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Der Fotograf Martin Fennberg möchte nach einer anstrengenden Hochzeit-Saison eine Woche Ruhe und Entspannung genießen und mietet sich in einem Retreatment-Center in Dobel ein. Dort lernt er eine Gruppe interessanter Menschen kennen, die auf den ersten Blick gut zusammen passen könnten. Doch dann, am zweiten Tag, geschieht ein Mord. Plötzlich werden alle der vermeintlich friedlichen Gruppe zu Verdächtigten. Niemand weiß nun mehr, wem er Glauben schenken und wem er vertrauen kann.
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Günther Tabery
Ave Maria für eine Leiche
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Die Straße machte eine enge Rechtskurve. Geh vom Gas, dachte Martin, wenn am Straßenrand diese roten Pfeile zu sehen sind, dann darfst du nicht schneller als 70 km/h fahren. Sowieso durfte man in seinem Auto nicht schnell fahren. Nicht schneller als 130 km/h. Es gab zwar keine rationale Erklärung für diese Regel, aber für ihn war es klar, dass dies das Beste für den armen Motor wäre. Das Auto war ein Opel Corsa und niemand war darin je schneller gefahren. Martin war ein guter, aber sehr defensiver Autofahrer. Er beachtete penibel, fast schon zwanghaft, alle Straßenregeln und fuhr nie schneller, als erlaubt war.
Nun führte die Straße geradeaus. Martin beschleunigte ein wenig und verspürte einen Zwang, den Innenspiegel anfassen zu müssen. Er tippte mehrmals auf den Spiegel. Unerfreulicher Weise hinterließ sein rechter Zeigefinger einen unschönen schmierigen Fleck. Dann, wenige Minuten später, ruckelte er einen kleinen Moment am Lenkrad, sodass das Auto einen Schwenker nach links machte. Martin sagte sich: Nein, aufhören und konzentrierte sich weiter auf die Fahrt. Am schwierigsten gestaltete sich der Zwang, nach links über die Schulter schauen zu müssen und dabei einen leisen grunzenden Laut auszustoßen. Dabei musste er besonders aufmerksam sein und die Straße nicht aus den Augen verlieren. Komischerweise war Martin ein guter Autofahrer, trotz seiner Zwänge und Tics, denn daran hatte er sich viele Jahre gewöhnt und als "Touretti", so nannte er sich selbst, lernte man mit den Jahren, seine Tics in den Alltag einzubauen und damit gut zu leben. Touretti war für ihn eine liebevolle Umschreibung für Menschen mit Gille-de-la-Tourette-Syndrom. Daran war er als Kind erkrankt und seither durchlebte er die verschiedensten Tics, mal stärker, mal weniger ausgeprägt. Natürlich wusste man in seiner Kindheit nicht viel darüber und es war sehr schwierig in der Schule und überhaupt in seinem Umfeld als Andersartiger zu leben und zu bestehen. Viele Menschen hatten Berührungsängste oder waren beschämt, da sie nicht einordnen konnten, warum er diese Zuckungen hatte und Geräusche ausstieß. Aber die Schule ging vorüber und später hatte er wunderbare Freunde, die ihm Halt gaben und auch die Familie stand immer hinter ihm, sodass ein normales Leben möglich war. Seit einigen Jahren wusste man viel über diese neurologische Krankheit und für die ganz stark Betroffenen gab es heute unterschiedliche Therapiemöglichkeiten. Martin war Fotograf und arbeitete in einem kleinen Fotostudio in Karlsruhe. Es war schön, dass die Krankheit bei diesem Beruf keine große Rolle spielte, denn wenn er sich kreativ betätigte, war er fast ganz Tic-frei.
Jetzt saß er im Auto und war auf dem Weg nach Dobel in das Retreat-Center von Beatrice Rissmann. Die Hochzeit-Saison war dieses Jahr besonders anstrengend gewesen und er dachte sich, jetzt im September könne er sich eine kurze Auszeit gönnen und die Seele baumeln lassen. Von diesem Retreat-Center hatte er im Internet erfahren und das Angebot gefiel ihm gut. Es gab täglich Yogakurse und Kunstangebote. Außerdem konnte man mit einem Fremdenführer die Umgebung erkunden. Es war nicht so weit von Karlsruhe entfernt, von der Stadt, in der er lebte und arbeitete. Im Ausland war er schon lange nicht mehr gewesen und als Single war es ein ideale Möglichkeit, andere interessante Menschen kennen zu lernen.
Er fuhr auf der Landstraße weiter und passierte Marxzell. Noch zehn Minuten dachte er, bis Bad Herrenalb und dann den Berg hoch. Er fiepte kurz, schaute über seine linke Schulter und fuhr frohen Mutes weiter.
Die letzten Kilometer ging es bergauf in den kleinen Ort Dobel. Dieser lag auf einer Bergkuppe, idyllisch umgeben von Wäldern, Lichtungen und Hängen. Im Winter konnte man hier auch Schlitten und Ski fahren, im Sommer war es ideal zum Wandern. Die schön herausgeputzten Häuser erinnerten etwas an eine Puppenstube, verspielt und wunderlich abgetrennt vom Rest der Welt. Das NAVI leitete Martin zum Weg in den Hirschgrund, die Straße, in der das Retreat-Center sein musste. Die Straße lag am Rand des Dorfes, führte an einigen Feldern und Wiesen vorbei. Der Dorfkern lag hinter ihm. Hier draußen sah man fast keine Häuser mehr. Martin freute sich und dachte, wie wunderbar dieses Fleckchen Erde war. Ganz am Ende der Straße erschien das Retreat-Center, ein zweistöckiges Gebäude, weiß angestrichen, am Hang gelegen, mit kleinen roten Balkonen an jeder Seite und einer großen Terrasse davor. Die Zimmer im ersten Stock verfügten nach hinten hinaus über kleine Terrassen, die in den Hang eingearbeitet waren.
Als er gerade sein Auto entlud, öffnete sich die Tür und eine großgewachsene, schlanke, brünette Frau kam ihm entgegen. Ihre großen blauen Augen und das gewinnende Lächeln fielen ihm sofort auf.
„Ich möchte Sie herzlich hier bei uns willkommen heißen“, eröffnete die Frau und lächelte ihn warm an. „Schön, dass Sie da sind. Ich hoffe, Sie werden sich hier bei uns wohlfühlen.“
„Sie sind Frau Beatrice Rissmann?“, fragte Martin.
Sie nahm ihm den Koffer ab und antwortete: „Genau. Und Sie müssen Herr Fennberg sein.“
Sie musterte ihn wohlwollend, während er ein helles Fiepen ausstieß und sein Kopf ein wenig über die linke Schulter zuckte.
„Richtig. Ich bin gleich nach dem Frühstück losgefahren“, entgegnete er, als sie im Begriff waren das Haus zu betreten.
„Na, dann kommen Sie mal rein. Sie können sich ihr Zimmer aussuchen. Wir haben sechs Gästezimmer. Alle Zimmer sind im ersten Stock.“
Sie standen in der Halle des Hauses und sie wies nach oben. „Danach zeige ich Ihnen die anderen Räumlichkeiten.“
Martin ging die Treppe hinauf und nahm gleich das erste Zimmer rechts, das einen Balkon hatte, der auf die Vorderseite des Hauses zeigte. Die Zimmer waren nicht unbedingt komfortabel, aber zweckmäßig eingerichtet. Einen Fernseher gab es zu seiner Freude nicht. Das Bett war hart gefedert, der Schrank ausreichend groß, um seine Wäsche aufzunehmen. Abgetrennt gab es ein kleines Bad, das einen sauberen Eindruck machte.
Nachdem er etwas ausgepackt hatte, ging er hinaus in den Flur. Dieser hatte die Form eines langen Ls. Das Eckzimmer konnte man von der Treppe aus nicht einsehen. Aus Neugier schaute er in alle Zimmer hinein und war danach zufrieden mit seiner Wahl, denn er hatte den schönsten Blick von seinem Balkon.
Entspannt lief er hinunter. Unten war Beatrice Rissmann gerade im Gespräch mit Rosa und Ansgar Blum, dem Ehepaar, das für das Essen zuständig war. Diese waren beide recht korpulent, hatten runde und rosige Gesichter und man hatte den Eindruck, dass ihnen das Essen gut schmeckte.
„Um 18 Uhr werden alle Gäste angereist sein. Bis dahin sollte der Tisch eingedeckt und das Essen servierfertig sein“, erklärte Beatrice. „Den Wochenplan besprechen wir dann später, wenn wir wissen, welche Vorlieben und Wünsche unsere Gäste haben.“ Sie entdeckte Martin. „Oh, Herr Fennberg. Darf ich vorstellen? Dies sind Frau und Herr Blum, zuständig für Ihr leibliches Wohl. Wenn Sie besondere Wünsche haben, was das Essen betrifft, dann können Sie dies auf ein Blatt Papier schreiben und es den beiden abgeben.“
Die beiden Blums nickten höflich und verschwanden in Richtung Küche.
„So, und nun zeige ich Ihnen unser schönes Haus.“ Sie führte ihn in den großen, lichtdurchfluteten Aufenthalts- und Essensraum, der hell gestrichen und mit modernen, farbenfrohen Bildern bestückt war. An der einen Wand stand eine einladende schwarze Ledercouchgarnitur mit Sessel und einem Beistelltisch. „Hier können Sie sich entspannen und mit den anderen Gästen ins Gespräch kommen oder etwas spielen. Spiele und Karten finden Sie hier.“ Sie zeigte auf eine Vitrine aus den Fünfzigern. „Das Essen wird dort an dem großen Tisch eingenommen.“ Dieser war aus massivem, dunklem Kirschholz angefertigt und bot zehn Menschen Platz. Darauf stand ein dekoratives Gesteck aus gelben Gerbera und roten Rosen. „Frühstück gibt es ab 9 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr und Abendessen um 18 Uhr. Die Toiletten gehen vom Flur ab.“ Sie zeigte auf zwei große, rot eingefasste Türen. „Mein Büro liegt gleich neben dem Aufenthaltsraum. Wenn Sie mich begleiten, dann zeige ich Ihnen unser großes Anwesen.“ Sie hakte sich ihm ein und zog ihn heraus auf die Terrasse. „Das Grundstück verläuft von der Straße aus bis zu der kleinen Lichtung.“ Sie deutete auf eine wild bewachsene Wiese, die etwa 150 Meter entfernt lag. „Auf der anderen Seite schließt sich gleich der Wald an, den Sie sicher mit unserem Fremdenführer Herrn Jonathan Mittensen erkunden können. Er wird sich morgen bei Ihnen allen vorstellen. Bei gutem Wetter finden unsere Yogakurse hier auf dem Platz gleich vor der Terrasse im Freien statt. Schauen Sie sich ruhig ein wenig um. Und nun muss ich noch einiges erledigen, bis die übrigen Gäste anreisen.“ Damit ließ sie ihn auf der Terrasse zurück.
Er schaute in die Ferne und war glücklich. Dies ist wohl der richtige Ort um eine schöne, entspannte Woche zu verbringen, dachte er. Zur Freude hüpfte er einmal auf und ab, fiepte abschließend und ging in sein Zimmer.
Nachdem die restlichen Gäste angereist waren, trafen sich alle um 18 Uhr zum Abendessen im Aufenthaltsraum. Martin schaute in die Runde. Ihm gegenüber saß eine von Natur aus schöne Frau, blond, blauäugig mit einem unglaublich großem strahlenden Mund. Ihre Figur war üppig und sie war stilvoll angezogen mit einem rot-goldenen Seidenkleid, bestückt mit Pailletten und Stickereien. Sie trug auffallend schönen Schmuck und war vielleicht Anfang 30, dachte Martin. Ihm hatte sie sich als Martha Lindeau vorgestellt. Zu seiner rechten saß Ole Roggenstern, ein junger, sportlicher Student Ende 20, mit träumerischen Augen und einem schelmischen Lachen. Zu seiner Linken zwei weitere Frauen: Eine etwas spröde mit kurzen blonden Haaren und Brille, Jeans und Kapuzenshirt, die einen leicht frustrierten Gesichtsausdruck hatte, Petra Neuzinger, daneben eine vollbusige Urmutter, mit langen braunen Haaren, roten Wangen und beigefarbenem Leinenkleid, Karen Randur. Beide waren etwa Anfang 40. Neben Ole Roggenstern ruhte zu seiner Rechten ein mittelalter Mann, Maximilian Dörflein, mit hellen, wachen Augen und kurz gelocktem Haar.
Beatrice Rissmann eröffnete als Besitzerin das erste gemeinsame Essen mit einer kleinen Ansprache: „Meine Lieben, ich freue mich Sie hier bei uns willkommen heißen zu dürfen. Vor Ihnen liegt eine Woche der Ruhe, in der Sie sich ganz zurückziehen können. Frei nach Marc Aurel, dem römischen Kaiser und Philosoph gesprochen: `gibt es nirgends eine stillere und ungestörtere Zufluchtsstätte als die Menschenseele´. Dies soll unser Leitspruch sein für unsere gemeinsame Zeit.“ Sie strahlte in die Runde. Organisatorisch fuhr sie fort: „Den Leiter des Yogakurses Herrn Ballhaus werden sie morgen früh gleich kennen lernen. Ich selbst werde die Kunstkurse anleiten und hoffe, dass wir einiges Kreatives zustande bringen werden. Wenn Ihnen irgendetwas missfällt, Sie Anregungen oder Kritik haben, dann lassen Sie es uns wissen und wir werden versuchen, Ihre Vorschläge umzusetzen. Lassen Sie uns nun vor dem Essen gemeinsam anstoßen.“ Sie nahm ein Glas Sekt und hielt es in die Höhe. „Auf eine schöne gemeinsame Woche.“
Alle stießen ihre Gläser zusammen. „Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.“ Mit diesen Worten bedankte sie sich für die Aufmerksamkeit.
Maximilian Dörflein sagte gleich darauf laut in die Runde: „Lasst uns nicht so förmlich sein. Sagen wir "du" zueinander? Ich bin der Maximilian.“
Die andern stimmten mit ein. Alle nahmen ihre Gläser und stießen mit jedem an auf "du" und "du". Die Stimmung war gleich etwas gelöster und verlor diesen offiziellen Touch. Es duftete exotisch nach indischem Curry, Lamm und frischem Gemüse. Dazu wurde Basmatireis gereicht. Zum Nachtisch gab es hausgemachten Pudding und Obstsalat. Das Essen schmeckte zur Zufriedenheit Rosa Blums allen.
Als die Teller leer auf dem Tisch standen und alle zufrieden waren, verteilte sich die Gruppe im Raum. Martha Lindeau und Maximilian Dörflein saßen auf der Couch, Karen Randur und Petra Neuzinger standen an der Terrassentür und Ole und Martin blieben mit einer Tasse Kaffee am Tisch sitzen.
Martin beobachtete gerne andere Menschen. Andere würden vielleicht sagen, er wäre neugierig. Er selbst empfand es als äußert interessant, die Eigenheiten anderer zu entdecken. Er ließ seine Blicke schweifen. Maximilians Stimme ertönte. „Ich bin so froh Martha, dass wir uns hier wieder sehen. Es ist ja schon lange her. Was macht die Karriere? Wirst du nächste Spielzeit auch wieder in Frankfurt singen?“
Martha Lindeau war eine lyrische Sopranistin, die ursprünglich aus Berlin stammte, in Hannover studiert hatte und seit sechs Jahren Mitglied der Oper Frankfurt war. Sie war verheiratet und lebte mit ihrem Mann zusammen in Mannheim.
„Leider nein. Mein Vertrag wurde nicht verlängert.“ Sie lächelte ihn an. „Ich werde nicht weiter im Ensemble singen, sondern Stückverträge eingehen. Da gibt es wunderbare Angebote aus Stuttgart, Hamburg und Berlin.“
„Und welche Rollen wirst du singen? Wieder die Desdemona in Otello, von Verdi? Darin warst du wunderbar“, fragte er interessiert.
Sie nickte und ihr Blick schwebte in die Ferne: „Genau, ich werde mich auf Verdi und Puccini spezialisieren.“
„Sehr schön.“ Er machte eine Pause. Martha beobachtete ihn genau. „Und du weißt“, fuhr er fort, „wenn du wieder Hilfe brauchst - ich bin jederzeit für dich da.“
Martha Lindeau schwieg daraufhin und trank einen Schluck. Maximilian schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Martin blickte weiter er, hörte zu seiner Linken:
„Hast du Familie? Mann und Kinder?“
„Nein“, erwiderte die andere.
„Warum nicht?“ fragte die eine verdutzt.
„Weil jetzt nicht die Zeit dazu ist. Ich habe viel zu tun auf der Arbeit. Und außerdem gehört dazu auch ein Vater. Und der ist momentan nicht in Sicht.“
„Aha“, erwiderte Karen Randur. „Ich habe drei ganz tolle Kinder und auch einen Hund und ich möchte sie um nichts auf der Welt wieder hergeben. Sie sind das Allerbeste, was mir in meinem Leben passieren konnte.“ In ihrer Stimme klang etwas Salbungsvolles. „Neulich geschah etwas ganz Tolles: Da kam Finn, mein Kleiner, zu mir, der ist erst vier und hat von ganz alleine `Mama´ auf ein Blatt Papier geschrieben. Ist das nicht toll?“ Ihre Stimme bebte. „Nicht, dass ich das unterstützen würde“, sie machte eine abwehrende Geste, „aber irgendwie ist das schon toll. Da habe ich ihn geküsst und er durfte sich aus unserem Süßigkeiten-Schrank etwas ganz Besonderes aussuchen.“
Petra Neuzinger konnte das ganz und gar nicht verstehen. Was ist schon besonderes daran, an einem frühreifen Kind, dachte sie. „Aha, das klingt ja interessant“, meinte sie nur kurz.
Martin schmunzelte in sich hinein. Die beiden scheinen Gegensätze zu sein, zumindest was das Thema Familie anbelangt. Dann wurden seine Gedanken unterbrochen. Eine junge Stimme fragte ihn:
„Ich habe gehört, du bist Fotograf?“
Martin drehte sich Ole Roggenstern zu, der mit offenen und einnehmenden Augen zu ihm herüber sah.
„Ja, das stimmt. Ich bin Fotograf in einem kleinen Studio in Karlsruhe.“ Bei diesem Thema kontrollierte er seine Tics und saß beinahe still da.
„Das muss ein toller Beruf sein“, mutmaßte Ole.
„Das stimmt“, bestätigte Martin. “Man benötigt ein gutes Auge, Sinn für Proportionen und ein Maß an Kreativität. Das Schöne daran ist, dass man mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun hat. Das mag ich sehr gerne. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und man muss versuchen, diesen gerecht zu werden.“
„Und hast du ein spezielles Aufgabengebiet?“
„Ich fotografiere gerne Hochzeiten. Das macht mir am meisten Spaß. Weniger gut gefällt es mir, Portraitaufnahmen bei uns im Studio zu schießen. Da kann man sich kaum mit seinen Ideen einbringen.“
Ole nickte interessiert und bestätigte: „Das kann ich mir gut vorstellen. Ich möchte später auch gerne mit Menschen arbeiten.“
Martin fragte: „Ah, gut, was lernst oder studierst du?“
„Ich studiere Lehramt. Lehramt für Grundschule an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg."
„Dann studierst du Sport?“ Er sah Oles sportliche Figur.
„Ja, Sport und Mathematik. Eine sehr verbreitete Kombination.“ Er winkte ab.
„Aber Grundschullehrer müssen später ohnehin jedes Fach unterrichten oder?“ Ole bejahte. „Ich finde es toll, dass du Lehrer werden möchtest. Das ist ein sinnvoller Beruf und männliche Lehrer an Grundschulen werden gebraucht, nicht? Ich hoffe, dass du dran bleibst und den Mut nicht verlierst.“
Ole wehrte lachend ab: „Meine Mutter ist auch Lehrerin. Ich bin damit groß geworden.“
Beatrice Rissmann trat in den Aufenthaltsraum und räumte zusammen mit den Blums den Tisch ab. Danach erklärte sie den Gästen den Tagesablauf in ihrem Retreat-Center:
„Wer an den Kursen teilnehmen möchte, trägt sich bitte in die dafür vorgesehenen Listen ein. Die Listen hängen in der Halle aus.“
„Verzeih' bitte“, wandte Martha Lindeau ein, „Ist es möglich für mich am Nachmittag ein wenig in meinem Zimmer zu singen? Ich brauche jeden Tag mein Training."
Beatrice musterte Martha genau und meinte dann: „Aber natürlich meine Liebe. Ich denke nicht, dass dein Gesang jemanden hier stören wird.“
Sie schaute in die Runde und alle schüttelten die Köpfe und pflichteten Beatrice bei. Als der Tisch fertig abgeräumt war, ließ Beatrice die Gruppe wieder alleine.
„Dort liegen ja ein paar Spiele“, entdeckte Maximilian Dörflein. „Wir könnten doch eine Runde spielen!“
„Für mich ist das nichts. Ich werde lieber etwas lesen“, winkte Petra Neuzinger ab.
„Kennt jemand Doppelkopf?“, fragte Ole Roggenstern. „Das ist mein Lieblingsspiel.“
„Na klar.“ Martin kam heran und holte die Karten aus dem Schrank. „Wir brauchen noch zwei, die mitspielen."
Es meldeten sich noch Maximilian und Karen. Die vier setzten sich an den Tisch.
Ole, Karen Maximilian und Martin verbrachten einen vergnüglichen Abend mit Wein und Karten. Martha zog sich früh ins Bett zurück, um ihre Stimme zu schonen und Petra saß neben den Spielern auf der Couch und las ein Buch.
Als Martin am späten Abend in einem Bett lag, ließ er den Tag noch einmal Revue passieren. Er war sehr zufrieden. Es sind doch sehr unterschiedliche, aber sehr interessante Menschen hier. Die große Sängerin mit ihrem Verehrer: Martha und Maximilian. Die beiden Gegensätze: Petra und Karen. Und dann der interessierte Sportstudent mit den wachen, einnehmenden Augen.
Nach dem Frühstück betrat ein äußerst südländisch aussehender Mann den Aufenthaltsraum. Er hatte haselnussbraune Augen, eine markante gerade Nase und ein kantiges Kinn. Ihn umgab eine Aura von Sanftmütigkeit und Stärke zugleich. Zweifellos hatte er das gewisse Extra, das die meisten Frauen anziehend fanden. Ihn umgab ein Duft von Frische und Reinheit. Sogleich schwebte Beatrice lächelnd auf ihn zu und gab ihm zwei Küsse auf die Wangen.
„Darf ich euch unseren wunderbaren Kollegen und Freund vorstellen: Jörg Ballhaus. Er leitet unsere Yogakurse.“
Alle nickten bewundernd.
„Ich wünsche euch allen einen schönen guten Morgen. Ich hoffe natürlich, dass ich alle Gäste zu meinem Yogakurs treffen werden.“ Er schaute intensiv in die Runde. „Beginn ist um zehn Uhr. Da das Wetter heute warm genug ist, werden wir den Kurs auf der Wiese vor dem Haus durchführen. Ihr benötigt dazu bequeme Kleidung. Yogamatten habe ich für euch.“
Martha Lindeau meldete sich zu Wort: „Entschuldige bitte Jörg, ist das Yoga körperlich sehr anstrengend?“
„Ja und Nein“, erwiderte er. „Ich verfolge mit dem Yoga einen ganzheitlichen Ansatz, der Körper, Geist und Seele in Einklang bringen soll. Es gibt Phasen der Tiefenentspannung, aber auch Atem- und Meditationsübungen. Durch den kontrollierten Atem soll die Konzentration verbessert werden. Außerdem arbeite ich auch mit Körperhaltungen und Bewegungsabläufen. Insgesamt strebe ich an, eure Vitalität zu verbessern und eure Gelassenheit zu fördern.“
Obwohl ihre Frage damit nicht beantwortet war, säuselte Martha beeindruckt: „Dann freue ich mich sehr, Jörg, auf die kommenden Stunden bei dir.“
„Nun denn, bis gleich. In fünfzehn Minuten treffen wir uns alle vor dem Haus.“ Mit diesen Worten verließ Jörg Ballhaus das Haus.
Alle standen auf und verließen den Aufenthaltsraum, um sich in ihren Zimmern für den Kurs vorzubereiten. Martin freute sich auf die kommenden zwei Stunden. Yoga wollte er schon immer einmal ausprobieren und sehen, wie sich dies auf seine Tics auswirkte. Er zog seine Turnhose an, ein T-Shirt und seine Sportschuhe und lief die Treppe hinunter in Richtung Terrasse. Dort stand bereits Martha Lindeau mit Jörg Ballhaus vertieft in ein Gespräch. Martin blieb stehen und beobachtete die beiden. Ab und an umspielte Jörgs Mund ein Lächeln. Ihre Stimmen waren gesenkt. Marthas Körper war weich und ihre Hüfte wippte ein paar Mal hin und her. Sie spielte dabei mit ihren Haaren. Mit einem lauteren Lachen verließ sie ihn und suchte sich einen Platz auf der Wiese.
Bald waren alle bereit auf ihren Matten und der Kurs begann. Als Aufwärmübung wurde als Erstes der Sonnengruß erarbeitet. Dieser sollte die Muskeln aufwärmen und den Körper dehnen. Jörg Ballhaus machte jeden Schritt dieser komplexen Übung vor, den alle bereitwillig nachahmten. Nachdem der Ablauf dieser Übung bekannt war, ging Jörg von Teilnehmer zu Teilnehmer und legte hier und da seine Hände auf, verbesserte die Haltungen und überprüfte, ob die Körper gelöst oder angespannt waren. Seine samtige Stimme beruhigte alle Teilnehmer zusehends.
Nach dem Sonnengruß wurden verschiedene Übungen durchgeführt. Einige davon waren der Baum, die Heuschrecke oder die indische Hocke. Unterbrochen wurden diese Übungen von Meditationsworten und Klangsilben.
Nach dem Kurs waren die meisten entspannt und ihre Körper von Wärme durchflutet. Fast alle waren sich einig, dass dies ein sehr guter Einstand in diese Entspannungswoche gewesen ist. Nur Petra war schlecht gelaunt und machte eher den Eindruck, dass ihr der Kurs nicht so recht gefallen hätte.
„Was ist denn, meine Liebe?“, fragte Martha. „Hat es dir nicht gefallen?“
Petra antwortete ausweichend: „Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen. Ich bin derlei Übungen nicht gewohnt und mir fiel es auch schwer, die Übungen zu begreifen.“
„Ach, mach dir keine Gedanken. Du wirst sehen, beim zweiten Mal klappt es schon viel besser.“ Sie blickte Petra strahlend an. „Du musst dich darauf einlassen und dich fallen lassen.“
Petra seufzte leise. Wenn das so einfach wäre, dachte sie. Sie sagte: „Ich gehe jetzt erst einmal duschen.“ Mit diesen Worten verließ sie die Gruppe. Auch Karen und Maximilian gingen ins Haus. Martha blieb noch mit Martin zurück.