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Dagmar A. Hansen

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Beschreibung

Juni 1809 Nach einer Tanzveranstaltung wird die siebzehnjährige Magdalena Bülles in einem Kornfeld bei Aachen tot aufgefunden. Ihr sechsjähriger Bruder, der sie begleitete, ist schwer verletzt. Die Menschen sind aufgewühlt, die Angst geht um. Noch nie wurde ein solch schreckliches Verbrechen in dem beschaulichen Dorf verübt. Justizkommissar Korwin Middelberg wird mit den Ermittlungen betraut und trifft er auf ein Geflecht von Lügen und Bezichtigungen. Bald fällt der Verdacht auf einen Wanderarbeiter. Doch ist wirklich der Fremde der Mörder?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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30.
31.
14.06.1809
32.
33.
Nachwort

 

 

AUSGESEGNET

HISTORISCHER KRIMINALROMAN

 

DAGMAR. A. HANSEN

1.

 

Würselen, 15.06.1809

„Der Laufbursche hat Sie bereits vor Stunden angekündigt, Monsieur Middelberg. Sie haben sich Zeit gelassen. Ist Ihnen nicht bewusst, wie dringlich Ihre Anwesenheit ist?“

In Doktor Gabriel Münzers Stimme schwang ein deutlicher Vorwurf mit. Er wischte sich die nassen Hände an einem blütenweißen Tuch trocken und drapierte es ordentlich über den dafür vorgesehenen Halter. Der Doktor, ein Mann mittleren Alters, besaß ein bartloses Gesicht, trug eine runde Brille und sein dichtes, graues Haar war kurz gehalten. Zwei Zimmer seines Wohnhauses in Würselen dienten als Wartezimmer und Praxis. An der Eingangstür war ein handgeschriebenes Schild angebracht, das etwaige Patienten darüber informierte, dass die Praxis heute geschlossen bliebe. Der Behandlungsraum war hell gehalten und freundlich eingerichtet, es roch unterschwellig nach Bienenwachs und Kernseife. Ein etwas zerzaust wirkender Wiesenblumenstrauß stand auf der Fensterbank.

Korwin Middelberg, dem der Vorwurf galt, hatte vor dem Schreibtisch des Arztes Platz genommen. „Das mag Ihnen so vorkommen, doch tatsächlich habe ich mich, gleich nachdem ich die Aufforderung erhielt, auf den Weg gemacht. Aber es braucht nun mal seine Zeit, von Aachen nach Haaren zu gelangen. Außerdem war Ihr Haus nicht leicht zu finden, weil man es von der Straße aus kaum sieht.“

Münzer gab ein geringschätziges Schnauben von sich. „Das passiert häufiger, weil die Leute in die Auslagen der Metzgerei Wüllenweber schauen und meinem Gartentor keine Beachtung schenken.“

Korwin beließ es dabei. Auch er hatte den speckig glänzenden Wurstreihen einen sehnsüchtigen Blick zugeworfen, doch das brauchte er seinem Gegenüber nicht auf die Nase zu binden. „Nun bin ich hier und wir sollten keine Zeit verschwenden.“

Doktor Münzer nahm seine Brille ab, polierte ein Glas mit einem Zipfel seines Kittels und platzierte das Drahtgestell wieder auf seiner Nase. Seine nebelgrauen Augen richteten sich auf Korwin. „Hat man Sie bereits über das Geschehen in Kenntnis gesetzt?“

„In der Mitteilung des Richters stand lediglich, dass am Morgen eine junge Frau tot aufgefunden wurde.“

„Das ist in der Tat eine arg dürftige Information. Wie wäre es mit einem Kaffee? Ich glaube, meine Frau hat ihn schon brühen lassen.“

„Gerne.“

Münzer zog an einer Klingelschnur, und als ob es gleich neben der Tür darauf gewartet hätte, klopfte ein Dienstmädchen an, öffnete die Türe, knickste und erkundigte sich beflissen nach den Wünschen des Doktors. Der Hausherr orderte eine Kanne echten Bohnenkaffees mit zwei Gedecken, dazu Sahne und Zucker und bat darum, für die nächste halbe Stunde jede Störung fernzuhalten. Rasch verhallten die Schritte des Dienstmädchens und nur noch das beruhigende Ticken einer Standuhr war zu hören.

Münzer lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Eine schreckliche Sache. Die Tote heißt Magdalena Bülles, siebzehn Jahre alt. Sie kehrte nach der gestrigen Tanzveranstaltung in Würselen nicht in ihr Elternhaus nach Haaren zurück. Sie von ihrem sechsjährigen Bruder zu dem Tanzvergnügen begleitet. Den Jungen fand man etwa sechzig Schritte entfernt vom Leichnam der Schwester bei einem Gebüsch. Es ist ein außergewöhnlicher Fall, wie Sie sich bald selbst überzeugen können. Bevor ich weiter aushole: Darf ich erfahren, in welcher Funktion Sie herbemüht wurden?“

Korwin hatte diese Frage erwartet. „Friedensrichter Meller ist zurzeit das Reisen nicht möglich. Ich bin als sein Assistent hier und damit beauftragt, mir ein Bild von der Lage zu machen. In seinem Namen führe ich Vorermittlungen durch, die ihm und den anderen Richtern die spätere Wahrheitsfindung erleichtern werden.“

Münzer machte aus seiner Verwunderung kein Hehl. „Das traut er Ihnen zu?“

„Sie mir nicht?“ konterte Korwin.

„Nun, Sie scheinen mir recht jung.“

Ein Satz, den Korwin häufiger hörte, als ihm lieb war. Man könnte meinen, in der Verwaltung traue man erst Männern ab fünfzig zu, verantwortungsvolle Posten

zu erfüllen. Davon war er noch fünfundzwanzig Jahre entfernt. „Ich nehme dies als Kompliment.“

Münzer verzog missbilligend den Mund. Eine kleine Pause entstand, während das Dienstmädchen Kaffee servierte. Erst als es den Raum wieder verlassen hatte, nahm Münzer das Gespräch erneut auf. „Der Prozess selbst obliegt dann aber erfahrenen Richtern?“

„Selbstverständlich.“ Korwin nahm einen Schluck Kaffee. Schwarz und anregend, genau das, was er nun brauchte. Ein Butterbrot wäre ihm auch willkommen gewesen, aber darum zu bitten untersagte ihm sein Stolz. Münzer stellte seine Tasse ebenfalls zurück auf den Unterteller. „Haben Sie auf dem Gebiet des Criminaltribunals Erfahrung vorzuweisen?“

Korwin mahnte sich zu Geduld. Es hätte keinen Wert, den Doktor gegen sich aufzubringen. Hier kannte er niemanden und es war anzunehmen, dass er jede Hilfe brauchen würde. „Ich war Commissarius loci, bis dieses Amt zum Jahreswechsel abgeschafft wurde. Ein Ortskommissar. Ich habe zwei Jahre in diesem Beruf gearbeitet und mir allerlei praktische Erfahrung aneignen können“, erklärte Korwin. Freundlichkeit und Duldsamkeit gehörten zu seinem Beruf, doch war ihm Letzteres nicht in die Wiege gelegt worden.

Münzer nickte, aber seine Miene war alles andere als erfreut. Offiziell hatten die französischen Besatzer Ortskommissare zur Unterstützung der Gendarmerie eingesetzt. Doch selbst jeder Gassenlümmel wusste, dass diese Aufgabe eine zweite Seite besaß, die darin bestand, die Arbeit und die politische Gesinnung der Polizeidiener zu überwachen. Jedenfalls dann, wenn man seinen Beruf pingelig genau nahm. Sollte Münzer ihn ruhig für einen Spitzel halten, rechtfertigen würde Korwin sich keinesfalls.

Münzer verschränkte die Hände so angespannt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Wie Sie meinen. Middelberg, was ich wissen möchte, bevor wir in den Keller gehen: Gehört zu Ihrem Erfahrungsschatz auch der Anblick von Leichen?“

„Aber ja“, versicherte Korwin. Es waren drei gewesen. Eine Familie, die an Rauchgas erstickt war und die man erst einige Tage später gefunden hatte. Ein Vogelnest hatte ihren Schornstein verstopft.

Fast schien es, als habe Münzer seine Gedanken gelesen. „Die Überreste des Fräulein Bülles bieten einen verstörenden Anblick, und dass ihr Leichnam dabei einen Tag lang unter der sengenden Sonne lag, macht es nicht besser. Sie wurde mit ihrem eigenen Strumpfband erdrosselt. Dabei ging der Täter mit solch brachialer Kraft vor, dass dem Opfer die Augen bluteten, zudem floss Blut aus einem Ohr und dem Mund. Das Strumpfband verblieb fest verknotet am Hals der Unglücklichen. Oberhalb der Brust ist die Haut fast schwarz und stark aufgequollen. Der Täter hat an seinem bedauernswerten Opfer darüber hinaus Notzucht verübt. Vermutlich nach ihrem Tod. Magdalena Bülles ist einer entmenschlichten Bestie zum Opfer gefallen.“

Gottlob, dass es kein Brot zum Kaffee gegeben hatte. Auf keinen Fall wollte Korwin sich die Blöße geben, im Münzerschen Keller zu speien.

„Und der Junge?“, fragte er stattdessen.

„Edmund Bülles, ein zerbrechlich anmutender Knabe. Er wurde mit zahlreichen schweren Tritten gegen Hals, Kopf und Leib traktiert. Eines seiner Ohren ist bis zur Muschel eingerissen, sein Brustkorb ist zerquetscht. Es mag wie ein Wunder anmuten, aber Edmund hat das Martyrium überlebt. Allerdings ist er bisher ohne Bewusstsein und ohne Empfindung. Gelegentlich krampft er, dann wiederum ist sein Puls kaum zu spüren. Die Eltern des armen Kindes wachen an dessen Bett und beten, dass der Herrgott ihren Jungen erwachen lässt und er fröhlich weiterleben kann.“

„Ist das denkbar?“

„Die Verletzungen sind zu schwer. Doch wie kann ich dies Eltern sagen, die gerade erst eines ihrer Kinder an den Tod verloren haben? Es mag unchristlich klingen, aber unter uns gesagt hoffe ich, dass der Allmächtige Herr den Knaben bald zu sich ins himmlische Reich ruft.“ Münzer erhob sich abrupt. „Bringen wir das Unvermeidbare hinter uns. Wir nehmen den Weg durch das Haus.“

Auch Korwin stellte sein Geschirr zurück, erhob sich und folgte dem Arzt durch den langen Flur. Vor einer Tür blieb Münzer stehen. Auf einer Kommode standen allerlei Gerätschaften, Phosphorhölzchen und eine Wasserschale, in der diese nach ihrer Nutzung gesammelt wurden. Münzer entflammte eine Kerze.

„Seien Sie vorsichtig, Middelberg, die Kellerstufen sind steil. Nutzen Sie den Handlauf.“

Korwin zog den Kopf ein und wählte seine Schritte mit bedacht. Im Kellergewölbe angekommen, entzündete Münzer drei Argandbrenner. Leises Knistern war zu hören. Der Tisch mit dem Leichnam befand sich nahe der beiden Wandlampen. Die dritte Lampe drückte Münzer Korwin in die Hand und sah ihn fragend an. „Sind Sie soweit?“

Korwin nickte, obwohl er sich nur allzu gerne auf dem Absatz herumgedreht hätte. An diesen Geruch würde er sich nie gewöhnen. Behutsam hob Münzer das Tuch, mit dem die Tote bedeckt war. An manchen Stellen war es dunkel verfärbt.

Der Arzt hatte bezüglich des Zustands der Leiche mit keinem Wort übertrieben. Der Anblick von Magdalenas fast schwarzen und aufgedunsenen Gesichts, sowie der des aufgetriebenen Torsos war nur schwer zu ertragen. Wäre da nicht ihr schönes langes Haar gewesen, die zarten Hände und Füße, die anmutigen Fesseln, nichts hätte an ein junges Mädchen erinnert. Am allerwenigsten der grauenhafte Gestank. Münzer hatte Korwin mittlerweile einen mit Minzöl getränkten Lappen gereicht und hielt sich selbst ebenfalls einen solchen vor die Nase. Nur nutzte es nicht viel. Präzise erläuterte Münzer die Verletzungen und zog das Laken bis unter den Hals des entstellten Leichnams.

Korwin würgte, doch gelang es ihm nur knapp, dem Reiz nicht nachzugeben. Münzer, der sich besser im Griff hatte, wies Korwin mit einer Handbewegung auf das Tor hin, dass in den Garten führte.

Die grüne Idylle lag in einem sanften Hang und war von einem solch starken Rosenduft durchzogen, dass er nicht betörend, sondern benebelnd wirkte. Korwin schützte einen Moment die Augen vor dem Sonnenlicht, sog tief Luft ein und folgte Münzer zu einer Bank unter einem Pflaumenbaum. Korwin lockerte sein Halstuch. Der Schatten tat ihm gut. Einen Moment verbrachten sie schweigend. Münzer bedachte Korwin mit einem Seitenblick. „Geht‘s wieder?

„Ja. Danke.“

Münzer deutete auf eine Stelle im Garten. Eine blonde Frau saß dort auf einem ausgebreiteten Plaid und spielte mit einem kleinen Mädchen von vielleicht drei Jahren. Bei ihnen stand ein Picknickkorb, aus dem die Kleine unbeholfen, aber entschlossen ein Plätzchen fischte.

„Meine Familie“, sagte Münzer und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. „Meine Frau und meine Tochter. Meine beiden Jungen sind gerade bei einem Bauern in der Nachbarschaft. Sie helfen dort, die Pferde zu versorgen und dürfen zum Ausgleich dazu gelegentlich reiten. Ich hoffe, sie werden, wenn sie sich die Hörner abgestoßen haben, zu guten Männern heranwachsen. Haben Sie Familie?“

„Keine Frau, keine Kinder. Aber ich bin in einer großen Familie aufgewachsen. Ich habe vier Geschwister, meine Eltern leben noch, und wir sehen uns, sooft ich es von Aachen nach Schleiden schaffe.“ Was beinahe der Wahrheit entsprach.

„Schleiden. Die wilde Eifel. Mmh, selbst unter günstigen Voraussetzungen mindestens eine halbe Tagesreise entfernt.“ Münzer sah Korwin an. „Verstehen Sie, dass Sie dieses Ungeheuer unter die Guillotine bringen müssen? Unter allen Umständen? Der Mörder darf nicht davonkommen. Er darf nie wieder die Gelegenheit erhalten, einem anderen Menschen zu schaden.“

„Ja. Wie werden Sie nun weiter verfahren?“

„Ich erwarte heute Nachmittag jemanden, der sich des Mädchens annimmt. Sie wird gewaschen, herrichtet und eingesargt. Bülles möchte seine Tochter daheim aufbahren. Ich werde den Eltern und Geschwistern abraten, sich am offenen Sarg zu verabschieden. Ob sie meinem Empfehlung folgen, bleibt jedoch ihnen überlassen.“

Eine Weile saßen die Männer still nebeneinander. Korwin wusste, dass ihn der Anblick des Leichnams von nun an begleiten würde. Doch jetzt, im Sonnenschein, umgeben von Insektenbrummen, Vogelgezwitscher und dem glucksenden Lachen der kleinen Münzertochter, ließ sich die Erinnerung wenigstens für einen Augenblick verdrängen.

Sie hatte sich in seine Seele gebrannt.

Als Münzer vorschlug, einen Schnaps zu trinken, willige Korwin ein. Der Arzt hatte vorgesorgt. Er zog einen Flechtkorb unter der Bank hervor, der eine Glasflasche und Gläser enthielt. Das dunkelbraune Kräutergebräu war stark und beruhigte Korwins Magen. Er stellte das Glas neben sich auf der Bank ab. Eine Böe bewegte die Blätter, Lichtflecken tanzten über das Gras vor seinen Füßen. „Kannten Sie das Mädchen? Vom Ansehen vielleicht? Oder war sie gar eine Ihrer Patientinnen?“

„Magdalenas Familie lebt zwar unweit von hier in Haaren, aber ich hatte zuvor nie mit ihr oder der Familie Bülles zu tun. Vielleicht hätte Herr Bülles mich gar nicht hinzugezogen, wenn mein Kollege Wallraff mit den Seinen nicht in die Sommerfrische an die Nordsee gefahren wäre. Sie werden mit den Eltern reden wollen, und ich habe versprochen, nach Edmund zu sehen. Wenn Sie bereit sind, würde ich Sie mit dem Einspänner mitnehmen.“

2.

 

14.06.1809

„Wer schön sein will, muss leiden. Aber das wird es allemal wert sein“, verkündete Barbara Franzen fröhlich und ließ sich auf den einzigen Stuhl in Lenas Zimmer sinken. Vorsichtig löste sie die Schleife unter ihrem Kinn, hob das Strohhütchen von ihrem blonden Haar und legte es auf ihrer prallen Gobelintasche ab. Lenas Freundin sah drollig aus: Strähne für Strähne ihrer schulterlangen Mähne waren auf Papilotten aus alten Zeitungsstreifen gedreht und mittels Metallspangen eng am Kopf festgesteckt. Unwillkürlich griff Lena zu ihrem eigenen gespickten Schopf, der ähnlich albern aussah. „Edmund hatte sich vorhin vor Lachen auf den Boden fallen lassen und mich einen Pinsel-Igel genannt. Ich habe mich den ganzen Tag nicht nach draußen getraut.“

Barbara streckte sich undamenhaft. „Das hat sich keine von uns, glaub das mal. Ich habe gerade wie ein Schießhund aufgepasst, dass ich niemandem über den Weg laufe. Trude hat ganz schön gemault, als Mutter heute sie und nicht mich zum Milch holen schickte. Kennst ja meine Schwester: Bloß keinen Handschlag zu viel erledigen. Erst dachte ich, Mutter gibt nach, aber stell dir vor: Sie hat Trude Beine gemacht. Es war das erste Mal seit Karneval, dass sie für mich Partei ergriff. Lena, ich dachte schon, sie verzeiht mir nie. Na, hätte sie vielleicht auch nicht, wenn mein Vater dabeigestanden hätte. Ich glaube, mit meiner Vorfreude erinnerte ich Mutter an sich selbst, an die Zeit, als sie noch ledig war und sie zum Kirmestanz ging. Ich bin siebzehn, dass muss also eine Ewigkeit her sein. Na ja, aber dann …“

Barbara ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Genau wie es Lena vorausgesehen hatte, blieb ihr der Mund offen stehen, als sie das Empire-Kleid bemerkte, dass über der spanischen Wand hing. Es war ein Traum aus lindgrünem Musselin, einer Farbe, die Lenas Teint vorteilhaft zur Geltung brachte. Fast vier Monate hatte sie an diesem Kleid gearbeitet, hatte Stoffbahnen gereiht, gesäumt, gekappt, Volants gesteppt, eine Garnitur aus Stoffblüten gefertigt, hatte zähneknirschend Misslungenes aufgetrennt, um wieder von vorn zu beginnen. So manches Mal hatten sowohl ihre Geduld, als auch ihr Ehrgeiz nur noch an einem seidenen Faden gehangen. Einmal sogar hatte sie ihre wütenden Tränen mit dem halbfertigen Stück abgewischt und ihre Eitelkeit verwünscht. Dann hatte sie sich des Gewurstels wieder angenommen.

Und die Mühe hatte sich gelohnt.

Ein ganz kleiner Neidfunke glitzerte in Barbaras Augen, dann aber war er auch schon wieder fort. Die Freundin ging zu dem Kleid, strich vorsichtig darüber und strahlte Lena über die Schulter hinweg an: „Du wirst heute unsere Königin sein.“

„Ach, nein“, gab sich Lena bescheiden, freute sich aber insgeheim. In der Gruppe ihrer Freundinnen fiel sie niemals sonderlich auf, war klein, zierlich gebaut und von stiller Natur. Nicht hässlich, aber auch nicht hinreißend schön. So wie Barbara auch. Zwei Dutzendgesichter. Barbaras mit Sommersprossen, ihres ohne.

„Doch, doch, Lenchen, glaub mir. Du wirst jedem Burschen den Kopf verdrehen und ich schätze, in der nächsten Woche wird dein Vater mit dem Nudelholz neben der Tür stehen, um deine Verehrer zu verscheuchen.“ Barbara wuchtete ihre große Gobelintasche auf den Tisch, ohne sie jedoch zu öffnen. Ihre Hände, die auf den Metallbügeln lagen, verrieten ihre Anspannung. „Was meinst du, wird dein Cousin auch zum Tanz kommen?“ Jede Heiterkeit war aus Barbaras Stimme verflogen. Wachsam wirkte sie. Und ein bisschen ängstlich. Verständlicherweise.

Lena seufzte leise und nahm ihre Freundin bei den Händen. „Es ist Kirmes und heute ist der letzte Festabend. Natürlich wird Heinz da sein, genau wie viele, viele andere. Er wird schon keinen Streit vom Zaun brechen. Seine Wut auf uns dürfte sich mittlerweile abgekühlt haben.“

„Auf mich ist er zornig, nicht auf dich.“

„Da irrst du dich.“ Lena versicherte sich mit einem Blick, dass die Tür geschlossen war und sprach leise weiter. „Ich habe es dir damals nichts gesagt, aber als du ihm den Laufpass gegeben hast, ist er in der gleichen Nacht noch hier aufgekreuzt. Er war bis obenhin mit Branntwein abgefüllt, barfuß und hat vor dem Haus mächtig Theater gemacht. Ich hätte ihm das Leben verhunzt. Das würde er sich nicht bieten lassen. Ich will das gar nicht alles wiederholen. Das war sehr peinlich. Von meiner Tante hat er wirklich nur das gute Aussehen geerbt. Die Manieren stammen von seinen Hausiererfreunden.“

„Barfuß im März?“ Barbara rollte mit den Augen. „Ich habe Heinz nichts von dem erzählt, was du mir über ihn gesagt hast. Nur, dass ich ihn zwar gerne, aber nicht lieb genug für eine Ehe habe. Und dass ich nicht seine Frau werden kann, weil er keine feste Arbeit hat. Ich habe es eher so klingen lassen, als hätten mich die Mutter und der Herr Pfarrer ins Gebet genommen.“

„Ich weiß, Barbara, aber Heinz ist ja auch nicht blöd. Er wird sich zusammengereimt haben, dass ich es war, die dir die Augen über sein wahres Naturell geöffnet hat. Oder dass ich zumindest in das gleiche Horn wie der Herr Pfarrer gestoßen habe. Noch bevor Heinz randalieren konnte, hatte Vater ihm Paroli geboten. Mit einem Eimer kaltem Wasser.“

„Uh. Ganz schön drakonisch.“

„Aber wirksam. Immerhin ist er darauf nach Aachen gegangen und hat dort sogar in seinem erlernten Beruf als Tuchscherer gearbeitet. Wer weiß, vielleicht ist er ja auch zu Verstand gekommen. Ein Mann, der nur dem Müßiggang nachgeht, bekommt auch nur eine träge Schlampampel ab. Eine, die mittags noch im Nachthemd herumläuft und die Wohnung nicht aufräumt. Das ist Heinz bestimmt klar geworden. Jetzt lass uns lieber über etwas Schönes reden. In der Tasche steckt doch sicherlich dein Kleid. Zeig her.“

Barbara rührte sich nicht. „Mutter hat es genäht. Du weißt, ich kann so etwas nicht und sie wollte mich überraschen. Aber ich glaube, dahinter steckt eine Strategie. Mutter wird mir nie wieder vertrauen. Nur sagt sie es nicht offen.“

„Na, das kannst du ihr nicht zum Vorwurf machen.“

„Weiß ich. Musst nicht auch noch in die gleiche Kerbe dreschen. Ich wollte doch nur einmal Karneval feiern.“

„Hättest du es nur dabei belassen …“

„Du hörst dich wie Vater an.“ Barbara lächelte unfroh und kleine Grübchen erschienen auf ihren Wangen. Sie öffnete die Tasche und ein fliederfarbener Bausch quoll daraus hervor. Lena strich darüber und hoffte, dass Barbara ihr Zurückzucken nicht bemerkte. „Musselin? Och, Barbara, wie schön.“

Barbara holte das Kleid vollends hervor und hielt es sich mit den Fingerspitzen vor den Leib. „Immer noch? Na, was meinst du?“

Der Stoff war ein wenig zerknittert. Das wäre noch ein kleineres Übel.

Lena bemühte sich, freundliche Worte zu finden. „Es ist wirklich hübsch. Das Taillenband ist vorteilhaft und all die kleinen Rosen sind entzückend.“

Barbara betrachtete das Kleid mit gerümpfter Nase. „Und jede der kleinen Rosen und das, worauf sie befestigt sind, duftet nach einer doppelten Ladung Mottenpulver. Mutter hat das Kleid in meiner Aussteuertruhe versteckt. Sie hat sich soviel Arbeit damit gemacht, da konnte ich doch nicht meckern, und trotzdem glaube ich, dass die Mottenkugeln die jungen Männer fernhalten sollen. Ich habe es die ganze Nacht und den halben Tag ausgelüftet, aber in der Tasche haben sich die Dämpfe neu gesammelt. Ich kann nicht mitgehen. Nicht so. Alles ist verloren.“

„Nichts ist verloren!“ Lena verstand Barbara nur allzu gut, dennoch musste sie sich Mühe geben, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Mit allen großen und kleinen Katastrophen hatte sie gerechnet, versengten Locken, einem Pickel am Kinn, einem schiefen Absatz. Aber die zerstörerische Wirkung von Mottenpulver hatte sie keinen Moment in Erwägung gezogen. „Das bekommen wir schon hin.“

Barbara, das Unglück in Person, sank auf dem Stuhl zusammen. „Und wie? Ich habe es schon mit Lavendelwasser probiert, was aber zur Folge hatte, dass das Kleid sowohl nach Mottenkugeln, als auch nach Lavendel stank. Das Bouquet des Mottenpulvers besaß allerdings das größere Durchsetzungsvermögen.“

Lena sah sie ratlos an. Sie besaß, wie Barbara auch, mehrere Kleider. Auch gute für sonntags, aber keines von ihnen käme einem Festkleid nahe. Ein ganzes Jahr lang hatten sie diesem Tanzvergnügen entgegengefiebert. Jedes Mädchen würde sich heute Abend wie eine Prinzessin herausputzen. Eine Anstecknadel, ein bisschen Spitze, eine Feder im Haar oder eine glänzende Kette verlieh Alltagskleidern etwas Glorienschein, doch dieser reichte für den Kirmestanz allein nicht aus.

Barbara stützte die Wange auf die Faust und bohrte verdrossen den Zeigefinger der anderen Hand in den Stoffwust. „Du bist ja nicht alleine, sondern gehst mit Anna-Marie. Wo ist deine kleine Schwester eigentlich? Wollte sie sich nicht mit uns zusammen aufputzen?“

„Stimmt. Ich hole sie.“

Lena raffte ihren Rock und stieg die Treppe hinunter. Mutter arbeitete in der Küche. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, knetete einen hellen Teig und gab der jüngsten Tochter Anweisungen, die diesen mit vor Freude geröteten Wangen nachkam.

Edmund, der sechsjährige Bruder, hockte dabei und versuchte, Teigkrümel zu stibitzen. Auf dem Herd stand ein Pfeifkessel, daneben stand die umhäkelte Wärmflasche aus Messing.

Durch den Spalt der nur angelehnten Tür der Wohnstube sah Magdalena, dass Vater die Füße hochgelegt hatte. Er war in ein Buch vertieft, eine Kaffeetasse neben sich. Vater so entspannt zu sehen, war ein seltener Anblick. Magdalena hauchte ihm eine unbemerkt bleibende Kusshand zu. Anna-Marie, so stellte sie schließlich fest, war in der Waschküche.

Die Fünfzehnjährige kam nach dem Vater, war hochgewachsen, kräftig und besaß die gesunde Gesichtsfarbe der Landbevölkerung. Zumindest gewöhnlich. Jetzt erinnerte ihr Teint eher an Asche. Sie stützte sich mit beiden Händen an dem Waschbottich ab. Das blutige Wäschestück auf dem Boden und ihr unglücklicher Blick sagten alles. Lena trat zu dem Mädchen und strich ihr mitfühlend über die Schulter. „Von all den Tagen eines Monats, ausgerechnet heute?“

Anna-Marie nickte elend. „Das Bauchweh ist kaum auszuhalten. Wenn ich hier fertig bin, lege mich ins Bett. Mutter bringt mir dann die Wärmflasche. Sie sagt, wenn ich schon nicht mitkann, sollst du Edmund mitnehmen.“

„Den Däumling? Zum Tanz? Aber warum?“

„Mach es einfach.“

Die gleiche Frage stellte sie keine zwei Minuten später ihrer Mutter, obgleich sie ahnte, dass jedweder Protest vergebens sein würde. Wenn ihre Mutter etwas entschieden hatte, dann konnte nur der Heilige Geist höchstselbst an dem Entschluss rütteln. Und das auch nur vielleicht.

Der krümelige Teig war mittlerweile zu einer geschmeidig glänzenden Kugel geformt und musste nun eine Weile ruhen. Käthe Bülles‘ Gesicht war schweißnass. „Edmund geht mit, oder du bleibst hier.“

„Mutter, bitte. Ich möchte tanzen, nicht Kinder hüten.“

Käthes Augenbrauen rückten über der Nasenwurzel zusammen: „Keine Widerrede. Die Barbara biegt auf dem Heimweg ein Stück vor dir vom Weg ab und du gehst mir keinen Schritt alleine durch die Felder. Dein Vater ist der gleichen Meinung. Still jetzt, sonst bleibt ihr beide hier.“ Käthe wischte ihre nassen Hände an einem Tuch trocken, scheuchte die jüngeren Kinder mit den Abfällen zum Komposthaufen und wartete stumm ab, bis sie mit ihrer Ältesten alleine war. Sie zwinkerte, griff in die Tasche ihrer Kittelschürze und holte mehrere Münzen hervor, die sie Lena in die Hand drückte. „Für dich. Damit ihr beide einen schönen Abend habt und ihr euch Limonade kaufen könnt.“

Ungläubig sah Lena auf das Münzhäufchen. Weder hatte Lena ihre Mutter jemals zuvor wie einen Lausbub zwinkern gesehen, noch hatte sie von ihr jemals so viel Geld zur freien Verfügung bekommen. Das waren doch mindesten zwei und eine halbe Mark. Die gute Mutter musste es sich vom Haushaltsgeld abgespart haben. „Nimm, mein Mädchen. Was du nicht brauchst, geben wir dem Schuster, der dir die Tanzschuhe reparieren wird.“

„Ach, liebe Mama!“

„Still! Nicht drüber reden, sonst wird Anna-Marie trauriger, als jetzt schon.“

„Keine Silbe.“ Zutiefst gerührt vor Glück, küsste Lena ihre Mutter auf die Wange. Dann legte sie das Geld beiseite, nahm deren Hände und drehte sich mit ihr im Kreis, bis Mutter auflachte, das Drehkreuz löste und sich eine Hand auf den unteren Rücken presste. „Nicht so wild, meine Liebe. Nächstes Jahr geht Anna-Marie mit. Das arme Mädel. So ein liebreizendes Kleid hat sie sich genäht und nun hängt es auf dem Bügel.“

Ein Geistesblitz durchzuckte Lena. „Meinst du, sie würde es Barbara borgen? Mit ihrem eigenen Kleid ist ein kleines Malheur passiert. Na ja, eher ein großes.“ Lena berichtete ihrer Mutter, was geschehen war. Käthe löste den Knoten ihrer Schürze. „Nach dem Debakel mit Heinz ist Frau Franzen arg besorgt um die Lauterkeit ihrer Tochter. Aber Mottenpulver … ach je. Frag Anna-Marie, es ist ihre Entscheidung. Aber unter uns Frauensleuten: Wenn Barbara ihr einen feinen Anreiz gäbe, könnte ich mir schon vorstellen, dass Anna-Marie einwilligt. Im Übrigen habe ich mit Frau Müller abgesprochen, dass ihr bei ihr übernachten könnt. Eigentlich du und deine Schwester, aber für Edmund gilt das Angebot auch. Nur für den Fall, dass es ein Unwetter gibt, oder dir die Füße wehtun. Edmund und du, ihr beide seid ihr willkommen. Papa ist auch einverstanden.“

„Liebes Mama, du sorgst dich zu sehr.“ Lena hatte es eilig, wieder zu Barbara zurückzukommen und ihr die Idee zu unterbreiten. An so einem Tag sollte ihre beste Freundin nicht unglücklich sein. „Alles ist bestens. Es wird trocken bleiben und der Däumling wird auf mich aufpassen.“

 

***

 

Als Lena Barbara von dem duftigen Tanzkleid aus Seidentaft erzählte, war diese sofort Feuer und Flamme. Die Junisonne hatte das Dachzimmer ordentlich aufgeheizt und Lena fürchtete um ihre Locken. Barbara, die mittlerweile auf Lenas Bett saß, ließ sich mit ausgebreiteten Armen rücklings fallen und jauchzte. „Hellblau! Das ist genau meine Farbe. Ich werde vor Anna-Marie niederknien, sie als meine Göttin anbeten, sie wird meine Herrin sein, meine Gönnerin, meine Muse …“

„Kscht, geht’s ein bisschen weniger laut und ein bisschen weniger dramatisch? Göttin? Bist du von allen Sinnen verlassen? Wenn Mutter das hört, ist es aus mit dem hellblauen Traum.“

Barbara stützte sich ächzend auf die Ellenbogen. Für eine junge Frau war sie wirklich entsetzlich schlecht in Form. Spaziergänge mied sie und auch sonst war ihr jede Anstrengung fremd. Und seit einigen Monaten hatte ihr Kinn Gesellschaft von einem zweiten bekommen. Als Freundin fiel es Lena zu, Barbara beiseite zu nehmen. Aber nicht jetzt.

„Sag“, forderte Barbara sie auf. „Womit könnte ich Anna-Marie eine Freude machen, die so groß ist, dass sie sich auf diesen Handel einließe?“

Lena ließ ihre Finger spazieren, derweilen sie ihren Waschtisch umrundete und nachdachte. „Stoff für eine Bluse, Garn oder das Buch ‚Historische Vergnügung. Der blühenden Jugend in unterschiedlichen angenehmen und sonderbaren Geschichten zur Erlernung der Tugenden und Vermeidung der Laster. Aus den fürtrefflichsten Schriften gezogen und zur Ergötzung des Gemüts auch Verbesserung des Lebens allen jungen Leuten zum nützlichsten Unterricht eröffnet‘.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder? So lautet der Titel?“

„Genau so. Wir reden von Anna-Marie. Sie liebt solche Bücher.“

„Das ist bestimmt teuer.“

„Das Kleid besitzt sogar eine kleine Schleppe.“

„Hui!“ Barbara raffte sich auf, bis sie auf der Bettkante saß, Knie und Knöchel nahe beieinander. „Also dann lieber doch der Stoff und das Garn. Es braucht ein bisschen, aber das kann ich ihr guten Gewissens zusagen. Du weißt, meine Eltern halten mich knapp, damit ich nicht auf dumme Gedanken komme. Dabei bringt mich gerade dies …“

„Ja“, kürzte Lena die angekündigte Erklärung ab. „Hast du Geld?“

Barbara stützte nach Art der Arbeiterburschen ihre Ellenbogen auf die Knie. „Nein. Mutter findet es unanständig, wenn eine Dame für sich zahlt. Dafür seien die jungen Gentlemen zuständig.“

„Gentlemen? In Würselen?“

„Madame Maman hat wieder so eine Phase“, erklärte Barbara mit treuherzigem Augenaufschlag und in dem gestelzten Tonfall, den ihre Mutter immer dann annahm, wenn sie kurz zuvor Besuch von ihrer gut situierten Schwägerin erhalten hatte. Nach einer solchen Visite flocht Frau Franzen französische Worte in Unterhaltungen und spreizte drei Finger ab, wenn sie eine Tasse anhob.

So manches Porzellan hatte dieses Geziere nicht überstanden.

Lena reichte Barbara ein Markstück. „Anna-Marie liebt Posamenten jedweder Art. Egal was du ihr anbietest: Sie wird nicht widerstehen können.“

Barbara gab ein vergnügtes Quieken von sich, küsste Lena auf beide Wangen und klatschte in die Hände. „Du bekommst sie so bald wie möglich zurück. Ich versprech‘s. Ach, Lena, das wird doch noch was!“

„Beeil‘ dich. Noch findest du Anna-Marie in der Waschküche.“

Lächelnd sah Lena ihrer davon stürmenden Freundin nach. Schon letztes Jahr war der Kirmestanz herrlich gewesen, auch wenn sie in Begleitung ihrer Eltern dort gewesen waren, und sich kaum ein junger Herr getraut hatte, sie unter den dräuenden Blicken der Väter aufzufordern.

Dieses Jahr würde es anders sein. Es würde unvergesslich werden.

3.

 

15.06.1809

Das Hausmädchen der Familie Bülles ließ Münzer und Korwin ein. Sie trug eine schwarze Schleife an ihrem Oberarm. Ihre Augen waren verweint und sie wischte ihre Nase verstohlen mit einem Taschentuch ab. Münzer stellte Korwin vor. Die Bedienstete versicherte sich mit einem Blick zu dem Doktor, dass alles seine Richtigkeit hatte, bevor sie in breitem Dialekt Auskunft gab: „Die Herrschaften sind in der Krankenstube, bei der arme Jung‘. Bittschön, nehmen Sie beide in der guten Stube Platz. Ich sag‘ Bescheid, dass die gnädigen Monsieurs da sind, ömme?“

Die Dienstmagd wies zu einer offenen Türe. Die Dielen knarrten leise, als Korwin über die Schwelle trat. Es war ein hübsches Wohnzimmer und es wirkte nicht so, als diene es ausschließlich der Präsentation. Sicher, es war sorgsam und dezent eingerichtet, mit viel Porzellan und schmückendem Beiwerk versehen, aber die Ordnung war nicht steif.

Über einer Sessellehne lag Näharbeit ausgebreitet, ein Wollkorb stand in der Nähe. Ein aufgeschlagener Gedichtband lag auf dem Tisch und Korwin meinte, den Geruch von Pfeifentabak wahrzunehmen.

Über sich hörten die Männer die schnellen Schritte des Dienstmädchens, das gleich darauf die Treppe wieder hinab eilte. Sie winkte von der vorletzten Stufe aus: „Die Herren sollen bittschön nach oben kommen.“

In dem abgedunkelten Zimmer, in dem man Edmund untergebracht hatte, herrschte eine erdrückende Stille, die nur durch gewisperte Gebetsfragmente unterbrochen wurde. Das Bett war so riesig, dass der kleine Junge darin zunächst gar nicht auffiel. Seine blasse Haut hob sich kaum von dem gebleichten Laken ab. Um den Kopf trug er einen Mullverband, einen zweiten über seinem verletzten Ohr. Der Knabe atmete kaum. Mehrere Erwachsene und zwei Halbwüchsige saßen am Bett des Kindes. Die Eltern und eine Nachbarfamilie, vermutete Korwin. Münzer trat zu einem Mann, begrüßte diesen mit Handschlag und wies mit dem Blick auf Korwin. Es handelte sich gewiss um Magdalenas Vater. Er hatte eine kantige Statur und ein ursprünglich freundliches Gesicht, in das der Schrecken und die Trauer aber über Nacht schlimme Furchen gegraben hatten. Er ging gebeugt und grüßte Korwin mit einem Nicken. „Setzen wir uns ins Nähzimmer, dort können wir ungestört reden.“

Der sonnendurchflutete Raum war angesichts der Trauer für Vater Bülles nur schwer zu ertragen. Er ließ sich schnaufend auf einen Scherenstuhl fallen und bot Korwin die andere Sitzgelegenheit an. „Sie gehören dem Criminaltribunal an, sagte Doktor Münzer. Ist vielleicht besser, als auf unsere Polizeidiener zu vertrauen, deren Ermittlungen sich um Trunkenbolde, Nachtruhestörer und Hühnerdiebe drehen. Wissen Sie schon etwas?“

„Bedaure, nein. Ich bin erst gerade angekommen und stehe noch ganz am Anfang meiner Befragungen.“

„Ja, natürlich“, sagte Bülles abwesend und sah dann erwartungsvoll auf. „Der Herr Richter wird auch kommen, um sich selbst ein Bild machen, nicht wahr? Er muss unsere Kinder mit eigenen Augen sehen, sonst versteht er nicht, was ihnen widerfuhr. Da reichen keine Worte.“

„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“ Korwin konnte nur erahnen, was in Bülles vorging. Er musste den Mann zutiefst enttäuschen. „Aber ich verspreche Ihnen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um den Unhold seiner gerechten Strafe zuzuführen.“ Es war Korwin ernst, doch hörten sich seine Worte nach einer hohlen Floskel an.

Bülles nickte. „Sie müssen das sagen. Wer tat meinen armen Kindern nur so etwas an? Am Ende sogar einer von hier? Jemand, dem ich vielleicht sogar schon einmal auf der Straße einen schönen Tag gewünscht habe? Ach, was frage ich. Sie wissen es ja auch nicht.“

„Herr Bülles, Magdalena ging am Mittwoch zum Tanz, begleitet von Edmund. Wieso fiel Ihnen ihr Ausbleiben nicht schon früher auf?“

„Ich hatte ihnen erlaubt, bei Frau Elisabeth Müller zu übernachten. Sie ist eine langjährige Bekannte, wohnt am Wisselsbach und hat dies von sich aus angeboten. Falls ein Gewitter anstünde und auch sonst. Meine Frau und ich wähnten Magdalena und Edmund dort. Erst als Frau Müller am Morgen zu uns kam, um etwas mit meiner Frau zu besprechen, haben wir begriffen, dass etwas passiert sein musste. Uns ist angst und bange geworden. Meine Söhne und ich haben uns sofort auf die Suche gemacht.“ Bülles‘ Stimme versagte und er musste einige Male schlucken, ehe er weiterreden konnte. „Sie lagen weit drin in einem Kornfeld. Wir sind zuvor schon zwei Mal daran vorbeigegangen, ohne … ohne zu ahnen …“

Bülles brach in Tränen aus und Korwin drehte sich zum Fenster, bis der zutiefst bedauernswerte Mann sich wieder im Griff hatte. Es war eine elende Aufgabe, einen gebrochenen Mann mit Fragen zu quälen, doch führte kein Weg daran vorbei. „Haben Sie selbst die beiden gefunden?“

„Ja. Zuerst Lena. Sie trug ihr hellgrünes Kleid. Monate hatte sie daran genäht und als sie dort lag, bedeckte es sie kaum mehr. Ich habe ihre Kleidung gerichtet, dann habe ich nach meinem Ältesten gerufen. Er war es, der unseren Edmund unter einem Gesträuch entdeckt hat. Hingeworfen, wie ein Stück Abfall. Ich habe meinen armen Jungen auf meine Arme genommen und die Kinder geschickt, den Doktor zu holen. Doch unser Arzt ist in die Sommerfrische gefahren. Sein Adlatus ist losgerannt und hat Doktor Münzer informiert. Er hat Lena von dem Feld holen lassen.“

„Kennen Sie jemanden, der Ihnen und Ihrer Familie schaden wollte?“

„Nein, wo denken Sie hin! Ich habe keine Feinde.“

„Und Mademoiselle Magdalena? Gab es einen Verehrer, oder vielleicht jemanden, den sie abgewiesen hat?“

„Verehrer?“ Zornige Flecken erblühten auf Bülles Gesicht. „Der Meyer Conrad hat an meiner Tür gestanden, nicht hier, in die Werkstatt im Hinterhof ist er gekommen und hat ganz keck gefragt, ob ich ihm eine meiner Töchter zu Frau gäbe. Ihm sei egal, welche, er würde auch die nehmen, die ich schlechter losbekäme, wenn ich die Mitgift ein bisschen erhöhen würde. Genau das hat der Kerl gesagt. Verhandelt über meine Mädchen, als seien sie zwei Kannen saure Milch. Ich habe den Windbeutel gleich beim Kragen gehabt, ihn geschüttelt und ihm obendrein einen ordentlichen Tritt verpasst. Er ist über seine eigenen Füße gestolpert und bäuchlings in einem Haufen Pferdedung gelandet. Die Söhne des Bauern Offergeld haben sich vor Lachen auf die Schenkel geklopft. Der Meyer wird sich hüten, sich in der Nähe meiner Familie blicken zu lassen.“

„Sonst was?“, fragte Korwin.

„Drücke ich diesen elenden Lappenstichler kopfüber in die Schweinesuhle meines Nachbarn“, beschied Bülles ernst.

Langsam konnte sich Korwin vorstellen, was für ein Mann Bülles war, wenn er sich nicht vor Trauer zerriss. „Wo finde ich Herrn Meyer?“

„Der hat eine Schneiderei in der Nähe, aber wo genau, das weiß ich nicht. Der Sauhund war bestimmt auch auf dem Tanzfest.“

„Genau wie viele andere. Was ist das für eine Gaststätte?“

„Eine Wirtschaft, eigentlich. Sie gehört Heiner Sturm. Er und ich sind ein Jahrgang und wir sind schon als junge Leute zum Tanz dorthin gegangen. Da gehörte alles noch seinem Vater. Als dessen Rücken dann hinüber war, hat er sich zur Ruhe gesetzt, dem Heiner alles überschrieben und jetzt gehen unsere Kinder dort tanzen. Es war immer in Ordnung. Heiner schaut nach den Burschen, dass die nicht zu viel saufen und auch, dass sich jeder den Mädchen gegenüber benimmt, wie es sich gehört. Reden Sie mit ihm. Er wird etwas gesehen haben. Jetzt entschuldigen Sie, ich muss wieder zu meinem Jungen. Wenn Edmund aufwacht, wird er sagen, wer ihm und seiner Schwester dies angetan hat. Wo nehmen Sie Quartier?“

„Das ist noch nicht entschieden. Aber in der Polizeiwache wird man wissen, wo ich zu erreichen bin.“

Bülles nickte und schlurfte davon. Korwin lagen noch etliche Fragen auf der Zunge, aber der Mann war zittrig und am Ende seiner Kräfte. Vielleicht konnte ihm Münzer ein stärkendes Elixier verabreichen, oder etwas, das ihm Schlaf bringen würde.

Nachdenklich begab sich Korwin in die Diele. Es wäre unhöflich, ohne ein Abschiedswort zu gehen, anderseits wollte er die Familie nicht weiter stören. Seine Fragen konnte er auch morgen noch stellen. Von unten, aus der Küche vermutlich, hörte Korwin leises Reden. Er folgte den Stimmen. Das Dienstmädchen heizte den Herd ein, während ein robustes Mädchen, das Korwin auf fünfzehn oder sechzehn Jahre schätzte, die Kurbel einer Kaffeemühle bediente. Sie trug schwarz, hatte die langen Haare streng geflochten und auch ihr war anzusehen, dass sie geweint hatte. Als sie Korwin erblickte, stellte sie die Mühle auf den Tisch und nannte ihren Namen: „Anna-Marie Bülles. Magdalenas jüngere Schwester.“

„Mein aufrichtiges Beileid, Mademoiselle. Korwin Middelberg. Ich untersuche die Geschehnisse.“

„Geschehnisse“, wiederholte die Magd im Hintergrund höhnisch und polterte lauter als nötig. „Totgemacht hat man ‘se. Niedergemacht, wie Vieh.“

„Bitte nicht, Minna“, versuchte Anna-Marie sie zu beschwichtigen.

„Wenn‘s doch wahr ist“, pampte die Bedienstete und machte sich mit der leeren Kohlenschütte auf.

Anna-Marie seufzte schmerzvoll. „Sie mochte Lena und sie würde Jahre ihres Lebens geben, wenn Edmund nur wieder gesund würde. Wir sind alle fassungslos und ich kann nicht viel reden, ohne gleich zu weinen. Fragen Sie Mademoiselle Barbara Franzen. Sie wird wissen, was auf dem Fest passiert ist. Barbara war Lenas beste Freundin und hat meine Schwester zum Tanz abgeholt. Ich hätte mitgehen sollen, dann würde Lena noch leben. Ganz bestimmt. Aber ich war unpässlich. Das werde ich mir nie vergeben.“

„Sie trifft keine Schuld, Mademoiselle Bülles. Die trifft alleine den Mörder.“

Anna-Maries Blick sagte etwas anderes.

Mit Mademoiselle Franzens Anschrift verließ Korwin das Trauerhaus.

Die Nachricht hatte sich bereits in Haaren verbreitet. Mehrere Frauen standen, sichtlich betroffen, auf der Straße zusammen. Die Älteste von ihnen holte nach kurzer Suche ein Schneuztuch aus ihrer Tasche hervor und betupfte ihre Augen. Eine Andere schimpfte, verstummte aber, als zwei distinguiert wirkende Männer auf das Grüppchen zukamen. Die Frauen neigten die Köpfe: „Herr Bürgermeister, Herr Pfarrer.“

Der Geistliche trug ein unübersehbares Silberkreuz, welches wertvoll wirkte. Offenbar waren die französischen Okkupanten maßvoll mit dem hiesigen Klerus umgegangen, was angesichts der fürchterlichen Ereignisse womöglich eine unerwartete Gnade darstellte. Korwin war kein sonderlich gläubiger Mensch, aber dass Kirchen und Klöster in Viehställe umgewandelt und christliches Kulturgut auf Befehl Napoleon Bonapartes methodisch zerstört wurden, hatte er niemals gutheißen können. So eine Meinung behielt man jedoch besser für sich, dies handhabte Korwin ebenso wie seine Mitmenschen. Es brauchte niemand zu wissen, dass er sich zusammen mit anderen in das Aukloster geschlichen hatte, nachdem die Minoritenbrüder von den Soldaten vertrieben worden waren. Er hatte sich die hölzerne Statue des Heiligen Franz von Assisi geschnappt und in Sicherheit gebracht. Eines Tages, wenn das Rheinland wieder für einen Heiligen Franz bereit wäre, würde er ihn zurückbringen.

Mittlerweile hatte sich Bonaparte zur Versöhnung mit den Religionen bereit gezeigt, aber schon so Vieles war verloren. Bespuckt, zertreten, verbrannt. Anderes kehrte in den Alltag zurück. Wie der vertraute Gregorianische Kalender, der seit nunmehr vier Jahren den ungeliebten Revolutionskalender verdrängte. Ein Tag mit zehn Stunden, zu hundert Minuten, die Minute zu hundert Sekunden, damit war kaum jemand zurechtgekommen.

Korwin schritt mit auf dem Rücken verschränkten Armen forsch voran und richtete seine Gedanken auf das, was er wusste und sah.

Haaren war eine Ortschaft zwischen Aachen und Würselen, besaß eine eng bebaute Hauptstraße mit allerlei repräsentativen Gebäuden, während die abzweigenden Straßen, Wege und Pfade einen Blick auf ländliche Kulisse eröffneten. Große Vierkanthöfe, kleine Katen, Viehweiden sowie ein mäanderndes Flüsschen hatte Korwin bereits ausgemacht. Auch einen Marktplatz gab es, mit Schmiede, Schuster, Apotheke und einem Bäcker.

Nach Würselen ging es über eine ansteigende Straße. Im Mittelalter war sie als Via Regia, die Königsstraße bekannt.

Mittlerweile war dieser einst hehre Name sprachlich derart abgeschliffen, dass die Straße zum Kaninsberg geworden war, hatte Anna-Marie zu erzählen gewusst. Überhaupt hatte sie viel geredet, verwirrt und verstört und doch bemüht, Haltung zu wahren. Korwin hatte ihren Kaffee getrunken und zugehört, bis die Dienstmagd wieder mit dem Kohleeimer zurück gescheppert kam. Das Hausmädchen informierte Korwin darüber, dass Doktor Münzer ihn wieder mit zurück nach Würselen nähme, so er dies wünschte. Allerdings würde dies noch gut anderthalb Stunden dauern, da die Familie ärztlichen Beistandes bedurfte.

Korwin ließ sich daraufhin entschuldigen, erkundigte sich nach dem Weg und hatte sich auf Schusters Rappen zur Polizeiwache in Würselen aufgemacht. Den Hügel hinunterzugehen mochte ein Leichtes sein, ihn zu erklimmen jedoch zog sich elend lang. Korwin dürstete es nach Wasser. Aber ein kühles, hellen Bier würde er auch nicht ausschlagen.

Es gab einige Gasthäuser links und rechts seines Weges, doch Korwin widerstand deren Verlockungen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Nicht, dass dies grundsätzlich sein Credo war, aber er stand erst auf der zweiten Stufe der Karriereleiter. In Aachen setzte man Vertrauen in ihn und er wollte sich dessen als würdig erweisen.

Mehr noch als das, wollte er Edmunds Peiniger und Magdalenas Mörder an den Strick bringen. Um ihrer selbst willen. Derart zerschlagen zu sterben, hatte niemand verdient. Schon gar nicht ein junges Fräulein, das zum Tanz ausging.

Mehrere Kutschen und Fuhrwerke überholten Korwin. Die Pferde hatten an so manchen Gefährt ordentlich zu ziehen, Staub wirbelte unter ihren Hufen auf und hüllte die wenigen Fußgänger ein. Korwin schwitzte und wedelte sich mit seinem Dreispitz Luft zu, doch die erhoffte Linderung blieb aus.

Endlich war der Kaninsberg bezwungen, die Straße verlief eben, die Bebauung war dichter. Auf dem Marktplatz erkundigte sich Korwin bei einer entgegenkommenden Passantin nach dem Weg zur Polizeistation. Die Frau bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick, wies mit dem Daumen über ihre Schulter. „Da lang, das flache Haus.“

Froh darüber, endlich ein bisschen Schatten abzubekommen, betrat Korwin das kompakte Gebäude. Es war schlicht und funktionell, das Mobiliar hatte schon etliche Jahre gedient und ordentlich Knüffe abbekommen. An einigen Wandhaken hingen einige derzeit nicht benötigte Utensilien. Zwei feste Wolljoppen, Hüte, ein krummer Schlagstock, daneben ein Schal und Handstulpen. Liebend gerne hätte Korwin sich seines Gehrocks entledigt, aber dies hätte auf die Polizeidiener womöglich undiszipliniert gewirkt. Sein Halstuch lockerte er allerdings nochmals zwei Finger breit. Mehr ging nun wirklich nicht. Morgen würde er sich zweckmäßiger kleiden. Hier lief er schließlich nicht Gefahr, von einer Minute auf die andere ins Gericht beordert zu werden.

Ein Bursche von etwa dreizehn Jahren hockte mit einem Polizeidiener zusammen. Als er Korwin bemerkte, schnellte er vom Stuhl hoch, rumste die Hacken zusammen und salutierte. „Herr Middelberg, guten Tag. Ich bin Michel Strangen und ich bin Ihnen als Laufbursche zugeteilt. Als der Bote mit der Nachricht kam, dass Sie auf dem Weg hierher sind, habe ich Sie, wie angeordnet, bei Doktor Münzer angekündigt. Sollen wir gleich los?“

„Tüchtig, ich danke. Ich war bereits bei Münzer und ich habe auch schon Familie Bülles besucht.“

„Och.“

„Keine Sorge, es wird genug zu tun geben. Habe ich ein Quartier?“

Der Junge versteifte seine Haltung, nur eine vorwitzige Locke und ein Rußstreifen auf einer Wange störten das mustergültige Bild des heranwachsenden Stadtdieners. „Jawoll, Herr Middelberg. Sie logieren bei der Witwe Harländer in der Oppener Straße. Sie vermietet privat und ich habe das Zimmer ausgesucht, weil meine Tante Grete meint, dass Sie dort Ruhe haben werden und Frau Harländer eine saubere Person sei. Außerdem ist es von dort nicht weit bis zur Wache. Ihr Gepäck habe ich bereits bei Frau Harländer abgegeben. Ich soll von ihr ausrichten, dass Sie heute bei ihr zum Feierabend essen können, wenn Sie kein großes Souper erwarten. Sie können aber auch mit zu mir kommen, meine Tante Grete ist eine großartige Köchin.“

Erleichtert atmete Korwin auf. Insgeheim hatte er gefürchtet, dass er sein Gepäck in der Wache vorfinden würde. Gut, eine Sorge weniger. „Wir werden sehen. Unseren Feierabend müssen wir uns erst einmal verdienen.“

Der Polizeidiener begegnete Korwin mit skeptischem Blick. Wahrscheinlich hatte Michel ihm mit glühenden Worten berichtet, dass Korwin samt einer Reisetasche mit einem Expresswagen nach Haaren bestellt worden war. Gut, das mit dem Wagen stimmte, aber auf einen altgedienten Polizeidiener wirkte dies vermutlich hochmütig: Monsieur Höchst-von-Wichtig in Person.

Korwin konnte einfach nicht anders. Sein Blick fiel wie von selbst auf einen Teller, der auf dem Tisch stand und blieb dort. Es lagen allerlei Krümel darauf, aber auch eine zusammengeklappte Graubrotschnitte. Zwischen den beiden Hälften quoll goldgelbe Butter hervor. Dazu rosiger, fettglänzender Schinkenspeck. Korwin riss den Blick los. „Michel, gibt es hier einen Becher Wasser für mich?“

Der hagere Polizeidiener legte dem Burschen eine Hand auf die Schulter und schwenkte Korwin die Schnitte entgegen. „Sie seh‘n aus, als könnten Sie ‘ne Stärkung brauchen. Wasser gibt’s oder lieber ein Bier dazu?“

Korwin legte seinen Dreispitz ab, griff beherzt zu und dankte der Fügung im Geiste. „Danke, und gerne ein Bier.“

„Recht so!“ Der Hagere schenkte bernsteinfarbenes Bier aus einem Krug in einen Steingutbecher. „Und? Ham‘ Se den Mörder schon im Visier?“

„Nein.“

Dies war anscheinend genau die erwartete Antwort. Der Polizeidiener nickte bedächtig. „Das wird auch so schnell nich‘ geh‘n, sacht mir meine Nase. Haaren, wo Mademoiselle Bülles lebte, gehört zum Kanton Burtscheid. Würselen aber, da wo der Tanz stattfand, die Leiche gefunden wurde und die Gendarmerie steht, gehört zum Kanton Eschweiler. Beides liegt im Arrondissement Aachen im Departement de la Roer, doch es könnte Kompetenzgerangel geben.“

Der Mann hatte nicht unrecht. Dies war einer der Gründe, weshalb Korwin die Ermittlung übernehmen sollte. Allerdings hatte er die Vermutung, dass es nicht darum ging, zu verhindern, dass Haaren oder Würselen den Fall an sich rissen, sondern darum, dass sie ihn einander nicht wie eine unwillkommene Spielkarte zuschoben und die Mordermittlung am Ende im Sande verlief. Korwin kaute. Das Brot schmeckte deftig, das Bier war kühl und die Welt wurde gerade ein Stückchen besser. „Für Rivalitäten, ganz gleich, wie sie aussehen mögen, haben wir keine Zeit. Ich möchte darum bitten, dass von dem, was wir unter uns besprechen, nichts nach außen getragen wird. Kein Wort zu Ehefrauen, Freunden, Tanten und erst recht nicht zu Journalisten.“

Michel und der Polizeidiener nickten einhellig. Letzterer mochte Ende fünfzig sein und besaß das Gesicht eines Menschen, der schon viel erlebt hatte. Gewöhnlich schenkte Korwin Männeraugen keine Beachtung, doch die seines Gegenübers waren freundlich und ließen ihn sympathisch erscheinen. „Wie lautet Ihr Name?“

„Leo Blees.“

„Blees, haben Sie ein Blatt Papier, auf das Sie mir im Groben die örtlichen Gegebenheiten aufzeichnen können?“

Blees nickte, holte aus einer Schublade Gewünschtes hervor, leckte seinen Bleistift an und machte sich ans Werk. Mehrere, mit krummen Linien verbundene Kringel, die Straßen darstellen sollten, entstanden. „Kucken Se. Das hier ist Haaren, da wohnen die Bülles. Die lange Straße hier ist die Haaler Straße. Da oben, den Berg rauf, ist die Gaststätte Sturm.“ Der Bleistift hinterließ auf der Mitte der Haaler Straße einen schmierigen Punkt. „Mmh, die Familie Franzen …“

Michel nannte die Anschrift. Blees spitzte konzentriert die Lippen, zeichnete eine weitere Linie und versah sie mit einem Kreuz. „Hier. Ungefähr. Das ist in der Commune Würselen gelegen, Stadtteil Oppen.“

Korwin furchte die Stirn. „Dann hätte das Fräulein Franzen einen gewaltigen Umweg gemacht, nur um ihre Freundin abzuholen?“

„Das ist Mädchenklüngel“, erklärte Michel fachmännisch und lieferte die Erklärung sofort nach: „Weiß ich von meinen Schwestern. Die machten alles zusammen, manchmal gingen sie sogar zusammen zum Abtritt. Und so gewaltig war der Weg für das Fräulein nun auch wieder nicht. Nach Haaren hin geht’s ja bergab.“

„Aber nachher musste sie es wieder rauf gehen.“ Blees drehte den Bleistift zwischen seinen Fingern. Korwin trank sein Bier aus, faltete das Blatt mit der Zeichnung, brachte es in seiner Jackentasche unter und nahm seinen Hut. „Blees, Sie begleiten mich jetzt zur Gaststätte von Heiner Sturm. Ich will mir selbst ein Bild von den Örtlichkeiten machen und den Wirt befragen.“

Michels Schultern sackten. „Und ich? Abwaschen und kehren?“

„Ja. Aber später.“ Korwin griff in seine Innentasche, zückte eine leicht eselsohrige Besucherkarte und ließ sich Blees‘ Bleistift geben. Anfänglich hatte er die Benutzung dieser ausgeschmückten, bedruckten Kartonagen-Dinger belächelt, doch de facto hatten sich die Visitenkarten als praktisch erwiesen.

---ENDE DER LESEPROBE---