch bei den Heiligen zu einer immer breiteren ›Spezialisierung‹. Dabei spielte für die ihnen zugeschriebenen Helferqualitäten häufig ihre Leidensgeschichte eine Rolle: Erasmus beispielsweise war aufgrund seines Martyriums – die Legende berichtet, dass man ihm die Gedärme mit einer Seilwinde aus dem Leib gezogen hatte – zuständig für Magen- und Unterleibsbeschwerden.5 Auch die von den Heiligen ausgeübten Berufe konnten ausschlaggebend sein, etwa bei den Ärztebrüdern Cosmas und Damian. Oder aber der Name gab Hinweise auf das ›Spezialgebiet‹, so bei Blasius, der u. a. für Blasenleiden zuständig war.6 Insgesamt machten schließlich die Krankheitsschutzpatrone rund die Hälfte aller Heiligen aus.7

Anhand der eben genannten Heiligen und noch etlichen weiteren, die in der spätmittelalterlichen Reichsstadt Kaufbeuren verehrt wurden, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, inwieweit man mit den Mitteln der Religiosität dem Phänomen ›Krankheit‹ zu begegnen versuchte. Im Mittelpunkt stehen dabei Kirchenpatrozinien und die Ausstattung von Sakralbauten sowie die damalige Frömmigkeitspraxis: Zu letzterer zählen zum Beispiel obrigkeitliche Maßnahmen, die Nennung von Krankheitsheiligen im Jahrzeitbuch des Heilig-Geist-Spitals und Formen der Volksfrömmigkeit. Abgeschlossen werden soll das Ganze mit der Frage, inwieweit die Verehrung von ›heiligen Helfern‹ Auswirkungen auf die Rufnamengebung8 im spätmittelalterlichen Kaufbeuren hatte.

1. Patrozinien und Kirchenausstattung

1.1 Sakralbauten vor den Toren der Stadt

Von Memmingen kommend führte im späten Mittelalter die Landstraße nach Kaufbeuren ein gutes Stück westlich der Stadt auf diejenige, welche Reisende aus Kempten zu nehmen pflegten. Zwischen dem Dorf Oberbeuren und der Reichsstadt Kaufbeuren steht nicht weit von dieser Straße entfernt auf freiem Feld das Kirchlein, das den heiligen Ärztebrüdern Cosmas und Damian geweiht ist. Es wurde im Jahre 1494 wohl als Wallfahrtskirche errichtet, um sich der Fürsprache der beiden bei Seuchen und insbesondere der Pest zu versichern.9

Abb. 1: Sakralbauten vor den Toren der Stadt: St. Cosmas und Damian, St. Sebastian, St. Dominikus (Kaufbeuren in einer Ansicht aus dem Jahr 1699; bearbeitet).

Reisende, die aus Richtung Augsburg kamen, passierten, kurz bevor sie durch das Spitaltor die Stadt betraten, ebenfalls ein Gotteshaus, das eine spezielle medizinische Bedeutung hatte: die um 1180 erbaute und später dem Hl. Dominikus geweihte Kirche. Dominikus ist zwar kein spezieller Krankheitsheiliger, sein Patrozinium ist in diesem Falle jedoch dem Umstand geschuldet, dass sich die Dominikaner zwischen 1263 und 1340 in Kaufbeuren der Leprosen angenommen hatten, für die unmittelbar bei der Kirche das Siechenhaus eingerichtet worden war.10

Der dritte Zugangsweg nach Kaufbeuren führte von Füssen und Schongau, also von Süden, in die Stadt. Ein gutes Stück vor dem Rennweger Tor befand sich seit 1484 der städtische Friedhof, nachdem zwei Jahre zuvor ein ›großes Sterben‹ in Kaufbeuren zu wüten begonnen hatte und der bisher als Friedhof genutzte Kirchhof um die St.-Martins-Kirche die vielen Toten nicht mehr aufnehmen konnte. Die zum neuen Gottesacker gehörende Kirche wurde der Gottesmutter Maria und dem Pestheiligen Sebastian geweiht. Eine zeitgenössische Notiz nimmt ausdrücklich auf die Hoffnungen Bezug, die in beide gesetzt wurden: Das Patrozinium, so heißt es, sei gewählt worden, damit wir dez geprechen der pestilentz entlediget würden.11 Im Inneren der Kirche befand sich ein Altar, der Antonius Eremita geweiht war, welcher – wie der Hl. Sebastian – als Helfer gegen Seuchen und Epidemien angerufen wurde.12 Seine Verehrung in Kaufbeuren wird später noch ausführlicher thematisiert.

Egal auf welchem der drei Zufahrtswege man sich im ausgehenden 15. Jahrhundert der Reichsstadt Kaufbeuren also näherte, man durchquerte eine sakral gestaltete Landschaft mit Gotteshäusern, die speziell medikale Funktionen innehatten: eine Wallfahrtskirche, die den Ärztepatronen geweiht war, eine Kirche, die dem seelischen Heil Todkranker gewidmet war, sowie eine Kirche, deren Schutzheilige vor der pestilentz bewahren sollten. Wie Grenzsteine umgaben diese drei Sakralbauten die Stadt und bezeugten so die Hoffnung, die die Kaufbeurerinnen und Kaufbeurer in die dort verehrten Heiligen gesetzt haben mögen: Sie sollten Krankheiten und Leiden bereits vor den Toren der Stadt Einhalt gebieten.

1.2 Die St.-Blasius-Kirche

Verließ man den Raum außerhalb der Mauern und betrat die Stadt durch das Kemptener Tor, fiel sofort die St.-Blasius-Kirche ins Auge, die hoch über der Stadt auf der Buchleuthe thront. Ihre spätgotische Ausstattung hat sich nahezu vollständig erhalten, was sie für das Thema dieses Beitrags besonders interessant macht. Die Gründe, die zur Entstehung der Kirche geführt haben, sind quellenmäßig nicht fassbar. Wahrscheinlich ist, dass sie die erste Pfarrkirche Kaufbeurens war und dass dort die Kaufbeurer ihre Toten bestatteten, bis im 13. Jahrhundert der Kirchhof von St. Martin das Areal um St. Blasius als Friedhof ablöste. Doch das Begräbnisrecht erlosch deswegen nicht: Im ausgehenden Mittelalter ließ eine namentlich nicht mehr bekannte, hochgestellte Kaufbeurer Familie in der St.-Blasius-Kirche eine Familiengruft anlegen und bestattete hier ihre Toten.13 Aus diesen Umständen lassen sich wohl die zahlreichen Bezüge zu den Themen Krankheit und Sterben erklären, auf die man in der Kirche stößt.

Der Hochaltar aus den Jahren 1517/18 zeigt bei aufgeklappten Flügeln im Hauptschrein die Heiligen Blasius, Ulrich und Erasmus. Die drei Figuren sind älter als die übrigen Teile und stammen offenbar vom Vorgängeraltar; datiert werden sie in die Zeit um 1430.14 In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um für die Stadt wichtige Schutzheilige handle, weswegen sie von Jörg Lederer, dem Schöpfer des Altars, übernommen werden mussten. Als Begründung wird dabei ausgeführt, dass sie die Patrone der Weber und Waffenschmiede seien, zweier Zünfte also, die in jener Zeit in Kaufbeuren in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht in der Tat eine wichtige Rolle spielten.15 Diese hätten vermutlich auch den Lederer-Altar in Auftrag gegeben.16 Damit habe die St.-Blasius-Kirche als »zentrales Standesheiligtum« für diese »bürgerliche[n] Gruppen aus handwerklichen Berufen mit erheblichem Gewerbeanteil« gegolten.17 Diese These soll hier nicht diskutiert werden. Sie scheint aber zumindest ergänzungsbedürftig zu sein, wie ein Blick auf das weitere Bildprogramm des Altars und der übrigen Innenausstattung der Kirche zeigt.

Die drei Bischöfe im Hauptschrein sowie Antonius Eremita, der auf der Außenseite eines der Altarflügel dargestellt ist, werden an den Wänden der Kirche in großformatigen Bilderzyklen den Besuchern nahegebracht. Diese Bilder datieren aus der Zeit zwischen 1485 und 1490.18 Dabei fällt auf, dass in allen vier Zyklen mindestens ein Bild zu sehen ist, auf denen der jeweilige Heilige entweder selbst krank ist oder aber Kranke heilt. Blasius als Hauptpatron der Kirche ist der mit 20 Tafeln umfangreichste Bilderzyklus gewidmet. Das für das Thema ›Krankheit und Frömmigkeit‹ interessante Bild zeigt den Heiligen, wie er – so die Beschriftung unterhalb der Tafel – ein kind [heilt,] so ain fischgretn geschluckt. Diese Szene ist in den nicht selten vorkommenden Blasiuszyklen ein übliches Motiv.19

Auch Ulrichs-Zyklen sind durchaus verbreitet20 und in diesen finden sich, wie in Kaufbeuren, ebenfalls ›medikale‹ Bilder:21 Zum einen die Austreibung eines Dämonen aus einer Klosterschwester und zum anderen der sterbenskranke Ulrich im Bett, dem zwei Engel gebieten, die Messe zu lesen. Bemerkenswert ist, dass von den insgesamt zehn Tafeln des Ulrichszyklus zwei dem Thema Krankheit gewidmet sind, jedoch das für die sonstige Wahrnehmung seines Lebens so bedeutsame Fischwunder, die Lechfeldschlacht gegen die Ungarn und seine reichspolitischen Aktivitäten gänzlich fehlen.22 Dies mag die bereits genannte These von der St.-Blasius-Kirche als zentralem Standesheiligtum der Waffenschmiede und Weber relativieren.

Abb. 2: Der Hl. Blasius heilt einen Knaben, der eine Fischgräte verschluckt hat (um 1485; St. Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler).

Abb. 3: Der Hl. Ulrich heilt eine Klosterfrau, die von einem Dämon besessen ist (um 1485; St. Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler).

Abb. 4: Der Hl. Ulrich liegt krank im Bett (um 1485; St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler).

Bilderzyklen, die Erasmus gewidmet sind, sind nur vereinzelt anzutreffen, insofern stellt das Kaufbeurer Exemplar eine Seltenheit dar.23 Auf einer der Tafeln ist zu sehen, wie er einen Toten auferweckt – eine Fähigkeit, über die jeder ernstzunehmende Heilige im Zusammenhang mit Heilungswundern verfügen musste: »Denn die Angst vor Sterben und Tod, die unter dem Eindruck der verheerenden Pestepidemien um 1500 noch einmal stärker ins Bewusstsein rückt[e], gründet […] nicht primär in den medizinischen Ungewissheiten, sondern vielmehr in der Angst, das Seelenheil könne verwirkt werden«, sollte der Tod jäh und plötzlich erfolgen.24

Abb. 5: Der Hl. Erasmus weckt einen Toten auf (um 1485; St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler).

Im Gegensatz zum Kult der anderen drei dargestellten Heiligen war die Verehrung des Antonius Eremita in Kaufbeuren recht jung. Sie geht wohl auf Dr. Andreas Rohner zurück, der von 1462 bis 1481 als Pfarrer der Kaufbeurer St.-Martins-Kirche genannt wird. Zuvor war er von 1443 bis 1448 Stellvertreter des Antoniter-Hochmeisters Petrus Mitte de Caprariis und zugleich Verwalter der Niederlassung des Antoniterordens in Memmingen.25 Von dort dürfte er den Antonius-Kult an die Wertach gebracht und die Ausführung der Tafelgemälde zum Leben des Heiligen angeregt haben. Bilderzyklen über Antonius Eremita sind weit verbreitet.26 Als singulär ist jedoch die Kaufbeurer Szene zu bezeichnen, in der zu sehen ist, wie Christus den kranken Antonius heilt. Die Beschriftung am unteren Rand der Tafel lautet Hie erschin im ain himlische gstalt und [er] ward gesund. Im Bild selbst fragt Antonius Christus: Jesu guter herre got wau wast du jn minr not und dieser antwortet: Ich was all hie din Sig zesechen din lob tund alle zungen jechen. In keiner der zeitgenössischen Bildfolgen zum Leben dieses Heiligen ist eine ähnliche Szene zu sehen27 – ein wichtiger Hinweis darauf, welche bedeutsame Rolle das Thema Heilung im Kaufbeurer Zyklus spielt. Diese Bedeutung wird durch den Umstand unterstrichen, dass die Szene sowohl durch ihre mittige Position in der unteren Tafelreihe als auch durch die Spruchbänder im Bild selbst besonders hervorgehoben ist. Grund dürfte sein, dass die Heilungskompetenz des Antonius, dessen Kult erst vor Kurzem in Kaufbeuren eingeführt worden war, der Bevölkerung besonders verdeutlicht werden sollte.

Abb. 6: Der Hl. Antonius Eremita wird von Christus geheilt (um 1485; St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren; unbekannter Maler).

Blasius heilt einen Knaben, Ulrich befreit eine Klosterschwester von einem Dämonen und ist selbst krank, Erasmus weckt einen Toten auf und Antonius wird von Christus geheilt – das Betrachten dieser Szenen in den vier Bilderzyklen verhieß dem gläubigen Betrachter Hilfe und Beistand bei allen Arten von gesundheitlichen Bedrängnissen bis hin zum Tod. War doch der Glaube in allen Gesellschaftsschichten üblich, dass durch das Schauen von derartigen Bildern Heilung zu erfahren sei und dass dieses Schauen die gleiche Wirkmächtigkeit wie etwa die Berührung von Reliquien haben könne.28

Auf reges Interesse bei Gläubigen, die Zuflucht in ihren Krankheitsnöten und -ängsten suchten, dürften auch die Bilder an den Außenseiten der Altarflügel gestoßen sein. Diese waren normalerweise zu sehen, denn nur an den Hochfesten und den Festtagen der Kirchenheiligen waren die Flügel geöffnet und gaben den Blick auf das Innere des Altars frei. Das Bildprogramm der Außenflügel in Verbindung mit den beiden seitlich angebrachten ›Schreinwächtern‹ sowie den Figuren im Gesprenge und in der Predella weisen nochmals auf das für dieses Gotteshaus wichtige Thema Heilung hin und – damit eng verbunden – einen im christlichen Sinne ›gelungenen Tod‹.

Auf dem – vom Betrachter aus gesehen – linken Altarflügel sind unten die beiden Heiligen Valentin und Castulus und oben die beiden Diakone Stephanus und Laurentius dargestellt. Diese vier verbindet ihr Schicksal als Märtyrer, worauf auch der über ihnen im Gesprenge thronende und von Pfeilen durchbohrte Pestheilige Sebastian hinweist. Als ›Schreinwächter‹ an der Seite fungiert Johannes der Täufer, der ebenfalls das Martyrium erlitt. Auf dem rechten Altarflügel sind unten der im Allgäu besonders verehrte Magnus und der offenbar durch Pfarrer Rohner vermittelte Antonius Eremita zu sehen, beides Äbte und Einsiedler, sowie oben die beiden Bischöfe Martin, Patron der Stadtpfarrkirche, und Nikolaus. Diese vier eint der Umstand des ›guten‹, also wohl vorbereiteten Todes, für den sinnbildlich der Hl. Christophorus über ihnen im Gesprenge steht – reichte es doch nach damaligen Vorstellungen aus, einmal am Tag sein Bildnis gesehen zu haben, um einem unbußfertigen Tod vorzubeugen.29 ›Schreinwächterin‹ ist hier eine Anna selbdritt, die ebenfalls wohlvorbereitet den Tod erwartete. Mit Johannes dem Täufer und Anna, beide der Überlieferung nach Verwandte und Zeitgenossen Jesu, finden die Außenseiten der Altarflügel gewissermaßen biographischen und chronologischen Anschluss an die Innenseiten, die Szenen aus der Kindheit des Heilands zeigen.

Abb. 7: Der 1517/18 geschaffene Hauptaltar der St.-Blasius-Kirche mit geschlossenen Altarflügeln. Neben den Altarflügeln stehen als ›Schreinwächter‹ Johannes der Täufer (links) und Anna selbdritt (rechts); auf den Altarflügeln sind dargestellt: Valentin und Castulus (links unten), Stephanus und Laurentius (links oben), Magnus und Antonius Eremita (rechts unten), Martin und Nikolaus (rechts oben).

In vertikaler Leserichtung nimmt das Bildprogramm des Hochaltars bei geschlossenen Flügeln damit Bezug auf das Ende des Lebens, das im spätmittelalterlichen Sinne als ›gelungen‹ zu bezeichnen war, wenn es sich in der Hingabe für Jesus erfüllte oder wenn es genügend Zeit zur Vorbereitung ließ. Während der Märtyrertod selten geworden war, blieb die Möglichkeit eines ›guten Todes‹ angesichts der vielen Krankheiten und Seuchen, denen man schutzlos ausgeliefert war, stets gefährdet.

Die Sorge um ihren Tod begleitete die Menschen ihr ganzes Leben lang. Gebete, Bußakte und schließlich der Empfang der Sterbesakramente sollten darauf vorbereiten. Aber auch die Imitatio von Vorbildern, die in die Gnade eines ›guten Todes‹ gekommen waren, war zu empfehlen.30 Solche Vorbilder zeigen die Außenseiten der Altarflügel in der St.-Blasius-Kirche in horizontaler Leserichtung: In der oberen Reihe sind Heilige zu sehen, die im Sinne der christlichen Caritas ein Leben im Dienst ihrer Nächsten führten, die beiden Diakone Stephanus und Laurentius sowie die beiden Bischöfe Martin und Nikolaus. Die untere Reihe zeigt Heilige, die durch Krankenheilungen bewiesen hatten, dass sie bereits zu Lebzeiten Anteil am jenseitigen Heil besaßen: Valentin und Castulus sowie Antonius Eremita und Magnus. Das Betrachten dieser vier sollte den Menschen Gottvertrauen vermitteln und die Angst vor Tod und Sterben nehmen31 – durften sie doch auf die Hilfe jener in ihrer letzten Stunde hoffen.

Es fällt auf, dass drei der vier Zweierpaare jeweils gleiche kirchliche Funktionen ausübten und dementsprechend in ähnlicher Gewandung dargestellt sind. Aus der Reihe fallen lediglich Valentin und Castulus, die weder ein geistliches Amt noch ein weltlicher Stand miteinander verbindet. Die genauen Gründe für diese Abweichung sind unbekannt, es könnte sich um Heilige handeln, die eine gewisse lokale Verehrung genossen: Castulus vermutlich wegen eines Pestwunders, das er zu Beginn des 15. Jahrhunderts im nicht weit entfernt gelegenen Dorf Aitrang gewirkt haben soll und von dem später noch die Rede sein wird. Valentin dagegen war für die ›Fallsucht‹32 zuständig, besser bekannt als Epilepsie; seine rechte Hand weist auf einen ihm zu Füßen liegenden Epileptiker.33

Abb. 8: Ausschnitt aus der 1517/18 von Jörg Mack gemalten Predella des Hauptaltars der St.-Blasius-Kirche. Dargestellt sind von links nach rechts: Katharina, Barbara, das Pfingstwunder, Margaretha und Dorothea (St.-Blasius-Kirche Kaufbeuren).

Auf der Predella schließlich sind in zwei Zweiergruppen die vier ›virgines capitales‹ abgebildet, die heiligen Jungfrauen Katharina, Barbara, Margaretha und Dorothea, dazwischen ist eine Darstellung des Pfingstwunders zu sehen. Die vier Heiligen stehen aufgrund ihres Märtyrertodes für das Sterben für Christus und die Legenden berichten, dass ihnen die Erhörung aller ihrer Fürbitten zugesagt worden sei.34 Zusammen mit den ebenfalls auf dem Altar vertretenen Blasius, Christophorus und Erasmus gehören Katharina, Barbara und Margaretha zu den klassischen 14 Nothelfern, die als Heiligengruppe sämtliche Krankheitsbereiche abdecken35 und in der Literatur auch als ›Sterbepatrone‹ bezeichnet werden.36 Im süddeutschen Raum schwankte bis ins 16. Jahrhundert hinein die Zusammensetzung dieser Reihe, so dass hier auch u. a. Antonius Eremita, Dorothea, Magnus, Laurentius, Nikolaus, Sebastian und Stephanus unter die 14 Nothelfer gereiht werden konnten.37 Damit kann der Hochaltar der Kaufbeurer St.-Blasius-Kirche fast schon als ein Nothelfer-Altar angesehen werden, sind auf ihm doch 13 mögliche von 14 Nothelfern zu sehen. Dass die Gottesmutter Maria im Gesprenge den Altar bekrönt, mag dieses Bild abrunden, gilt sie doch als ›Königin der Nothelfer‹ und wird oftmals zusammen mit ihnen dargestellt.38

2. Frömmigkeitspraxis als Gesundheitsfürsorge

2.1 Obrigkeitliche Maßnahmen

Von der St.-Blasius-Kirche aus gesehen befindet sich am anderen Ende der Stadt das Rathaus. Dort bestimmte der Rat die Politik der Reichsstadt und ließ sich dabei auch von religiösen Erwägungen beeinflussen. Für das spätmittelalterliche Selbstverständnis der reichsstädtischen Bürgerschaft war eine geschlossene Haltung im Glauben von großer Wichtigkeit. Dahinter stand die Vorstellung, die Stadtgemeinde als ganze und jeder Einzelne als Teil dieses Ganzen müsse für das Heil aller Sorge tragen. Nicht abgestellte religiöse Missstände zögen den Zorn Gottes oder seiner Heiligen auf sich, der sich etwa in Form von Krankheiten oder Seuchen äußern konnte.39 So ist es zu erklären, dass sich reichsstädtische Räte verpflichtet fühlten, sich in Krankheitsnöten im Namen ihrer Stadt an Gott und die Heiligen um Hilfe zu wenden und auch auf das religiöse Verhalten ihrer Bürgerschaft Einfluss zu nehmen.

Nach der Pestwelle von 1482/84 begab sich der Rat der Reichsstadt Kaufbeuren im Jahr 1486 zusammen mit anderen schwäbischen Reichsstädten in den Schutz des im Kloster Stams in Tirol verehrten Johannes des Täufers.40 Stams war in jener Zeit ein weithin bekannter Wallfahrtsort, an dem eine Reliquie des Täufers und ein Teil des Schädelknochens seines Vaters Zacharias verehrt wurden und an dem angeblich viele Heilungswunder geschahen. Das Mirakelbuch des Klosters nennt als Einzugsgebiet der frommen Wallfahrer die Schweiz, Süddeutschland, Salzburg, Südtirol und Slowenien.41 Zum Zeichen ihres Schutzbegehrens unterhielten die städtischen Räte in der dortigen Klosterkirche Sühnekerzen. Darüber hinaus stifteten sie aus Dankbarkeit für die überwundene Pest Johannes dem Täufer einen silbernen und vergoldeten Kelch.42 Aus der Sicht des Kaufbeurer Rates war der Gedanke, sich an die in Stams verehrten Heiligen zu wenden, naheliegend, pflegte die Stadt doch zu diesem Kloster enge Beziehungen: Abt Georg Ried, der von 1436 bis 1481 regierte und 1483 starb, war ein Sohn Kaufbeurens; auch verfügte das Kloster seit Beginn des 14. Jahrhunderts über mehrere Besitzungen in der Stadt.43

Die Hoffnung auf himmlischen Beistand stellte für die spätmittelalterlichen Menschen und ihre Obrigkeiten einen zentralen Aspekt auf dem Weg zu ihrer Genesung und zur Bewahrung vor dem Tod dar. Neben dem Betrachten von Bildern, der Berührung von Reliquien oder dem Darbringen von Sühneopfern spielten die Sakramente eine wichtige Rolle. Wie aber sollte man mit Menschen umgehen, die diese wegen ansteckender Krankheiten nicht empfangen konnten? Im Pestjahr 1521 entschied der Kaufbeurer Rat, dass die Pestkranken zwar nicht den Markt und die Bäder, wohl aber den Gottesdienst in der Pfarrkirche besuchen durften. Sie sollten jedoch unter dem Chor der Franziskanerinnen im Nordwestteil des Gotteshauses stehen bleiben.44 Vermutlich wurde das Altarsakrament zu ihnen dorthin gebracht, um der Ansteckungsgefahr Einhalt zu gebieten.

Um die Krankheit selbst einzudämmen, wurden mehrere Maßnahmen ergriffen: So wurde ein Seelhaus als Seuchenkrankenhaus eingerichtet, eine Meldepflicht für auswärtige Kranke eingeführt, die in die Stadt kamen, und Ausgangsbeschränkungen für Bewohner erlassen, in deren Häusern sich Kranke aufhielten.45 Darüber hinaus intensivierte der Rat die Anrufung Gottes und seiner Heiligen – doch alles schien vergebens zu sein, die Seuche wütete weiter. Da machte der Rat als Grund für die ausbleibende Hilfe das Verhalten der Bevölkerung aus, denn sie habe die Himmlischen mit sweren lesterungen belaidiget. Daher wurde bei Androhung ainer sweren straff verfügt, dass die Bürgerschaft gott den allmechtigen, die reine junckhfraw marie vnd die liebe hailigen mit dhainen schweren noch vngeschickten wortten belaidigen noch bekimern sollen. Gleiches gelte auch, sollte jemand freuentliche zesweren erfunden werden, also beim Fluchen erwischt werden.46

2.2 Krankheitsheilige im Jahrzeitbuch des Heilig-Geist-Spitals

Folgt man dem Rosental, das am Rathaus vorbei in den nordöstlichen Bereich der Reichsstadt hinab führt, gelangt man zum Heilig-Geist-Spital. Dort war während des gesamten späten Mittelalters ein sogenanntes Jahrzeitbuch in Gebrauch,47 in dem aufgezeichnet wurde, welcher Heiligen in der Messopferliturgie zu gedenken war und für welche Verstorbene gebetet werden sollte. Bei etlichen Einträgen handelt es sich um Wohltäter der Einrichtung, denn bei ihnen ist der Name um Angaben zum Umfang und zur Verwendung von Stiftungsgut erweitert. Angelegt ist das Kaufbeurer Jahrzeitbuch in Form des römischen Kalenders mit Sonntagsbuchstaben und Nennung der Tagesheiligen.48

Diese sind für das Thema ›Frömmigkeit und Krankheit‹ von besonderem Interesse. Bei der Anlage des Buches, für die das Jahr 1323 plausibel gemacht wird,49 wurden zwei Gruppen unterschieden: In roter Farbe sind die Heiligen aufgeführt, deren Gedenktage besonders festlich begangen wurden; in schwarzer Farbe sind die übrigen vermerkt.50 In der letztgenannten Gruppe finden sich auch Heilige, deren Kult in Kaufbeuren erst in späterer Zeit populär wurde, wie Cosmas und Damian, Sebastian und Antonius Eremita. Vor allem für den Beginn der intensiven Verehrung der Ärztebrüder Cosmas und Damian, die es immerhin zu einer lokalen Wallfahrt brachten, mag dies mangels anderer Quellen einen gewissen Anhaltspunkt bieten, wie im Folgenden noch näher ausgeführt werden wird.

Nun wird es bei einem Jahrzeitbuch eines Spitals nicht sonderlich überraschen, dass über die Hälfte aller darin genannten Heiligen spezielle Krankheitspatrone sind.51 Noch deutlicher wird der medikale Schwerpunkt der Heiligenauswahl, betrachtet man lediglich die roten Einträge, also die besonders wichtigen: Rund 70 Prozent dieser Heiligen sind Krankheitspatrone.52 Unter diesen tauchen natürlich die Patrone der Spitalkirche auf: Neben dem Hl. Geist waren dies die Gottesmutter Maria, die Apostel Bartholomäus und Andreas sowie Elisabeth von Thüringen.53 Aber auch der für Kaufbeuren wichtige Blasius, der im Allgäu verehrte Magnus und der über alle Volksschichten hinweg beliebte Veit54 finden sich darunter. Insgesamt deckt die Heilungskompetenz der als wichtig gekennzeichneten Heiligen die verbreitetsten Leiden oder die der Gesundheit und dem Seelenheil besonders gefährlichen Situationen ab, denen sich die mittelalterlichen Menschen ausgesetzt sahen: Geburt und Entbindung (Leonhard), Kinderkrankheiten (Blasius, Othmar, Ursula, Veit), Kopf- und Halsleiden (Blasius, Katharina, Leonhard, Magnus, Thomas, Veit), Hautkrankheiten (Bartholomäus, Blasius, Laurentius), Beschwerden in Bezug auf Magen, Darm und Blase (Blasius, Markus), Geschlechtskrankheiten (Leonhard), Nervenleiden (Bartholomäus, Moritz, Peter und Paul, Veit), ansteckende Krankheiten (Laurentius, Matthias), ›guter Tod‹ (Markus, Michael, Stephanus) und vieles andere mehr. Zusammen mit den Heiligen, deren Namen im Jahrzeitbuch mit schwarzer Tinte geschrieben wurden, wurde damit jahraus jahrein die Verehrung der himmlischen Helferschar für alle möglichen Krankheiten, Gebrechen und Todesnöte gewährleistet und auf diese Weise eine umfassende Gesundheits- und Sterbefürsorge auf sakraler Ebene praktiziert.

Unabhängig von der farblichen Eintragung der Heiligen im Jahrzeitbuch gab es bei der Bevölkerung offenbar besonders beliebte himmlische Helfer. Zwar wurde in den meisten Fällen eines Verstorbenen an dessen Todestag gedacht, mitunter aber war ein bestimmter Tagesheiliger für die terminliche Platzierung frommer Stiftungen ausschlaggebend. Am beliebtesten waren demnach gemäß der Anzahl der Eintragungen die Krankenpatrone Blasius, Gertrud, Leonhard, Magnus und der Apostel Thomas.55 Daneben zeichnen sich durch auffällig viele Einträge unter ihrem Namen die aufgrund lokaler oder regionaler Besonderheiten wichtigen Heiligen Martin sowie Gordian und Epimachus aus, die allerdings keine besondere medikale Funktion hatten.56

Abb. 9: Eintrag des Hl. Blasius (Blasii epi et m) im Jahrzeitbuch des Kaufbeurer Heilig-Geist-Spitals in roter Tinte. Darunter stehen fromme Stiftungen, die an seinem Gedenktag terminiert wurden und fast den gesamten Raum unterhalb des Eintrags einnehmen.

2.3 Volksfrömmigkeit

Die nächste Station, die Hinweise zum Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und Krankheit liefert, ist die im Zentrum der Stadt stehende Pfarrkirche St. Martin. Von der spätgotischen Ausstattung des zwischen 1438 und 1444 vergrößerten und in wesentlichen Teilen neu errichteten Gotteshauses ist nur wenig bekannt, da im Zuge der Einführung der Reformation im Sinne der zwinglianisch-oberdeutschen Richtung im Jahre 1545 die Bildwerke und Altäre entfernt wurden.57 Einige Kunstwerke haben sich jedoch erhalten, so die wichtigsten Figuren des von Michael Erhart um 1480 geschaffenen Hochaltars. Zu ihnen gehören neben Maria sowie den Bischöfen Ulrich und Martin die für das Thema dieses Beitrags bedeutsamen Cosmas und Damian.58

Von den beiden Ärztebrüdern war bereits im Zusammenhang mit der ihnen geweihten Wallfahrtskirche vor den Toren der Stadt die Rede. Bei dieser Wallfahrt handelte es sich um eine eher regional begrenzte Angelegenheit, fiel die Errichtung des Kirchleins doch in eine Zeit, in der sich das Netz der Nahwallfahrten im süddeutschen Raum stark verdichtete.59 Seine Ursache fand das Phänomen der Nahwallfahrten im immer stärker zunehmenden Wunsch der Gläubigen, durch direkten Kontakt mit Reliquien, Bildern oder Hostien, die im Zusammenhang mit den aufgesuchten Heiligen standen, leibliche und seelische Heilung zu erfahren. So wurden auch kleinere Kultorte auf- und ausgebaut und mit Ablässen ausgestattet, was wiederum zeit- und geldintensive Wallfahrten zu den großen Gnadenstätten überflüssig machte.60 Ein Erlangen himmlischer Hilfe war nun gewissermaßen vor der eigenen Haustüre möglich.

Ihren Ausgangspunkt dürfte die Wallfahrt zum Cosmas-und-Damian-Kirchlein bei Kaufbeuren am Hochaltar der Stadtpfarrkirche St. Martin genommen haben. Zu welcher Zeit dies allerdings geschah, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie um 1320, als das Jahrzeitbuch des Spitals angelegt wurde, in Kaufbeuren noch nicht zu den besonders wichtigen Heiligen gezählt wurden, da ihr Eintrag mit schwarzer Tinte erfolgte, die für die weniger wichtigen Heiligen verwendet wurde.

Abb. 10 und 11: Das von dem Ulmer Bildhauer Michael Erhart um 1480 geschaffene Ärztebrüderpaar Cosmas (links) und Damian (rechts) aus dem spätgotischen Hochaltar der St.-Martins-Kirche Kaufbeuren (St.-Martins-Kirche Kaufbeuren).

160 Jahre später hatte ihre Verehrung einen bedeutsamen Aufschwung genommen, denn sie bekamen damals prominente Plätze im Hochaltar der Stadtpfarrkirche und wenig später eine eigene Wallfahrtskirche. Schon wenige Jahrzehnte danach fiel ihre Verehrung der Reformation zum Opfer, wurde aber nach dem Dreißigjährigen Krieg vom katholischen Bevölkerungsteil neu belebt61 und machte Kaufbeuren – so das Lexikon der christlichen Ikonographie – neben Rom, Florenz, Essen und Gutenzell zu einem ihrer wichtigsten Kultzentren in Mittel- und Westeuropa.62

In der spätgotischen St.-Martins-Kirche stand auch ein Nebenaltar, der dem als Krankheitspatron sehr beliebten Veit geweiht war.63 Der Heilige, der zu den klassischen 14 Nothelfern zählt und Mitpatron des Chores und des Hochaltars der Kaufbeurer Spitalkirche war,64 wurde bei über 30 Gebrechen angerufen.65 An seinem Altar in der St.-Martins-Kirche wurde vermutlich auch das Veit-Heiltum verwahrt, mit dem der dortige Mesner bis ins 16. Jahrhundert hinein Leute bestrich, die sich davon Bewahrung vor oder Heilung von Krankheiten erhofften. Allerdings verrichtete der Mesner diese Tätigkeit widerrechtlich.66 Anders stellte sich dagegen in der benachbarten Reichsstadt Biberach die Veit-Verehrung dar: Dort wurden am Gedenktag des Heiligen, dem 15. Juni, Personen mit einer Monstranz bestrichen, in der eine Veit-Reliquie eingearbeitet war.67 Der Unterschied bestand darin, dass in Kaufbeuren eine von Seiten der Kirche nicht legitimierte Person – der Mesner – tätig war, wohingegen in Biberach ein Priester handelte. Dies zeigt, auf welch schmalem Grat sich die Heiligenkulte und die von ihnen erhofften Wunder bewegten: Einerseits stellten Heilungswunder ein sehr effektives Mittel dar, um auf Gläubige einzuwirken, was sich die Kirche nicht entgehen lassen wollte. Andererseits bestand ständig die Gefahr, dass die Heiligenkulte der Kirche entglitten. Deswegen erhob sie einen Monopolanspruch auf Heilungswunder und versuchte, die entsprechenden Kulte zu steuern.68

So erkannte die Kirche auch ein Wunder an, das, wie bereits im Zusammenhang mit der St.-Blasius-Kirche erwähnt, der Hl. Castulus im nahegelegenen Dorf Aitrang gewirkt haben sollte: Als dort zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine pestartige Seuche gewütet habe, sei Barbara Kolerin in solcher grosser gefahr kein laid widerfahren, sonder sey vor der Pestilentz genediglich erhalten worden, wie Martin Kreittmann, Dechant des nahe Freising gelegenen Chorherrenstifts Moosburg, im Jahr 1584 schreibt. Ursache dafür sei gewesen, dass sie den dort verehrten Hl. Castulus angerufen habe.69 Vermutlich hält der Kaufbeurer Castulus deswegen auch eine Fahne mit dem Moosburger Stadtwappen in der Hand und nicht, wie sonst üblich, einen Spaten, der auf sein Martyrium hinweist.70 Woher Kreittmann seine Kenntnis von diesem Wunder hatte, ist unbekannt, doch galt dessen Faktizität als so glaubwürdig, dass er es durch die Aufnahme in sein Mirakelbuch erneut bezeugte. Im Rückgriff darauf wurde 1729 ein Teil des Deckenfreskos im Chorraum der St.-Kastulus-Kirche in Puchschlagen bei Dachau dieser Begebenheit gewidmet: Zu sehen ist Barbara Kolerin, wie sie ihre Hände flehend zum Himmel erhebt, während hinter ihrem Haus Leichen liegen. Darunter ist zu lesen: Dem bösen Lufft und Pestilentz wehret Castl. den Sententz.71

3. Krankheitsheilige und Rufnamengebung

Den Heiligen wurde von der Bevölkerung in Bezug auf den Schutz vor und die Heilung bei Krankheiten großes Vertrauen entgegengebracht. Hatte dieser Aspekt der Heiligenverehrung, so ist in Zusammenhang mit unserem Thema zu fragen, auch Auswirkungen auf die Vergabepraxis der Rufnamen? Lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen den in Kaufbeuren besonders verehrten Krankheitsheiligen und der Rufnamengebung im späten Mittelalter? Diese Fragen stellen sich fast zwangsläufig in der St.-Martins-Kirche, da hier der spätromanische Taufstein steht, über dem im späten Mittelalter die Kaufbeurer Kinder ihre Taufe empfingen.

Auf der Suche nach einer Antwort wurden für diese Untersuchung die Vornamen von 2.698 Kaufbeurer Bürgerinnen und Bürgern des Zeitraums zwischen 1461 und 1550 ausgewertet.72 Zu bedenken ist dabei stets, dass in den Urkunden in der Regel erwachsene Personen auftauchen, was bedeutet, dass die Zeit der Namengebung für diese Personen in der Regel mindestens 20 bis 30 Jahre vor ihrer ersten urkundlichen Nennung stattfand.

Gewiss wird man nicht die Gleichung aufstellen dürfen, wonach eine besonders intensive Verehrung bestimmter Heiliger automatisch eine Nachbenennung nach sich zog, sind doch bei der Rufnamenwahl mehrere Faktoren zu beachten: Bei den bis Mitte des 15. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum vorwiegend gebräuchlichen germanischen Namen73 beispielsweise ist schwer zu entscheiden, ob dynastische Vorbilder eine Rolle spielten – man denke nur an die vielen hochmittelalterlichen Könige und Kaiser mit Namen Heinrich und Konrad –, ob sie als Heiligennamen vergeben wurden oder ob deren Vergabe einer seit Jahrhunderten gewohnten Namentradierung folgt.74 Besonders letzterer Punkt verdient Beachtung, denn speziell christliche Rufnamen nichtgermanischen Ursprungs konnten sich im deutschen Sprachraum erst ab dem späten Mittelalter durchsetzen.75 Auch gab es ›Modenamen‹ schon damals: So stand im 15. Jahrhundert der Rufname Johannes bzw. Hans unangefochten auf Platz 1 der Beliebtheitsskala – dies war in größeren Städten wie Köln, Leipzig oder Nürnberg nicht anders als in kleineren Städten wie Weißenburg oder Kaufbeuren: Rund ein Viertel bis ein Drittel der männlichen Einwohner trug dort diesen Namen.76 Schließlich konnten auch Familientraditionen, Eltern- oder Patennamen ebenso Einfluss auf die Namenwahl ausüben wie der Name des Tagesheiligen des Tauftages – das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl Martin Luther, der am 11. November 1483 getauft wurde.77 Und dennoch begann sich ab dem Ende des 12. Jahrhunderts allmählich ein Mentalitätswandel hin zu einer individualistischen Namenwahl zu vollziehen, der im deutschen Sprachraum im 15. und 16. Jahrhundert seinen Höhepunkt finden sollte:78 »[D]ie Person, nach der der Täufling jetzt benannt wird, […] ist eine ideelle Bezugsperson, welche um ihres geistlichen Beistands, ihrer Fürbitte vor Gott, ihres Schutzengelcharakters willen bei der Geburt des Kindes angerufen wird und welche die darauf getaufte Person ihr Leben lang begleiten soll.«79

Männliche Heilige, die uns im Zusammenhang mit dem Thema ›Frömmigkeit und Krankheit‹ in Kaufbeuren mehrfach begegnet sind, waren Antonius, Blasius, Cosmas und Damian, Erasmus, Magnus, Sebastian, Thomas, Ulrich und Veit. Aufgrund ihres geringen Vorkommens in den Kaufbeurer Urkunden zwischen 1461 und 1550 tauchen die Rufnamen Cosmas, Damian und Erasmus in der folgenden Grafik nicht auf.80 Dies mag insbesondere bei den ersten beiden überraschen, da das heilige Brüderpaar nicht nur am Hochaltar der Stadtpfarrkirche mit lebensgroßen Figuren prominent vertreten war, sondern weil auch eine Wallfahrtskirche mit ihrem Patrozinium vor den Toren der Stadt existierte.

Grafik 1: Namen von männlichen Krankheitsheiligen als Rufnamen in Kaufbeuren (1461–1550)

Doch passt der Befund zu der Beobachtung, die auch andernorts gemacht wurde, wonach ein Kirchenpatrozinium nicht unbedingt unmittelbar auf die Rufnamengebung in dessen direkter Umgebung wirkte.81 Bei Cosmas und Damian mag hinzukommen, dass die Heiligen ein Brüderpaar waren, was Eltern davon abgehalten haben mag, einen der Namen zu verwenden, wenn sie nur einen Sohn zur Taufe trugen. Doppelnamen waren bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts nicht üblich.82

Von den über den lokalen oder engeren regionalen Bezugsrahmen hinaus bedeutsamen Krankheitsheiligen waren in Kaufbeuren Ulrich und Thomas beliebt. Der Rufname Ulrich war zwischen 1461 und 1550 nach Johannes/Hans und Georg/Jörg der drittbeliebteste Vorname in der Stadt.83