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Das uralte Elfenvolk der Arcandrin lebt in Einklang mit der Natur. Ihr oberstes Gebot ist der Schutz der Natur und der Erhalt allen Lebens. Durch Gesetze und magische Rituale hielten sie die Welt über Jahrtausende im friedlichen Gleichgewicht. Bis sich alles änderte. Die Habgier und Herrschsucht der Menschen entzweite das Elfenvolk. Eine dunkle Seite formierte sich, die begann, die Menschen für ihr Handeln zu hassen: Die Shiazul. Die junge Elfe Aylana lebt in beiden Welten – unerkannt in der Welt der Menschen und als Drachenkriegerin in Arcandria, der Heimat der Elfen. Sie beginnt unbeirrbar, für den Schutz allen Lebens zu kämpfen – und folgt damit einer mächtigen Bestimmung. Doch wird sie es schaffen, ihr Volk und die Menschen zu einen, bevor es zu spät ist?
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2023
Impressum
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© 2023 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99131-991-7
ISBN e-book: 978-3-99131-992-4
Lektorat: Hannah Lackner
Umschlagfotos: Esther Andrea;Helena Saphira Studer; Irina Kharchenko | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Einleitung
„Diese Geschichte handelt von den Arcandrin, den Elfen. Die Arcandrin sind ein uraltes Volk, das mit der Natur in Einklang lebt. Sie versuchen seit Jahrhunderten ein friedliches Zusammensein aller Lebewesen auf diesem Planeten zu ermöglichen. Die Arcandrin nutzen magische Kräfte und pflegen ihre alten Rituale, die allesamt in direktem Zusammenhang mit dem Wissen um die Naturgesetze stehen. Die Welt der Arcandrin bleibt größtenteils vor den Menschen verborgen, so auch die Drachen und Naturwesen, die dort existieren. Früher lebten die Arcandrin und die Menschen friedlich zusammen. Diese Symbiose wurde jedoch durch die Habgier und den Egoismus der Menschen zerstört. So zogen sich die Arcandrin mehr und mehr zurück. Ihre Geschichte wurde jedoch in alten Legenden und Sagen weitererzählt. Alten Erzählungen nach beherrscht das Elfenvolk mutige Formen des Kampfes mit Schwert oder Pfeil und Bogen. Niemals würde ein Arcandrin zu modernen Waffen greifen, da es gegen alles verstößt, was den Elfen heilig ist. Eine Schusswaffe zu benutzen war ein schweres Vergehen im Reich der Arcandrin.
Heute leben nur noch einige Tausend Elfen unter den Menschen, wo sie weiterhin unerkannt versuchen, die Erde zu behüten und die selbstzerstörerischen Handlungen der Menschen zu unterbinden. Die oberste Doktrin der Arcandrin ist der Schutz und Erhalt allen Lebens.
Doch auch unter den Elfen gibt es eine dunkle Seite. Denn mit der Zeit hatte ein Teil der Arcandrin begonnen, die Menschen zu hassen. Sie als minderwertige und egoistische Kreaturen zu betrachten, die es nicht wert sind, auf der Erde leben zu dürfen. Die Gemeinschaft der Elfen wurden gespalten und in zwei Lager geteilt. Die abtrünnigen Elfen, die sich gegen die oberste Doktrin auflehnten, nannten sich fortan Shiazul. Sie begannen, die alleinige Herrschaft über den Planeten zu beanspruchen und wandten sich gegen ihr eigenes Volk.“
Versteckspiele
Diesmal würde sie nicht so einfach davonkommen. Aylana verharrte mitten in der Bewegung und sah, wie sie angestarrt wurde. Sie hatte die schwere Stahlstange, die einem Arbeiter beim Gerüstbau aus den Händen gerutscht war, mit einer Hand aufgefangen, während sie sich mit der anderen Hand am Gerüst oberhalb der Schülergruppe, auf die diese Stange heruntergefallen wäre, festhielt. An Aylanas Schule wurde die Turnhalle renoviert und die Arbeiter waren gerade dabei, das Gerüst aufzubauen. Direkt daneben befand sich ein kleines Rasenstück, das von den Schülerinnen und Schülern gerne als Pausenplatz benutzt wurde. Die Schüler unter ihr waren mit einem erschreckten Aufschrei zur Seite gesprungen und starrten mit ungläubigen Augen und offenen Mündern zu ihr hinauf. Aylana war der Schrecken eiskalt in die Glieder gefahren. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie streckte die Stange dem Arbeiter, dem sie aus der Hand gefallen war, entgegen. Dieser war totenbleich und musste die Stange mit beiden Händen festhalten, um sie nicht wieder zu verlieren. Aylana kletterte langsam vom Gerüst und hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht.
„Das war unglaublich!“
„Wie hast du das gemacht?“
„So etwas habe ich noch nie gesehen!“, so tönte es von allen Seiten um sie herum. Oben auf dem Gerüst stand der Bauarbeiter immer noch reglos mit der Stange in beiden Händen. Aylana sah, wie der Vorarbeiter zu ihm ging und ihm die Stange aus der Hand nahm. Die beiden sprachen miteinander und der Arbeiter begann, wild gestikulierend immer wieder auf Aylana zu zeigen. Aylana war immer noch umringt von den Schülerinnen und Schülern, die alle durcheinander auf sie einredeten. Sie wusste, dass sie sich eine gute Erklärung einfallen lassen musste und drängte sich durch die Gruppe, die sich um sie versammelt hatte, in Richtung des Schulgebäudes.
„Ich stand eben gerade in der Nähe und sah den Arbeitern beim Gerüstbau zu. Und da habe ich gesehen, dass die Stange runterfällt. Das hätte doch jeder getan“, antwortete sie knapp.
Eine ihrer Mitschülerinnen entgegnete darauf: „Ich habe noch niemals gesehen, dass sich jemand so schnell bewegen und klettern kann. Und du hast dieses Teil mit einer Hand aufgefangen. Wie hast du das nur fertiggebracht?“
„Ich war zufällig in der Nähe und habe einfach gehandelt, ohne zu überlegen. Das war einfach viel Glück!“
Aylana registrierte voller Erleichterung, dass in diesem Moment die Schulglocke ertönte und den baldigen Beginn des Unterrichts ankündigte. Als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, sah sie, wie ihr Klassenlehrer, der die Pausenaufsicht hatte, sie mit nachdenklichem Blick musterte. Aylanas Gedanken schweiften in die Vergangenheit ab. Wie oft hatte sie sich bereits Schwierigkeiten aufgrund ihrer impulsiven und unbekümmerten Art eingehandelt. Vor allem beim Sport war es für sie unheimlich schwer, sich zu beherrschen. Sie könnte immer schneller rennen, höher springen, weiter werfen als alle anderen.
Aylana war sehr schlank und feingliedrig, aber für ihr Alter schon ziemlich groß. Die meisten ihrer Mitschüler in der dritten Klasse der Sekundarschule waren kleiner. Und mit ihren 15 Jahren war sie allen anderen in ihrer ganzen Entwicklung weit voraus. Dies lag jedoch weniger daran, dass sie sich mehr anstrengte. Aylana gehörte zum Volk der Arcandrin. Einem uralten Volk, das seit jeher die Fantasie der Menschen beflügelt hatte und gemeinhin als Elfen bezeichnet wurde. Die Legenden und Geschichten, die sich um dieses sagenumwobene Volk rankten, waren mit der Zeit jedoch von den Menschen als Märchen und Hirngespinste abgetan worden. Den Arcandrin kam diese Entwicklung entgegen, denn sie legten keinen Wert darauf, erkannt und für falsche Zweck missbraucht zu werden. Denn das Volk der Arcandrin verfügte über die Kräfte der Natur und die Magie der Schöpfung. Und sie waren die Hüter der Erde und aller Lebewesen. Seit Jahrhunderten versuchten sie, das Gleichgewicht der Kräfte aufrecht zu erhalten und dem selbstzerstörerischen Gebaren der Menschen entgegenzuwirken. Für die Arcandrin war es unbegreiflich, dass man die Luft, die man atmet, selbst verschmutzen würde, das Wasser, das man trinkt, selbst vergiftet und die Natur, die Leben erst möglich macht, zerstört. Soweit Aylana wusste, existierten auf der Erde noch einige Tausend der Arcandrin, die über den ganzen Erdball verstreut unerkannt unter den Menschen lebten und versuchten in möglichst einflussreiche Positionen zu gelangen, um gegen das sinnlose, zerstörerische Verhalten der Menschen mit allen Kräften anzukämpfen.
Aylana selbst wohnte mit ihrer Familie in der Nähe von Solothurn, einer Kleinstadt in der Schweiz. Ihre Mutter Salomee war eine Heilerin und Hüterin des Wissens und ihr Vater Sirion war ein Krieger und Magier. Natürlich hatten sie auch normale bürgerliche Berufe, denen sie nachgingen, um nicht unter den Menschen aufzufallen. Salomee arbeitete als Arzthelferin in einer kleinen Dorfpraxis und es kostete sie etliche Mühen, sich ihre besonderen Fähigkeiten als Heilerin nicht anmerken zu lassen. Sie konnte mit ihren fein ausgeprägten Sinnen ohne Mühe die Ursachen der Krankheiten aufspüren. Und sie könnte auch problemlos Einfluss auf die Verläufe der verschiedenen Krankheiten nehmen. Aber die uralten Gesetze der Arcandrin ließen es nur bis zu einem bestimmten Punkt zu, dass sie Menschen mit ihrer Heilkraft helfen durfte. Sirion hingegen war in einer sehr guten Position in der Politik und konnte mit seinen rhetorischen und suggestiven Fähigkeiten einen positiven Einfluss auf die Entscheidungen der Menschen nehmen. Darüber hinaus war Aylanas Vater ein hochrangiges Mitglied des magischen Zirkels, der höchsten Instanz der Arcandrin. Und er war ein Drachenkrieger. Die Drachenkrieger waren seit jeher für die Geschicke der Arcandrin verantwortlich. Damit war Sirion auch für die Einhaltung der Gesetze der Arcandrin zuständig. Genau dies war der Punkt, der Aylana im Moment Bauchschmerzen bereitete. Denn eines dieser Gesetze besagte ganz klar, das Arcandrin niemals ihre besonderen Fähigkeiten unter den Menschen offenbaren durften. Gegen dieses Gesetz hatte sie heute wieder verstoßen. Nicht zuletzt dachte sie an Alfias, ihren jüngeren Bruder, der es bis anhin geschafft hatte, relativ unauffällig zu bleiben. Was nach Aylanas Meinung jedoch eher daran lag, dass er sich für einen Arcandrin sehr ungeschickt anstellte, was die körperliche Gewandtheit anbelangte.
Aylana sagte immer zu ihm: „Du bist so ungeschickt für einen Elfen, dass du problemlos unter Menschen leben kannst.“
Sie meinte das nicht böse, aber Alfias war wirklich in allen handwerklichen und sportlichen Belangen absolut unbegabt. Dafür verstand er sich meisterhaft auf alles, was mit Flora und Fauna zu tun hatte und er war auch ein sehr einfühlsamer Zuhörer. Seine Stimme übte eine magische Faszination auf alle aus, die ihm zuhörten. Er war sehr beliebt und vor allem seine Fähigkeit, mit Tieren umzugehen, sorgte immer wieder für Erstaunen.
Aylana war mittlerweile im Schulzimmer angekommen und hatte sich auf ihren gewohnten Platz in der hinteren Reihe neben der Fensterfront gesetzt. Sie versuchte, sich nicht durch das Getuschel in der Klasse ablenken zu lassen und hoffte, dass niemand diesem Vorfall noch Beachtung schenken würde. Sie schaffte es mehr oder weniger konzentriert durch die Doppelstunde Staatskunde und wollte beim Schrillen der Glocke so schnell wie möglich und unauffällig verschwinden. Doch ihr Klassenlehrer rief sie zu sich und wollte sie sprechen. Ihre Mitschüler warfen ihr beim Verlassen des Schulzimmers neugierige Blicke zu und man sah ihnen an, wie gern sie das Gespräch mitangehört hätten.
„Setz dich, Aylana“, sagte Herr Gutmann.
„Was du vorhin getan hast, war sehr mutig und einfach unfassbar. Wenn ich bedenke, dass du einen Dispens deines Arztes vom Turnunterricht hast, aufgrund deines angeblich zerbrechlichen Körperbaus, kommt mir deine Aktion umso unglaublicher vor. Keiner deiner Mitschüler wäre imstande gewesen, sich so schnell zu bewegen und dazu noch eine so schwere Stange mit einer Hand aufzufangen. Wie ist das nur möglich, Aylana?“
„Ich weiß es nicht, ich habe einfach gehandelt, ohne zu überlegen und ich stand ja direkt daneben. Ich habe wohl als einzige auf die Arbeiter gesehen und deshalb als Erste handeln können.“
Schnell fügte sie hinzu: „Meine Arme schmerzen mich auch sehr. Ich hatte wohl ein Riesenglück, dass ich mir nichts gebrochen habe.“
Herr Gutmann schaute sie stirnrunzelnd an und meinte dann nachdenklich: „Bitte verstehe mich nicht falsch. Wir sind dir alle sehr dankbar für deine Tat. Es erscheint einfach so unwahrscheinlich, dass ein zierliches Mädchen wie du so …“, sagte er und suchte nach Worten, „So unglaublich schnell und zielsicher handeln konnte. Ich konnte deine Bewegungen gar nicht mehr verfolgen und wenn du jetzt nicht so vor mir sitzen würdest ich würde beschwören, dass sich kein normaler Mensch so bewegen kann.“
Aylana wurde heiß und kalt bei diesen Worten und sie dachte an ihren Vater, der ihr so oft eingebläut hatte sich zu beherrschen und nicht noch mehr aufzufallen, als es schon durch ihre äußere Erscheinung der Fall war.
„Nun gut“, sagte ihr Lehrer, „Soll ich den Schularzt rufen, damit er deine Arme untersuchen kann, um sicherzustellen, dass du nicht ernsthaft verletzt wurdest?“
„Nein, danke. Ich werde gleich nach Hause gehen und meine Mutter wird sich um mich kümmern“, erwiderte Aylana hastig.
Daraufhin ließ Herr Gutmann sie gehen, nicht ohne ihr nochmals zu danken. Er blickte ihr immer noch nachdenklich hinterher, als sie den Korridor entlanglief.
Aylana beeilte sich, nach Hause zu kommen. Ihre Familie bewohnte ein schmuckes Einfamilienhaus am Stadtrand direkt an der Aare, einem Fluss, an dessen Ufer sie gerne stundenlang saß. Sie liebte das stetige unbeirrbare Fließen des Wassers und es fühlte sich an, als sprächen die leise plätschernden Wellen zu ihr. Als Aylana zuhause angekommen war, saß ihre Mutter im Garten und sah ihr lächelnd entgegen. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter nichts verheimlichen konnte und manchmal schien es ihr, als könne sie in ihr wie in einem offenen Buch lesen.
Salomee begrüßte sie: „Attawa osu, mein Schatz, wie war dein Tag?“
Aylana antwortete, wie es unter Arcandrin üblich war: „Attawa uso. Mama, ich muss dir etwas erzählen.“
Die Sprache der Arcandrin war fließend und melodiös, beinhaltete viele Vokale und vermied harte und kehlige Laute. ‚Attawa‘, das Wort für Zuneigung, Freundschaft und Liebe wurde je nach Bedeutung auf dem ersten, dem zweiten oder dem dritten A betont. Die Betonung auf dem ersten A wurde bei normalen Begrüßungen angewandt, die Betonung auf dem letzten A hingegen war eine sehr liebevolle und persönliche Form der Begrüßung, die höchste Achtung vor dem Gegenüber ausdrückte. Das Wort ‚osu‘ hingegen bedeutete so viel wie ‚geben‘ und die Umkehrform ‚uso‘ bedeutet ‚erhalten‘. Aylana wusste, dass sie ihrer Mutter niemals etwas anderes als die ganze Wahrheit erzählen würde. Erstens, weil sie ihre Eltern nie anlügen würde, zweitens, weil Arcandrin ein untrügliches Gespür dafür hatten, wenn man versuchte, sie zu täuschen. Sie setzte sich zu Salomee und begann, zu erzählen. Salomee hörte geduldig zu und unterbrach sie kein einziges Mal.
„Ich hatte doch keine andere Wahl, Mama, ich konnte doch nicht zulassen, dass jemandem etwas zustößt.“
„Ich verstehe dich sehr gut, Aylana. Das Problem ist nur, dass dir solche Dinge laufend zustoßen und wir bald nicht mehr wissen, wie wir das erklären sollen.“
Sie strich Aylana liebevoll über die Haare und betrachtete dabei ihre Ohren.
„Und deine Ohren müssten wir auch wieder behandeln. Sie werden langsam wieder sichtbar.“
Aylana wusste, was jetzt kam und seufzte tief. Sie alle mussten regelmäßig ihre Ohren verändern lassen, damit die spitze Form nicht auffiel. Die Arcandrin waren normalerweise an ihren spitzen Elfenohren und der schlanken feingliedrigen Gestalt erkennbar. Darüber hinaus waren die meisten unter ihnen nach menschlichen Maßstäben sehr schön und besaßen ausdrucksstarke mandelförmige Augen, die normalerweise in violetten Farbtönen erstrahlten.
Die auffälligen körperlichen Merkmale, wie etwa die Augen und die Ohren, konnten von den Arcandrin mittels Gestaltwandlungszauber an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden. Es mussten immerhin nur die Menschen getäuscht werden, die im allgemeinen sehr empfänglich waren für diese Suggestionen. Aylana hasste es, sich regelmäßig dieser Prozedur unterziehen zu müssen. Nicht etwa, weil ihr dies körperliche Schmerzen bereitete, sondern weil es für sie ein psychisch schmerzhafter Eingriff in ihre Persönlichkeit war. Der Zauber wirkte nur auf Menschen, untereinander sahen sich die Arcandrin in ihrer wahren Gestalt. Trotzdem hasste sie es, ihre Abstammung verbergen zu müssen. Der Zauber musste regelmäßig von den Heilerinnen unter ihnen durchgeführt werden. So konnten auch nur diese erspüren, wann der Zauber nachließ.
„Wir müssen mit Sirion darüber sprechen. Du wirst in zwei Wochen die Zeremonie deiner Vereinigung mit Dana Nala und Dano Luz begehen, um deine Bestimmung zu finden. Darauf müssen wir uns jetzt konzentrieren“, meinte Salomee schließlich nachdenklich und wechselte das Thema. Jedes Mitglied der Arcandrin wurde an seinem sechzehnten Geburtstag geweiht und mittels eines uralten heiligen Rituals mit der Kraft von Mutter Erde und Vater Sonne verbunden. Bei diesem Ritual offenbarte sich das zukünftige Schicksal der jungen Elfen und die damit verbundene Ausbildung, um diese Bestimmung zu erfüllen. Das Leben eines jeden Arcandrin war eng mit den Geschicken aller Lebewesen und Pflanzen verwoben. Daraus entstand die magische Kraft, aber auch die untrennbare Verbindung; das Band, das die Schicksale allen Lebens miteinander verwob. Bei diesem Ritual zeigte sich auf dem rechten Oberarm ein ewiges Zeichen, das die Zukunft offenbarte und den Träger als rechtmäßigen Angehörigen der jeweiligen Gilde auswies. Aylanas Mutter trug das Symbol der Heilerin und Lehrerin, einen Baum im Zeichen der Sonne. Dieses Zeichen sah aus wie die Sonne, umgeben von einer Aura des Lichts. Im Zentrum stand ein Baum als Zeichen des Lebens. Aylanas Vater trug das Zeichen der Drachenkrieger. Ein Drache, der ein Schwert umschlungen hielt. Sirion trug zusätzlich das Zeichen eines Ratsmitgliedes des magischen Zirkels, zwei Hände, die offen aneinander gelegt waren und in deren Zentrum die Symbole für Sonne, Erde und Mond lagen. Dieses Zeichen verpflichtete Sirion, mit all seiner Kraft und seinem Leben für die Gesetze der Arcandrin einzustehen und deren Einhaltung zu garantieren.
Vor diesem magischen Zirkel würde Aylana bestehen müssen, um ihre Bestimmung zu finden. Sie hatte schon viel von diesem Ritual gehört und sie wusste, dass sie dabei ihren Geist öffnen musste. Für Nala, Dana Aygo, die Erde und Mutter des Lebens und für Luz, Dano aygo, die Sonne und den Vater des Lebens. Nala und Luz würden ihr Innerstes erspüren und ihr den Weg offenbaren, für den sie bestimmt war. Das Ritual, zu dem sich der Rat und alle Angehörigen versammelten, fand immer in Arcandria statt, der geheimen Insel der Arcandrin. Diese Insel gehört zu den Oileàin Arann, den Aran-Inseln vor der Westküste Irlands. Auf dieser Insel befindet sich das Dún Eochla, ein Steinfort auf einem Hügel in der Mitte der Insel. Dieses Fort besteht aus drei konzentrisch angeordneten, ringförmigen Steinmauern, in dessen Zentrum sich der heilige Platz der Ahnen befindet. Auf diesem Platzfanden seit jeher die Zeremonien und Versammlungen der Arcandrin statt. Durch magisch verwobene Schirmzauber geschützt, konnten die Arcandrin ihre Rituale unbemerkt von den Menschen durchführen. An diesem geweihten Ort würde Aylana in zwei Wochen auch ihre Prüfung ablegen müssen, um ihre Bestimmung zu finden. Sie sehnte diesen Tag seit Jahren herbei und hatte zugleich Angst davor, zu erfahren, auf welchen Weg sie ihr zukünftiges Leben führen würde.
Nachdem Aylana mit ihrer Mutter gesprochen hatte, fühlte sie sich schon etwas besser. Salomee hatte ihr versprochen, zuerst mit Sirion zu reden. Sie ging auf ihr Zimmer, das eigentlich wie das Zimmer eines jeden Teenagers aussah, mit der Ausnahme, dass Aylana an ihren Wänden keine Poster von Stars aus Musik, Film oder Sport aufgehängt hatte. Sie hatte andere Interessen und konnte die Begeisterung ihrer Freundinnen und Freunde für solche Dinge nicht teilen. Sie beschäftigte sich viel lieber mit den alten Legenden und Sagen ihres Volkes und insgeheim schwärmte sie für die Drachenkrieger in ihren schimmernden Rüstungen. Sie träumte davon, selbst einmal einen Drachen reiten zu dürfen und wie ihr Vater Mitglied dieses Bundes zu werden. Aber sie konnte ja kaum ihr Zimmer mit Bildern von Drachen und Kriegern mit Schwert und Bogen tapezieren, ohne noch mehr aufzufallen als ohnehin schon.
Aylana warf sich aufs Bett und versuchte, den Tag nochmals in Ruhe zu überdenken als ihr Bruder ins Zimmer kam. Alfias, oder Alfie, wie er von allen genannt wurde neckte sie: „Na, Schwesterherz, ich habe schon von deiner Heldentat gehört. Hast du wieder toll gemacht! Ich hoffe, du hast es genossen, mal wieder im Mittelpunkt zu stehen!“
„Ach, lass mich doch in Ruhe! Du weißt ganz genau, dass das nichts damit zu tun hat. Ich musste einfach helfen. Ich weiß auch nicht, warum solche Dinge mir wieder und wieder passieren.“
Alfie meinte beruhigend: „Alles klar, ich wollte dich doch nur ein wenig hochnehmen. Nein, im Ernst, deine Aktion war das Tagesgespräch heute in der Schule und alle, die das mitgekriegt haben, schwören, dass sie so etwas nie für möglich gehalten hätten. Ich habe ihnen aber erklärt, dass du schon immer eine sehr schnelle Reaktion hattest und …“ – er machte eine kunstvolle Pause – „… schon immer zuerst gehandelt und dann nachgedacht hast. Was von allen auch sofort mit zustimmendem Nicken bestätigt wurde.“
Sein spöttisches Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die Sache auch sehr ernst nahm.
„Nein, wirklich, ich habe die ganze Sache so weit wie möglich heruntergespielt. Du weißt ja, dass ich ein gewisses Talent besitze, um die Leute zu überzeugen.“
Diese Aussage kam der Untertreibung des Jahrhunderts gleich. Denn Alfie hatte mit seiner Beredsamkeit schon seinen Lehrer von der Richtigkeit seiner Lösung bei einer Prüfungsaufgabe überzeugt, obwohl sein Fehler ganz offensichtlich war.
„Weißt du, Alfie, eigentlich ist zwischen uns gar kein so großer Unterschied. Wir müssen beide noch lernen, mit unseren besonderen Fähigkeiten sorgfältiger umzugehen. Du denkst auch nicht besonders lange nach, bevor du Menschen nach deiner Pfeife tanzen lässt.“
Sie neckte weiter: „Weshalb denkst du wohl, dass du so beliebt bist bei den Mädchen in der Schule? Weil du so waaaahnsinnig gut aussiehst, oder weil du eine super Sportskanone bist?“
Alfie warf ein Kissen nach ihr, zog ein beleidigtes Gesicht und meinte: „Ich brauche auf alle Fälle keine Supergirl-Aktionen, um im Mittelpunkt zu stehen.“
Daraufhin lachte Aylana und erwiderte: „Das würde dir vielleicht gut stehen. Das Supergirl-Zeichen auf der Brust, ein heißer Mini und dazu hohe Stiefel.“
Ohne auf diese Anspielung einzugehen, warf sich Alfie auf sie und sie wälzten sich lachend auf dem Bett. In diesem Moment kam ihre Mutter zur Tür herein, um nachzuschauen, was die beiden für einen Lärm machten.
„Was treibt ihr zwei schon wieder? Ihr veranstaltet einen Krach, dass man denken könnte, ihr hättet einen Drachen im Zimmer.“
„Schön wär’s!“, prustete Aylana.
„Dann würde ich ihm befehlen, Alfie rauszuwerfen.“
„Wenn hier ein Drache wäre, würde er mir aus der Hand fressen und dich aus dem Zimmer werfen“, entgegnete Alfie ganz außer Atem.
Daraufhin schmunzelte Salomee.
„Wenn hier ein Drachen wäre, würde er mir gehorchen und euch beide rauswerfen. Also, was ist denn nun schon wieder los in diesem Gehege?“
Alfie erwiderte mit todernstem Gesicht: „Frag nicht, liebe Mama, dann erhältst du auch nicht keine Antwort.“
Salomees Reaktion erfolgte prompt. Sie warf ihm ein Kissen ins Gesicht. Schließlich lieferten sich alle drei eine Kissenschlacht in Aylanas Zimmer.
Gegen Abend und als Sirion nach Hause kam, saß Salomee wieder im Garten und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Sirion küsste sie liebevoll und setzte sich neben sie.
„Ich muss dir noch etwas erz …“, begann Salomee.
„Ich weiß, mein Schatz, ich habe schon davon gehört. Du weißt ja, wie schnell sich solche Nachrichten verbreiten“, unterbrach Sirion sie.
„Ich werde gleich mit Aylana darüber sprechen. Sie sollte wissen, wie sehr wir aufpassen müssen, um nicht aufzufallen.“
Salomee seufzte.
„Aber du weißt auch, wie schwer es für Aylana ist, ihre Fähigkeiten ständig unterdrücken zu müssen. Sie ist nun einmal besonders begabt in all diesen Dingen, außerdem wollte sie nur helfen. Sei nicht zu streng mit ihr. Und …“ Sie lächelte Sirion an, bevor sie weitersprach. „Sie kommt ganz nach ihrem Vater.“
Sirion erwiderte ihr Lächeln.
„Ja, ich weiß, mein Schatz. Ich verstehe sie auch, aber trotzdem müssen wir über die Angelegenheit sprechen. Adalar hat mich angerufen und du weißt, wie er über Beziehungen zu Menschen denkt.“
Salomees Blick wurde abweisend. Trotzdem sprach Sirion beschwichtigend weiter: „Du hast ja recht, aber ich denke, wir halten heute Abend nach dem Essen einen Familienrat.“
Adalar war ebenfalls Ratsmitglied des magischen Zirkels und für seine kompromisslose Ansicht gegenüber Menschen bekannt. Er war ausdrücklich gegen jegliche Verbindung zwischen Elfen und Menschen. Leider herrschte unter den Ratsmitgliedern nicht immer Einigkeit. Seit die Auswirkungen der Umweltverschmutzung durch die Menschen immer offensichtlicher und spürbarer wurde, hatte Adalar bereits einige der Ratsmitglieder mit seinen Argumenten beeinflusst. Salomee konnte seine Haltung jedoch nicht verstehen, denn als Heilerin und Lehrerin war sie überzeugt davon, dass nur ein gemeinsamer Weg allen Lebens zum Erfolg führen kann.
Nach dem gemeinsamen Abendessen versammelte sich die Familie im Wohnzimmer und machte es sich um den Kamin bequem, in dem Sirion ein gemütliches Feuer entfacht hatte. Aylana war ein wenig flau im Magen, denn sie konnte sich schon denken, was ihre Eltern mit ihr zu besprechen hatten.
Sirion eröffnete das Gespräch: „Ich möchte mit euch ein paar Punkte besprechen, die uns alle betreffen und insbesondere natürlich auch Aylanas großen Tag in zwei Wochen, wenn du“, sagte er und sah sie stolz an, „deine Bestimmung finden wirst und deine Ausbildung beginnen kannst. Adalar hat mich angerufen und …“
„Was will denn dieser Pelztroll schon wieder?“, unterbrach ihn Alfie.
„Bitte fall mir nicht immer ins Wort“, sagte Sirion ernst, bevor er sich wieder an Aylana wandte: „Wie gesagt, Adalar wollte wissen, was es mit den heutigen Ereignissen auf sich hat, und versucht jetzt natürlich auch diesen Vorfall zu seinem Vorteil zu nutzen.“
Salomee fragte: „Was hat denn das mit Adalars Abneigung gegen die Menschen zu tun?“
„Nun“, meinte Sirion, „Er geht davon aus, dass solche Dinge nicht passieren könnten, wenn wir uns nicht mit den Menschen auf diese Art und Weise beschäftigen würden. Ihr wisst ja, dass er den Kontakt mit Menschen möglichst vermeiden möchte und dass er ihnen sogar ihr Existenzrecht abspricht.“
Aylana erwiderte: „Es tut mir leid, Paps, aber ich denke in dieser Hinsicht nun einmal anders. So, wie wir alle hier. Ich hatte doch keine andere Wahl, wenn ich nicht zusehen wollte, wie Menschen verletzt werden.“
„Niemand macht dir Vorwürfe, Aylana“, sagte Salomee.
„Im Gegenteil. Du hast richtig und mutig gehandelt. Aber ich denke, was Sirion außerdem ansprechen wollte, ist deine Freundschaft zu Davy.“
Davy de Bakker war ein Junge in Aylanas Klasse, mit dem sie viel Zeit verbrachte. Beziehungen zwischen Arcandrin und Menschen führten erfahrungsgemäß zu Problemen, denn Arcandrin konnten ihre Gestaltwandlung bei tiefergehenden Beziehungen nicht aufrechterhalten und aus Verbindungen zwischen Arcandrin und Menschen waren stets Individuen hervorgegangen, die ihre speziellen Fähigkeiten für ihre persönlichen Machtgelüste missbrauchten. Es gab genügend Beispiele in der Geschichte, wie etwa Cäsar, Alexander, Dschingis Kahn, Napoleon und viele weitere. Aylana wehrte sich gegen diese Aussagen und widersprach: „Davy ist mir ein sehr guter Freund und ich bin gerne mit ihm zusammen. Mehr ist da nicht, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“
Daraufhin meinte Alfie spöttisch: „Ich habe euch auf jeden Fall schon händchenhaltend gesehen. Denke daran, dass ihr noch nicht 16 Jahre alt seid.“
„Spinnst du?!“, entrüstete sich Aylana und auch Salomee wies Alfie zurecht: „Was du wieder für alberne Gedanken hast. Schäm dich, Alfias.“
Alfie wehrte sich großspurig: „Das ist nicht so abwegig, eine Persönlichkeit meines Wissensstandes und meiner Abgeklärtheit weiß genau, wovon sie spricht. Obwohl …“, sagte er und wandte sich nun direkt an Aylana, bevor er weiterfuhr: „Weißt du, sexuelle Aktivitäten werden überbewertet und Höhepunkte sind nichts anderes als biomechanische Fehlzündungen, die jegliches logisches Denken verunmöglichen.“
Während Salomee nach Luft rang, versuchte Sirion vergeblich, sein Gesicht hinter einem Kissen zu verbergen, um nicht laut zu lachen. Salomee warf ihm einen empörten Blick zu und sagte mit boshaftem Unterton zu Alfie: „Dann möchte ich dich nur daran erinnern, dass auch du das Ergebnis einer solchen Fehlzündung bist.“
Jetzt war es endgültig aus mit Sirions Beherrschung. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen, und auch die anderen fielen in sein Gelächter mit ein. Es dauerte einige Zeit, bis alle sich wieder beruhigt hatten. Dann sagte Sirion: „Also jetzt nochmals ernsthaft. Aylana, ich möchte einfach nur, dass du dir sicher bist, dass niemand, vor allem auch nicht Davy, etwas über uns herausfindet. Wir wissen alle, wie gefährlich das für uns werden könnte.“
„Ja, Paps, du musst dir keine Sorgen machen. Ich weiß genau, was ich tue. Und Alfie hat mit seinen speziellen Gaben dafür gesorgt, dass kein großes Aufheben mehr um diese Sache gemacht wird.“
Salomee spöttelte: „Da sieht man, dass selbst ‚Fehlzündungen‘ nützlich sein können.“
Da brachen alle erneut in Gelächter aus, bis Sirion schließlich das Gespräch auf Aylanas bevorstehendes großes Ereignis lenkte: „Aylana, wir haben dich seit deiner Geburt gelehrt, alle deine Sinne zu entwickeln und zu schärfen. Deine Umwelt zu ehren und zu achten, die Gesetze unseres Volkes zu befolgen und zu verteidigen. Nun wirst du deinen Platz finden und deine Bestimmung erhalten. Versuche, deinen Geist und deine Seele rein und unberührt zu halten. So werden Dana Nala, Dano Aygo und das gemeinsame Bewusstsein allen Lebens dir helfen können, den richtigen Weg zu finden. Bist du bereit für diesen Schritt? Haben wir dir alles mitgegeben, oder hast du noch Fragen oder Wünsche an uns?“
„Nein, Paps“, sagte Aylana.
„Du und Mam habt mir alles gezeigt und gelehrt, ich fühle mich bereit für diese Zeremonie und ich weiß, dass ich diese Vereinigung unbeschwert und ohne Forderungen eingehen soll. Ich danke euch, Dana und Dano, für all die Liebe und das Vertrauen, das ihr mir geschenkt habt.“
Aylana wusste, dass sie für dieses Ritual keine Wunschvorstellung haben sollte und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als am Ende das Symbol einer Drachenreiterin auf ihrem Oberarm zu tragen, wie ihr Vater. Und sie hoffte von ganzem Herzen, dass sie alle dafür notwendigen Eigenschaften besaß.
AylanasBestimmung
Auf Oileàin Arann in der Festung Dún Eochla war alles für Aylanas Zeremonie vorbereitet. Ihre Mutter hatte mit anderen Mitgliedern der Heilerinnen und Magier den für Menschen undurchdringlichen Zauber über die Festung gewoben, der es ihnen ermöglichte, die alten und heiligen Rituale ungestört durchführen zu können. Es mussten immer mindestens zehn Mitglieder des Elfenzirkels anwesend sein, um die Einhaltung der Regeln des Rituals zu bezeugen sowie die Eltern und Angehörigen des Novitae aygo, der Anwärterin des Lebens.
Die zehn Drachenritter hatten ihre prächtig aufgezäumten Drachen rund um den äußeren Steinkreis aufgestellt. Die mächtigen, prachtvollen Tiere, mit ihren in allen Farben schillernden Panzerschuppen, hatten die Flügel weit ausgebreitet und bildeten so einen undurchdringlichen Schutzwall um die Festung. Die Drachenritter selbst bildeten den zweiten Kreis um den inneren Steinwall. Vervollständigt wurde ihr Kreis durch mehrere Feuer, die mit ihrem flackernden und wärmenden Licht die Umgebung erhellten. Sie alle trugen ihre traditionellen Rüstungen mit den jeweiligen Insignien der Clans. In Sirions Fall war es das Symbol der Sonnendrachen, das seit jeher alle Mitglieder seiner Familie auszeichnete. Bewaffnet waren alle mit ihren Schwertern und Bögen, die ebenso individuell waren wie ihre Träger. Die einzelnen Waffen hatten das besondere Merkmal, dass sie nur von ihren Besitzern geführt werden konnten.
Im Zentrum der Festung befand sich der Sola arva aygo, der heilige Baum des Lebens. Ein mächtiger, weit verzweigter, Jahrtausende alter Baum, der mit seinen Wurzeln und Blättern die Vereinigung von Dana Nala und Dano Aygo symbolisierte. Er war in der Mutter Erde verwurzelt, die Äste und Blätter der Sonne entgegenwachsend. Aylana war mit Salomee, Alfias und all ihren Familienangehörigen um diesen Baum versammelt. Sie trug das einfache, schmucklose Gewand der Novitae aygo. Ein weißes Kleid mit langen Trompetenärmeln, das um ihre Taille mit einer violetten Kordel zusammengehalten wurde und einer langen Kapuze, die ihr Gesicht halb bedeckte.
Die Drachenritter eröffneten das Ritual mit den vorgeschriebenen Worten der Arcandrin: „Sola Luz, Dano Aygo, Attawa uso. Sola Nala, Dana Aygo, Attawa uso.“
Nach einigen Minuten fielen auch die übrigen Anwesenden in diesen Sprechgesang mit ein. Sirion verließ den Kreis der Drachenritter und kam ins Zentrum der Festung. Er und Salomee führten Aylana zum heiligen Baum und Aylana lehnte sich mit ihrem Rücken an den mächtigen Stamm. Sie befreite ihren Geist von allem Ballast und versuchte, sich nur auf die Stimmen zu konzentrieren, die immer lauter und eindringlicher wurden. Aylana spürte plötzlich, wie sie von Ästen und Ranken des Baumes umschlungen wurde. Der Baum umfing Aylana liebevoll und verhüllte nach und nach ihren ganzen Körper. Aylana hörte die Stimmen nur noch im Hintergrund und es war, als öffnete sich ihrem Bewusstsein das ganze Universum. Sie fühlte sich vollständig eins mit allem Sein und Leben und verspürte einen tiefen heiligen Frieden, wie er nur einer unbefleckten reinen Seele zuteilwerden konnte.
Sie fühlte, wie Sola arva aygo mit ihr sprach und wusste, dass ihr Innerstes, ihre geheimsten Gedanken, vor dem Lebensbaum und der Schöpfung enthüllt waren. All Ihre Wünsche und Träume lagen offen da und das Bewusstsein des heiligen Baumes, das sich mit der Energie allen Lebens vereinigt hatte, nahm sie in diese Vereinigung, diese Symbiose aller Formen des Lebens, mit auf. Aylana fühlte sich geborgen, verspürte jedoch auch die Verantwortung, die sie mit dieser Vereinigung eingegangen war. Nach einer scheinbar unendlich langen Zeit, spürte sie, wie sich die Ranken langsam von ihr zurückzogen und sie wieder freigaben. Aylana öffnete die Augen und ihre normalen Sinne nahmen ihre Umgebung wieder wahr.
Die Stimmen waren verstummt und es war kein Laut zu hören. Selbst die Drachen standen absolut bewegungslos da und beobachteten das Zentrum des Kreises mit ihren violett schillernden Augen. Sirion und Salomee standen vor Aylana und sie wusste, dass jetzt der Moment der Entscheidung gekommen war. Hatte Sola arva aygo ihr die Bestimmung offenbart? War Aylana jetzt eine wahre Arcandrin?
Sirion trat zu ihr und schob sanft ihren rechten Ärmel hoch. Aylana spürte ihren eigenen Herzschlag dumpf wie ein fernes Echo. Sie hörte das Rauschen ihres eigenen Blutes. Und sie spürte die Blicke der Elfen um sie herum alle auf sich gerichtet.Vor den Augen aller wurde auf ihrem Oberarm das Symbol der Drachenritter sichtbar. In diesem Moment warfen alle Drachen ihre Köpfe nach oben und ließen ein triumphierendes, tiefes Grollen ertönen. Aylana wurde fast schwindlig vor Glück und Sirion und Salomee umarmten ihre Tochter voller Stolz. Sirion setzte gerade zum Sprechen an, als etwas Merkwürdiges geschah. Die Flammen der Feuer loderten hell auf und alle Drachen beugten ihre Vorderbeine und senkten die Köpfe zu Boden, als würden sie sich verbeugen. Es war, als würde die Welt minutenlang den Atem anhalten. Kein Geräusch war zu hören. Selbst das Knistern der Flammen schien verstummt zu sein, als Dorkon, einer der Drachenritter zu Aylana und ihren Eltern trat.
„Sirion, du weißt, was das bedeutet“, sagte er leise.
„Die Prophezeiung hat sich erfüllt!“
Mit diesen Worten schob er Aylanas linken Ärmel hoch. Auf ihrem Oberarm prangte ein leuchtendes Symbol, das ein Schwert zeigte, auf dem mit violett schimmernden Runen ‚Amada aygo’, ‚Hüterin des Lebens‘, geschrieben stand. Sirion und Salomee erstarrten und blickten Aylana ungläubig an. Auch die übrigen Drachenritter traten herbei, um das Symbol mit eigenen Augen zu sehen. Adalar, der auch zu ihnen gehörte, wandte sich an Sirion: „Sie muss in die Kammer. Sofort! Wenn sie es ist, wird diese Prüfung die Prophezeiung bestätigen.“
„Was ist das für eine Prüfung, Adalar?“, fragte Salomee besorgt.
An seiner Stelle antwortete Sirion düster: „Unter uns liegt die Kammer der Bewährung, in der nur die wahren Auserwählten bestehen können. Viele haben es schon versucht, noch nie ist jemand zurückgekehrt.“
Aylana hörte mit wachsender Verwirrung zu und fragte: „Was hat das alles zu bedeuten? Was geht hier vor und was heißt dieses Zeichen?“
Sirion fasste sie bei den Schultern und sah ihr mit ernster Miene ins Gesicht: „Es gibt in unserem Volk eine Legende, die besagt, dass eine reine Seele wiedergeboren wird, die den Völkern der Erde den Frieden wiederbringen kann.“
„Und, dass wir sie erkennen werden, an diesem Symbol.“ Dabei zeigte er auf ihren linken Oberarm.
„Du musst die Kammer der Bewährung betreten. Nur so kann sich die Prophezeiung erfüllen. Niemand weiß, was dort auf dich wartet, meine Tochter. Ich werde dir nicht helfen können.“
Salomee trat zu ihnen: „Sirion, sie ist doch noch so jung. Muss das wirklich jetzt geschehen? Ist das nicht vielleicht alles nur ein Irrtum?“
Sie nahm Aylana in die Arme, um sie zu beschützen, aber Adalar entgegnete mit steinerner Miene: „Sie trägt das Zeichen! Es ist so bestimmt. Sie muss die Kammer betreten. Du weißt Sirion, wir alle haben unseren Eid geleistet, die Gesetze der Arcandrin zu wahren und zu verteidigen. Sie muss in die Kammer. Sofort!“
„Kann mir endlich jemand erklären, was das alles zu bedeuten hat?“, fuhr Aylana dazwischen. „Wo ist diese Kammer und was erwartet mich dort? Dana, Dano, was geht hier vor?“
„Wir wollen kurz mit Aylana sprechen. Sie muss wissen, was auf sie zukommt, wenn sie die Kammer betritt.“ Sirion wandte sich bestimmt an Adalar und den Rat des Elfenzirkels.
Dorkon erwiderte verständnisvoll: „Dawa. Ja, Sirion, das sei euch gewährt. Aber du weißt, was die Schriften verlangen. Sie muss die Kammer noch in dieser Nacht betreten.“
Sirion nahm seine Familie zur Seite und begann leise und eindringlich mit Aylana zu sprechen. „Wie du weißt, behütet der Rat des magischen Zirkels und die Drachenritter auch die Schriftrollen der Arcandrin, in denen seit Anbeginn der Zeiten alle Geschehnisse und das ganze Wissen unseres Volkes festgehalten sind. In diesen Schriftrollen steht auch eine Prophezeiung. Diese besagt, dass eine Elfe geboren wird, die wir an ihrem Zeichen erkennen werden. An dem Tag der Novitae aygo. Du, meine Tochter, hast diese Zeichen erhalten. Die Prophezeiung besagt auch, dass diese Elfe unser Volk beschützen und in eine Zeit führen wird, in der alle Geschöpfe im Einklang leben können.“
„Dano, ich bin gerade sechzehn Jahre alt geworden. Ich bin nur eine normale Arcandrin. Es ist nichts Besonderes an mir“, unterbrach ihn Aylana.
„Du bist besonders.“ Salomee nahm sie in die Arme.
„Seit deiner Geburt habe wir immer gespürt, dass etwas in dir verborgen ist, dass selbst ich nie ganz erfühlen konnte. Vertraue auf dich selbst. Sola arva aygo hat dein Innerstes erspürt und dich mit diesem Symbol geehrt. Du kannst diese Kammer ohne Angst betreten. Der heilige Baum des Lebens kann sich nicht täuschen. Vertraue auch ihm. Wir werden hier sein und auf dich warten.“
In diesem Moment rief Adalar nach ihnen: „Die Pforte hat sich geöffnet. Es ist Zeit!“
Sirion führte Aylana zu einer Lücke in der Steinmauer, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Von dort führte eine steinerne Treppe hinab, von der Aylana gerade einmal die obersten Stufen im Schein der Feuer erkennen konnte. Sirion sagte: „Hab keine Angst meine Tochter, du bist behütet und Sola arva aygo wird dich leiten.“
Nach kurzem Zögern betrat Aylana die Treppe und tastete sich vorsichtig die Dunkelheit hinab. Nach einigen Stufen ertönte über ihr ein Scharren und der Stein glitt zurück über die Öffnung. Sie war nun in undurchdringlicher Dunkelheit gefangen. Es war kein Geräusch mehr von draußen zu hören. Aylana fühlte sich einsam und hilflos. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und tastete sich der Wand entlang tiefer und tiefer hinab. Nach einer Weile glaubte sie, einen Lichtschimmer erkennen zu können. Nach ein paar weiteren Stufen erkannte sie ein großes, rundes Gewölbe über ihr. Das Licht schien direkt aus den Wänden zu strahlen, wie aus tausenden von Kristallen. Aylanas Augen gewöhnten sich an das sanfte Licht und sie erkannte, dass sie sich unter dem Lebensbaum befand, dessen mächtige Wurzeln die Decke und die Wände des Gewölbes bildeten. Inmitten des Saales formten die Wurzeln eine verschlungene Säule. Im Zentrum war ein prächtiger, schwarz glitzernder, runder Kristall zu sehen, der direkt aus dem Boden herauszuwachsen schien. Er war etwa einen Meter hoch und wies einen Durchmesser von mindestens zwei Metern auf. Entlang der Wände des Raumes befanden sich überall Nischen und kleine Höhlen, in denen sich tausende von Schriftrollen und Büchern befanden. Auf einer Seite entdeckte Aylana eine massive Tür, auf der in goldenen Lettern und in der Sprache der Arcandrin geschrieben stand: „Nur die tiefe Wurzel kann den Himmel erreichen.“
Aylana verspürte keine Furcht mehr. Sie hatte dasselbe Gefühl wie in dem Moment, als sie von Sola arwa aygo umarmt worden war. Sie ging neugierig die Wände entlang und griff vorsichtig nach einer Schriftrolle, als eine Stimme ertönte: „Ich habe lange auf dich gewartet, Tochter der Sonne und der Erde. Viele tausend Jahre.“
Aylana drehte sich ruckartig um und versuchte, den Ursprung der Stimme zu finden. Die Worte schienen jedoch direkt in ihrem Kopf zu erklingen. Erst jetzt bemerkte Aylana, dass der Kristall im Inneren der Säule in eine schimmernde Kugel aus Licht gehüllt war. Aylana trat langsam näher an ihn heran. Vor den verschlungenen Wurzeln des Lebensbaumes blieb sie stehen und fragte: „Wer bist du? Deine Stimme scheint mir so vertraut und doch kenne ich dich nicht. Ich bin so verwirrt. Was geschieht mit mir?“
Die Lichtkugel veränderte langsam ihre Erscheinung und formte eine Gestalt.
„Ich bin Ava, Tochter von Sola arwa aygo. Ich werde dir alle deine Fragen beantworten, soweit es mir erlaubt ist.“
Mit diesen Worten trat sie aus dem Inneren der verschlungenen Wurzeln des Lebensbaumes hervor. Aylana war bei ihrem Anblick wie vom Blitz getroffen und stieß hervor: „Ava! Ich kenne diesen Namen. Meine Mutter hat mir oft von dir erzählt. Alle Kinder der Arcandrin haben von den Legenden um Ava, der Tochter des Lebensbaumes, gehört.“
„Attawa osu, Aylana“, sagte Ava und legte dabei ihre rechte Hand auf ihr Herz. Danach streckte sie ihren Arm aus, öffnete die Finger und ihre Handfläche richtete sich auf Aylana. Dies bedeutete, dass Ava aus ihrem Herzen Liebe nahm und Aylana schenkte.
„Attawa uso“, antwortete Aylana, wobei auch sie die geöffnete Hand ausstreckte, schloss und zum Herzen führte, wo sie die Finger wieder öffnete. Damit hatte sie die Liebe entgegengenommen und zu ihrem Herzen geführt.
Ava war eine wunderschöne Elfe. Das besondere an ihr waren ihre mächtigen Schwingen, die selbst zusammengefaltet bis an ihre Füße reichten und über ihren Kopf hinausragten. Die Flügel waren von einem strahlenden Weiß, das an den Rändern langsam in ein intensives Violett überging. Ihre lang herabfallenden Haare sowie ihre Augen schimmerten ebenso in dunklen, violetten Tönen. Gekleidet war sie in ein schlichtes, weißes Kleid mit langen und weiten Ärmeln. Um ihre Hüften war ein Band gelegt, das mit denselben schwarzen Kristallen besetzt war, wie das Innere der Säule. Aylana war wie betäubt vom Anblick der wunderschönen Gestalt und konnte fast nicht glauben, dass Ava wahrhaftig vor ihr stand.
„Aylana, meine Tochter, nun ist die Zeit gekommen, dich über deine Bestimmung aufzuklären und dir alles über unser Volk zu erzählen. Du musst jedoch wissen, dass du jederzeit gehen kannst, wenn du das möchtest. Solltest du deinen vorbestimmten Platz einnehmen, wird das mit vielen inneren und äußeren Kämpfen verbunden sein und du wirst viele Entbehrungen ertragen müssen. Doch du kannst das Volk der Arcandrin in eine Zukunft führen, in der wir in Frieden und Freiheit mit allen Lebewesen und der Natur existieren können. Du weißt, wie es auf unserer Dana Nala, unserer Mutter Erde, aussieht. Es gibt leider viele Kräfte, die ihre eigenen Machtgelüste und Interessen vor den Schutz der Natur und vor ein friedliches Zusammenleben aller Lebewesen stellen. Es gibt sogar Abtrünnige unseres eigenen Volkes, die sich gegen uns stellen. Nur wenige unter uns wissen von dieser Bedrohung, den Arcandrin, die sich selbst die einzig wahren berechtigten Beherrscher der Erde nennen. Sie bezeichnen sich als ‚Shiazul’ und streben nach der alleinigen Herrschaft über die Welt. Und sie haben sich abgewandt von unseren Idealen und unserer Geschichte. Doch davon später, Aylana.“ Sie hielt einen Moment inne, bevor sie sagte: „Stelle zuerst deine Fragen. Komm.“
Sie deutete auf den Kristall, aus dem sie gekommen war, und Aylana folgte ihr zögerlich ins Innerste des Lebensbaumes. Sie setzten sich auf den Kristall und es schien Aylana, als wären sie in eine Welt eingetaucht, die ihr unsagbar neu und doch vertraut vorkam. Ava und Sola Arva aygo kannten ihre Fragen, bevor sie sie aussprechen konnte und ihre Antworten erklangen direkt in Aylanas Kopf. Sie sah die Geschichte ihres Volkes vor ihrem inneren Auge und erfuhr, weshalb sich die Arcandrin von den Menschen zurückgezogen hatten und weshalb sie ihre wahre Gestalt verbargen. Sie erfuhr auch, dass einst viele Arcandrin Schwingen besessen hatten. Doch aus Furcht vor Verfolgung durch die Menschen waren viele Fähigkeiten und Merkmale von Generation zu Generation verloren gegangen. Auch die vielfältigen Lebensformen der Elfenkinder gerieten durch ihren Rückzug von den Menschen mehr und mehr in Vergessenheit. Heute existieren nur noch wenige Völker der Gnome, Zwerge und Trolle. Aylana lernte, dass es auch heute noch Menschen gab, die sich das Wissen um die Naturwesen bewahrt hatten und deren Anwesenheit erspüren können. Ava und der Lebensbaum ließen tausende von Bildern in Aylanas Kopf entstehen und sie lernte so viel über die Geschicke der Erde und deren Geschöpfe, dass in ihr langsam ein Verständnis über den Lauf der Geschichte und die Folgen der tausendfach verästelten Geschehnisse heranwuchs.
Plötzlich wurde sich Aylana bewusst, wie viel Zeit vergangen sein musste und dass sich Salomee und Sirion bestimmt schon um ihr langes Ausbleiben sorgten. Auch Ava erkannte Aylanas Gedanken und beruhigte sie: „Sola Arva aygo hat bereits mit den Drachenrittern gesprochen. Du wirst jetzt dieses Gewölbe verlassen und deine normale Ausbildung, die dich zur Drachenreiterin machen wird, aufnehmen. In zwei Jahren, wenn du deine Prüfungen abgeschlossen hast, sehen wir uns hier wieder.“
Ava führte sie aus der Säule heraus, zeigte auf das Portal, das Aylana schon vorhin aufgefallen war und sagte: „In zwei Jahren wird dir auch dieses Portal offenstehen und ich werde dich in die letzten Geheimnisse unseres Volkes einweihen. Dieses Gewölbe aber steht dir jederzeit offen und du kannst von all dem Wissen hier Gebrauch machen.“
Sie sah Aylana ernst in die Augen und fragte dann feierlich: „Nun weißt du, was dich erwartet, wenn du deine Bestimmung annehmen willst. Wir lassen dir die Wahl. Noch nie wurde eine Arcandrin gezwungen, diese Last der Verantwortung anzunehmen. Du könntest deine Ausbildung als Drachenreiterin beenden und dein Leben wie bis anhin weiterführen. Also Aylana, wir fragen dich nun. Willst du deine Bestimmung erfüllen?“
Fast schien es Aylana, als würden Avas Augen sie darum bitten, es nicht zu tun. Doch Aylana sagte mit fester Stimme: „Ich werde meine Bestimmung annehmen und mein Leben für das Wohlergehen und die Freiheit aller Geschöpfe von Dana Nala und Dano Luz einsetzen.“
Da nickte Ava und sagte: „Wir werden stets für dich da sein. Du besitzt jetzt die Gabe des stillen Sprechens und du wirst deine Verbundenheit mit allen Kindern der Erde und der Sonne spüren können. Nun, Aylana, es ist üblich, dass die Novitae Aygo nach vollendeter Zeremonie mit den Insignien ihrer Zugehörigkeit zur Gilde ausgestattet werden. Als Anwärterin der Drachenritter steht dir ein Bogen und ein Schwert zu. Diese Auszeichnungen werden normalerweise von den Mitgliedern des Elfenzirkels überreicht, doch Sola arwa aygo und ich, wir haben dies hier für dich vorbereitet.“
Sie wies auf einen Kristall, der sich aus dem Boden erhoben hatte und auf dem ein Schwert und ein Bogen sichtbar wurden. Aylana erkannte die Waffen sofort und alles begann, sich vor ihren Augen zu drehen. Sie wandte sich zu Ava um und sagte mit erstickender Stimme: „Jedes Kind der Arcandrin hat von diesen Waffen gehört, die einst der legendären Königin der Arcandrin gehörten. Alle kennen die Geschichten, die sich um Xandria ranken und wie sie unser Volk einst in die Freiheit geführt hat. Ich kann nicht … Ava, wie kann ich dem gerecht werden?“
Ava unterbrach sie und zeigte auf den Lebensbaum: „Sola Arva aygo hat dich auserwählt und der Lebensbaum besitzt die gesammelte Weisheit, seit Anbeginn der Zeiten. Vertraue auf dich.“
Ava trat zu dem Kristall, auf dem die Waffen lagen und nahm den Bogen in die Hand.
„Dies ist Durandort, Shira Fura ad Luz, der Drachenbogen der Sonne. Nur du wirst ihn spannen können.“ Sie legte Durandort wieder auf den Kristall und ergriff das Schwert.
„Und dies ist Xandar, Sia Cristia ad Zul, das Kristall Schwert des Mondes. Nur du wirst Xandar führen können.“ Sie legte auch Xandar wieder auf den Kristall und bedeutete Aylana, die Waffen anzulegen. Aylana trat ehrfürchtig näher und betrachtete die eindrucksvollen Waffen. Sie kannte die Geschichten und wusste, dass Durandort aus dem Holz des Lebensbaumes gewachsen war und dass die Sehne aus den Schweifhaaren eines Einhornes bestand. Der Bogen schimmerte dunkel und sein Inneres schien durch tausende schwarze Kristalle zu funkeln. Es waren dieselben, die auch überall in dem Gewölbe sichtbar waren. Xandar war ganz aus dem schwarzen Kristall geschmiedet worden, in seinen Griff waren Drachenschuppen eingelegt, die in allen Farben des Lichts schimmerten. Als Aylana die Waffen in die Hand nahm, schien es, als wären diese lebende Teile ihres Körpers und sie konnte die Energie spüren, die darin verborgen war.
„Nun komm, Aylana.“ Ava zeigte auf die Treppe.
„Der Eingang ist geöffnet und deine Familie und die Drachenritter erwarten dich. Eine wichtige Sache noch … du kannst jetzt die Elfenportale jederzeit selbst öffnen und benützen. Aber nutze diese Fähigkeiten nur zu unser aller Wohl, niemals eigennützig.“
Ava führte sie zur Treppe, als Aylana nochmals die Stimme von Sola Arva aygo in ihren Gedanken hörte: „Pass gut auf dich auf, meine Tochter. Die Shiazul werden sehr bald von den heutigen Geschehnissen erfahren und danach trachten, diese zu ihrem Vorteil zu nutzen. Vollende vorerst deine Ausbildung zur Drachenreiterin und verberge dein Wissen tief in dir. Und …“, sagte der Lebensbaum und machte eine Pause, „deine gefährlichsten Feinde sind nicht diejenigen, die dir offen entgegentreten, es sind vielmehr diejenigen, die du erst auf den zweiten Blick erkennen wirst. Lerne, auf deine Gefühle zu hören und vertraue der Stimme deines Herzens.“
„Attawa osu, Aylana.“
„Attawa uso“, erwiderte Aylana und empfing die Liebe, indem sie ihre Hand auf ihr Herz legte.
Ava nahm sie in die Arme und umschloss sie dabei fest mit ihren Schwingen. Sie küsste Aylana auf die Stirn und wiederholte nochmals: „Dieser Ort soll dir jederzeit Schutz und Hilfe bieten. Gehe jetzt, Amada aygo, deine Eltern können es gar nicht erwarten, dich auch in die Arme zu schließen.“
Mit diesen Worten drehte sich Ava um und ging zurück in das Zentrum der Säule, wo sie sich wieder mit Sola arva aygo vereinigte. Aylana straffte die Schultern, befestigte Xandar auf ihrem Rücken und nahm Durandort in die Hand. Daraufhin schritt sie langsam die Treppe hinauf. Als Aylana das Ende der Treppe erreicht hatte, sah sie, dass bereits der Morgen graute. Doch die Feuer loderten immer noch hellauf und die Drachenritter sowie ihre Familie erwarteten sie im innersten Steinkreis und um den Lebensbaum versammelt. Ihre Drachen bildeten den Schutzwall um den äußeren Kreis und erhoben die Köpfe bei Aylanas Erscheinen.
Als die Drachenritter die Waffen in Aylanas Händen erkannten, wurde es totenstill in der Festung und alle starrten sie ungläubig an. Gondrin, der Waffenmeister der Drachenritter, brach als Erster das Schweigen: „Xandar und Durandort. Die Waffen Xandrias. Die Prophezeiung erfüllt sich.“
Dorkon trat auf sie zu und legte die Hand auf Aylanas Schulter.
„Der Lebensbaum hat zu uns gesprochen. Du wirst als Anwärterin in den Kreis der Drachenritter aufgenommen und dein Vater wird deine Ausbildung übernehmen. Du wirst …“ Adalar unterbrach ihn, indem er auf Aylana zutrat, ihr den Bogen aus der Hand nahm und höhnisch sagte: „Die Legende besagt, nur die rechtmäßigen Nachfolger Xandrias können mit diesen Waffen umgehen. Nun denn, wir wollen sehen, ob sich diese Legende bewahrheitet.“
Er versuchte den Bogen zu spannen, doch so sehr er sich auch mühte, der Bogen in seiner Hand widersetzte sich all seinen Kräften. Wütend drückte er Aylana den Bogen wieder in die Hand und spottete: „Wir wollen doch sehen, ob du vermagst, was sogar mir nicht gelingt.“
Aylana blickte unsicher zu Sirion, doch dieser nickte ihr beruhigend zu. Aylana nahm den Bogen in die linke Hand, legte einen Pfeil ein und spannte den Bogen mühelos. Der Pfeil schoss gedankenschnell von der Sehne und spaltete einen Stein der Mauer mitten entzwei. Daraufhin wurde Adalar noch wütender, nahm Aylana nun auch Xandar aus dem Rückenhalfter und versuchte, das Schwert zu schwingen. Doch auch hier widersetzte sich die Waffe und es sah aus, als versuche Adalar ein dickes Tau zu schwingen. Die Klinge widersetzte sich jeder seiner Bewegungen, bis er erschöpft aufgab und Xandar Aylana entgegenschleuderte. Das Schwert glitt wie von selbst in Aylanas Hand und es sah aus, als wäre sie selbst am meisten darüber erstaunt.
Aylanas Familie hatte Adalars fruchtlose Versuche und sein unbeherrschtes Auftreten angespannt verfolgt. Gondrin aber sagte: „Schwinge das Schwert, Aylana und zeige uns, dass sich Xandar seine rechtmäßige Besitzerin ausgewählt hat.“
Natürlich hatte Aylana von Kindesbeinen an mit Holzschwertern und Pfeil und Bogen gespielt, doch dies hier war etwas ganz anderes. Sie nahm Xandar hoch und begann das Schwert, das sich wie ein Teil ihrer selbst anfühlte, zu schwingen. Es sah aus, als sei Aylana von einer leuchtenden Kugel umgeben, als sie das Schwert um sich wirbeln ließ. Sie spürte, dass eigentlich Xandar ihre Hand führte und nicht umgekehrt.
Gondrin sagte zu Adalar gewandt: „Es sind alle Zweifel ausgeräumt. Gibt es noch jemanden, der etwas einzuwenden hat?“
Er sah nacheinander alle Drachenritter an, doch alle außer Adalar nickten zustimmend.
„Gut, dann bleibt es dabei. Sirion wird Aylanas Ausbildung übernehmen und in zwei Jahren, wenn Aylana die Maga Fura, die Drachenreife erreicht hat, sehen wir uns hier wieder. Sola arva Aygo wird über ihr weiteres Schicksal entscheiden“, wandte er sich an Aylana.
„Bis dahin wird alles so sein, wie bisher. Außer deiner Ausbildung zur Drachenreiterin wird sich nichts ändern. Du wirst dein Leben weiterführen wie bisher. Du wirst zur Schule gehen und Handlungen vermeiden, die auf dich aufmerksam machen könnte. So wurde es uns vom Lebensbaum und Ava aufgetragen. Attawa osu euch allen. Die Zeremonie ist hiermit beendet.“
Sirion entgegnete: „Nimm bitte Raga, meinen Drachen, mit. Ich werde ein Portal öffnen, um mit meiner Familie heimzukehren.“
Nach diesen Worten löste Gondrin die Versammlung auf. Die Krieger bestiegen ihre Drachen und flogen im Schutze des Schattenzaubers davon. Aylana und ihre Familie jedoch benutzten eines der Elfenportale, um nach Hause zurückzukehren. Elfenportale können nur von Mitgliedern des Elfenzirkels geöffnet werden. Schon viele, die es versucht hatten, ohne die entsprechende Begabung und Magie zu besitzen, waren unauffindbar in Raum und Zeit verschwunden. Sirion aber verfügte über die entsprechenden Kenntnisse. Mit Hilfe der uralten magischen Formeln öffnete er ein Portal und bald wies auf Oileàin Arann in der Festung Dún Eochla nichts mehr auf die Anwesenheit der Arcandrin hin.
DieAusbildung
Am Tag nach der Zeremonie saß Aylana mit ihrer Familie beim Abendessen in der gemütlich eingerichteten Küche und sie sprachen über die letzte Nacht. Alfie beschwerte sich: „Kein einziger dieser komischen, fliegenden, schuppigen Schildkröten hat richtig Feuer gespuckt. Ha! Und so was will ein Drachen sein!“
Aylana erwiderte spöttisch: „Aber Alfie, du weißt doch, dass feuerspuckende Drachen nur in den Menschenmärchen existieren. Wie sollte denn das Feuer entfacht werden?“
„Ich habe kürzlich eine Sendung im Fernsehen gesehen, bei der bewiesen wurde, dass ein Furz brennt. Also wieso …“
Alfie wurde brüsk von Salomee unterbrochen, die einwarf: „Alfias, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich bei Tisch solche Ausdrücke nicht dulde.“
Alfias murmelte beleidigt: „Ich glaube, das war ‚Jackass’ oder so etwas ähnliches.“
Sirion meinte lachend: „Alfie, ich glaube, wir müssen uns einmal über deine Programmauswahl unterhalten. Aber jetzt mal im Ernst, wir sollten uns alle wirklich Mühe geben, uns wie eine ganz normale Familie mit zwei halbwüchsigen Teenagern zu benehmen. Das sollte ja nicht allzu schwierig sein.“
„Wenn Ihre Erhabenheit, also meine komische Schwester und ich, weiterhin wie gewöhnlich streiten dürfen …“
Weiter kam Alfie nicht, denn Aylana hatte ihm mit der Treffsicherheit und der Geschwindigkeit einer Elfe eine Kartoffel in den halb geöffneten Mund geworfen, an der Alfie jetzt fast erstickte.
Salomee warf Aylana einen vorwurfsvollen Blick zu und stand auf, um Alfias auf den Rücken zu klopfen. Sirion lachte zwar auch, meinte aber anschließend mit ernster Miene: „Alfie, keine dämlichen Anspielungen mehr. Wir alle werden uns jetzt Mühe geben, uns ganz normal zu verhalten und uns den menschlichen Gepflogenheiten so weit wie möglich anzupassen. Und kein Wort mehr von der gestrigen Nacht. Ihr geht zur Schule und pflegt den Kontakt mit euren Freunden wie bisher. Nur für dich, meine Tochter, wird mit Beginn deiner Ausbildung einiges an Zeitaufwand hinzukommen. Wir müssen uns noch überlegen, was du deinen Freundinnen und Freunden mitteilen kannst, um deine knappe Freizeit zu erklären. Das werde ich noch mit deiner Mutter besprechen. Und jetzt genug davon, lasst uns endlich essen.“
Alfie erwiderte: „Na endlich, ich dachte schon, du hörst überhaupt nicht mehr auf mit deinem Vortrag. Schieb schon mal das Salz rüber, Oldie.“