Ausblicke vom Fesselballon - Dieter Kühn - E-Book

Ausblicke vom Fesselballon E-Book

Dieter Kühn

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Beschreibung

Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Lothar Bremer, Lehrer an einem Gymnasium in Hürth bei Köln, steckt fest in seinem Leben: Die Arbeit zermürbt ihn, seine Ehe zeigt Abnutzungserscheinungen, die Tochter scheint unerreichbar. Lothar will ausbrechen, unternimmt Streifzüge durch Köln, reist nach Holland ins Ferienhaus eines Freundes, geht intellektuellen Projekten nach, sucht Affären. Sehnsucht, Lebenslust und Enttäuschungen liegen dabei eng beieinander – erfährt er nur im Scheitern sich selbst? Wie viel Freiheit ist denn eigentlich nötig in unserem Leben – und wie viel ist möglich? »Ausblicke vom Fesselballon« ist das Buch, an dem Dieter Kühn noch bis wenige Tage vor seinem Tod im Juli 2015 gearbeitet hat. Entstanden ist ein lebendiges und detailscharfes Bild der frühen achtziger Jahre in Westdeutschland. Dabei erweisen sich die Themen der damaligen Zeit – Umweltzerstörung, Großdemonstrationen, neue Beziehungsmodelle oder die Veränderung der Arbeitswelt – als verblüffend aktuell.

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Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieter Kühn

Ausblicke vom Fesselballon

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Lothar Bremer, Lehrer an einem Gymnasium in Hürth bei Köln, steckt fest in seinem Leben: Die Arbeit zermürbt ihn, seine Ehe zeigt Abnutzungserscheinungen, die Tochter scheint unerreichbar. Lothar will ausbrechen, unternimmt Streifzüge durch Köln, reist nach Holland ins Ferienhaus eines Freundes, geht intellektuellen Projekten nach, sucht Affären. Lebenslust und Enttäuschungen liegen dabei eng beieinander – erfährt er nur im Scheitern sich selbst? Wie viel Freiheit ist denn eigentlich nötig in unserem Leben – und wie viel ist möglich?

 

»Ausblicke vom Fesselballon« ist das Buch, an dem Dieter Kühn noch bis wenige Tage vor seinem Tod im Juli 2015 gearbeitet hat. Entstanden ist ein lebendiges und detailscharfes Bild der frühen achtziger Jahre in Westdeutschland. Dabei erweisen sich die Themen der damaligen Zeit – Umweltzerstörung, Großdemonstrationen, neue Beziehungsmodelle oder die Veränderung der Arbeitswelt – als verblüffend aktuell.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Dieter Kühn, geboren 1935 in Köln, starb 2015 in Brühl. Zu seinen Werken gehören große Biographien (über Clara Schumann, Maria Sibylla Merian, Gertrud Kolmar), hochgerühmte Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen (»Ich Wolkenstein«, »Der Parzival des Wolfram von Eschenbach«), Romane und Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke sowie die beiden späten autobiographischen Bände »Das Magische Auge« und »Die siebte Woge«. Ausgezeichnet wurde Dieter Kühn unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Carl-Zuckmayer-Medaille.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Für diese Ausgabe: 

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH,

Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

ISBN 978-3-10-492300-0

 

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Inhalt

Ausblicke vom Fesselballon

[Olga Zoller: Eine Erinnerung]

Ausblicke vom Fesselballon

SCHLANGENPFAD: eine Straße, die sich in der Tat dahinschlängelt, begleitet vom Damm der Villebahn. Nummer 54: einer von zwei Wohnblocks. Gleichmäßig gereiht Fenster im Querformat. Im sechsten Geschoss, Ecke Talmühlenstraße: Von dort oben hatte er Blick auf Bahndamm, vergammelten Park und, jenseits der Senke, auf das Kraftwerk mit Schloten, den »zwölf Aposteln«. Gruppierung von Kühltürmen in alter Bauweise, umbaute Förderbänder. Zur Rechten Anlagen der chemischen Industrie; Degussa. Halbrechts hinaus das von Bäumen teilweise kaschierte Hürth, hervorgehoben der Turm der Katharinenkirche aus dem 19. Jahrhundert. In der Hangschräge das Gymnasium. Dreigeschossiger Hauptbau. Aula … Schultrakt … Kiosk: »Milch, Schulverpflegung« … Drei Eingänge, die Pförtnerloge.

 

Aufstehen, viertel vor sieben, Gesicht, Nacken, Brust waschen und trocken reiben, Zahnpasta auf die Nylonborsten drücken, die Bürste hin und her ziehen zwischen Backentaschen und Zähnen, ausspucken, gurgeln, den Elektrorasierer einschalten, Stoppeln scheren, Rasierwasser tupfen, Unterhose anziehen, Unterhemd, Oberhemd, Knöpfe kanten, durch Knopfschlitze schieben, in die Hose steigen, den Gürtel schließen, den Reißverschluss hochziehen, die Krawatte schlingen, an den Tisch setzen, Brötchen aufschneiden: Butter und Leberwurst, Butter und Streichkäse, Butter und Honig, drei Tassen Kaffee, mit der Zeitung aufs Klo, Hefte und Bücher in der Mappe kontrollieren, die Jacke anziehen, den Mantel: Tschüs, ihr Damen!

Die schwarzen Bodenplatten vor der Etagentür, Küchenmief. Der Fahrstuhl, Zigarettenmief. Knopfdruck: fünf, vier, drei, zwei, eins, E wie Erdgeschoss. Das Drahtglas der Haustür gesprungen: Kinder raus, Kinder rein, keiner ist’s gewesen. Betreten des Rasens verboten, der Rasen wird betreten. Keine Bäume gepflanzt zwischen den Wohnblocks, baumlose Fläche, für Bäume hat das Geld nicht mehr gereicht.

 

Durch die Garderobe ins Lehrerzimmer. Mojn, Mojn. Manche noch mit Morgenbass, Halbschlafstimme, aber die Stimmlage wird sich schon heben. Rasierwasser, Seife, Kölnischwasser. Thermosflaschen, Butterbrotpäckchen aus den Aktentaschen: in der Pause dann Kaffeegeruch, Zigarettenrauch. Lothars grüne Thermosflasche. Zeitungen aufschlagen: Nie kommt man morgens richtig zum Lesen! Was man alles lesen müsste: eigentlich auch die Blätter, die von Schülern konsumiert werden, dazu Zeitungen, Wochenschriften, Nachrichtenmagazine, Fachblätter. Maulfaul bleiben bis zum Klingeln.

 

Lothar Bremer zieht rote Striche, rote Schlängellinien, setzt rote Ausrufezeichen, rote Fragezeichen, schreibt rote Abkürzungswörter und rote Anmerkungen, schlägt das Heft zu, legt es auf den rechten Stoß, nimmt ein Heft vom linken Stapel, öffnet es, zieht rote Striche, rote Schlängellinien, setzt rote Ausrufezeichen, rote Fragezeichen, schreibt rote Abkürzungswörter und rote Anmerkungen, schlägt das Heft zu.

 

 

RENATE: Wieder einmal karikierte sie Selbstdarstellungen von Referenten auf Tagungen, die mehr oder weniger langen Synopsen jeweiligen Lebenswerks, vor allem der Publikationen – wie Wasserhähne, rief sie, die man aufdreht. Und sie lachte. Ging wieder, mit schwingenden Hand- und Armbewegungen akzentuierend, auf und ab im Zimmer. Plötzlich umarmte sie ihn: »Ich möchte tausend Jahre mit dir leben!« Löste sich wieder aus der Umarmung, hatte noch einen Anruf zu absolvieren – wieder eine Tagung.

Als »erfahrene Kraft« war Renate gefragt. Ihre offenbar mikrophongeeignete Stimme, in leichter Altlage. Ihre Umsicht bei Simultan- und Konsekutivdolmetschen, ihre Belastbarkeit.

Die wurde auf die Probe gestellt auch durch das Hotelleben. Ein Zimmer über der Toilette des Restaurants im Erdgeschoss; dort wird, am späteren Abend, offenbar reichlich Bier gezapft, andauernd schlagen Klotüren zu unter ihr, und die werden mit den nächtlichen Wiederholungen immer lauter. Oder ihr Zimmer über der Küche, dort werden vor Mitternacht offenbar Riesenkessel über den Boden gerollt, werden Kochtopfstapel umhergewuchtet und dröhnend abgesetzt.

Keine guten Voraussetzungen für konzentrierte Arbeit nach mürrischem Frühstück. Die Anforderungen scheinen zu wachsen: Sich in jeweils kurzer Zeit auf eine neue Fachsprache einstellen, die sie schon auf der Rückreise von Tagung oder Konferenz oder Symposion vergessen muss, um »Platz zu schaffen«. Denn die Zahl der Spezialwörter scheint zu wachsen. Ja, als würden die Fachsprachen immer mehr Fachwörter hervorkarnickeln, die wachsende Spezialisierung, und ihr Gefühl, zuweilen, sie sei an die Grenze ihrer Kapazität geraten. Zuletzt: Seminar im Bergischen Land, Tagungszentrum Große Ledder, die Teilnehmer verwöhnt mit Speisen und Getränken, dann eingedeckt mit Fachreferaten: »Die Beziehungen zwischen Innovation und Marketing bei Consumer Products«.

Dominanz akzentuierter Wörter wie »Strategie«. Klonierstrategie als Aspekt der Optimierungsstrategie. Oder »target«. Das Target von Entwicklungen in der Forschung, das Target der Marktstrategen.

 

Renate, engagiert zu einer weiteren Tagung: »Consultative Meeting on Medical Ethics at the University of Cologne«. Also wird sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Uni fahren. Ja, und Lothar könnte Moni zu ihrer Freundin nach Krefeld-Opossum bringen.

Während der Fahrt mal wieder das Thema Meerschweinchen: Möchte unbedingt, uuunbedingt ein Meerschweinchen haben, ihre Freundin Tanja hat seit bestimmt einem Jahr ein Meerschweinchen, das nimmt überhaupt nicht viel Platz weg, so ein Käfig ist nur ein bisschen größer als ein Vogelkäfig, aber den hängt man nicht auf, den stellt man auf den Boden, neben das Sofa, damit man die Klappe aufmachen kann, und das Meerschweinchen geht ein bisschen spazieren in der Wohnung oder verkriecht sich, aber wenn man pfeift, guckt das Meerschweinchen wieder aus dem Versteck hervor, die sind ja so süüüß … Notfalls könnte es auch ein Kaninchen sein, aber da muss man für den Käfig einen Balkon haben, weil die manchmal so stinken, aber weil sie keinen Balkon haben, können sie auch kein Kaninchen halten, und wenn kein Kaninchen, dann bittebitte ein Meerschweinchen, die sind so süüüß, die machen so quietschende Geräusche, das klingt ganz komisch, die sind überhaupt so komisch, wenn einer weite Hosenbeine hat, dann kriechen die ganz neugierig schon mal ein Stück da rein, aber nur bis zum Knie, und dann wissen die nicht weiter, man muss die rausziehen, und dann laufen sie wieder um einen rum, Sägespäne im Fell, die kann man aber ganz leicht rauspicken, dabei hat sie der Tanja bestimmt schon dreimal geholfen. Warum also nicht auch ein Meerschweinchen in Hürth?

Auf dieses Thema ist Lothar fast eingespielt, so kann er auch bei 140 Stundenkilometern abwiegeln: Das wäre doch ein recht unruhiges Leben für ein Meerschweinchen im Haus am Schlangenpfad. Soll er, Lothar, das Meerschweinchen mitnehmen, wenn sie mal wegbleibt, und bei Schulkonferenzen stellt er den Käfig neben seinen Stuhl am Tisch? Oder soll die Mama das Meerschweinchen mitnehmen, und im Dolmetsch-Kabäuschen stellt sie den Käfig neben das Mikrophon, und manchmal vernehmen Wissenschaftler oder Manager komische Geräusche über ihre Kopfhörer? Wenn man ein Meerschweinchen hält, müsste man einen Hof haben, landwirtschaftlich bewirtschaftet, ungefähr wie den Löhrer Hof im Ort; wenn er so einen Hof hätte, könnten es auch zwei oder drei Meerschweinchen sein. Aber am Schlangenpfad, da geht es nicht, zu wenig Platz, viel zu wenig Platz, darüber klagt ja auch Mama, und jetzt auch noch ein Bewohner Numero vier, also das würde ziemlich schwierig, oder?

Gesprächsspiel zwischen Hürth und Krefeld-Opossum. Die Wohnstraße, Spielstraße. Kaum sind sie ausgestiegen, ahmt Moni einen Meerschweinchenpfiff nach.

Ein Wort, das ihm zuweilen in den Sinn kommt, das er nicht ausspricht, auch nicht im Hause Schlangenpfad 54: Er fühlt sich wie strafversetzt nach Hürth. Er ist nie verwöhnt worden von reizvoller Umgebung, schon das Kinderland war herb, mehr als herb, dann das weitflächig zerstörte Rheinland, in das sie verfrachtet, ja verfrachtet wurden, und dann, als Entscheidung der Schulbehörde, die Versetzung nach Hürth. Von wachsenden Tagebau-Wüsteneien fast belagerter Ort. Tal mit einem Duffesbach. Allein schon dieser Name: Duffesbach! Wie zur Strafe kaum noch Wasser im Duffesbach, wird ringsum abgepumpt, gesümpft. Zuweilen, ja immer öfter das Gefühl, auch das Hirn würde gesümpft, würde trockenfallen wie Brunnen, sogar Tiefbrunnen in der Region.

 

Schon mal den Vorhang zuziehen, nun sieht er wenigstens nicht mehr den haushohen Bahndamm mit den Kohlezügen. Es reicht vollauf, wenn er die Villebahn hört, Abbau signalisierend und die Entwicklung von Staub, dies noch begleitet, verstärkt von den Dreckschleudern der »zwölf Apostel« des Goldenberg-Kraftwerks, zuweilen auch den Himmel über Köln verschmierend.

Da führen auch Spaziergänge nicht ins Hellere. Lockend, aber nur als Bezeichnung: Altes Feldschlösschen. DDR-mäßig vergammelte Villa mit grindigem Garagenvorbau, einer ebenso hässlichen Kegelbahn. Im Hintergrund Förderbänder, zumeist in langgestreckten Gehäusen, wie Hunderte von Metern lange Blechgaragen auf Eisenstelzen. Permanent das Kraftwerksummen in tiefer Lage. Und in den Gruben die riesigen Knirschgeräusche der Großraumbagger. Pumpanlagen, Verladestellen, Lotsenstellen. Das Hinweisschild auf eine Braunkohlestaub-Verladestelle.

 

Das Heft zuschlagen, auf den rechten Stoß legen, ein Heft vom linken Stapel nehmen, aufschlagen.

»In den ersten Tagen musste ich Fächer anfertigen, das war eine sehr langweilige Arbeit, zumal man den ganzen Tag dabei stehen musste, und die ersten Tage gehen sowieso so langsam vorbei, in den nächsten Tagen wurden Faltschachteln geheftet, die ich dann aufheben und bündeln musste, dabei musste man sich viel zu sehr nach denjenigen richten, die hefteten, denn manchmal musste man von zweien aufheben, ein andermal waren beide zur Toilette, oder an der Maschine wurde ein neuer Draht angesetzt, oder sie hatten ihr Tempo so verringert, dass man nur jede viertel Stunde einmal 25 Stück zusammenhatte, die dann gebündelt werden mussten.«

Nun mach mal einen Punkt, Marita, wenigstens zwischendurch! Rote Vorschlagsmarkierung in der Mitte der Textstrecke: »… vorbei. In den nächsten Tagen …« Und wie mit dem Wortecho umgehen? »Sowieso so …« Markieren? Oder nur ein Schönheitsfehler, nicht weiter benotungsrelevant?

Das Heft zuschlagen, auf den rechten Stoß legen, ein Heft vom linken Stapel nehmen, aufschlagen. »Die Arbeit füllte einen voll und ganz aus, jedoch gab es hierbei auch längere Pausen denn die Maschine musste öfter auf eine andere Schnittlänge oder Breite eingestellt werden musste.«

Zweites »musste« wegstreichen, kommentarlos. Mal wieder ein Komma einbringen, kommentarlos. »… oder Breite eingestellt werden, dann konnte wir Mädchen« – konnten wir Mädchen, bitte schön: »konnten wir Mädchen eben nur zusehen oder wir mussten kehren und die Abfälle wegtragen, mit dem Kehren wurden wir sowieso jeden Tag bedacht, besonders an den Freitagen musste dies sehr sorgfältig getan werden, dann wurden auch auch die Maschinen gesäubert und abgespritzt.«

Wörter zu viel, Satzzeichen zu wenig. »Wenn acht Stunden am Tag hintereinander Pappdeckel ineinander stecken muss« – da fehlt doch wieder was! Man, man, wenn man Pappdeckel ineinander stecken – schreibt man eigentlich zusammen: ineinanderstecken. Rote Füllfederzeichen zwischen schwarzblauer Füllfederschrift. »Wenn (man) acht Stunden am Tag Pappdeckel ineinander stecken muss, kann das doch sehr langweilig sein, ich meinerseits kann nicht verstehen wie manche Leute es fertig bringen mehr als 30 Jahre hintereinander dort zu arbeiten, denn dieses war der Fall, zwei Frauen arbeiteten dort schon seit sie die Volksschule verlassen hatten.«

Rote Striche, rote Schlängellinien, rote Ausrufezeichen, rote Fragezeichen, rote Anmerkungen. Das Heft zuschlagen, auf den rechten Stoß legen, ein Heft vom linken Stapel nehmen, aufschlagen.

Aufstehn, mal wieder, weg vom Schreibtisch, hin zum Fenster, vom sechsten Geschoss aus immerhin der Blick knapp hinweg über den Bahndamm, der hier wirklich Dammhöhe einnimmt, mindestens zwanzig Stufen des Dienstwegs führen da hinauf, hinter dem Eisengitter, dem zusätzlichen Verbotschild für Unbefugte. Beinah symmetrisch, von seinem Blickpunkt aus, rechts und links die beiden Unterführungen im Bahndamm. Der vergammelte Villenpark, der gleich jenseits der Talmühlenstraße beginnt, und dieser Straßenname erscheint ihm so kurios und unangemessen wie Schlangenpfad, mit dem Schlangenfraß von Architektur, den eigenen Wohnblock, den hingeklotzten, sechsstöckigen Wohnblock wahrhaftig nicht ausgenommen.

Ein Heft vom linken Stoß nehmen, aufschlagen. »Die Arbeit die uns später von einem Hallenaufseher, den man Spion nannte, zugeteilt wurde bestand aus einer Handbewegung.« Kommas: Mangelware in Hürth. »Wir standen am Band und mussten jeder einen Packen Gebrauchsanweisungen in der Hand, diese in Mensch ärgere dich nicht Kästen legen. Die Frauen setzten die Männchen herein.« Männchen oder Steinchen? Scheint eher ein Umlaut zu sein, also doch Männchen? Und: Mensch-ärger-dich-nicht? Ja, die Bindestriche nachtragen. Hineinsetzen, nicht hereinsetzen. Wie war das noch? Hinein: von außen nach innen. Herein: Dann ist der Blickpunkt innen.

 

Ferien, endlich Ferien! Für Renate: konferenzfreie, tagungsfreie Wochen. Für ihre Mutter: das endlich eingelöste Versprechen, sie mitzunehmen als Lohn für das Einspringen, während Renates Dienstreisen. Und Moni? Hat keine Lust. Immer diese Besichtigungen …! Lieber in Opossum bei Tanja bleiben …! Ein Kind ist frei zu entscheiden. Ein Haus in Südfrankreich, über das Reisebüro in Hermülheim gemietet, für zwei Wochen. Als sie, nach etlichem Fragen und Umherfahren auf Umwegen, endlich das Domizil sahen, schienen die Voraussetzungen optimal: Bauernhaus vor dem Ort, umgeben von Obstbaumplantagen; vor dem Haus eine verwilderte Wiese. Der Schäferhund, der ihnen beim Aussteigen entgegensprang mit beinah rasendem Gebell, er wurde von einem alten Mann zurückgepfiffen, wurde, als das nichts bewirkte, weggezerrt und hinter dem Haus angebunden.

Eine Ferienwohnung im Erdgeschoss: zwei ziemlich kleine Zimmer, eine »Puppenküche«, wie Renate sagte, ein »Mini-Bad«. Renate und er auf der französischen Liege, die Mutter in einem Einzelbett nebenan.

Sie waren am späten Nachmittag angekommen, nach einem »brüllheißen« Tag im Auto, wie betäubt packten sie aus, räumten ein. Abends kam die Besitzerin des Hauses, eine Sekretärin. Ihr Mann auf Reise – sie bekamen ihn nie zu sehen. Eine ihrer ersten Handlungen: Sie beschimpfte ihren Vater, weil er den Hund angebunden hatte, da würde er nur noch wilder, er solle ihn gefälligst frei herumlaufen lassen.

Sie waren die ersten Feriengäste in der nach Farbe riechenden Wohnung. Sie schliefen erschöpft nach der Fahrt in feuchter Hitze, Lothar hatte das Gefühl, er hätte unter Sandsäcken gelegen. Als Renate aufstand, die Flügeltür öffnete, war der Schäferhund schon da, drang bellend in das Zimmer ein, Renate floh unter das Bettlaken, Lothar schrie den Hund an, warf einen Schuh nach ihm, der Opa draußen pfiff den Hund heraus. Das war der Einstand. Doch nun hörte die Belagerung durch den Köter nicht mehr auf.

Sie frühstückten an einem leichten Tisch, den er mit Renate auf die Wiese stellte, in einen Baumschatten, also Frühstück im Grünen, aber da wurde jede Bewegung vom lauernd daliegenden Hund angeknurrt. Als die Mutter aufs Klo musste, nach der ersten Tasse Kaffee, da bellte sie der Hund beim Aufstehen sofort an, der Opa ließ sich nicht herbeirufen, war verschwunden, Lothar musste die Schwiegermutter begleiten, aber da wollte Renate nicht allein am Tisch bleiben, vom Hund belauert, und weil sie den Aufschnitt nicht auf dem Tisch lassen wollten, sie hatten geräucherten Schinken mitgebracht in der Kühltasche, trugen sie den Tisch mit in die Ferienwohnung. Er wartete mit Renate, bis Mutter endlich fertig war, dann gingen sie zu dritt wieder hinaus, mit dem Tisch, setzten das Frühstück fort, belauert, angeknurrt, wiederholt angebellt, im Grünen, im Baumschatten, blieben anschließend noch »geruhsam« sitzen.

Die Hitze war schon von neun Uhr an übermächtig, eine, was sie nicht erwartet, nicht gewusst hatten, feuchte Hitze: Sümpfe in der Nähe, zumindest Feuchtbiotope, da war schon gegen zehn Uhr morgens der Tag für sie gelaufen. Der Tisch wurde ins Haus getragen, Mutter hinterher, über die Hitze stöhnend. Nach Einräumen und Abspülen gingen sie zu dritt wieder hinaus, Lothar mit einem Buch über die Provence, Renate mit einem der Bände ihrer Highsmith-Collection, Mutter mit der »Häkelarbeit«. Großes Gebell, bis sie endlich saßen. Auch jetzt hielt sie der Hund in Schach, vor ihnen im Gras kauernd, auf dem Sprung.

Abends beschwerte sich Lothar mit Entschiedenheit beim Großvater und der endlich mal zurückgekehrten Tochter, die aber hielt die Klagen, Beschwerden für übertrieben, der Hund könne unmöglich den ganzen Tag lang angekettet werden, er würde sich bestimmt an sie gewöhnen, das wäre jetzt nur am Anfang eventuell etwas schwierig. Herbe, fast schroffe Frau, die nicht mit sich reden ließ.

Flucht in Kultur, obwohl es zu heiß war, viel zu heiß. Schon im Abstand von wenigen Kilometern wurde eine besichtigte Kirche weich in den Erinnerungskonturen; als sie mehrere Kirchen gesehen hatten, rückten, ja rutschten sie ineinander, wurden von der Hitze zusammengeschmolzen, vom Hitzedruck zusammengestaucht, Steinmasse graubraun, formloser Erinnerungsklumpen mit ein paar romanischen Bögen, gotischen Fenstern.

Und es begann die Phase gereizter Auseinandersetzungen. Renate fühlte sich in der »sogenannten« Ferienwohnung wie »festgenagelt«, fand diese Form des Urlaubs mehr als belastend, musste von Lothar daran erinnert werden, dass sie sich doch bewusst für die stationäre Form des Urlaubs entschieden hatte nach ihren Dienstreisen. Und er hatte vorbehaltlos zugestimmt, dass Mama Barbara mitreiste, Belohnung für ihre »Aushilfe« während Renates Dienstreisen, die schlossen zuweilen auch Sonn- und Feiertage ein. Schon gegen sechs Uhr morgens klabasterte sie dann herum, und gegen halb neun begann sie mit Vorbereitungen für das Mittagessen, das »klock zwölf« stattfinden musste, drei Generationen schweigsam am Tisch, Moni »muffig bis dorthinaus«, Mutter enttäuscht über die geringe Resonanz auf ihr Sonntagsessen. Und unabweisbar, auf seinem Schreibtisch, der nie abbrechende Nachschub an Heften, da fühlte er sich auch an Sonn- und Feiertagen, ja, belagert.

Also ans Meer, ans Meer, wenn auch anderthalb Stunden entfernt. Und dort, bei Saintes-Maries, war der Strand dreckig. Und es erwies sich als unmöglich, bei der Hitze auf dem Sand zu sitzen, Barbara blieb im Auto, die Fenster sonnenwärts verhängt mit festgeklemmten Handtüchern, da saß sie ächzend im heißen Blechbehälter. »Kein Lüftchen rührte sich.« Das Ehepaar zog sich zurück in die knappe Schattenzone eines Betonsockels: aufgegebener Bau.

Und dann auch noch das Picknick! Schwitzender Hartkäse, trotz Kühltasche, schmelzender Weichkäse. Oliven als eklige Wärmekugeln. Mama Barbara vermisste die Butter zum Brot, da riss Lothar die Geduld, herrschte sie an: Bei der Hitze wäre die Butter unterwegs schon aus der Kühltasche gesuppt. Barbara wäre doch lieber in Velbert geblieben, wenn sie das gewusst, das alles gewusst hätte. Und jetzt auch noch »schofel« behandelt werden! Renate raffte zusammen, was auf dem Handtuch ausgebreitet war. Wir fahren zurück!

Keine Entspannung am Abend. Sie zischen sich an: kupierte Schreie, wie von der Hitze aus ihnen herausgepresst. Er hätte sie durch moralische Erpressung dazu gebracht, die Mutter mitzunehmen auf die viel zu lange Fahrt, satte tausend Kilometer, so was könne man einer betagten Frau doch eigentlich nicht zumuten.

Nach fünf Tagen: Aufbruch, Heimfahrt, nach einer »Schluss-Schreierei« mit der Vermieterin. Einige Tage Zwischenstopp im Elsass. Und zurück nach Hürth.

 

 

RENATE LEGT EINEN BRIEF an die Tischkante: He, das ist ja Luftpost! Und das aus den USA! Groß und deutlich: F. R. G. Daneben geschrieben, mit Filzstift, von fremder Hand: West-Germany. Da konnte in einer amerikanischen Poststelle jemand mit der offiziellen Bezeichnung für die Bundesrepublik offenbar nichts Rechtes anfangen. Auf der Rückseite: Mathias Wiberty, z.Zt. Copley Plaza, Copley Square, Boston, Mass. USA. Helles Papier-Knittergeräusch, das trockenleichte Papier der AIR MAIL. Und das am vermaledeiten Arbeitstisch lesen?! Lothar geht ins Wohnzimmer, stellt sich ans Fenster, Licht genug für die Handschrift des Freundes, aber dann geht er in die Küche, legt den Brief auf den Tisch, nimmt eine Tasse aus dem Wandschrank über dem Herd, gießt Kaffee ein aus der durchsichtigen Kanne auf der Heizplatte.

Drei Blätter, dicht und klein beschrieben, Buchstaben gereiht wie auf unsichtbaren Linien. Überfliegen, erst einmal. Gleich nach den Begrüßungszeilen in Kapitälchen: »What Kind of Teachers instruct our Children?« Berichtet wird vom Besitzer eines Schiffsrestaurants auf dem Ohio, seit Jahren führe er Schulklassen auf dem alten Schiff, erzähle von der Geschichte des Ohio, über dessen Bedeutung als Handelsstraße, und seine wachsende Enttäuschung darüber, wie wenig die Kinder wissen, überhaupt keine Zahlen in den Köpfen, Jahreszahlen sowieso nicht. Seine wachsende Enttäuschung auch über den Habitus so mancher Lehrer: Schlabberhosen, Haare ungepflegt. »Na, wie liest sich das im staubigen, aber korrekten Hürth?«

»Und gleich noch was für euch, unter dem Aspekt Partnerschaft« – Notizen zu einer Information Night mit anschließendem Workshop: »How Do I erase Myself?« Hallo, Renate, was heißt: erase? Eigentlich: auslöschen, aufgeben. Da wäre also gemeint: »Wie komme ich von mir weg?«

Der Mathias scheint sich ja fast um uns zu sorgen, erwähnt eine Discussion Group: »Intimacy and Power in Relationships«. Anschließend Disco Dance, Ages 29–39. »Da hätten wir ja noch Glück, kämen noch mit rein …«

Er wird Ausrisse, Ausschnitte mitbringen, passen nicht in das Luftpostbrieflein, aber dies muss er noch einbringen: den Titel einer Lecture-Discussion: »It’s Not so Sad to Be Depressed«. Ist das nicht der reine Wahnwitz? Verkleinern, aufschönen, verkäuflich machen: Man hat zwar Depressionen, aber so schlimm ist das gar nicht, soll jedenfalls so erscheinen, nachdem man teilgenommen hat, gegen Cash, auch an diesem Workshop: »It’s Not so Sad to Be Depressed«. »Also lasst es euch nicht anfechten in Hürth unter der Staubglocke, ich denke, ich werde etwas frischen Wind mitbringen können.«

 

Raus aus Hürth, rüber nach Köln! Ortswechsel, Stimmungswechsel. Frei durchatmen. Aufatmen schon in der Straßenbahn. Keine Zeitungslektüre, ist in der Bahn ohnehin unpraktisch, da geniert er sich schon beim Aufschlagen, Ausfalten, Blattwenden, weitflächig raschelnd. Blick aus dem Fenster. Ihm gegenüber nimmt ein Schwarzer Platz. Leinenhose, Lederblouson (»Bomberjacke«). Ein anderer Schwarzer drängelt sich durch den Gang, vorbei an drei jungen Männern mit Basecaps, die Schirme am Hinterkopf. Die beiden Schwarzen schauen sich kurz an, doch nicht der geringste Ansatz zu einem Gruß, einem Lächeln, einer Geste. Der Schwarze gegenüber mit trübem Augenweiß. Reglosigkeit fast bis zur Erstarrung. Als am Neumarkt die Türen bereits offen stehen, erhebt er sich mit einem Ruck, steigt aus. »Das ist Moses«, sagt einer der jungen Männer, »den kenn ich. Der ist immer vollgekifft.« Und sie lachen, zu dritt.

Am Rheinufer ein holländisches Hotelschiff. Ein junger Mann mit breitem Kehrbesen. Auf seinem Sweatshirt der Aufdruck RAGE AGAINST THE MACHINE.

Ein Mann vor einem Mauersockel, auf dem eine Bierflasche abgestellt ist, Bierdunst über mindestens vier Quadratmeter verteilt. Er schlägt mit der Faust Richtung Rhein, erst von unten nach oben, wie ein Kinnhaken, dann ein Hieb von oben nach unten, wie auf einen Schädel.

Ein Grüppchen behinderter Menschen zuckelt mit Pflegern am Rhein entlang; sie tragen allesamt Schirmkappen mit dem Aufdruck JUST DO IT.

Ein kahlköpfiger, stoppelbärtiger Mann schwankt Bremer entgegen, zwei pralle Plastiktüten schwenkend. »Jetzt muss ich erst mal den Brief schreiben«, lallt er. Dann, ein paar Schritte weiter: »Oder ich setz mir den Hut auf.«

Wallrafplatz. Ein weiß-grüner Streifenwagen, Zuschauer, auf Abstand gehalten. Alle Türen offen; auf dem Rücksitz liegt ein Mädchen, starr ausgestreckt wie eine Schaufensterpuppe. Bedrucktes T-Shirt, folklorebunter Rock, aus dem sich ein Knie geschoben hat. Der rechte Arm ein wenig abgehoben, hochgewinkelt. Einer der beiden Polizisten versucht, den Arm auf den Körper hinunterzudrücken, die Hand auf die Bauchfläche, doch der Arm lässt sich nicht bewegen, und so beugt er sich weiter vor über das Mädchen, schwenkt die flache Hand über ihren offenen Augen: keine Reaktion. Was mag ihr in die Glieder gefahren sein? Was mag als Schock auf sie eingewirkt haben?

 

 

FAHRT MIT RENATE ZU EINEM FAMILIENFEST. Ein Onkel, Arzt in Oldenburg, feierte Goldene Hochzeit.

Erste Schneefälle in dieser Novemberphase, also fuhren Lothar und Renate nicht von Hürth aus mit dem Auto, sondern von Köln aus mit dem Zug. Lothar schon »ein wenig feierlich« angezogen für den Vorabend des Festes: keine Jeans oder Cordhose, eine Stoffhose mit Bügelfalten. Sogar ein Sakko, als Konzession an die Arztfamilie.

Sie saßen im ersten Waggon des D-Zugs, hatten ein Abteil für sich, Renate am Fenster, in Fahrtrichtung, Lothar auf dem Mittelsitz, Rücken zur Fahrtrichtung. Er hatte die Schuhe ausgezogen, die Beine ausgestreckt. Las Zeitungen, die sich in den Tagen zuvor ungelesen gestapelt hatten – eigentlich nur noch ein Durchblättern, das meiste war ohnehin schon überholt.

Eine junge Frau ging an den Abteilen entlang, kurz hinter Wuppertal, blieb stehn an der Tür. Er schaute auf, blickte ihr ins Gesicht. In ihren Augen so etwas wie ein Impulsleuchten. In früherer Formulierung: ein Aufleuchten in ihren Augen. Und Lothar registrierte blitzschnell: hellblaue Augen … brünettes Haar … kein, nach üblichen Maßstäben, schönes Gesicht, aber offen, lebendig. Sie wirkte fast provozierend gesund. War in jeder Hinsicht ungeschminkt.

Ganz kurzes Zögern, nach einem Blick in die Raumkonstellation, und sie kam doch ins Abteil, schob einen kleinen, grünen Seesack unter den Sitz an der Tür, zog eine blaue Windjacke aus, hängte einen Schal mit Quasten über den Haken, setzte sich: ihm schräg gegenüber, in dieselbe Sitzreihe wie Renate, die nur kurz mal aufschaute, weiterlas.

Lothar erschien diese Konstellation wie ein Arrangement, regiemäßig. Eine andere Assoziation: Schachfiguren auf einem Steckfeld für Reisen. Lothar in der Mitte, seine Frau halblinks von ihm, die Mitreisende halbrechts von ihm. Hätte er so was in einem Film gesehen, er hätte sich prompt geärgert: Ein Mann zwischen zwei Frauen – so ausgezirkelt geht es ja nun doch nicht zu im Leben, das könnt ihr mir nicht verkaufen … Nun saß er selbst in solch einem von Zufällen ausgetüftelten Arrangement. Ein paar Faktoren vorausgesetzt: Familientreffen … Wetterlage …

Die junge Frau zog die Schuhe aus, streckte ebenfalls die Beine aus. Sie hatte, in diesem, in jenem November, Sandalen an, abgelatschte Riemensandalen mit kräftigen Sohlen. Aber: offene Schuhe. Dicke, offenbar selbst gestrickte Socken. Blaue Cord-Latzhose. Weiter, lockerer Pulli. Auf dem Seesack ein Namensschild, mit dem Aufdruck (offenbar) einer Airline. Er konnte das Logo allerdings nicht erkennen, las unten nur: Republica A – die anderen Buchstaben waren vom Sitz verdeckt. Argentina? Aber bezeichnete sich dieses Land als Republik? Eher Angola? Sie schaute ihn an, beinah lachend, jedenfalls völlig entspannt, blickte kurz zu Renate. Die las weiter. Um zu demonstrieren, dass sie zusammengehörten, sagte er ihr, betont beiläufig: Du, wir schauen in Oldenburg am besten gleich nach, wann Sonntagnachmittag ein Zug zurückfährt. Renate nickte bloß. Und die Mitreisende: Ach, Sie fahren auch nach Oldenburg? Fast aufdringliches Zufalls-Arrangement: wie viele Stationen zwischen Köln und Oldenburg? Er nahm sich vor, die Bahnhöfe im ausliegenden »Zugbegleiter« nachzuzählen, vergaß es aber, denn das Gespräch lief an. Sie fahre häufig mit der Bahn, vor allem Besuche bei ihrer Familie. Und er sagte, auch um seine Kleidung (»stiefstaats«) zu rechtfertigen, sie führen ebenfalls zur Familie, ein Fest, besonderer Anlass … Trotzdem kam er sich overdressed vor in seiner Anzugsjacke, in der Hose mit Bügelfalten. Krasser Unterschied zu ihrem Kleidungsstil, aber das schien die junge Frau nicht zu registrieren.

Sie sprachen weiter: viel Bundeswehr unterwegs zum Wochenende-Kurzurlaub … Feldjäger in den Bahnhöfen …. Lautsprecher-Durchsagen: Feldjäger bitte zur Bahnpolizei, Feldjäger bitte zur Bahnpolizei … Von den Feldjägern zum Thema Militär: Tiefflieger, ein paarmal ist sie, in Mittelgebirgen, beim Wandern in die Knie gegangen, ist einmal vom Rad gesprungen, die Flugzeuge so schnell und so tief über sie hinweg, dass sie nicht einmal Nationalkennzeichen sah, »hinten oben«.

Zu diesem Thema konnte er auch etwas beitragen: Sehr viele Tiefflieger auch über Hürth, der Krach zuweilen derart infernalisch, dass sogar eine Delegation des Gemeinderats, Bürgermeister an der Spitze, beim Kommandeur des Fliegerhorsts Nörvenich vorstellig wurde. Die Herren wurden höflich behandelt, wurden aber dahingehend belehrt, dass Tiefflüge absolut notwendig seien, es müsse geübt werden, Radarkeulen zu unterfliegen. Vielleicht kommt bei Starfighterpiloten noch die Vorstellung dazu, in dieser Region des Braunkohlen-Tagebaus sei ohnehin nichts mehr kaputt zu machen. Das Gerücht auch, es gelte unter Jetpiloten als Mutprobe, zwischen größeren Schloten des Kraftwerks Goldenberg durchzufliegen. Hoffentlich sind die Starfighter bei solchen Eskapaden nicht mit Atombomben bestückt.

Und die Mitreisende? Nahm eine Werbezeitschrift vom Haken: »Schöne Welt«, blätterte im Hochglanzheft. Er war ein bisschen enttäuscht. Er setzte das »Durchfetzen« von Zeitungen fort, trug den kleinen Stapel ab, den er in einer Plastiktüte mitgenommen hatte, legte den Packen, sich reckend, auf das untere, schmalere Gepäckgitter, nahm sich das Buch vor, das neben ihm bereitlag – die junge Frau hatte es zuvor nicht sehen können. Doch im kurzen Moment, in dem er es aufklappte, hatte sie den Autorennamen, den Titel gelesen: Aha, Lévi-Strauss, Masken. Stichwort für sie. Das überraschte ihn. Eine Frage, ihre Antwort: Sie hatte dieses Buch für ihre Arbeit gebraucht. Und er musste rätseln, insgeheim. Laienspielgruppe? Therapeutische Arbeit mit Erwachsenen? Mitarbeiterin in einer Kirchengemeinde? Gruppenspiele mit Arbeitslosen? Hatte jedenfalls Anregungen gesucht in diesem Buch?

Aber, sie kannte auch die Tropen, verglich die beiden Bücher. Masken hatte sie offenbar vor einer Indienreise gelesen. Er wollte nicht fragen, was sie eigentlich »mache«, das erschien ihm stereotyp, fast albern, aber er setzte doch an zu engerem Einkreisen. Das Stichwort »Arbeitslosigkeit« einschmuggeln? Schließlich hatte er diesen Packen Zeitungen über sich abgelegt, wie oft konnte es ihm zugespielt worden sein. Zugleich: Er wollte dieser Selbstverständlichkeit, mit der das Gespräch sich entwickelte, sich intensivierte, doch ein wenig gegensteuern – Renate schaute ab und zu von ihrem Buch auf, blickte ihn »fragend« an. Sie konnte die junge Frau allerdings nicht sehen, ohne sich vorzubeugen, es hingen die Mäntel dazwischen, ihre Windjacke.

Die Frau schaute ein wenig aus dem Fenster, beugte sich dann vor, zerrte den grünen Seesack unter dem Sitz heraus, zippte den Reißverschluss auf, klappte damit Stoff über das Airline-Schild, nahm eine rote Plastikmappe aus dem Gepäckstück, legte sie auf dem Nebensitz ab, zog ein Taschenbuch hervor, schob den Seesack zurück, ohne ihn zu schließen, klappte das Buch auf, bevor er Titel oder Titelbild erkennen konnte, begann zu lesen. Und schaute auf, schaute ihn an, gleichsam prüfend: »Können Sie mir sagen, was ein Pimpf ist?« Aha, ein Buch über das Dritte Reich. Und er: erste Stufe der Zugehörigkeit zur Hitlerjugend. Ungefähr zwischen sechs und acht. Aber bereits uniformiert. Quasi Grundausbildung.

Sie bedankte sich, las weiter. Legte das Buch ab, griff zur roten Plastikmappe, zog die Beine an, kreuzte die Unterschenkel, die Socken nun auf der Sitzfläche, die Mappe als Unterlage auf einem Oberschenkel, sie legte ein Blatt bereit, begann zu schreiben. Später, als er zum Klo ging, sah er, dass es liniertes Papier war. Brief an einen Mann? An eine Freundin? Aufzeichnungen? Er las, wenn auch unaufmerksam. Oder: mit geteilter Aufmerksamkeit. Neutralisationsphase.

Und ein neuer Faktor: Die Heizung im Abteil war ausgefallen. Vielleicht hatte er das bis dahin noch nicht so recht gespürt, oder es war während der Fahrt geschehen. Renate drehte die Rändelscheibe nach rechts, es tat sich nichts, drehte die Scheibe zur Gegenprobe nach links, doch es kam keine Wärme ins Abteil. Lothar schlug die Jackenrevers zusammen. Renate kuschelte sich in ihren Mantel. Die Mitreisende zog die (gefütterte) Windjacke wieder an. Dabei nahm er, in Seitenansicht, ihre Körperkonturen wahr, wollte gleich wieder wegschauen, sein kritisches Bewusstsein vermerkte: machistisches Taxieren eines Frauenkörpers … Wiederum fand er es verquer, nicht hinzuschauen, wenn dicht vor ihm eine junge Frau aufstand, ein paar (wenn auch zweckdienliche) Bewegungen vollzog, körperbetonend. Renate las weiter, offenbar angestrengt.

Die ausgefallene Heizung: Stichwort für eine Fortsetzung des (von ihm schon zweimal willentlich, vorsätzlich unterbrochenen) Gesprächs. Renate hielt ihm später vor, sie habe an seinen Augen, an seinen »ausladenden Gesten« gemerkt, dass »etwas anlief«, habe es auch an einem kleinen Vibrato in der Stimme der jungen Frau gehört, einem gelegentlichen »Glockenton«.

Während sie sprachen, fragte er sich zuweilen, warum sie Mitte November in Sandalen auf die Reise ging. Demonstration von Anthroposophen-Einfachheit? Oder, ganz einfach, eine Frau, die ausnahmsweise nicht an kalten Händen und Füßen litt? Ihr Gesicht, »her complexion«, wirkte gut durchblutet. Und luftgekühlt ihre Hirnsynapsen: rascheste Schaltverbindungen. Offenbar war sie gewohnt, mit Menschen umzugehen, auf Menschen einzugehen – sozialer Beruf? Weiterhin Kommentare zur Temperaturentwicklung: Es wurde »ungemütlich kalt« im Abteil. War die Heizung im gesamten Waggon ausgefallen?

Lothar wolle sich mal umgucken, »umfühlen«, sagte er Renate. Sie nickte bloß. Er ging durch den Wagen: Fast alle Abteile waren leer, mittlerweile. In einem Abteil noch ein junger Mann, schlafend; den erreichte die Kälte noch nicht. In einem anderen Abteil saßen fünf Personen, zwei von ihnen mit etlichem Speck am Leib, und sie hatten sich offenbar warm geredet.

Im Großraumwagen: Wärme. Lothar beschloss, umzuziehen. Als er zurückkam, hatte Renate den Mantelkragen hochgeschlagen, aber: Sie wollte nicht den Wagen wechseln, wollte in Ruhe weiterlesen. Die junge Frau schrieb. Er nahm den Lévy-Strauss, ging in den Großraumwagen. In der Mitte eine leere Sitzreihe. Er nahm Platz am Mittelgang, sog sich erst mal voll mit Wärme, begann zu lesen.