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Der Betreiber des kleinen Autofriedhofes in Dortmund, Hugo Ratke, war zu Lebzeiten ein finsterer Mensch, der für seine Mitmenschen selten ein gutes Wort übrig hatte. Stets war er darauf bedacht, seinen Vorteil zu erheischen und war dieser auch noch so klein. Er war unfähig, sich in eine soziale Ordnung einzufügen und sich hierin als soziales Wesen gestaltend einzubringen. Es gab niemanden, der sich freiwillig als seinen Freund oder guten Bekannten ausgab. Im günstigsten Fall sagten Mitmenschen aus, daß sie durch ihn keinen Schaden erlitten hätten. Eines Tages fand man Ratke erschlagen auf. Um sich Ärger und Fragereien zu ersparen, wurde die Leiche Ratkes kurzerhand gut versteckt So erfuhr niemand, dass er nicht mehr lebte. Fünfzehn Jahre später kommt die Leiche Ratkes wieder zum Vorschein. Die Dortmunder Kriminalpolizei nimmt ihre Ermittlungen auf. Der mit den Ermittlungen beauftragte Kommissar Bollmann ist ein wenig geübter Beamter, der sich zunächst in Spekulationen und Verdächtigungen verliert, ohne brauchbare Ergebnisse zu produzieren. Ganz langsam und auf Umwegen tastet sich Bollmann an die Wahrheit heran. Die Handlung spielt in der Großstadt Dortmund.
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Der Kriminalroman spielt in der Stadt Dortmund in den Jahren 1970 und 1985. Sämtliche Handlungen, Personen und Schauplätze sind frei erfunden.
Wichtige Personen
Hugo Ratke
Autofriedhofbesitzer in Grossholthausen
Erika Ratke
Frau von Hugo Ratke
Konrad Trautmann
Sohn aus erster Ehe von Erika Ratke
Egon Neuhaus
Pächter des Wirtshauses
Karin Latowski
einfache Frau aus Dortmund
Bernd Latowski
Sohn von Frau Latowski
Theodor Rohr
Gebrauchtwagenhändler in Dortmund
Otto Bachmann
Herr aus Hagen
Günter Sauer
Herr aus Witten
Karl Bollmann
Polizeibeamter in Dortmund
Der Autofriedhof Ratke in Grossholthausen
Sommer 1970
Verwandte
Eine Dienstfahrt
Das Erbe
19:07 Uhr, Sohn Konrad kommt
19:43 Uhr, im dunklen Keller
21:45 Uhr, auf dem Friedhof
Eine seltsame Entdeckung
15 Jahre später
Überall Bergschäden
Tage später
Der Wirt
Die Gewölbe
Detlef in Witten
Frau Latowski
Herr Theodor Rohr
Herr Bachmann in Haspe
Noch mal Frau Latowski
Wieder in Grossholthausen
Es geht weiter
Ein Verhör
Das Ende
Abschlussgespräche
Der Autofriedhof von Hugo Ratke in Dortmund-Grossholthausen gehörte zu jener Sorte von Autofriedhöfen, die es vor Jahren noch allerorts gab. Sie lagen oftmals verkehrsungünstig, immer etwas versteckt, die Auswahl an Fahrzeugen, die als Teilespender in Frage kamen, war oftmals unbefriedigend. Allerdings, wurde man fündig, so waren die geforderten Preise durchweg niedrig und fundierte Einbauhinweise gab es kostenlos.
Gerade was alte, unmoderne und unbeliebte Fahrzeuge betraf, waren diese Art Autofriedhöfe für viele Eigentümer die einzige Möglichkeit, ihre alten Vehikel preiswert betreiben zu können, zumal Ersatz an Teilen im Autohaus nicht mehr zu bekommen war oder absichtlich überteuert wurde. Die Kunden mussten nur die Standorte jener Autofriedhöfe kennen, die vielerorts auch alte Werksgelände, Eisenbahngelände, Lagerschuppen oder auch Fabrikruinen für ihre Zwecke gebrauchten, weil diese billig waren und von niemanden sonst nachgefragt wurden. Die Betreiber solcher Autofriedhöfe waren durchweg älter und immer schmuddelig bis schmierig, was die spezielle Gewerbeform und der gehandelte Gegenstand mit sich brachten.
Kenner dieser Materie gaben den Autofriedhöfen häufig markante Spitznamen, so wurde Hugo Ratke in Grossholthausen als "Alter Schwindler" bezeichnet, was auf eine bestimmte Form der Kundenbetreuung schließen ließ.
Ein anderer Autofriedhof, im nahen Witten, wurde beispielsweise als der „Hundefritze" bezeichnet, dies, weil der Inhaber seinen Kunden stets mit zwei struppigen, großen Hunden entgegentrat, was seiner Attraktivität nur wenig förderlich war. In seltenen Fällen war auch Personal auf den Autofriedhöfen anzutreffen. Dieses Personal war weniger eindeutig als seine Arbeitgeber zu beschreiben, da sich die unterschiedlichsten Kreaturen hier versuchten. Allen gemeinsam war jedoch, dass ein gewöhnlicher Arbeitsplatz von ihnen kaum einzunehmen war, weil sie häufig vorbestraft, logen, faul, unzuverlässig oder ähnlich ungünstig markiert waren. Bei Ratke arbeitete seit Jahren niemand mehr als Schrotthelfer auf dem Hof. Die Kunden setzten sich zum überwiegenden Teil aus Sparsamen, Studenten und Lehrlingen, aus Technikbegeisterten oder Allerwertsinteressierten zusammen, denen die spezielle Mobilität per intaktem Altauto ein dauerndes Anliegen war.
Ratke galt unter den Experten der Branche seit Jahren als zuverlässig und besser sortiert als der Durchschnitt. Bei ihm kam es in seltenen Fällen sogar dazu, dass ein komplettes und fahrtüchtiges Fahrzeug am Stück verkauft wurde. Auch hatte Ratke einige Stammkunden, die während der Betriebsperioden ihrer Fahrzeuge immer mal wieder ein Teil von ihm kauften oder ihn um Rat angingen. Stammkunden zeugten in dem hier beschriebenen Gewerbe von einer gewissermaßen nachgewiesenen Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit des Autofriedhofbetreibers und sicherten ihm regelmäßige Einkünfte. Das der eine oder andere Autofriedhofsbetreiber Stammkunden hatte oder nicht, ob er Fahrzeuge vollständig verkaufte oder mal wieder Widerstände durch die Polizei erfuhr, war in der Branche regelmäßig rasch bekannt. Waren die Friedhofsbetreiber gezwungen raus zu fahren, um beispielsweise ein Altauto abzuholen, richteten sie diese Kundenfahrten gerne so ein, dass sie an ihrer Route an möglichst vielen anderen Autofriedhöfen vorbei kamen. Auf einem Blick sah man gleich, was los war. Ratke selbst hielt auch schon mal an, ging auf den Hof und quatschte mit den Inhabern, die er schon seit Jahrzehnten kannte. Hatte Ratke dazu noch einen attraktiven Wagen aufgeladen oder im Schlepp, machten diese Besuche doppelt so viel Spaß, konnte man doch von seinen wirtschaftlichen Erfolgen erzählen.
Der bevölkerungsschwache Ortsteil Grossholthausen liegt im Süden der Großstadt Dortmund. Das bergig gelegene Grossholthausen ist zum überwiegenden Teil durch Land- und Forstwirtschaft sowie einer landschaftlich reizvollen Lage bestimmt. Zum Zeitpunkt der hier beschriebenen frühen Ereignisse, wurde die Autobahn 45, welche von Dortmund nach Frankfurt am Main führt, im südlichen Bereich der Stadt Dortmund fertig gestellt und zerschnitt Grossholthausen an seiner westlichen Grenze.
Ratkes Betriebsfläche lag gleich hinter dem Gasthaus ZUR ALTEN EICHE im Ort und dessen einprägsamen Anbau, einem im letzten Krieg ausgebrannten Tanzsaal, der das Auffinden und das Erfragen jenes Ortes stets erleichterte. Ratkes Büro und Wohnung lagen an der rückwärtigen Seite von Gasthaus und angrenzender Tanzsaalruine. Wohnung und Büro waren nach dem Krieg provisorisch im rückwärtigen Teil des Tanzsaales errichtet worden. Die ganze Wohnräumlichkeit bestand nur aus zwei gleich großen und schlecht belichteten Räumen. Die Toilette befand sich außerhalb der Wohnung. Im Hof von Ratkes Autofriedhof standen große alte Kastanien, die diesem das Sonnenlicht nahmen. Die Zufahrt zu Ratkes Hof ging von der ansteigenden Straße neben dem Gasthaus ab, welche in Verlängerung zum Waldfriedhof und zum Bahnhof Grossholthausen führte. Einen Namen besaß diese Straße nicht. Gegenüber von Ratkes Hofzufahrt lag ein Acker, der an zwei Seiten vom Waldfriedhof eingefasst wurde. An Ratkes Hof grenzte hinten bergan ein verwilderter Garten und an diesen wiederum grenzte ein ummauertes Grundstück mit Hühnerhaus, auf dem Berge von alten Autoreifen und anderem Zeugs lagerten und scheinbar keinen Besitzer hatten. Vielen in Grossholthausen war dieses Grundstück, welches gegenüber vom Friedhof und dessen Eingang lag, auch als alter Schießstand bekannt.
Hugo Ratke war, als das hier erzählte Unglück geschah, vierundsechzig Jahre alt, mittelgroß, mager, ausgezehrt und ebenso schmuddelig wie seine Zunftkollegen. Als ständige Kopfbedeckung trug er eine schräge Schlägermütze. Er nahm sie nur ab, wenn er zu Bett ging. Sein Charakter war ein Cocktail aus der Veranlagungen zu kriminellem Tatendrang, einer gewieften Bauernschläue, der latenten Angst erkannt zu werden, und der behänden Energie, sich möglichst in keine soziale Ordnung und Verpflichtung einzufügen, um hier verantwortlich und gestaltend mitzuwirken, da so ein bestimmter, ihm lebenswichtiger, Handel unterbunden wurde. Denn der Handel, egal mit was, das hatte Hugo Ratke bereits als Kind in seiner Heimatstadt Essen erfahren, ist die bequemste Art an das Geld der Leute zu kommen. Menschen wie er fanden sich bestens in allgemein ungünstigen Zeiten, wie in Kriegen oder Nachkriegsjahren, zurecht. Sein Instinkt lenkte ihn sicher durch Zeiten in denen gesellschaftliche Konventionen, Religion oder Moralkategorien wenig gefragt waren. In Zeiten der allgemeinen Sättigung, des wirtschaftlichen Wachstums und der kalkulierbaren Kontinuität, wirkten Gestalten wie Hugo Ratke wie die Verlierer dieser Epoche. In Wirklichkeit warteten sie nur, denn ihre Zeit kam.
Der hauptsächliche Zweck seines Gewerbes war es, Autos, zumeist ältere, verunfallte oder aus anderen Gründen preiswert gewordene, zu erwerben, diese zu reparieren, um sie mit Gewinn wieder zu veräußern, oder aber gleich, wenn nachgefragt, brauchbare Einzelteile anzubieten. In der Automobilbranche war Ratke seit 1945 in dieser Art tätig. Es ging die Vermutung, und am Stammtisch im angrenzenden Wirtshaus wurden Details hierzu erzählt, dass Ratkes Geschäfte häufig gesetzwidrig waren, da Betrug und Verdunkelung die Geschäftsidee leiteten. Aktuelle und anschauliche Beweise hierfür fanden sich jedoch nicht mehr. Seine Frau Erika war oftmals launisch und keifte schrill, was dann auch im Wirtshaus deutlich zu hören war. Stammkunden dort nahmen diese Geräusche schon nicht mehr wahr, zumal die Themen keine Abwechslung boten. Von vielen älteren Menschen im Ort wurde Frau Ratke stets bemitleidet. Es hieß da oft, die arme Frau, ja, die hat was mitgemacht oder der olle Ratke, das Schwein, der hat die auf dem Gewissen, dem müsste man mal dies und jenes antun… Fragte man mal als junger Mensch nach, wieso das so und so wäre, so wurde meistens geantwortet, das verstehst Du noch nicht, Kind, dazu müsstest Du den ollen Ratke länger kennen, dann würdest Du so manches ahnen... und überhaupt...
Was in den fünf bergigen Straßen von Grossholthausen allgemein bekannt war, war die Tatsache, dass Frau Ratke vor ihrer zweiten Ehe mit besagtem Hugo Ratke in besseren Verhältnissen gelebt haben soll, dies im nahen Herdecke-Schnee, zusammen mit einem gewissen Gottfried Trautmann. Auch soll sie früher eine sehr liebe, hübsche und umgängliche Frau gewesen sein, etwas, was später kaum mehr zu erahnen war, da sie nie richtig sprach, sondern die einfachsten Mitteilungen in einer Rhetorik hervorbrachte, die den Angesprochenen stets als Täter einer auf sie gerichteten, gemeinen Tatabsicht überführte und anklagte. Wollte etwa ein Junge aus der Gegend herabgefallene Kastanien aufsammeln, die auf der Straße vor ihrem Hoftor lagen, konnte es passieren, dass Frau Ratke ihn anging: "So, Du böses Kerlchen, Du klaubst die also immer zusammen! Bist Du nicht der Kurze vom ollen Holthaus? Was? Das wir die auch dringend brauchen, ist Euch allen ja kackegal, schleppt nur alles gleich fort von hier und schaffts zu Euch hinauf, ja schlagt mich nur tot, dann könnt 'a das Gelumpe aus der Drecksbude da auch gleich forttragen und verramschen." Dass Frau Ratke im Grunde ihres Wesens anders dachte und fühlte, war nur den älteren Bewohnern jener Gegend bekannt.
Ratkes hatten auch einen Jungen, Konrad Trautmann mit Namen, von Beruf Betriebswirt, welcher allerdings in Wuppertal lebte und zu dem Ratke kaum Kontakt und auch keine günstige Meinung hatte. Früher meinte Ratke, dass dieser Konrad lediglich ein Kostgänger sei und dass dessen Kosten niedrig zu halten wären. Konrads Kleidung und Äußeres waren damals auch allzu oft Ausdruck für diesen Kostenaspekt Hugo Ratkes. Konrad war das Kind aus der ersten Ehe von Frau Ratke. Hugo Ratke wurde so zu Konrads Stiefvater, hatte diesen jedoch nicht adoptiert. Frau Ratke liebte ihren Sohn Konrad über alle Dinge der Erde. Sie gab sich die Schuld dafür, dass sie es nicht zuwege brachte, ihm in seiner Kindheit ein gemütliches Heim zu bieten. Heute machte sie es glücklich zu wissen, dass ihr Sohn mit seiner Frau Cornelia und der siebenjährigen Tochter Petra sowie einem guten Auskommen in Wuppertal lebte. Allzu oft träumte sich Frau Ratke in deren Lebensverhältnisse und erlebte so gedanklich glückliche Momente in einer intakten Familie an einem schönen Ort. Nur selten geschah es noch, dass Frau Ratke von ihrem Sohn nach Wuppertal abgeholt wurde. Hugo Ratke hatte schon lange keine Freude mehr an seinem täglichen Broterwerb. Leider hatte er die meisten Jahre seiner Erwerbstätigkeiten nicht in die Rentenversicherung eingezahlt, nicht geklebt, und hätte von daher nur eine kleine und mickrige Sozialrente bekommen. Da erschien es ihm, dass sein Autofriedhof lohnender sei.
Ratke war schon früh auf den mageren Beinen. Auch hatte er die Nacht wieder schlecht und unruhig geschlafen. Unruhig und zappelig hatte er sich von einer Seite auf die andere gewälzt und war dann doch wieder aufgestanden. Ein Schluck Wein und eine filterlose Zigarette sollten Erleichterung bringen.
Er saß nachts am Küchentisch und guckte, den Kopf in die Hände gestützt, auf den dunklen Hof hinaus, die Nacht war lau und in den Kronen der Kastanien wog leicht der Sommerwind. Der Hof war im Laufe der Jahre für unzählige und verschiedenartige Fahrzeuge der letzte Standort ihres außerbetrieblichen Daseins gewesen, bevor sie dann Stück für Stück zu Grabe getragen wurden und ihre Bestandteile vorübergehend an gleichartigen Fahrzeugen angebracht wurden. Die Hüllen dieser Organspender wurden in unregelmäßigen Abständen von einem größeren Verschrottungs- und Abwrackbetrieb abgeholt. Dieser verkaufte wiederum größere Schrottmengen an einen großen Metallverwerter im Dortmunder Hafen, der seinerseits waggonweise den Schrott an die Hüttenwerke im Ruhrrevier verkaufte. Hugo Ratke aus Grossholthausen interessierten solche Wirtschaftskreisläufe weniger, er starrte matt vor sich hin, hing quälenden Gedanken nach. Es waren immer die gleichen und überschaubaren Gedanken: Hätte er nur nach dem Krieg richtig angefangen, nicht in diesem unbekannten engen Hinterhof, zentral gelegen, richtig mit Büro und Kassenbuch und anderen geschäftsfördernden Eigenschaften mehr. Er dachte immer an andere, an die, die es geschafft hatten und heute angesehen waren, deren Wort etwas galt, die ihre Frauen und Familien sonntags in großen und bequemen Wagen spazieren fahren konnten. Er dachte an Menschen, die ihn als Lumpen und Verbrecher behandelten, an Leute, die immer besser und sauberer als er gekleidet waren - kurz, Ratke dachte voller Hass und Neid an Dinge und Menschen, die sich in einer Welt befanden, zu der er keinen Zutritt hatte. Er dachte an den ersten Mann von Erika, einen Mann, gewaschen und sauber, der Erfolg, Glück, Geld und die damals schöne Erika besessen hatte. Ratke hatte mit der Heirat Erikas auch deren Vermögen und die erheblichen Ersparnissen mitbekommen. Er hatte diese gedankenlos für Konsum und Lebemannartikel verbraucht, soweit dies 1942 möglich war, er hatte vorsätzlich nicht investiert.
Er stand auf und ging gebeugt durch das spärlich ausgestattete Wohnzimmer, welches zugleich auch das gemeinsame Schlafzimmer war, Erika gab keinen Mucks von sich, er öffnete die fensterlose Haustür und trat in den dunklen und ungepflasterten Hof hinaus. Sein spätes Ziel war, wie so oft, die kleine Bretterlaube an der rückwärtigen Grenze zum verwilderten Garten, umgeben von Büschen, Müll und Fahrzeugteilen. Ratke schlurfte in ausgetretenen Schlappen und in kurzen Schritten in den unbefestigten Hof, er hielt sich an der Seitenbracke seines Lieferwagens fest und riss die Augen unnatürlich weit auf, um den Weg zur Laube zu erkennen. Hier saß Ratke dann und hörte im vagen Halbschlaf das ruhige und seichte Rauschen und Wogen der Bäume. Auch schienen Katzen in kurzer Entfernung ihre alljährlichen Paarungsspiele durchzuführen - das Rennen, enthemmte Schreien und Keifen der Viecher war unerträglich und anhaltend, es erzeugte in Ratke eine dumpfe Tötungsabsicht. „Hätte ich die Scheißviecher doch gleich ersäuft, hätte ich meine verdammte Ruhe jetzt!“, Ratke sprach gegen die Bretterwand. Das wenige Licht, das zu Ratke in die Laube drang, kam von den Straßenlaternen der Kruckeler Straße, die vor dem Gasthaus verlief und von den Laternen der nahen Straße Am Ballroth. So döste Ratke vor sich hin. Auch fingerte er ohne hinzusehen an seinem alten Motorrad rum, dass hier untergestellt war und das Überleben der Laube seit Jahren sicherte. Später war er noch eingeschlafen und hockte laut schnarchend auf der schmalen, grünen Bank in der Laube, Arm und Schulter an den Lenker des Kraftrades gestützt.
Der Morgen graute bereits, als Ratke während des Schlafes Drehungen versuchte und das Gleichgewicht verlor, vornüber von der Bank fiel und auf den plattierten, verdreckten Boden aufschlug. Benommen wuchtete er sich auf und schlurfte aus der Bretterlaube in den Hof, der hier direkt an der Laube durch Gras und niedriges Gebüsch nicht nutzbar war. Vorbei an Autowracks, Müll und Schrott ging Ratke auf den hölzernen Abort neben der Werkstatt zu. Hier hatte er ungewöhnlich starken und schmerzfreien Stuhlgang. Er ging zurück ins schmucklose und enge Haus. Seine Frau schlief noch, jetzt auf dem Rücken, laut schnarchend, der mit wenigen Zähnen ausgefüllte Mund ging auf und zu. Die sonst zu einem Dutt gebundenen grauen Haare, lagen wirr unter ihrem Kopf. Ratke bettete sich schwerfällig neben sie, hiervon erwachte sie und guckte ihn ärgerlich an. Stunden später, am frühen Vormittag, Ratke kam durch Erwachen in sein unerfreuliches Leben zurück.
"Hugo…! Hugo!", seine Frau rief aus dem Hof nach ihm, das Küchenfenster stand offen, "Hugo, komm' mal her, mal nach draußen!" Ratke lag bekleidet im Bett. Er bog sich hoch und schleppte sich hinaus, mechanisch tapste er vor. Völlig ermattet fand er sich ihm Hof wieder und versuchte seine Frau in dem Dickicht von Grün, Braun und Schrott zu erkennen; die Hände hielt er vor das Gesicht und guckte durch die ledernden Finger. Die Sonne stand jetzt südlich, über Friedhof und Wald hinweg leuchtete sie durch das Blätterwerk der Bäume fahl in den Hof und blendete Ratke schmerzlich.
"Guten Tag…", wurde Ratke aus dem vielen Licht heraus angesprochen, "für 'n Käfer 'nen Anlasser und 'ne Lichtmaschine, habt Ihr das da?" Ratke kratzte sich den Kopf, guckte auf den Boden, dann nach oben und erkannte einen jungen Kerl vor sich. Ratke musste plötzlich noch mal zum Klo, jetzt sogar sehr dringend.
"Ja, äh, Moment, komme gleich wieder, ...muss mal sofort kacken, jetzt!" Er ging zum stinkenden Holzverhau neben der Werkstatt. Er setzte sich auf den Bretterkasten und zündete auch gleich wieder eine Zigarette an. Zigaretten trug er immer bei sich. Es gab für ihn keinen Grund, keine bei sich zu tragen. Das Rauchen wirkte wieder Wunder: Rauchte Ratke während des üblichen, morgendlichen Stuhlganges eine filterlose Zigarette Marke ECKSTEIN, so klappte dieser zuverlässig, zügig und erprobt.
Als Ratke zurückkam, stand der jugendliche Kunde vor einem grauen Käfer älterer Bauart, den Ratke erst Tage zuvor hingestellt bekommen hatte, erfreulicherweise mal ganz umsonst. Dies, weil der Besitzer, der im selben Ort lebte, verstorben war und die Auflösung seiner Wohnung ohnehin genügend Arbeit und wenig Ausbeute bot, so dass die Verwandten keine Zeit mit Zeitungsofferten verlieren wollten, zumal ihnen der Wagen auch schon betagt und ungefragt erschien.
"Na...", sprach Ratke ihn an, "kommt denn der feine Wagen hin?"
"Ausgebaute Klamotten wären mir lieber, glaub' ich", meinte der freche Bursche leichthin.
"So, hat die bequeme Jugend wieder keine Lust sich schmutzig zu machen!", fuhr Ratke auf und kramte wieder das grüne Zigarettenpäckchen mit der markanten weißen Zahl fünf auf schwarzem Rechteck hervor.
"Kann auch sein, dass das Zeug noch so da ist, muss ich mal erst gucken, hinten."
Ratke ging in die Werkstatt, die auch Lager war und sich neben dem Toreingang zur Straße befand. An diesen Ziegelbau grenzten früher zum Gasthaus hin die außen liegenden Toiletten des Gasthauses. Die Toiletten waren als Fragmente, teils noch mit Schüsseln, ohne Dach, vorhanden. Besonders Ratten hatten diese für ihren dauernden Aufenthalt entdeckt.
In der Werkstatt flammte grelles Licht auf. Ratke hatte, um ausreichend Licht zu haben, den Schweißbrenner angezündet und wedelte mit der Flamme umher, eine nicht ganz ungefährliche Lichtquelle in Anbetracht der zahlreichen, leicht brennbaren Flüssigkeiten, die überall ungeordnet und auch geöffnet herumstanden. Die Deckenbeleuchtung der Werkstatt war seit Wochen ausgefallen, da Ratke beim Hereintragen einer großen Wagentür, diese leider an der Decke zerschlagen hatte. Nun passierte es, dass Ratke mit dem Einsetzen der täglichen Dämmerung regelmäßig die sonst dunkle Werkstatt verließ, statt hier, wie sonst gewohnt, Teile für den unterhaltswichtigen Verkauf herzurichten. Auch hatte er bereits versucht, die Glühlampe zu erneuern. Hierbei war er aber leider von der Leiter gestürzt. In dem völlig dunklen Raum hatte er abends eine wackelige Klappleiter aufgestellt. Als er diese mit der Ersatzglühlampe bestiegen hatte, konnte er nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen, so dunkel und schwarz war der Raum oberhalb der drei Sprossenfenster. Ratke ruderte mit den Armen in die Dunkelheit, um die Deckenleuchte zu angeln, hierbei verlor er unglücklicherweise das nötige Gleichgewicht und fiel auf einen Stapel glatter Motorhauben. Er hatte zunächst Glück, da der Stapel ihn federte und ihn die glatten Flächen aufnahmen. Nur die hinter ihm her fallende hölzerne Leiter, die ihm auf das Gesäß schlug, verursachte schlimme Schmerzen.
"Komm' mal her, Kerl!", schrie Ratke in die Flamme, selbst völlig geblendet.
Der Bursche ging zu ihm hin. Wenig später kamen beide aus der Werkstatt. Ratke trug den Anlasser und der Bursche die begehrte Lichtmaschine.
"Und wenn die nicht mehr gehn, beide?", fragte der junge Bursche und guckte Ratke fragend an.
"Dann bringste den ollen Krempel wieder her, dann holste aus dem grauen Karren da vorne was raus." Der Bursche wog die öligen Schätze in seinen Händen: "Sind die auch vom 34-PS?", wollte er zum dritten Mal hören.
"Ist doch scheißegal, ob vom 34-PS oder vom 30-PS, passt doch eh alles gleich", räumte Ratke sämtliche Bedenken laut beiseite. Einfache Geschäfte, die solche Fragen nach sich zogen, mochte er nicht leiden.
"Ne, ich mein', die Klamotten könnten ja auch vom Fünfzehnhunderter sein oder so." Ratke hustete auf und lehnte sich gegen die Kastanie im Eingangsbereich des Hofes, "Ach was, ist nicht, glaub' mir, Junge!"
"Was sollen die Brocken kosten?", Die zentralste Frage zu diesem Zeitpunkt auf dem Hof. Ratke zögerte nicht, er war ein erprobter Fachmann, diese Art Fragen beantwortete er seit Jahrzehnten zuverlässig: "Zusammen vierzig Mark!"
Der Bursche wog wieder beide Elektrobauteile in seinen nun öligen Händen, er drehte sie und besah sie sich. "Moment mal", der Bursche trug die Bauteile zu einem vor dem Hof abgestellten Kombiwagen und versorgte sie hinter der Heckklappe.
Ratke war gleich mit gekommen, man wusste ja nie. Er erhielt das Geld und ging wieder auf den Hof.
"Wolltest Du noch Kaffee trinken?" rief ihn seine Frau aus dem Küchenfenster an, "dann komm' gleich rein, sonst räume ich alles weg.“ Sie meinte die Frühstücksutensilien, die sie vorher für ihn hatte stehen lassen. "Ja, ja, ich komm' schon." Er ging schlaff ins Haus. Wieder fuhren, laut hörbar, mehrere Fahrzeuge die Straße zum Friedhof hinauf. Ratke horchte auf. "Wieder einer abgekackt, was, gleich mal da gucken gehen." Er schluckte Kaffee und aß eine Schnitte mit Rotwurst und Senf. Von der Kneipe her drangen verzerrte Stimmen zu ihm. "Was brüllt denn der fette Neuhaus wieder? Oller Sack. Gleich kommen sie wieder alle zum Fellversaufen vom Friedhof runter, dann füllen sie dem ollen Arsch wieder die Kasse gut auf."
Das war üblich. Wurde auf dem nahen Friedhof jemand beerdigt und die Beerdigung durfte mehr als nur die notwendige Verbringung der Leiche samt Sarg in der Erde kosten, so wurde im örtlichen Gasthaus ein anschließendes Kaffeetrinken bestellt. Einzelheiten, die sich in Ratkes unmittelbarer Nachbarschaften dauernd abspielten. Ratke konnte Herrn Neuhaus, den Wirt, nicht leiden. Der sah so solide und solvent aus und fuhr ungerechter Weise einen schönen und fast neuen Mercedes in weißer Lackierung, eine Fahrzeug- und Kundenkategorie, die Ratke nur vom Hörensagen kannte. Zudem hatte der Wirt Neuhaus ihren Verpächter Herrn Redlich erst kürzlich danach gefragt, ob der ausgebrannte Tanzsaal und der Hof vom Ratke, nicht für einen schönen Biergarten herhalten könnten, mehr Pacht wäre so auch allemal drin. Ratke hatte dies von Frau Redlich gehört. Diese saß oftmals nach der Sperrstunde mit anderen alten Grossholthausern in der Kneipe und trank Schnaps aus großen Gläsern. Wieder mal als Ratke keinen Schlaf fand, stand er mit runter hängenden Hosenträgern am Hoftor und guckte die Straße runter, rauchte und führte Selbstgespräche. Das Schnapstrinken im Gasthaus war beendet gewesen und Ratke hörte, wie die Tür der Kneipe aufgestoßen wurde. Plötzlich kam jemand den Weg zu ihm hoch. "Wer steht denn da?" wurde er unerwartet gefragt, "Hugo, Du?" Er hustete, hieran wurde er erkannt. Frau Redlich kam auf ihn zu, auch sie rauchte. "Warte kurz", sie ging ein Stück höher und setzte sich an die Ackerfurche, um zu urinieren. Ratke konnte erkennen, wie sie sich abhockte und mit der Zigarettenkippe im Hals ihre Notdurft verrichtete. Sie kam zurück.
"Na, Hugo, was ist, erwarteste noch spezielle Kundschaft?" Frau Redlich fragte dies ohne Ironie oder Anzeichen von Belustigung, sie kannte sich aus im Leben. Sie roch nach Wirtshaus und Schnaps.
"Nö, ne, kann nur nicht wieder pennen." Er wusste sonst nichts zu berichten und rauchte weiter. Frau Redlich tat es ihm gleich.
"Ja, Hugo..., vielleicht wäre es doch günstiger den Betrieb einzustellen, ne, bald."
Hugo glotzte unschlüssig vor sich hin, "warum, läuft doch noch 'n bisschen?"
Ratke ahnte sogleich instinktiv irgendwelche Argumente gegen seinen Betrieb. Frau Redlich wollte Dinge zu ihm sagen, die er schon vor Zeiten erahnte. Solchen Gesprächen wich er stets aus, er hatte Angst entfernt zu werden, Angst, dass sich etwas änderte und dass ihm diese Veränderungen keinerlei Vorteil brachten. Er wusste, dass er andernorts keinen Fuß mehr fassen konnte.
"Mein Helmut meint, der Neuhaus könnte mehr raus schlagen, aus den ollen Ruinen hier."
"Daher Dein Ratschlag, ...ne' ist nicht, kannste ihm ruhig erzählen. Der fette Neuhaus soll sich in seinen Räumen abrackern, ich brauche den Platz doch selbst."
"Von mir aus kannste den halten, bist 'e da oben auf 'm Friedhof einsachtzig unter der Erde liegst und verschimmelst, Hugo, ich wollte es Dir nur sagen, für alle Fälle mal."
Hugo Ratke hatte einen leiblichen Verwandten. Einen jüngeren Bruder, Ludwig Ratke. Der Bruder Ludwig war verheiratet mit Selma, geborene Fingerhut. Ratke sah seinen Bruder und seine Schwägerin unregelmäßig in zwei bis fünf Jahresintervallen, selten öfter. Ludwig Ratke lebte in Essen-Altenessen. Dort betrieb er seit Jahren eine Trinkhalle. Kinder gab es keine, nur einen kleinen Hund besaßen sie.
Eines Tages kamen Ludwig und Selma auf Besuch. Sie waren von Essen-Altenessen mit der Straßenbahn bis Essen Hauptbahnhof gefahren. Von dort mit dem Zug bis Dortmund Hauptbahnhof und von dort mit dem Zug nach Löttringhausen, von wo aus sie mit dem Schienenbus bis nach Grossholthausen gefahren kamen. Für die sonst etwa vierzig Autokilometer waren sie zweieinhalb Stunden unterwegs gewesen. Sie kamen die Straße am Friedhof runter gelaufen und standen plötzlich im Hof.
Ratke schraubte an einem Lieferwagen und lag unter diesem auf dem Erdboden des Hofes. "Tach, ihr zwei", begrüßte er Bruder und Schwägerin, "lange nicht gesehen, Euch." Ratke schraubte sich hoch und putzte sich die Hände an einem Lappen ab, "...dann kommt ma' rein." Ratke zündete sich eine Zigarette an. Ludwig holte BÜRGERSTUMPEN, preiswerte, grünliche Zigarren, aus der Jackettasche hervor.
"Und, wie laufen die Geschäfte?" fragte der nahe Verwandte und ging im Hof umher.
"Och, geht so. Reicht für 's Fressen. Habe grad 'n Opel in der Mache, vom Klempner aus Annen. Bin morgen früh fertig; ja, guck an, bringt auch dreihundert Märker bar auf die Kralle, für 'n Getriebe, hatte ich noch liegen seit Zeiten."
"Ja, dann geht 's doch einigermaßen, Hugo."
Ratke mochte es, von solchen vorteilhaften Geschäften zu berichten. "Ist aber eher die Ausnahme, solch' feine Arbeit, sonst ja eher nur der Verkauf von Brocken, ne."
Ludwig blieb vor einem Kleinwagen stehen und besah sich diesen. "Läuft der Karren?" Ludwig öffnete die Fahrertür. "Sicher“, Ratke blieb mitten auf dem Platz stehen und schmauchte an seiner Kippe, "...hat sogar noch TÜV, wurde mir kürzlich auf den Platz gestellt." Ratke sah, dass sein Bruder interessiert und gewissenhaft das graue Vehikel untersuchte und überall fingerte.
"Für den habe ich noch richtig Geld zahlen müssen“, log er, "...weil, da war auch schon ein Kunde hier, der interessierte sich sehr für den schönen Wagen." Verschenken wollte Ratke den Wagen auch an seinen Bruder nicht. Ludwig nahm im Wagen Platz. Er klappte die Sonnenblende auf und ab. Ratke stand vor der Haube, "lass' mal an, der Schlüssel steckt doch."
Ludwig drehte am Schlüssel, der Wagen ruckte nach vorne und stieß gegen Ratkes Knie, "Mann, mach doch den Gang raus!"
"Ja, ja, bin aus der Übung." Der Heckmotor brummte auf.
"Der summt kräftig, was!" Ratke setzte sich auf den Beifahrersitz.
Frau Ratke kam in den Hof. "Der Kaffee wird ja kalt, ...könnt' ja gleich weiter rumfuhrwerken." Frau Ratke schüttete frischen Kaffee ein. Für Ratke war das Kaffeetrinken der richtige Rahmen für ein Reklame- und Verkaufsgespräch, also für das häufig geübte Aufsagen von Vorteilen des betreffenden Fahrzeuges. Ratke arbeitete sich vor. "Und, Ludwig, was wirft die Trinkhalle so ab, die haste doch noch da in Essen, oder?"
"Sicher, die gebe ich bestimmt nicht so schnell auf, in der guten Lage da. Täglich zieht der halbe Ort vorbei. Erst die von 'ne Zeche alle, dann die von 'ne normalen Maloche, vom Stahlwerk, dann die Blagen von 'ne Schulen, auf 'm Hinweg und hinterher alle noch mal zurück, auch wieder bei mir vorbei. Die Straßenbahnhaltestelle ist da auch noch vorne an, ...ne, ne, da hab' ich einen richtigen Glücksgriff getan, damals als der olle Sadolewski aufhörte, nicht mehr konnte, ne, läuft klasse."
Der Preis des Wagens stieg, die Vorteile kaum alle zu benennen. Ratke dachte über tausend Merkmale nach, warum sein Bruder gerade diesen Wagen dringend benötigte. Ludwig setzte seine Lage- und Standortbeschreibungen fort, Ratke konnte nicht mehr folgen. Ludwigs Redestrom speiste unaufhörlich seine gedanklichen Bemühungen, den Wagen an Ludwig loszuschlagen. Der Bruder hatte Geld, was er anlegen wollte, Ratke konnte ihm dafür automobile Beweglichkeit bieten.
"Hört mal", setzte Selma an, "Erika und ich gehen gleich ein bisschen zum Friedhof hoch, ein bisschen spazieren. Ihr könnt ja noch rumwurschteln hier." Ludwig brannte einen neuen BÜRGERSTUMPEN an. "Äh, liebste Selma, Schatz, mein Bruder Hugo hat einen schönen kommoden und bequemen Wagen, einen erstklassigen Renault, der ist gut, gefällt mir sehr..., was hältste davon? Können wir uns doch jetzt leisten, jetzt wo wa' doch..." "Ein Auto? Ich weiß nicht, obwohl, ach ist mir auch egal, eigentlich, wenn 'e meins."
Ludwig erhob sich von der Kaffeetafel. Ratke tat es ihm gleich. Beide gingen raus. "Am liebsten würde ich mit dem mal fahren." Ludwig ließ den Motor an und gab Gas. "Rück mal rüber“, Ratke setzte sich auf den Fahrersitz, sein Bruder auf den Beifahrersitz. Sie rumpelten bis zum Tor. "Mach' mal auf, das Dingen“, wies Ratke den Bruder an. Im grauen Renault fuhren sie die Straße hoch. Ratke beschleunigte stark. "Der zieht, was! Ja, ein guter Wagen!"
"Lass mich mal, komm." Sie tauschten die Plätze. Auf Höhe des Friedhofes fuhr der Bruder an, zum Bahnhof hoch. Er bog rechts ab, fuhr über die Bahnbrücke und befuhr dann die Straße, entlang der Eisenbahn. "Oh, wirklich, der ist gut, wunderbar sogar." Ludwig war begeistert. "Fahr' mal hier scharf links, den Berg rauf." Ratke wollte die Bergsteigfähigkeit des Wagens demonstrieren. "Und, was willste haben, ich mein' für den Wagen hier?"
"Also, Du bist ja mein Bruder, hast mir zwar nie viel genützt, ... aber weil Du es bist…, na, komm, sagen wir tausend! Na, ist das was?" Ratke wollte den Spendablen mimen.
"Ja, wenn das ein guter Preis ist? Ich kenne mich doch gar nicht damit aus, Hugo."
"Ludwig, der Preis stimmt. In jedem Autohaus würdest Du mehr löhnen für einen so erstklassigen Wagen, der kaum zehn Jahre alt ist, glaub mir. Ich mach kaum Gewinn an dem Karren, ne, das ist schon alles so in Ordnung." Ratkes Gewinn betrug etwa eintausend Mark bei diesem Preis.
"Du, fahr doch ma' hier links und wieder links und nochmal links. Hier vorne ist eine Tankstelle. Wollen doch gleich ma' tanken." Sie fuhren an eine ARAL-Tankstelle ran.
"Für 'n Zehner bitte Normal." Der Tank wurde befüllt.
Später auf dem Hof öffnete Ratke die Heckklappe und zeigte den Motor vor. "Nichts undicht, alles sauber, nix kaputt."
"Kann ich den Wagen heute schon nach Hause fahren, ich mein' wegen der Nummernschilder?"
"Das sind noch die vom Vorbesitzer, musst Du nur ummelden, hätt' ich schon machen müssen, bin ich aber nicht zugekommen, bei dem ganzen Trubel hier."
An diesem Tag wurde noch eine Flasche Wein geöffnet und der günstige Verkauf des Wagens an Ludwig begossen. Die eintausend Mark wollte Ludwig in den nächsten zwei Tagen persönlich vorbei bringen.
Das Telefon läutete. Ratke griff nach dem Hörer. "Ja, Ratke hier."
Ein Altautoanbieter meldete sich. "Einen Lieferwagen hätt' ich hier noch stehn, könnt' a abholen bei uns, ist schon ein älteres Modell, leider." Ein durchschnittliches Angebotsgespräch begann seinen Lauf.
"Was ist denn das für 'n Apparat?" wollte Ratke wissen.
"Ja, das ist so ein Dreirad, vom Vater, der hatte 'ne Klempnerei, ist aber jetzt gestorben, der arme Vater, und das Dingen muss weg, stört nur hier am Platz."
"So, ein Dreirad! Modell TEMPO oder GOLIATH? Und wie sieht 's denn noch so aus?"
"Ja, das ist eine grüne TEMPO-Pritsche mit Plane und Spriegel und läuft auch noch wie 'n Dopp, der Apparat. Muss man sich mal begucken, is' ja klar, ne, hier, steht auf 'm Hof. Und der Preis, wissen 'se, kann noch bequatscht werden, nicht viel in jedem Fall."
"Ja, gut denn. Komm' ich am besten ma' vorbei. Vielleicht gleich noch, muss sowieso noch weg. Wo wohn 'se denn überhaupt?"
Ratke notierte gleich die Anschrift. Im nahe gelegenen Schwerte stand das angebotene leichte Nutzfahrzeug. Ratke rief nach seiner Frau Erika, diese stand im Hof und hängte Wäsche auf. "Ich muss ma' nach Schwerte runter, da hat mir so 'n Kerl einen TEMPO angeboten, so einen Apparat wie wir auch haben, da fahr' ich denn gleich ma' hin, ne."
"Ja, wenn 'e meinst. Aber viel verkaufen kannste ja von diesen ollen Karren ja nicht mehr an die Leute."
"Erst mal hingurken und gucken gehen. Vielleicht kriege ich das Dingen ja umsonst, und umsonst nehme ich fast alles, hab' ja noch Platz!"
Ratke war nicht gleich unfreundlich geworden, war nicht in die Luft gegangen, wegen des schwachen Einwandes seiner Frau, wie sonst. Erikas Hinweis wäre sonst deutlicher abgewendet worden, etwa in der Art: "Ach, Du, was weißt Du denn von solchen geschäftlichen Dingen, he? Olle Tucke, häng' lieber die Wäsche auf und Dich gleich daneben, wenn 'e mal was richtig machen willst..."
Ratke zurrte im Hof die hängenden Hosenträger über die knochigen Schultern. Als Oberbekleidung trug er wie gewöhnlich ein langärmliges graues Unterhemd. Er zog seinen grauen Kittel über die zivile Montur. Mit der Zigarette im Hals verließ er die beengten Häuslichkeiten, ging über den vormittäglichen, im Schatten liegenden Hof und kletterte in seinen Lieferwagen. Er schob das Seitenfenster zurück und blies gezielt den Zigarettenqualm hinaus. Ratke ließ rappelnd und qualmend den kleinen Karren an. Er trat das Gaspedal mehrmals weit durch. "Erst ma' richtig durchblasen, die Maschine “, dachte Ratke, "bevor es ins Gebirge geht."
Im Hof standen blaue Wolken unter den Kastanien. Die Sonne stand im Süden und warf ihr Licht durch das Blätterwerk der alten Bäume. Gerade Lichtstrahlen gingen hindurch bis auf den Hofboden. Der Staub des Hofes und die blauen Auspuffemissionen färbten die einfallenden Sonnenstrahlen blau ein.
Die Karre sprang heulend zum Tor. "Scheiße verdammte, ...olle Kacke!" rief Ratke, „immer ist das Drecksdingen zu, wenn ich eilig weg will!" Er stemmte die Wagentür auf, wuchtete sich vom Wagen und ging zum grünen eisernen Hoftor, riss es auf und warf es gegen die Werkstattwand. Da das Tor kaum mehr in den Angeln drehte und schwer auf dem unbefestigten Hofboden auflag, war die erzeugte Aufprallwucht gering. Anders erging es dem Wagenschlag, der stets an der gleichen Stelle aufgeworfen wurde, da Ratke das Öffnen des Hoftores stets gleich vornahm, wenn eine Ausfahrt anstand. Die hinten angeschlagene Wagentür krachte mit Regelmäßigkeit gegen die bruchsteinerne Werkstattwand. Die Folge war, dass die Drehklinke der Wagentür halb abgebrochen und durch die Aufschläge nur schwer zu bedienen war. Regelmäßig sorgte dieser Umstand bei Ratke für massive Hassanfälle, die sich in schweren Fußtritten gegen seinen Lieferwagen entluden.
Ratke lenkte den Wagen in Richtung Dortmund-Schnee. Der Wagen war unbeladen, ein wichtiger Umstand. Ansonsten hätte Ratke kaum das steile Gefälle an der Brauckstraße mit seinem Gefährt als Wegstrecke gewählt. Vor Jahren war es passiert, dass Ratke an dieser Stelle mit seinem Wagen ein Unglück erlitt.
Bei dem genannten Unglück war es passiert, dass Ratke seinen schlecht beleuchteten Wagen schwer beladen in der Dunkelheit den Berg hinab fahren wollte. Ratke war zu diesem Zeitpunkt sehr aggressiv in seinem Wagen gesessen und wollte den Wagen quälen, ihn bestrafen, für Unrecht und Unglück, welches ihm, dem Ratke, unlängst widerfahren war. So lenkte Ratke den Wagen damals bergab und gab wütend Gas. Er wollte sogleich vom zweiten in den ersten Gang schalten, um den Motor noch höher, der Bestrafung wegen, drehen zu lassen, wollte sofort aber wieder abbremsen. Da geschah es, das aus einer rechts liegenden Hausausfahrt rasch ein Moped angefahren kam und Ratke sich hier wegen sehr erschrak. Ratke reagierte spontan und lenkte nach links, bekam in der Hast den gewählten ersten Gang nicht eingelegt. Der Wagen eierte nach links, Ratke lenkte nach rechts, der Kurs stabilisierte sich und die Geschwindigkeit erhöhte sich drastisch auf nahezu vierzig Stundenkilometer. Am Fuße des Berges hätte Ratke dem Straßenverlauf nach links folgen müssen. Ratke wollte folgen, konnte dies nicht mehr, da der dreirädrige Karren in der Kurve nach rechts zur Seite auf das angrenzende Feld kippte, dies nicht zuletzt wegen der schweren Beladung. Das Moped war längst fort, hatte die Gefahr wohl nicht bemerkt. Ratke lag in seinem Wagen, die Zigarette im Mund zerdrückt. Nach einer ganzen Weile der Benommenheit, hatte er sich in der Wagenkabine aufgestellt und die Fahrertür, welche nach oben lag, aufgeworfen. Ratke unterfasste die Einstiege und zog sich ächzend hoch. Erst lag er auf den Seitenblechen der Motorhaube und ließ sich dann auf den weichen Boden herab. Sogleich sackte er zusammen, der Schock setzte ihm zu.
Später wurde Ratke durch aufmerksamen Straßenanwohner geholfen. Der Wagen aufgerichtet, die Ladung befestigt und Ratke mit Schnaps in das Gleichgewicht und in das abendliche Leben zurück gebracht.
Zurück zur besagten Kundenfahrt nach Schwerte. Ratke befuhr den Berg sehr langsam und beachtete die Hausausfahrten, stets bereit den Wagen abrupt zu halten. Den Berg ging links ein Mann hinunter, Ratke sah ihn an. Ratke fuhr langsam an ihm vorbei, drehte sich nach ihm um und erkannte einen frühen Bekannten. Er rief durch das geöffnete Fenster: "Heinrich! Heinrich!" Der derart angesprochene Heinrich wandte sich zum Wagen.
"Ja, Hugo, was machste hier bei uns, Geschäfte, auswärtige?" Ratke hielt. Heinrich kam zu Ratke an das Wagenfenster. "Ich muss nach Schwerte gurken, mir 'nen Wagen angucken. Und Du? Machst einen auf rüstigen Rentner, ne? Hab' ich schon erzählt bekommen." Heinrich brachte seinen erloschenen Stumpen, der aus dem Mund lugte, paffend zum Glühen. "Ja, jetzt bin ich Rentner. Über vierzig Jahre Pütt langen allemal hierfür. Wenn ich noch 'n paar Jahre am Kacken bleibe, will ich mich auch nicht weiter beschweren, bei dem da oben“, Heinrich lachte und hustete und zeigte nach oben zum lieben Gott. "Und deine Olle?" fragte Ratke, "die Irene, die schöne Irene!“, Ratke sprach Heinrich derart auf vergangene Tage und gemeinsame Eindrücke an.
"Was soll sein? Die hab' ich noch, was auch sonst. Die Schönheit ist flöten. Du bist ja auch nicht mehr zu reparieren, Hugo, he, he."
"Ja, ja, sicher, alles verbraucht an einem. Wo willst 'e denn hin, Heinrich?" "Ach, so 'n bisschen rumlaufen nur, weißt 'e."
"Komm' schon, steig' ein, ist ja dann auch egal wohin." Heinrich stieg zu. Der Wagen rollte an, die besagte Linkskurve wurde in sicherer Schrittgeschwindigkeit passiert. Ratke beschleunigte, die kleine Maschine heulte auf. Der Wagen qualmte hierdurch erheblich aus dem dünnen Auspuffrohr. Zum linken Seitenfenster zog Zigarettenqualm und zum rechten Seitenfenster Zigarrenqualm ab. Der Wagen und seine Insassen waren im Ort zu riechen. Die Fuhre erreichte die kreuzende Hauptstraße. "Jetzt guck Dir das an, Heinrich. Links und rechts stehen 'se wieder wie die ersten Menschen mit ihren Scheißwagen!" Die Straßenkreuzung war für Ratke unübersichtlich, nicht nur wegen der stark verschmutzten und verkratzten Windschutzscheibe. Rechts befand sich das bekannte Gasthaus HASSE, welches dicht umparkt war.
"Ich kann nicht sehen, ob da einer von rechts ankommt." Ratke beugte sich nach vorne. Die Scheibe begrenzte seine Orientierungsaktivitäten, der Kopf schlug dagegen, die Mütze wurde verschoben. Ratke riss sie schnaufend vom Kopf.
"Ey, so 'ne alte Kacke hier wieder!“ Ratke ließ den Wagen langsam in die Kreuzung rollen. Ratke und Heinrich starrten gebannt nach rechts. Plötzlich hupte es laut von links. Ratke trat mit voller Wucht auf das Bremspedal. Der Wagen stoppte sogleich und Heinrich und Ratke hatten nun zeitgleich gemeinsam Kontakt mit der kleinen Frontscheibe. Von links war ein Volkswagen angefahren gekommen, hatte aber bereits in sicherer Entfernung gehalten und nur der Vorsicht wegen gehupt. Ratke brüllte durch das Seitenfenster in Richtung des grauen Volkswagen: "Was ist denn, fahr' doch, Du, Du..., olle Hippe!" Am Steuer des Kleinwagens saß eine junge blonde Frau mit Hut. Ratke sah, dass sie lächelte - lachte, wegen ihm! Er verlor die Nerven, umfasste hart das Lenkrad und trat das Gaspedal mit seinen öligen Arbeitsschuhen voll durch. So rasch es dem leistungsschwachen Fahrzeug überhaupt möglich war, wurde die Kreuzung mit all ihren Gefahren genommen.
"Hugo, Hugo, Du hast dich nicht verändert, Du oller, lauter Wüterich." Ratke kramte nach Zigaretten. Er sagte nichts. "Gib' ma' die Pulle da“, Ratke zeigte auf eine Flasche Wacholder im Fußraum. Heinrich gab sie ihm. Ratke setzte sie gleich an und trank gierig in tiefen Zügen. Ohne Unterhalt rann das scharfe Getränk in seinen dürren Leib. "Ah, das tut gut! Medizin, Mann, dass hältste doch im Kopf nicht aus, lacht das junge Luder noch, der hätt' ich es am liebsten gleich richtig..., Du weißt schon...“, er hielt Heinrich die Schnapsflasche hin. Heinrich trank weniger gierig aber gleich viel. Sie befuhren schweigend eine schmale Straße, welche sich durch eine Wohngegend schlängelte.
"Ach Heinrich, Du hast 's gut, kannst den lieben Herrgott einen guten Mann sein lassen und Dich ausruhen. Ich muss noch jeden Tag schwer ranklotzen."
"Dafür hast Du 'nen Betrieb und ich nicht, und Deine Frau ist auch 'n nettes Dingen..., und Du hast eben nicht von früh an malocht wie unser einer."
"Was weißt denn Du von meiner Ollen, Heinrich. Die ist doch nicht nett, bei der hab' ich mich doch echt verkauft. Die ist das tägliche wenige Brot nicht wert, was 'se runter schluckt, glaub' mir, die olle Keife..., nur jetzt, ach...“, Ratke resignierte bei dem Gedanken an sein trostloses Leben.