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Marlene und Sofie waren enge Freundinnen, haben sich aber über die Jahre aus den Augen verloren. Nun wird Sofies Tochter Lili 18 Jahre alt. Die beiden Frauen nehmen den Geburtstag zum Anlass, ihre Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Während der Feier verschwindet Lili plötzlich. Die Ereignisse überschlagen sich und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2021
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Marlene schloss die Augen. Die belanglosen und oberflächlichen Gespräche in ihrem Zugabteil hatten sie schläfrig gemacht. Smalltalk lag ihr nicht und es interessierte sie auch nicht im Geringsten, was die Dame ihr gegenüber mit ihrer unangenehm aufdringlichen Stimme erzählte. Lieber wäre sie in einem Großraumwaggon gereist. Dort saß man für sich alleine und man hatte seine Ruhe, trotz der vielen Mitreisenden um einen herum. Doch der Zug war überfüllt und kein anderer Sitzplatz mehr frei gewesen. In einem abgeschlossenen Abteil war die Stimmung viel vertrauter und intimer, was sie sehr störte. Man saß sich gegenüber, musste unfreiwillig zuhören und wurde fast schon genötigt, sich an den Gesprächen zu beteiligen.
Vorerst hatte sie ihre Ruhe, da die anderen dachten, sie wolle schlafen. Es dauerte eine Weile, bis sie eine bequeme Haltung gefunden hatte. Die Stimmen wurden allmählich leiser und ihr Atem ruhiger. Das rhythmische Schaukeln des ICE wiegte sie langsam in den Schlaf.
Die Ruhe wurde jedoch jäh gestört, als die Tür aufgerissen wurde und eine helle Stimme `Ihren Fahrschein bitte!´ rief. Langsam öffnete sie ihre Augen. Die gleißenden Strahlen der Sonne blendeten sie. Sie kramte in ihrer Tasche und überreichte dem Schaffner den Ausdruck zusammen mit ihrer Bahncard. Sein Job schien ihm Freude zu bereiten. Er lächelte überschwänglich und bedankte sich höflich bei ihr. Nachdem er die anderen Fahrgäste kontrolliert hatte, ging er weiter.
Nun war sie wieder wach und blickte auf ihre Mitreisenden. Deren Gesprächsfluss war durch den Kontrolleur unterbrochen worden. Eine ungewohnte Ruhe machte sich breit. Marlene holte tief Luft und schaute aus dem Fenster. Sie ließ die Gedanken schweifen. Auf ihren Besuch in Bruchsal freute sie sich sehr. Seit Jahren war sie nicht mehr dort gewesen und hatte ihre Jugendfreundin Sofie nicht gesehen. Sie wusste eigentlich nicht, warum das so war. Es gab keinen besonderen Auslöser oder Grund, aber es hatte sich irgendwie nicht mehr ergeben. Die Distanz zwischen Bruchsal und Berlin, wo sie seit Langem lebte, und der anspruchsvolle Alltag, hatten offenbar den regelmäßigen Kontakt verhindert. Ihre jahrelang gewachsene enge Freundschaft verlor über die Zeit ihre Exklusivität und Vertrautheit. Sie hatten sich fast schon aus den Augen verloren. Marlene wurde etwas traurig, als sie an die gemeinsame Vergangenheit dachte. Schließlich hatte sie Sofie jahrelang als beste Freundin durch dick und dünn begleitet. Sofie hatte viele Schicksalsschläge durchstehen müssen. Der frühe Tod des Vaters, dann ihre Hochzeit mit Markus, den sie heiraten sollte, weil sie von ihm schwanger war. Die vielen harten Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter Rosa, die sehr dominant und extrem konservativ war, bis sie sich schließlich drei Jahre später wieder von Markus scheiden lassen durfte. Aber auch schöne Dinge gab es, die sie miteinander verbunden hatten. Die letzten beiden intensiven Schuljahre auf dem Gymnasium bis zum Abitur. Das Jahr danach, als sie zusammen im Fürst-Stirum-Klinikum ein freiwilliges soziales Jahr absolvierten. Die vielen Spieleabende mit Pizza und Eis und die Radtouren durch den schönen Kraichgau. Die Geburt von Sofies Tochter Lili. Dann das große Fest, mit dem Sofie ihre Scheidung feierte.
Schließlich kam die räumliche Trennung, weil Sofie in Bruchsal bei ihrer Familie blieb, Marlene aber mit 30 Jahren ihrem Leben eine andere Richtung geben wollte. Sie zog nach Berlin, um dort als Grundschullehrerin zu arbeiten.
Marlene war fest entschlossen, die alte Vertrautheit wieder aufleben zu lassen und dort anzuknüpfen, wo sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Das war bei Lilis Kommunion. Lili war damals ein bezauberndes Mädchen mit langen blonden Haaren und strahlenden hellblauen Augen gewesen. Neun Jahre war das her. Marlene nickte. Ja, sie wollte unbedingt die Freundschaft wieder intensivieren.
Der Grund, dass Marlene nun nach Bruchsal fuhr, war Lilis achtzehnter Geburtstag. Lili hatte sie angerufen und eingeladen. Es war für sie ein schönes Gespräch gewesen, in gewisser Weise fremd und vertraut zugleich. Sie sprach auch mit Sofie und es schien so, als hätte die Zeit stillgestanden und als wären sie nie getrennt gewesen. Da die Sommerferien in Berlin früher begannen als in Baden-Württemberg, war es Marlene möglich, im Juli zu ihnen zu reisen. Lili hatte gerade die mündlichen Abiturprüfungen absolviert und somit keinen nennenswerten Schulstress mehr. Die Geburtstagsfeier sollte auf dem großen Landhaus im Langental stattfinden.
Marlene schaute auf die Uhr. In zwei Stunden sollte sie in Heidelberg ankommen. Danach musste sie in die S3 umsteigen, um nach Bruchsal zu gelangen. Sie schloss die Augen und versuchte erneut einzuschlafen.
Erschrocken riss Marlene ihre Augen auf. Irgendjemand hatte sie angetippt. Hatte sie das Umsteigen verschlafen? Die Dame mit der aufdringlichen Stimme ihr gegenüber tippte ihr noch immer auf ihren Arm und sagte, dass sie nun bald in Heidelberg ankommen würden und sie doch dort umsteigen wollte. Marlene bedankte sich mit belegter Stimme. Sie blickte auf die Uhr. In fünf Minuten würden sie da sein. Sie hob ihren Koffer aus der Ablage, nickte noch einmal jedem zu, packte dann ihre Tasche und verließ das Abteil. Um zur S-Bahn zu gelangen, musste sie auf dem Hauptbahnhof Heidelberg das Gleis wechseln. Keine zehn Minuten später nahm sie Platz in einem überfüllten Waggon. Zuvor war ein Jugendlicher aufgestanden und hatte ihr seinen Platz angeboten. Sie wunderte sich ein wenig und war irritiert. Sie war 43 Jahre alt. Das war doch noch kein Alter, in dem man einen Platz angeboten bekommen sollte, dachte sie. Dennoch bedankte sie sich höflich und lächelte leicht. Der Jugendliche verschwand in der Menge.
In Bruchsal angekommen, betrat Marlene den Bahnsteig. Wie verabredet, würde Sofie sie dort abholen. Sie blickte sich um. Weit und breit war nichts von ihrer Freundin zu sehen. Nachdem die S-Bahn aus dem Bahnhof gefahren war, sah sie auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig eine blonde, zierliche Frau in einem dunkel gehaltenen Sommerkleid, die sich nervös umschaute. Marlene lächelte. Sie rief: „Sofie!“
Sofort drehte sich die fremde Frau um und ein Strahlen erhellte ihr Gesicht. Beide winkten sich zu. Marlene nahm ihren Koffer und stieg die Treppe hinunter. In der Unterführung kam ihr Sofie schnellen Schrittes entgegen. „Marlene, wie schön, dass du da bist!“ Beide umarmten sich innig. Dann schauten sie sich lächelnd an. Eine Träne rann Sofie über die Wange. „Ich habe dich so vermisst!“
„Jetzt bin ich ja da“, antwortete Marlene, während sie die Träne von Sofies Wange strich.
Unsicher berührte sich Sofie am Hals: „Hätte ich dich in Heidelberg abholen sollen? Ich wollte dich am Telefon noch danach fragen, aber da hatte ich es ganz vergessen. Es war bestimmt umständlich, mit der S-Bahn hierher zu kommen. Ach, das war nicht sehr höflich von mir! Und dann verwechsele ich auch noch das Gleis! Wie unangenehm!“
Marlene blickte ihre Freundin mitfühlend an: „Ach Sofie! Die Reise war gut und die Fahrt mit der S-Bahn überhaupt nicht schlimm. Ich freue mich nun hier bei dir zu sein.“
„Es ist so lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Marlene nickte: „Neun Jahre sind es jetzt schon! Das letzte Mal sahen wir uns an Lilis Kommunion.“
„Ich weiß. Es ist so schön, dass du da bist!“ Sie spielte mit ihren Fingern. „Und Lili freut sich auch sehr. Sie hat einen Kuchen gebacken und den Tisch gedeckt.“
„Dann lass uns gehen. Ich habe einen Riesenhunger!“, sagte Marlene, nahm ihren Koffer und beide liefen in Richtung Ausgang. Nachdem der Koffer in Sofies Mercedes gepackt war, fuhren sie los in Richtung Langental.
„Ich habe oft an dich gedacht“, begann Sofie im Auto. „Ich wollte dich immer mal anrufen, habe es dann aber doch nicht gemacht.“
„Ich verstehe dich gut. Mir ging es ebenso. Aber weißt du, je größer der zeitliche Abstand wurde, desto größer wurde auch die Hemmschwelle, sich zu melden. Da war kein böser Wille dabei. Das ist ganz nachvollziehbar. Wir hatten keinen regelmäßigen Kontakt mehr. Wir wussten keine Details, nichts, was den anderen im Alltag bewegte. Und irgendwann war unsere Freundschaft sprichwörtlich eingeschlafen. Umso schöner, dass wir uns nun wiedersehen. Und ich habe Zeit, viel Zeit, um das alles nachzuholen, was wir verpasst haben!“
„Das ist sehr schön.“ Beide lächelten sich an.
Sofie fuhr das Langental in Richtung Golfplatz hinauf. Das Bruchsaler Wohngebiet Silberhölle ließen sie hinter sich. Oben angekommen gab es einige Bauernhäuser, Höfe und landwirtschaftliche Betriebe. Auf der rechten Seite der Straße befand sich das Anwesen von Sofies Familie. Es gehörten ein großes Landhaus und etwa 100 Hektar Land dazu. Das Haus, das 1978 erbaut wurde, verfügte über zwei Stockwerke, einen großen Wintergarten und einen später angefügten moderneren Anbau. Erbaut hatten das Haus Sofies Eltern: Rosa und Theodor Rösch zur Schemme. Theodor war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, der in den 70er Jahren sehr viel Geld mit Immobilien rund um Bruchsal verdient hatte. 1984 starb er an einem Herzinfarkt. Rosa war nicht berufstätig gewesen. Sie verwaltete das Geld und widmete sich Sofies Erziehung. Heute war Rosa 73 Jahre alt und litt an Demenz. Sofie kümmerte sich um sie. Ihren erlernten Beruf als Übersetzerin für Englisch und Französisch übte Sofie nicht aus. So wohnten mit Lili drei Generationen in dem großen Haus.
Sofie bog in die breite Hofeinfahrt ein. Da erblickte Marlene einen gutaussehenden jungen Mann, der gerade damit beschäftigt war, vor dem Haus den Rasen zu mähen. Sie fragte Sofie, wer das sei. Diese erklärte, dass das Grundstück zu groß wäre, um es alleine zu bewirtschaften. Deswegen hätten sie einen Gärtner eingestellt. Er war noch nicht lange bei ihnen, erst seit sechs Wochen. Den Gärtner davor mussten sie entlassen, nachdem sie entdeckt hatten, dass er Geld veruntreut und sich bereichert hatte. Die Abrechnungen stimmten nicht mit dem überein, was eingekauft wurde. So wurde der neue, Oliver Hoffmann, eingestellt. Er war ein junger, verheirateter Mann, Anfang 30, kinderlos, der in der Südstadt von Bruchsal lebte. Mehr persönliche Details wusste Sofie nicht über ihn zu berichten. Er machte seine Arbeit gut und war sehr höflich.
Nachdem die beiden Frauen ausgestiegen waren, kam ihnen sofort Oliver Hoffmann entgegen. Zuvorkommend nahm er Marlenes Koffer. Marlene bedankte sich bei ihm. Ihr fiel sofort der markante Klang seiner Stimme auf. Seine Sprachmelodie war irgendwie besonders. Noch bevor sie ins Haus gelangten, kam Lili ihnen entgegengerannt. Sie streckte ihre Hand zur Begrüßung aus: „Hallo Marlene, schön, dass du hier bist!“
„Hier ist Lili“, sagte Sofie stolz. Lili war groß gewachsen, hatte einen dynamischen Kurzhaarschnitt, ein sportliches Outfit und Turnschuhe an. Ihre Augen waren hellblau und ihr Lächeln war einnehmend. Selbstbewusst sprach Lili weiter: „Magst du Käsekuchen? Ich habe einen für dich gebacken.“
„Ja, das esse ich sehr gerne.“
„Dann komm, ich habe alles schon vorbereitet!“ Lili drehte sich um und rannte voraus.
Sofie gab Oliver den Auftrag, Marlenes Koffer in den ersten Stock ins Gästezimmer zu tragen. Oliver nickte. Für einen kurzen Moment blickte er sonderbar drein. Dann drehte er sich um und lief ins Haus. Marlene wusste nicht, was Olivers Zögern zu bedeuten hatte. Dann ging sie mit Sofie hinter ihm her.
Im Esszimmer, dessen Einrichtung kühl und wenig einladend wirkte, war der Tisch reich gedeckt. Rosa Rösch zur Schemme thronte am Kopf der Tafel. Als Sofie mit Marlene hereinkam, würdigte sie den Gast keines Blickes. Sie raunte etwas, das keiner richtig verstand.
„Mutter, das ist Marlene“, begann Sofie. „Ich habe dir erzählt, dass sie heute kommt. Du kennst sie noch, von früher.“
Rosa blickte auf. Dann sagte sie stumpf: „Ich kenne sie nicht. Sie soll gehen!“
„Aber Mutter, du erinnerst dich nur nicht an sie. Du mochtest sie immer gerne. Schau, sie ist …“
„Weg mit ihr!“ Nach einer kurzen Pause veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Beschwörend fügte sie hinzu: „Sie hat es sich genommen, ich weiß es! Sie hat es genommen!“
Sofie errötete. Peinlich berührt flüsterte sie: „Entschuldige bitte, Marlene. Sie erinnert sich nicht mehr an dich. Es ist alles sehr schwierig geworden. Ich weiß manchmal nicht, wovon sie spricht.“ Mit voller Stimme sprach sie liebevoll weiter: „Aber Mutter, sie wird jetzt noch nicht gehen. Sie bleibt für zwei Wochen hier bei uns. Du wirst dich daran gewöhnen, sicher.“ Dann strich sie ihr zärtlich über den Kopf. Alle schauten Rosa an, doch Rosas Blick verdunkelte sich. Sie stierte apathisch vor sich hin und schien nicht mehr ansprechbar zu sein. Sofie schüttelte langsam den Kopf. „Sie hat ihre wachen Momente und dann, plötzlich, erkennt sie niemanden mehr. Dann spricht sie manchmal über Dinge, die lange zurück liegen. Manchmal phantasiert sie. Ganz oft spricht sie mich mit `Mutter´ an oder sie sucht Theodor, obwohl dieser schon vor Jahren verstorben ist. Es ist furchtbar mit anzusehen.“
Marlene nahm Sofies Hand. „Ich kann das sehr gut nachempfinden, es ist traurig, was ihr durchmachen müsst. Und es gibt keinen Weg zurück ins frühere Leben. Bei Demenzkranken braucht man viel Stärke und Kraft.“
Lili nahm einen Stuhl in die Hand und sagte: „Wenn wir schon von Stärke und Kraft reden. Hier sitzt du. Ich sitze daneben. Dann essen wir Kuchen.“
Marlene nahm dankend an. „Du bist eine erwachsene Frau geworden. Und eine attraktive noch dazu!“
„Danke. Ich wollte immer so sein wie du. So gebildet, nett und warmherzig. Ich habe so schöne Erinnerungen an dich, weißt du das? Mama sagte, dass du immer alles gemacht hast, was du dir vorgenommen hattest. Du hast das getan, was du wolltest und was richtig war für dich.“ Dann schaute sie Sofie herausfordernd an. Betont fuhr sie fort: „Du hast Bruchsal hinter dir gelassen und bist nach Berlin gezogen, hast was aus dir gemacht! Du hattest eine Vision von deinem Leben und hast diese in die Tat umgesetzt.“
„Bist du denn nicht zufrieden mit deinem bisherigen Leben?“, fragte Marlene.
Lili blickte wieder Sofie an. „Doch sicher. Aber ich will auch etwas erleben. Hier auf dem Land lebe ich wie eingesperrt in einem goldenen Käfig. Ich will raus und etwas sehen von der Welt. Auf keinen Fall bleibe ich hier wie Mama.“
„Aber mir geht es gut, Lili, ich habe hier ein erfülltes Leben“, sagte Sofie, während sie sich nervös über den Hals strich.
„Es ist ganz still hier. Und du machst nichts! Du lebst nur noch, um Oma zu pflegen und …“
„Lili!“, unterbrach sie Sofie. „Es ist gut. Bitte.“ Eine peinliche Pause entstand.
„Du hast morgen Geburtstag und es gibt eine Feier?“, versuchte Marlene das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Lili bejahte. Zur Feier würden auch einige ihrer Freunde kommen. Darauf freute sie sich sehr. Da fiel ihr ein, dass heute am frühen Abend ihr Kurs von der Volkshochschule `Impro-Theater´ stattfinden würde. Sie schlug vor, dass Marlene mit ihr kommen könnte. Das würde ihr bestimmt gefallen. Dann würde sie auch gleich ihre engsten Freunde kennenlernen.
„Aber Lili“, warf Sofie ein, „Marlene ist doch gerade erst angekommen. Bestimmt wird sie sich erst einmal entspannen wollen.“
Eindringlich bat Lili: „Mama, ich hätte es wirklich gerne. Es ist ein toller Kurs. Zusehen würde ihr bestimmt Spaß machen. Das ist total lustig!“
Marlene überlegte. Dann versprach sie Lili, mitzugehen. Zuvor wollte sie aber noch ein bisschen Zeit mit Sofie verbringen. Lili freute sich sehr. Sie stand sofort auf und nahm ihren Teller mit einem Stückchen Kuchen in die Hand: „Ich lasse euch jetzt alleine. Wir sehen uns später. Ich muss noch Melina anrufen. Bis dann!“ Munter sprang sie aus dem Zimmer.
Sofie blickte liebevoll zu Rosa. Diese starrte immer noch vor sich hin. „Woran sie wohl jetzt gerade denkt?“, fragte Sofie resigniert.
„Das weiß man nicht. Vielleicht träumt sie gerade von der Vergangenheit.“
„Ja, vielleicht.“
„Seit wann ist sie dement?“
„Seit drei Jahren wissen wir es.“
Es wurde still. Marlene blickte sich im Esszimmer um. Dann stand sie auf und lief zum Fenster. Draußen war Oliver gerade bei der Arbeit. Sie winkte ihm zu, als er sie im Fenster erblickte. Dann drehte sie sich wieder Sofie zu: „Es hat sich nichts verändert, seitdem ich das letzte Mal hier war. Es schaut alles so aus, wie es immer war. Sogar die Vase mit den Stoffblumen steht immer noch dort in der Ecke und auf dem alten Bücherregal sitzt unverändert diese Figur aus Mexiko, die dein Vater einmal von einer Urlaubsreise mitgebracht hatte. Alles ist irgendwie stehen geblieben.“ Sie schaute Sofie an, die sich im Zimmer umsah.
„Du hast recht“, gab Sofie kleinlaut zu, „es hat sich hier nichts verändert. Und schau, auch ich bin hiergeblieben … In meinem Leben hat sich in den letzten Jahren nichts bewegt. Ich habe meinen Beruf nie ausgeübt, sondern bin immer noch hier und pflege meine kranke Mutter.“
„Wolltest du nicht auch selbstständig sein? Auf eigenen Beinen stehen und selbst entscheiden, was du tun möchtest?“
Sofie starrte ins Leere.
„Ich fand es großartig, dass du dich damals von Markus hast scheiden lassen. Das war eine ungeheure Leistung! Diese lieblose Ehe, die nur geschlossen wurde, weil du von ihm schwanger warst. Ich weiß, wie viel Kraft es dich gekostet haben muss, gegen deine Mutter diese Entscheidung zu treffen und in die Tat umzusetzen. Es war richtig!“
„Mutter war dagegen. Sie sagte, dass ich nie jemand anderen bekommen würde.“
„Dieser Typ, Markus! Ja, er ist der Vater von Lili, aber er hatte sich als totaler Vollidiot entpuppt! Er hatte dich nach Strich und Faden belogen und vielleicht auch betrogen, wer weiß? Es war wichtig, dass du den Schlussstrich gezogen hast.“
„Mutter sagte, sie würde mich enterben.“
„Und? Hat sie es getan?“
Sofie schüttelte den Kopf.
„Siehst du.“
Sofie blickte zu Rosa. Von ihrem Gespräch verstand Rosa nichts. Was machte diese Krankheit nur aus den Menschen?
„Sie war immer sehr dominant, deine Mutter“, begann Marlene von Neuem. „Sie wollte immer entscheiden, was richtig war und was nicht. Bitte Sofie, widersprich mir, wenn ich falsch liege. Sie bestimmte über dich und deine Gedanken. Sie wusste, wie sie dich kriegen konnte und du hast ihr aus der Hand gefressen. Du warst fremdbestimmt, von ihr gelenkt.“
Sofie schaute mit feuchten Augen auf: „Ja?“
„Ja!“
Sofie zupfte an ihrem Kleid. Unsicher sprach sie: „Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht bin ich so geworden. Mit der Zeit. Früher war ich nicht so oder?“
Kurz vor halb sieben standen Marlene und Lili vor dem Bruchsaler Bürgerzentrum. Der Impro-Theater-Kurs der Volkshochschule sollte um halb beginnen.
„Wie bist du denn auf den Kurs gekommen?“, fragte Marlene, während sie unten auf die anderen warteten.
Lili erzählte leidenschaftlich, dass sie schon immer Theater spielen wollte. Es war ihr großer Traum, einmal auf einer Bühne zu stehen. Dann, eines Tages nach einer Unterrichtseinheit `Darstellendes Spiel´, sprach sie ihr Deutschlehrer Herr Oppendoler an. Sie sei begabt, sagte