Azorenkrimi 1 - Wo?? - Ondina Rocha - E-Book

Azorenkrimi 1 - Wo?? E-Book

Ondina Rocha

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Beschreibung

Zwei deutsche Ehepaare finden sich auf der Azoreninsel Terceira mit der UNESCO Weltkulturerbestadt Angra do Heroísmo innerhalb kürzester Zeit in eine Reihe von Abenteuern verwickelt, bei denen die eigenwillige Natur ihre entspannenden Wanderferien denkwürdig durchrüttelt. In wie weit sind deutsche Landratten Stieren, Walen, Rochen, Seeigeln und weiterem Lokalkolorit hautnah gewachsen? Wenn sich dazu eine verkohlte Leiche gesellt, freut man sich als Tourist um so mehr über hilfreiche Einheimische, die zu echten Freunden werden. Das schmackhafte traditionale Essen beruhigt die Nerven, um beklemmende Einsamkeit und den überschäumenden Stadtfesttrubel Sanjoaninas als unvergessliche Erinnerungen mit nach Hause zu nehmen - oh, und natürlich das kanine Souvenirsahnetüpfelchen: Chicito. Auch ein Besuch auf der Nachbarinsel Graciosa wird der in dieser Atlantikabgeschnittenheit zunächst vermuteten ländlichen Langeweile nicht gerecht: Unverhofft kommt oft.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Azorenkrimi 1: Wo??

Ondina Rocha

1 – Von Stieren und Rochen

„Ob der berittene Stierkämpfer wohl neue Vorderzähne braucht?“ Heike nippt an ihrem Glas frisch gepressten Orangensaft und streicht sich mit der Zunge über ihre eigenen Vorderzähne. Thomas ist gerade mit vollem Mund damit beschäftigt, sein mit dem berühmten São Jorge-Käse und einer äußerst schmackhaften marmorierten Aufschnittscheibe - am Frühstücksbüfett als Paiva ausgezeichnet - optimiertes Brot zu genießen. Dafür braucht er eindeutig seine eigenen Vorderzähne. So möchte er eine sofortige Meinungsäußerung zunächst diplomatisch umgehen, aber die sonst so sanften Rehaugen seiner Frau bringen der Konzentration seines Interesses nicht unbedingt Zustimmung entgegen.

Thomas seufzst innerlich auf. Ungesundes Frühstücksschlemmen – unter dem Deckmantel des Erkundens der örtlichen Essgewohnheiten – und lebhafte Erinnerungen an das eindrucksvolle Unterhaltungsprogramm des vorigen Abends. Eine echte Zwickmühle, aus der er sich da befreien muss. Also rasch durch, der nächste Bissen lockt verführerisch. „Joa mei, der Junge ist eben noch recht grün hinter den Ohren. Kann halt jedem mal passieren, so über den Hals des Pferdes aus dem Sattel geschleudert zu werden. Das Pferd hatte ihn ja nicht vorgewarnt. Und wer weiß, ob der Bub überhaupt Stierkämpfer werden wollte? Vielleicht ist das auch so eine Familientradition. Er wollte eigentlich Automechaniker werden, aber der Papa sagt: ‚Schau her, Buab, ich war Stierkämpfer, der Opa war Stierkämpfer, der Uropa ist schon vom Stier aufgespießt worden, da gibt‘s kein Wenn und Aber. Und was sollten wir mit all den trainierten Stierkampfpferden sonst tun?“

Dieses Frühstücksangebot ist vorzüglich dazu geeignet, sich in ausgeglichene Ferienstimmung zu versetzten – wenn man nur die Gelegenheit dazu bekommt. Thomas erfreut sich ja noch seiner natürlichen Essenswerkzeuge und hat nicht wie der Zipfelklatscher gestern den Sand in der Stierkampfarena geküsst. Bis ihm die Augen zufielen, hatte Heike gestern Nacht noch im Hotelzimmer auf ihn eingeredet und ihrer Empörung Luft gemacht: „Zu Pferd hetzten sie das arme Tier, das verängstigt und orientierungslos hin- und hergetrieben wird. Dieses widerliche Macho-Gehabe kotzt einen geradezu an. Und dann dieser Gockel von spanischem Matador. Dass der sich nicht schämt mit seinen affigen Verrenkungen vor aller Augen! Und schließendlich kniet dieser Spieldosenheld auch noch unbekümmert in dem schmutzigen Arenensand vor dem total verausgabten Stier nieder. Ich schätze mal nicht, dass es nach dem öffentlichen Anerkennungsgeheische seine Aufgabe sein wird, all die glitzernden Palettchen wieder stilgerecht auf seine prunkvolle Ausstattung zu nähen. Da muss dann ein altes Muttchen im Hintergrund sich blutige Finger stechen, damit dieser Möchtegern-Held eine glänzende Figur abgibt.“

In Sachen Emanzipation befinden sich Mutter Heike und Tochter Gudrun auf absolut gleicher Wellenlänge. Nicht auszudenken, was er von der Vertreterin der nachfolgenden Generation zu hören bekommen hätte – also nur gut, dass sie im Augenblick während der Semesterferien Haus und Garten betreut. Zum Glück ist Thomas mit einem gesunden männlichen Selbstvertrauen gesegnet und erträgt diplomatisch auch dramatisch ausufernde Stellungnahmen jenseits der ausbalancierten Objektivität. Heike beobachtet nachdenklich bei einem weiteren Schluck Orangensaft, wie sich die Lippen ihres behaglich kauenden Mannes kräuseln. Thomas könnte mit seiner Annahme sogar recht haben. Und wie er sein Frühstück genießt! Ein Lächeln umspielt nun ihre Lippen, und sie verkneift sich jeglichen Kommentar frugaler Einschränkungsermahnungen. Dabei stellt sich Thomas nur gerade lebhaft vor, wie seine Tochter Gudrun die gesunden Leckereien, mit denen ihre Mutter Vorratskammer und Kühlschrank angefüllt hat, um die vom Studium ach so ausgezehrte Tochter zu kräftigen, ohne Gewissensbisse mit ungesunden Zusatzeinkäufen ergänzt und in Dauerstellung vor Komputer und Fernsehen auf dem Sofa aalt.

Energisch hatte sich ihre Mutter zu später Stunde noch mit kreisenden Bewegungen vor dem Badezimmerspiegel die pflegende Nachtcreme in ihre Gesichtshaut einmassiert. Mit prüfendem Blick missbilligten ihre grünbraunen Augen die beiden Längsfalten zwischen ihren noch dunklen Augenbrauen – ein Gesichtsausdruck, der diese Zeitzeugen naturgemäß natürlich noch verstärkte. Dafür unterstrichen die unklareren Konturen nach dem Absetzen der modischen Gleitsichtbrille die wohltuende Salbenwirkung auf die allmählich nicht mehr zu leugnende Faltenwirklichkeit. Aber beharrlich wie ein Terrier musste Heike das sie aufwühlende Thema erst todreden, um inneren Frieden zu finden. „Und diese vom Stierblut total verschmierten Forcados! Mit den traurig herunterhängenden Zipfelmützchen sehen sie doch aus wie eine Mischung aus Weihnachtsmann und Gartenzwerg. Und wenn der Stier vollkommen inkontinent und ausgepumpt mit hängender Zunge röchelnd da steht, werfen sich acht lächerlich bekleidete Männer auf ihn, und zum Schluss klammert sich einer dieser Wichtelmänner am Schwanz fest und wird von ihm im Kreis herumgeschleift. Absolutes Kasperltheater, findest du nicht auch?“ Mundpartie massieren und somit war vorerst Ruhe. Während Thomas verzweifelt versuchte, eine behagliche Schlafposition zu finden.

Dabei hatten sie doch Glück gehabt, noch gleich am Ankunftstag Eintrittskarten für einen der vier Arenenstierkämpfe um das Sonnenwendefest Sanjoaninas in der UNESCO-Weltkulturerbestadt Angra do Heroísmo auf der Azoreninsel Terceira zu ergattern. Nur noch sogenannte Sonnenplätze waren übrig gewesen. Natürlich stellte sich heraus, dass man um 21 Uhr mit der Sonnenstrahlenintensität gut leben konnte. Der untergehende Wärmespender hatte zwar zeitweise versucht, sie zu blenden, ihnen aber Dank altbewährter Sonnenbrillen nichts anhaben können. Wie die Weltmeister hatte ihr Freundeskleeblatt mit den Handys um die Wette Fotos geschossen. Das Arenengeplänkel zwischen Stier und Mensch zu Füßen der Zuschauer diente dabei lediglich als schmückendes Beiwerk. Genau zwischen den beiden arabisch anmutenden Kuppeln rechts und links vom Areneneingangsbereich verabschiedete sich der gleiche Himmelskörper wie in Osnabrück. Nur badete er hier in einem atemberaubenden Wölkchenmeer, eingetaucht in die unglaublichsten Kitschfarben von Orange, Lila, Violett und Rosa. Die exotische Umgebung mit ihrer atemberaubenden Atmosphäre zogen beide Freundespaare in ihren Bann. Bernds Frau Bettina riet vorsorglich, beim Weiterleiten der Fotos den Empfängern zu vergewissern, dass keine extravaganten Effekt-Apps verwendet wurden, um billigen Ferienneid aufkommen zu lassen. Alles echt Natur! Heute Morgen stellte Thomas beim Sichten der gestrigen Bildausbeute bedauernd fest, dass die faszinierende Abendstimmung, die so unwirklich schön wie echt gewesen war, von ihm leider nur unzureichend im Bild festgehalten worden war. Joa mei, wie soll so ein Bilderkleinformat auch eine überwältigende Atmosphäre einfangen können? Ein Unding!

Aus gebührendem Respekt vor den in der Arena herumspringenden Stieren und mit dem Argwohn, dass diese sich aus Verzweiflung in die höheren Gefilde zu retten versuchen könnten, war ihnen die noch freie Sitzplätze bietende oberste Arenenreihe vertrauensvoll vorgekommen. In Wirklichkeit erwies sich dieser Sicherheitsabstand dann gar nicht als so idiotensicher wie erhofft. Zwar hatten sie den Vorzug vor den Zuschauer in den Arenenrängen unter ihnen, sich an eine Wand zurücklehnen zu können, nämlich die Außenwand der Arena. Was bei sechs aufeinder folgenden Stierauftritten, unterbrochen von einer kurzen Pause, nach dem dritten Akt sozusagen, sich als durchaus erholsam erwies. Ein Blick über die nicht allzu hohe Brüstung direkt hinter ihnen hatte Bernd jedoch umgehend auf sein Plastiksitzkissen plumpsen lassen. Thomas konnte sich ein glucksendes Grinsen nicht verkneifen. Joa, mei, so Norddeutsche waren halt Höhen nicht gewohnt, machten sogar beim Besteigen des Kölner Doms schlapp.

Stets hatte er sich gewundert, wenn Thomas am Fuße des Wendelsteingebirges mit unstetem Blick nicht die Gipfel voneinander unterscheiden konnten. Gestern hatte sich dann Urbayer Thomas seinerseits beim Erscheinen der Stiere verlegen am Hinterkopf kratzen müssen. Diese Viecher sahen sich verflixt ähnlich, um nicht zu behaupten, sie hätten absolut identische Sechslinge sein können. Ein weiß Behemdeter mit schwarzem Tellerhut hatte vor jedem Neueingang informativ ein Schild mit dem zu erwartenden Gewicht der schwarzen Gladiatoren in die Arenenmitte getragen. „Nun ja, jedem das Seine. 450 oder 570 kg Lebendgewicht werfe ich mich nicht freiwillig in den Weg,“ hatte Thomas Freund und Kollege Bernd kopfschüttelnd kommentiert. „Wenigstens haben sie die Hörner der Stiere in stabile Lederpolster gehüllt, um größere Schäden zu begrenzen,“ stellte Bernds Frau Bettina wohlwollend fest. „So kann wenigstens niemand von den spitzen Stierhörnern durchbohrt werden.“

Das Publikum schien nicht unbedingt ihre skeptischen Bedenken zu teilen und stammte zumeist nicht aus nordeuropäischen Gefilden. Zahlreiche Stetsons bezeugten, dass deren Besitzer, wagemutig in unmittelbarer Arenennähe plaziert, sich keineswegs vor wilden Stieren fürchteten. Diese Sitzplätze garantierten dann, dass die den Stetsons Angetrauten den siegreichen Streitern bei der abschließenden Gockelehrenrunde mühelos die markanten Kopfbedeckungen, Blumen und/oder Jeansjacken zuwerfen konnten. Berührt durch die ehrende Hand des so gefeierten Toreros, wurden diese Bekleidungsstücke dann wieder mehr oder weniger genau den Zujubelnden zurückgeschleudert. Bettina quittierte dieses Verhalten abschätzend grinsend, Heike riss erstaunt die Augen auf. Dann hatten Bernds und Thomas bessere Hälften tuschelnd ihre Lästermäuler auf Hochtouren gefahren und aus norddeutscher Sicht die fremdartigen Sitten gebührend zerfetzt. Dabei hielt Thomas die gedämpfte Kritikfreudigkeit für völlig überflüssig, denn noch hatte er keine Menschenseele entdeckt, die zusammenhängend Deutsch sprechen konnte. Musste ja auch nicht sein, schließlich war man im Urlaub.

Und dann hatte Bettina, wenigstens bei ihrem Mann und Thomas, für den ersten ausgelassenen Urlaubslacher gesorgt und bewiesen, dass selbst Tierärztinnen auf Grenzen der Tiernächstenliebe treffen konnten. Fachkundig hatte sie zunächst alle belehrt, dass die schwarzen Flatterwesen hoch über dem leidigen Stierkampfgeschehen keine Vögel, sondern azoranische Fledermäuse seien. Was die exotische Atmosphäre eigentlich noch unterstrich - hätten sich Heikes Krankenschwesteraugen nicht wegen möglicher Hygienebedenken, kritisch beobachtend, verengt. „Die sind aber klein. Sie werden sich wohl nicht wie die südamerikanischen Vampire auf die Stiere da unten stürzen, nicht wahr?“ Bernd unterbrach sein Fotografieren mit breitem Grinsen. Wohlwollend korrigierte ihn seine Frau: „Nein, natürlich nicht! Sie jagen das in der Luft schwirrende Ungeziefer.“ Doch ein gebieterisches Zischen der um sie sitzenden Zuschauer, begleitet von einigen absolut empörten Schulterblicken in ihre luftige Höhe, wiesen die Neulinge bei diesem Spektakel nachdrücklich darauf hin, dass die Konzentration von Tier und Streiter bei diesem altehrwürdigen Schauspiel auf keinen Fall gestört werden darf. Banausen, die den Ernst dieses Traditionsschauspiels verkennen!

Doch dann kam der Schrei: „Uaaah!“ Umgehend gefolgt von einem empörten Zischkonzert und eindeutig bösartigen Blicken des näheren und ferneren Publikums. Bettina war die Reaktion ihrer Umwelt in diesem Augenblick jedoch absolut gleichgültig. Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete Heike durch ihre schützende Brille, leicht an Thomas zurückgelehnt, wie ihre Freundin hektisch versuchte, ein pflaumengroßes braunes Insekt aus ihrem Dekoltee zu befreien. Und was machte ihr Göttergatte Bernd? Anstatt hilfreich einzugreifen, brach er mit Thomas in unbändiges, lautstarkes Lachen aus. Worauf ein eindeutig feindseliges „Sch!“ nun großflächig zugewandter Gesichter totales Unverständnis für diesen piätätlosen Respektverstoß versprach. Darauf prusteten beide Männer unterdrückt in ihre hastig herausgekramten Papiertaschentücher, während ihnen die Lachtränen über die Wangen liefen. Mit finsteren Blicken und zusammengekniffenen Lippen konzentrierten sich beide Frauen nach der glücklichen Befreiung des davonsurrenden Übeltäters auf das Arenendrama, um ihre Verachtung über so viel Einfühlungsmangel zum Ausdruck zu bringen. Männer!

Im Hotel hatte Thomas dann mit halb vollem Magen – man soll ja immer positiv denken – verzweifelt versucht, das ungewohnte Halbkopfkissen unter seinem Kopf in eine bequeme Lage zu knuffen. Die beiden Schweinefleischbrötchen, die sich Bernd und Thomas in der knapp bemessenen Pause nach Treppe-ab und Treppe-rauf an der dicht umlagerten Eingangsbar gesichert hatten, waren einem zweiten Leberkäs-Semmel-Frühstück ähnlicher gewesen als einem vollmundigen Nachtmahl. Dabei hatten Thomas und Bernd sogar vorgegeben, ihre Ausbeute mit ihren besseren Hälften teilen zu wollen. Obwohl natürlich vorauszusehen gewesen war, dass man zwei eingefleischte, oder besser: eingepflanzte Gesundheitsfanatikerinnen wie Heike und besonders Bettina nicht mit in Knoblauchfett triefenden Fleischbrötchen verführen konnte. Beide Männer hatten sich bei diesem gelungenen Schachzug mit einem übereinstimmenden Grinsen belohnt und herzhaft in ihre verbotenen Früchte, ähm … zünftig riechenden Proteinschnitten gebissen.

Thomas hatte allerdings schon besorgt geahnt, dass die radikale abendliche Fastenaktion sich negativ auf die Stimmung seiner Gattin auswirken könnte, ohne dass Heike dies je zugegeben hätte. Nach dem zweiten Bissen hatte Thomas argwöhnisch seine Brötchenhäften auseinandergeklappt, um die unpanierte Fleischscheibe irritiert näher zu betrachtet. „Hat da nicht etwas von Bifanas gestanden?“ wandte er sich erstaunt an Bernd. „Das ist niemals Rindfleisch, sondern eindeutig Schweinefleisch.“ Bernd störten solche Spitzfindigkeiten weniger. „Dann sollten diese Brötchen wohl lieber Porcanas heißen, damit sie nicht das Fleischreinheitsgebot in Verruf bringen?“ war schulterzuckend Bernds lapidare Vorschlag. Er freute sich lediglich, überhaupt etwas Essbares gefunden zu haben. Wie ihre Frauen stoisch ab und an von der Wasserplastikflasche zu nippen, erschien ihm übertrieben asketisch.

Das überschaubare Warenangebot der Bar am Areneneingang hatte noch Chipstüten im Angebot gehabt, deren Erwerb natürlich nur vernichtende Blicke vorprogrammiert hätte. Zuckerhaltige Kohlensäuregetränke kamen auch nicht in Frage. Beide Männer erwägten kurz, dünnwändige Plastikbecher voller Fassbier bis in ihre lichten Sitzgefilde hochzubalancieren. Sie waren jedoch rechtzeitig übereingekommen, dass dies nicht ohne kleinere oder größere Maleure zu bewerkstelligen sei. Ganz davon abgesehen, dass ihnen zum Verzehrglück der groß gedruckte Hinweis hinter dem Tresen, jegliche Nahrungsmittel nur im Barbereich zu sich nehmen zu dürfen, auf Portugiesisch so absolut gar nichts sagte.

Wieso man ein Kopfkissen, das sowieso schon nicht übermäßig dick gepolstert war, auf halbe Größe schrumpfen musste, blieb Thomas beim Kampf, eine angenehme Bettstatt zurechtzuknuffen, ein absolutes Rätsel. Vor dem Spiegel sinnierte Heike weiterhin darüber nach, ob bei der Säuberung der aufwendig gearbeiteten Stierkampfartistenausstattung nun die simple Haushaltswaschmaschine gerecht werden konnte oder doch eher ein professioneller Reinigungsbetrieb in Anspruch genommen werden musste. Laut musste Thomas gähnen, denn der Dringlichkeit dieser Problematik nicht gerecht werden zu können, konnte sich Thomas nun gar nicht schuldig fühlen. Stattdessen hatte er zum Glück inzwischen zwei Ersatzkissen im Schrank entdeckt und auch Heikes Seite mit einem Extra versorgt. So fühlte er sich absolut erschöpft genug, reinen Gewissens entschlummern zu können.

Währenddessen nahm sich Heike, hingebungsvoll ihre Hände eincremend und das Schlafzimmer in eine Duftblumenoase verwandelnd, fest vor, in diesen Ferien, komme was wolle, auf Bettinas Schlankheitsgrad zusammenschrumpfen! Zugegeben war Bettina mit ihrer Körpergröße im Vorteil, sah ihrem Mann auf gleicher Höhe in die jeweiligen blau blitzenden Augen. Grundsätzlich teilten beide Frauen eine Vorliebe für gesundes, gehaltvolles Essen, nur dass es sich bei Heike unnötigerweise liebend gern an den Hüften festsetzte. Na ja, wenigstens verübelte ihr Thomas nicht diese uneleganten Ausbeulungen. Schließlich verfügte er selbst über ein wohlproportioniertes Vorratsmaß an Körperfülle. Zufrieden stapelte Heike ihre Kopfkissen. Erstaunlich! Wie die Bezüge bezeugten, waren sie anscheinend wirklich serienmäßig auf Halbgröße geschnitten. Mit erwartungsvollem Ferienlächeln ruckelte sie an ihren schon selig unter seiner Decke schnorchelnden Mann heran. Während dieser Woche entspannender Sportlichkeit würde sie auch Thomas Diät genau im Auge behalten, denn ihm gelang die Selbstdisziplin beim Essen noch weniger als ihr.

Rasch schluckt Thomas die köstliche Käse-Paiva-Mischung herunter. „Pssss…, Hasi. Jetzt nicht wieder anfangen. Neuer Tag, neue Abenteuer, nicht wahr?“ Flehend sieht er seine Frau an, die gerade zur Joghurt greift. Bettina und Bernd steuern auf ihren Fenstertisch zu. Die feuchten Haare deuten darauf hin, dass sie sich schon vor dem Frühstück sportlich ertüchtigt haben. Thomas atmet ergeben auf: Gott vergelt’s. Thomas und Bernd sind nicht nur fast gleichaltrige Kollegen sondern auch Freunde, die sich mit Nachsicht ihre Unterschiedlichkeit eingestehen und bei der gemeinsamen Arbeit wunderbar ergänzen. Na klar, ihr Beruf verlangt Sportlichkeit, aber im Urlaub braucht man es ja nicht unbedingt zu übertreiben, ist zumindest Thomas Ansicht.

„Hallo, ihr beiden. Na, schon fleißig am Spachteln?“ Bettina, stets fröhlich gelaunt und zu allem bereit, hat anscheinend das gestrige Grausamspektakel samt Insektenangriff gut verdaut. „Da habt ihr wohl nach dem Blutbad gestern Abend in unbeschwerten Träumen geschwellt.“ Mit schallendem Lachen wirft sie ihren Kopf in den Nacken, so dass ihr sorgfältig nachblondierter Pferdeschwanz in alle Richtungen Wassertropfen versprüht. Bernd rollt entschuldigend seine Augen: „Auf jeden Fall waren uns die Rückenschmerzen erspart, die diese Stierfangaktion am Ende den Forcados beschert haben dürfte. Das ist echte Knochenarbeit.“ Schnell versucht er die entrüsteten Blicke beider Frauen mit hochgehaltenen Händen zu entwaffnen: „Wenn auch selbstverschuldet und natürlich absolut freiwillig.“ Thomas nickt mit vollem Mund übereinstimmend und widmet sich weiter seinem Brot als Trostnahrung nach so viel Leidensbeobachtung. „Sieht gut aus, dein Experiment.“ Bernd begutachtet den schon halb geleerten Teller seines Freundes und nimmt seine Tasse: „Komm, Bettina, lass uns etwas hinter die Kiemen schieben und den herrlichen Morgen weiter genießen.“

Heike zischt zwischen schmal zusammengepressten Lippen: „Wie man als Tierärztin so verroht sein kann!“ Das befreundete Ehepaar befindet sich hoffentlich bereits außer Hörweite. Thomas versteht nun gar nicht die Rivalität zwischen den beiden Frauen, denn eigentlich teilen sie doch viele Gemeinsamkeiten. Aber vielleicht sehen sie sich gerade deshalb in einem permanenten Vergleichswettbewerb. Als Krankenschwester hat sich Heike schon von Berufs wegen dem gesunden Leben verschrieben, sündigt auch im Urlaub nicht am Frühstücksbüffet: zu Hause Haferflocken, Joghurt und Obst, im Urlaub Haferflocken, Joghurt und Obst. Thomas bezeugt seine gute Absicht, indem er sich ihren Haferflocken anschließt, begibt sich aber dann auf kulinarische Entdeckungsreise, nicht nur im Urlaub, auch zuhause. So muss er zu seiner stämmigen Figur genauso stehen, wie es bereits sein Vater und Großvater im Familiengasthof im bayrischen Steingaden taten. Als rüstiger Mitfünfziger bewährt sich seine Igelfrisur noch weitgehend in natürlichem Braun, während Heikes praktischer Bubikopf schon graumeliertes Dunkelblond und ihre modische Brille ihre geradlinige Aufrichtigkeit der Welt gegenüber verkündet.

„Ich hoffe, ich habe den richtigen Käse erwischt.“ Bernd stellt behutsam die Kaffeetasse ab. Milchkaffee mit zwei Löffeln Zucker, Thomas kennt das aus dem Büro. „Tja, dann werde ich jetzt mal das Nachtischangebot überblicken. Hasi, kann ich dir einen Espresso mitbringen oder möchtest du noch etwas Tee?“ Heike wendet ihren prüfenden Blick von Bettinas Teller zu Thomas. Stumm sind sie sich einig: ein Bild zum Abgewöhnen. Nur Zuckerfreies, um nicht die Versuchung einer Abhängigkeit heraufzubeschwören, darf Bettinas Teller zieren. Selbst Obst wird dieser Gefahrenzone meist zugeteilt. Ganz anders Bernd, dessen Teller von Rührei und Brotbeilagen überquillt. „Wer schaffen will, braucht Kräfte,“ strahlt er denn auch gutgelaunt. Und tatsächlich scheint seinem durchtrainierten Körper jeglicher Kalorienfrevel partout nichts anhaben zu können. Sorglos erhellen die zunehmend weißen Haare seinen blonden Kurzhaarschnitt und vermitteln jungenhafte Selbstgewissheit in der gleichen Altersklasse wie Thomas.

„Noch ein Schwarztee aus São Miguel bitte, Schatzi, danke sehr.“ Heike strahlt Thomas an Gute Urlaubslaune kann sie auch! Ihre braunen Augen bleiben jedoch wachsam, als sie sich jetzt den Freunden zuwendet.. „Was habt ihr denn heute Morgen schon Schönes unternommen?“ Bernd schwenkt die Gabel zu heftig, Rührei verunziert die weiße Tischdecke. „Upps … wir waren mit Rochen schwimmen.“ Heißhungrig stopft sich Bernd den Mund mit Rührei voll, während Bettina genießerisch einen Löffel Joghurt Natur auf der Zunge zergehen lässt. In den Azoren hergestellte Joghurt kommt noch von glücklichen Kühen. Sie haben gestern schon bei der Inselüberquerung vom Flughafen zum Hotel in Friesland durchaus bekanntes schwarzweißes Fleckvieh auf saftig grünen Wiesen rechts und links der Schnellstraße weiden sehen.

Na ja, was man so Schnellstraße nennt. Mehr als höchstens 100km darf selbst dort nicht gefahren werden. Und was das für eine Arbeit gewesen sein muss, all die Weideparzellen mit diesen Vulkangesteinsmauern abzutrennen! Die in unendlich mühsamer Handarbeit erstellten Weidequadrate erinnern an ein Dame-Spielbrett. Einige der Mauern haben sicher schon seit Jahrhunderten Wind und Wetter getrotzt. Die porösen Vulkanbrocken scheinen überaus beliebt bei Moosen und Flechten und kleinen rosa Blütchen, deren Farbtönung wunderbar mit den Heckenrosen harmoniert, die vielerorts die blauweißen Hortensienhecken durchziehen. Thomas hat sich als Geburtsbayer natürlich sofort über so viel Blauweißvorliebe gefreut. Passt scho‘! Selbst die Azorenfahne hat die richtigen Farben, stellte er schon schmunzelnd vor dem Abflug fest.

Entrückt öffnet Bettina ihre Augen, leckt den Löffel bedächtig blank. „Ja, schau, Heike! Wir sind gleich hier bei der Hotelbucht ins Wasser gegangen. Es ist ja herrlich warm, 24 Grad Wassertemperatur. Lassen wir mal dahingestellt, ob das nun der Golfstrom oder Global Warming ist. Jedenfalls nicht mit Nordsee zu vergleichen. Und glasklar! Sagenhaft.“ Thomas kommt mit Heikes Schwarztee und einem Teller mit vier kleinen braunen mit Puderzucker bestäubten Küchlein zurück. „Das soll die örtliche Gebäckspezialität sein, Dona Amélias. Sieht interessant aus, findet ihr nicht?“ Bettina hebt abwehrend die Hände: „Kein zuckriges Aufputschmittel für mich!“ Thomas stellt den Teller mitten auf den Tisch und nimmt sich von der verpönten Süßspeise. Mit den Worten “Nur mal probieren,“ bricht Heike ein weiteres mitten durch und legt ihrem Mann eine Hälfte auf den Teller. Soweit zur disziplinierten Gewichtsabnahme, zu der seine treu sorgende Ehefrau ihn sonst immer ermahnt. Wohlwollend schmunzelt Thomas, protestiert jedoch keineswegs und genießt die kleinen Freuden des Lebens.

Bernd hat ungestört all sein Rührei beseitigt, belegt nun sein Brot wie Thomas mit Aufschnitt und Käse. „Das Wasser war absolut ruhig und warm. Und als wir gerade an der Buchtöffnung zum Meer umkehren wollen, spricht uns so eine typische Azoranerin mit schneeweißen Ringellöckchen in akzentfreiem Deutsch an und meint, wir seien doch sicher Deutsche und ob wir uns für Meerestiere interessierten. Dann sollten wir mal unter uns ins Wasser blicken, wo die Mantarochen vorbeisegelten.“ Bettina unterbricht Bernd grinsend: „Worauf Bernd erst einmal vor Schreck prustend so viel Wasser schluckte, dass die Frau ihn schon besorgt ansah.“ Bernds Konzentration gilt seinem kunstvoll drapierten Morgenbrot, zur Heldentumsverteidigung bleibt nicht viel Zeit: „Die Biester sind groß wie Teppiche. Im Wasser konnte ich ohne Tauchbrille nicht gut sehen, wie weit sie unter mir schwammen, aber kein Rochen hat mich ins Bein gezwickt.“ Bettina lacht nach ihrem letzten Joghurtbiss und sieht zweifelnd auf die Banane in ihrer Hand. „ Die Rochen können sicher auch ohne Brille Fische und käsige Kaltbeine unterscheiden. – Soll ich jetzt diese Banane essen? Damit werfe ich meinen ganzen Zuckerhaushalt durcheinander, aber die örtlichen Bananen sollen ganz naturbelassen sein.“ Heike zeigt auf ihre und Thomas bereits entleerte Bananenschalen: „Diese kleinen Bananen schmecken wirklich köstlich und stecken sicher voller Vitamine und Mineralstoffen. Nicht wie die Langzeitware bei uns im Supermarkt.“

Thomas hat inzwischen seine Dona Amelia-Küchlein in vollen Zügen genossen. Schade, dass sie so klein sind! Ob Bernd wirklich die beiden übrig gebliebenen Küchlein verputzen wird? In Ruhe abwarten. „Und die Frau hat euch auf Deutsch angesprochen? Bis jetzt haben wir halt noch nicht viele Deutsch sprechende Azoraner getroffen.“ Bernd lehnt sich wohlig aufatmend zurück. So ein Frühstück lässt er sich loben. Jetzt noch etwas Obst holen. „Ich glaube nicht, dass die Frau eine Touristin war, dafür sah sie zu langzeitgebräunt aus. Dauerbräune, wenn du weißt, was ich meine. Es gab mehrere Einheimische, die ihre morgendlichen Runden zu ziehen schienen. – Kann ich noch jemandem Obst mitbringen? Oh, und einen Kaffee hole ich mir vielleicht auch noch.“ – „Nein, danke, bestens versorgt.“ Thomas fragt sich, ob er sich noch einmal unbemerkt dem Nachtischbereich nähern soll. Da dies jedoch unbemerkt in keinem Fall zu bewerkstelligen wäre, sinkt er ergeben auf seinen Stuhl zurück. Himmisakra!

„Falls du Ananasscheiben findest, kannst du mir eine mitbringen,“ meldet sich Bettina. „Oh ja, die kommen von der Nachbarinsel São Miguel. Ich gehe mit und hole uns auch zwei Scheiben, Schatzi.“ Schon hat Heike ihren Stuhl nach hinten geschoben und spurtet hinter Bernd her. Missmutig betrachtet Thomas, wie Bettina einen Ziegenfrischkäse mit unterschiedlichsten Körnern belegt, ihn dann wie eine Minipizza seziert und schließlich schmauchend verzehrt. Sehr gesund! Ohne Zweifel. Währenddessen warten die beiden Dona Amélia Küchlein auf ihrem unschuldsweißen Tellerchen auf eine gerechte Verteilung.

Damit Bettina nicht seine angewiderte Grimasse über ihre kulinarischen Vorlieben entdeckt, reckt er den Kopf, um besser die Hotelaußenanlagen überblicken zu können. Unwillkürlich muss er seine braunen Augen blinzelnd zusammenkneifen. Selbst die morgendliche Sonne strahlt hier viel intensiver als im heimatlichen Osnabrück. Die Temperaturen sind dabei wesentlich angenehmer als zurzeit zuhause. Über dreißig Grad schon jetzt im Juni erinnerten mit dem graublauen Himmel über der norddeutschen Tiefebene an die Bleikammern in Venedig, legten sich auf Atemwege und Gemüt. Sogar mit kurzärmeliger Dienstkleidung vermeidet man es da, soweit es geht, Außendienst schieben zu müssen. Immer noch mangelte es an der längst überfälligen Klimaanlage. Das Land soll sparen, und die Beamten müssen leiden.