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Zwei deutsche Familien beabsichtigen, in entspannter Ferienlaune die Hauptsehenswürdigkeiten der Zentralinseln des azoranischen Archipels zu erforschen. Wie bei ihrem Besuch im vorherigen Jahr auf der Azoreninsel Terceira mit der UNESCO Weltkulturerbestadt Angra do Heroísmo und der Stippvisite zur Insel Graciosa, der überhaupt erst die Neugierde der mitreisenden Jugendlichen geweckt hat, kommt Unverhofft oft, und sie werden innerhalb kürzester Zeit in eine weitere Reihe von Abenteuern verwickelt, die nicht in der Ferienplanung standen. Wer kann aber auch ahnen, dass Meeresschildkröten mit Vorsicht zu genießen sind, Malerarbeiten tödliche Ambitionen zu schüren vermögen, Bierbrauen mit gefährlichen Dämpfen einhergehen kann und die Erde plötzlich aufrüttelnd Ehrfurcht gebietet? Dabei laufen die Besteigung des höchsten Bergs Portugals auf der Insel Pico, der Einstieg in einen dräuenden Vulkanschlund auf der Insel Terceira, die gebannte Atmosphäre in der beeindruckenden Vulkanaschenwüste auf der Insel Faial, sowie eine eigentlich harmlos anmutende Fajã-Wanderung auf der Insel São Jorge dem angestrebten Wellness-Effekt behend davon. Und an jeder Ecke lauern Turbulenzen jugendlicher Leidenschaft! Zum Glück erweisen sich hilfreiche Einheimische als echte Freunde, und das schmackhafte traditionale Essen beruhigt ausgleichend die Nerven, um auch das Zusammentreffen mit alten Bekannten und internationalen VIPs zu verkraften.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2022
Ondina Rocha
Azorenkrimi 2 –
Wie??
1– Azorentief im Hoch
„Aaahhh …!“ Gudrun hört das Schreien der Frau hinter sich durch die Musik in ihren Handyohrhörern. Passt gar nicht zum sensiblen Ed Sheeran, denkt sie ironisch. Nun gut, sie selbst krallt sich auch mit weißen Knöcheln an ihren Seitenlehnen fest. Aber so zu schreien, bringt es ja nun auch nicht. Ihr Handy hat Gudrun vorsorglich unter ihren rechten Oberschenkel geklemmt, damit es nicht davonfliegt. Das Flugzeug wird so hin- und hergeschleudert, dass sie besorgt zu den noch geschlossenenen Gepäckfächern hochschaut. Der Flugzeugrumpf kracht und stöhnt, als wenn er in alle Einzelteile aufsplittern wollte – was er bitte nicht tun wird. Schließlich sollen dies Ferien werden, und sie will nicht im falschen Film, sprich: Horrorfilm, sitzen.
Neben Gudrun stemmt ihr Vater seine Knie gegen den Vordersitz, damit sich sein Gesäß nicht von der Sitzfläche löst. Kaum nähert man sich den Azoren, kann man sich auf eins verlassen: Unverhofft kommt oft. Das hat er bei seinem ersten Azorenbesuch im letzten Jahr umgehend gelernt. Thomas Brille hängt bereits schief auf der Nase, auf Halbmast droht sie gar, sich selbständig zu machen. Für einen Augenblick löst er die linke Hand von der Armlehne, um damit seine zweiten Augen wieder fest in dem graubraunen Gestrubbele hinter seinen Ohren zu verankern. Heike hat ihr Gesicht in seinen rechten Oberarm vergraben und klammert sich verzweifelt an ihren Mann. Auf dass sie dabei bitte nicht ihre modische Altersbrille verbiegt, hofft Gudrun nach seitenblick, ohne jedoch einschreiten zu können. Tja, das kommt nun davon! Ein bißchen Schadefreude kann Gudrun sich nun doch nicht verkneifen. Als Tochter durfte sie ab Lissabon nicht am begehrten Fensterplatz sitzen, da wollte Mutter Heike sich vom Atlantikblick nichts entgehen lassen. Von Münster nach Frankfurt war Gudrun die Außenweltperspektive zugestanden worden, dann hatte Papa Richtung Lissabon Frankreich und die Pyrenäen von oben bewundern dürfen – und jetzt sah Mama nicht einmal aus dem Fenster. So spielte das Schicksaaaaaaal! Schon wieder Achterbahn-Freifall! Echt, Fliegen zum Abgewöhnen!
Uaa … Jetzt macht das Gurtanschnallen mal wirklich Sinn. Den Rosenkranz, den die alte Oma auf der anderen Gangseite mit geschlossenen Augen seit Flugbeginn durch ihre Hände gleiten lässt, zieht es wie die sich aus ihrem grauen Dutt gelösten Strähnen gen Kabinendecke. Neben ihr sitzt ein leicht aufgedunsener Mann mit ungesunder fahler Hautfarbe ohne jegliche Kopfbehaarung, der mit geschlossenen Augen stoisch keinen Muskel verzieht. Schnell schiebt Gudrun ihr vorwitzig herauslugendes Handy wieder unter ihre bejeansten Beine. Ob die Brille der Oma schon weggeflogen ist? Oder hatte sie gar keine aufgehabt? Zu Flugbeginn hat Gudrun auf so etwas nun gar nicht geachtet, sondern sich nach dem Anschnallen gleich in ihre Musikwelt geflüchtet, um sich nicht beim Anblick des vor ihr sitzenden Perfektsohns der mitreisenden besten Freunde von Mama und Papa die Ferienstimmung verderben zu lassen. Alexander – sicher haben sie ihn bewusst nach dem griechischen Helden so benannt, schon als wehrloses Baby mit elterlichen Ambitionen zum ehrgeizigen Höhenflug katapultiert. Augenverdrehen reicht da schon gar nicht mehr aus. Gudrun verdreht sie trotzdem, schon automatisch.
Bewegungslos sitzt dieser Musterknabe, fest an seine Rückenlehne gepresst, und lauscht unbeirrt, was immer sich da in seinen kabellosen Ohrhörern bieten mag. Gudrun wartet nur darauf, dass das heftige Ruckeln auch dieser Angebertechnik das Fliegen beibringt. Rechts und links rasen an den Fenstern Wolkenfetzen vorbei. Doch schon wippen Gudruns schimmernde braune Wellen vor ihren Augen, versperren die Sicht. Ein Ärgernis, das die Piloten besser nicht behindern sollte. Ohne Radar geht hier absolut sicher gar nichts! Bleibt nur zu hoffen, dass so die Vulkanspitzen dieser Azoreninseln auch rechtzeitig gefunden werden! Während Gudrun sich wieder freie Sicht verschafft, seufzt sie leise vor sich hin. Enno liebt es, mit seinen schlanken Fingern durch ihre federnden Wellen zu streichen. Wehmütig kneift Gudrun ihre braunen Augen zusammen – „Alpenmilchschokoladenaugen“ nennt Enno sie, denn auch mit ihrem bräunlichen Teint weist sie sich eindeutig als Tochter ihres Vaters aus. Hätte sie sich doch bloß nicht von ihrer Mutter zu dieser Azorenwoche bequatschen lassen. Aber dann wäre Mama bestimmt misstrauisch geworden. Und so ahnt bisher keiner etwas von ihrer Beziehung zu Enno – nicht einmal der große Kriminale. Verschmitzt schielt Gudrun zu ihrem Vater, der stirnrunzelnd die schwingende Flexibilität der Flugzeugflügel beobachtet.
Vorne schreit ein Baby wie am Spieß. Und jetzt wird Alexanders durchtrainierter Oberkörper im weißen Polohemd von seinem Gurt nach hinten gerissen, als er sich nach vorne beugen will, während das Flugzeug ächzend vom Wind in der Mitte auseinanderzubrechen droht. Ah, ja, Gudrun kann ihre innere Genugtuung nicht verhehlen, und dort kullert einer seiner weißen Kopfhörerknöpfe im Mittelgang. Nun vermag Alexanders befreites Ohr sicher auch das inbrünstige Gemurmele der alten Frau auf der anderen Gangseite hinter ihm hören. Sein sommersprossiges Gesicht verzieht er jedoch urplötzlich aus einem anderen Grund. Der über und über dunkel behaarte Portugiese auf der anderen Gangseite neben ihm kann gerade noch die normalerweise oft übersehene weiße Tüte aus der Vordersitztasche ziehen und zum Glück auch rechtzeitig öffnen. Jetzt dringt Alexander ein stechendes olfaktisches Erfahrungsgemisch aus Bier und Knoblauch in die Nase, das seine Augen unwillkürlich seine eigene weiße Spuktüte suchen lässt. Himmel, das ist aber auch eine absolute Herausforderung an alle Sinne auf einmal! Mit geschlossenen Augen lehnt Alexander seinen Kopf nach hinten und schluckt schwer. Nach kurzem Luftanhalten wird klar: Aufs Atmen ganz zu verichten geht leider nicht. Und wie soll er jetzt seinen kabellosen Ohrhörer wiederbekommen? Den Gurt kann er im Augenblick jedenfalls nicht mal kurzerhand auf- und abknipsen.
Da! Sie durchbrechen die Wolkendecke. Jetzt sieht man durch die ovalen Fensterchen auf der linken Seite unten Teil einer Insel mit schwarzer Vulkanküste im gelborangen Abenddunst. Das aufgewühlte Meer verteilt die Feuchtigkeit als gigantischen Sprühnebel über das satte Grün des oh, so ersehnten festen Bodens – dem sie sich hoffentlich in angemessener Geschwindigkeit nähern werden. Aber der Wind hört einfach nicht auf, das tapfer dröhnende Flugzeug gleichzeitig in verschiedene Richtungen zu zerren. Der Pilot hält nichts von langsamem Niedersenken, versucht stattdessen, den Flieger unter den Windradar zu zwingen. Der Flughafen erstreckt sich vertrauensvoll weitläufig unter ihnen – aber, oh, nein! Die Flügel tanzen erst nach rechts, dann nach links – fast berühren sie den Boden. Die Böen spielen eindeutig zu der Melodie der Seeteufelchen, die wenigstens in den Legenden die Inseln von Zeit zu Zeit heimsuchen. Heike hat das Legendenbuch der Azoren geradezu verschlungen und ihrer Tochter schmunzelnd Eigenarten weitererzählt – noch im Lissabonner Flughafen, auf sicherem Boden.
Die Motoren röhren auf, die Passagiere werden in ihre Sitze gepresst, mit offenen Mündern schaffen sie es nicht, nach Atem zu schnappen. Die Maschine startet durch und streckt ihre Nase senkrecht hoch zu den wirbelnden Wolkenmassen. Schon werden sie in deren wattiger Mitte wieder hin- und hergeschaukelt. Die junge Frau hinter Gudrun schluchzt jetzt haltlos. Das Baby vorne schreit nicht mehr. Und die Oma presst ihren Rosenkranz in ihre Sitzlehne und starrt mit weit aufgerissenen Augen durch das Fenster nach draußen. Sie verschwendet bestimmt keinen Gedanken an ihr fast vollständig aufgelöstes Haardutt.
Über den Lärm der Elemente versucht es der Kapitän mit einer Mitteilung: „Wir werden noch einen Landungsanlauf unternehmen. Sollte er nicht klappen, müssen wir nach Lissabon zurückkehren.“ Gudrun übersetzt Papa die zweite, englische Version. Die erste Ankündigung war sicher auf Portugiesisch, aber bei dem zischenden Genuschele dieser unbekannten Sprache kann Gudrun nicht einmal unterscheiden, wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt. Sehr beruhigend, die Info, oder eher: eben nicht das Übliche! Dabei ist der Flughafen in Lajes auf der Azoreninsel Terceira sogar groß genug für die Landung der Mondfähren. Oder muss dann das Wetter auch mitspielen?
Gudrun hat ihre Ohrhörer aus den Ohren genommen und samt Kabeln zwischen ihren Oberschenkeln verstaut. Oh, oh, da vorne ist gerade eine Gepäckklappe von alleine aufgegangen. Wenn jetzt eins der keineswegs zarten Handgepäcksstücke sich selbständig macht, können nichtsahnende Köpfe schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Schnell schlingert eine Flugbegleiterin durch den Gang. Stützend hält sie sich an den Lehnen fest, zumeist jedenfalls. Beim nächsten Flugzeughupfer greift sie in den blonden Lockenkopf eines Teenagers. Die Entschuldigung fällt kurz aus. Klappe zu und zurück zum Sitz mit rettendem Gurt. Oh, fast wird die geübte Vielfliegerin doch noch durch das Bocken des Flugzeugrumpfes von den Beinen gerissen, geht unfreiwillig in die Knie. Dann rappelt sie sich wieder hoch und hechtet zu ihrem Klappsitz.
Und wieder heulen die Motoren auf. Deutlich sieht man die Rollfelder des einladenden Flughafens näher kommen. Pilot und Flugzeug konzentrieren sich – die Passagiere halten gespannt die Luft an. Der Wind weigert sich verbissen, sein derbes Unterhaltungsvergnügen aufzugeben. Die Flügel wippen nach links, die Flügel wippen nach rechts … und in dem Bruchteil einer Minute, als sie ausbalanciert sind, lässt der Pilot die Flugzeugräder parrallel auf der Landepiste aufsetzten. Ärgerlich zerren die bösartigen Böen weiter an dem blechernen Vogel. Aber sie können ihm nichts mehr anhaben, dieses Mal haben sie das Spiel wieder verloren. Jahrhunderte lang trotzten die Menschen der neun Azoreninseln Wind und Wellen mitten im Atlantik als Fischer, als Walfänger, als Landwirte - und heutzutage tun sie es eben auch als Piloten.
Die Frau hinter Gudrun schluchzt noch einmal auf, dann schneuzt sie sich ausgiebig. Die Oma auf dem Gangsitzplatz neben Gudrun betet mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen, während sich der kranke Mann neben ihr die ganze Zeit, wie versteinert, nicht einmal bewegt hat. Gudrun streicht sich ihre Wellen aus dem Gesicht. Vielleicht begleitete die Großmutter ihn zur Chemotherapie in eine Spezialkinik in Lissabon? Gudrun hat durch ihre Mutter genug Einblicke in traurige Krankheitsgeschicke mitbekommen und seufzt tief auf. Der dunkelhaarige Portugiese auf der anderen Gangseite von Alexander hält zum Glück noch immer die verschlossene Spuktüte in der Hand. Mit dem hochgekrempelten Hemdsärmel des anderen Armes wischt er sich den Schweiß vom Gesicht. Vorne brüllt wieder ein Baby, und … was ist das? Gudrun dreht sich um. „Miau, miau, miau,“ kommt es zaghaft aus der Transportkiste unter Gudruns Sitz. Die junge Frau hinter ihr versucht, immer noch schniefend, mit streichelndem Finger durch das vorderseitige Netzgitter ihr verängstigtes Haustier zu beruhigen.
Hinten ruft eine tiefe Männerstimme: „Bravo!“ Und dann beginnen die Passagiere zu applaudieren. Unter Lachen und Bravo-Rufen löst sich die Spannung. Selbst Thomas und Alexander genieren sich nicht, ausgelassen zu klatschen. Heike setzt sich gerade hin und atmet tief durch. Zitterig kramt sie ihre Tasche unter dem Vordersitz hervor. Erst streicht sie sich die Fransen ihrer grauen Kurzhaarfrisur aus der Stirn, dann macht sie ausgiebig Gebrauch von ihren erfrischenden Reinigungstüchern und schließlich massiert sie beruhigend duftende Creme in Hände und Unterarme. Als letztes garantiert ein Brillenputztuch ihren graubraunen Augen wieder einen klaren Durchblick. Thomas reicht sie ein Papiertaschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu putzen. Gudrun lehnt dankend ab, hätte selber Vorrat, wischt sich jedoch lediglich die verschwitzten Innenhandflächen an ihrer Jeans ab. Schnell die Ohrhörer wieder rein, von der Umwelt abschotten, auf die sie ja sowieso gar nicht scharf ist.
Bernd ist heilfroh, diesen Höllenflug überlebt zu haben. Aufatmend zieht er seine Finger durch seinen forschen Kurzhaarschnitt. Das erste Altersgrau scheint sein Hellblond noch zu unterstreichen. Dass ihr sonst so akurater, blond gefärbter Pferdeschwanz sich in Wohlgefallen aufgelöst hat, fällt Bettina neben ihrem Mann erst jetzt auf. Sohn Alexander hat inzwischen seinen Gurt aufschnappen lassen und spurtet durch den Gang, um seinen Knopfohrhörer kurz vor den vorderen Toiletten vom Boden zu klauben, bevor sich die Passagiere aus ihren Sitzen schälen und ihr Hab und Gut aus den Gepäckfachern oben zerren, ohne aufzupassen, auf was sie mit ihren Füßen unten treten. Mit hochgezogenen Brauen verfolgt Gudrun Alexanders erfolgreiche Rettungsaktion. Heikes Hand reicht an Thomas gut gepolsterter Taillenmitte vorbei und berührt den Unterarm ihrer Tochter: „Lass bitte erst deine Sitznachbarn aussteigen.“ Gudruns unmutig verengte Augenschlitze entspannen sich zu einem strahlenden unschuldigen Lächeln. Verständnisvoll zwinkert sie ihrer Mutter zu. Schadefreude über Alexanders entflogene Ohrhörer ist vielleicht wirklich aller Laster Anfang. Verlegen schielt Gudrun zu der aufgelösten Oma und ihrem teilnahmslosen Enkel. In dieser Situation muss jeder Scherz geschmacklos erscheinen. Ach – tiefer Aufseufzer! Wenn sie selbst nur wegen Enno nicht so nervös wäre!
„Wau, wau, wau!“ Aufgeregt springt der mit rosa Züngelchen hechelnde schwarze Chihuahua auf der Autorückbank wie ein kleiner Plauschpompom gegen die Sitzlehne hoch und versucht mit seinen neugierigen Äugelchen zu erspähen, womit der Kofferraum vollgeladen wird. „Die großen Koffer kommen in Chicos Touran, das Handgepäck in meinen Polo.“ Die richtungsanweisende Stimme seines Frauchens Ondina erhöht noch die Wedelgeschwindigkeit von Susis flauschigem Schwänzchen. „So, das hätten wir,“ hört sie dann Ondinas Sohn Chico, während er die Touranhecktür zum Zumachen zwingt. „Vielleicht fährt am besten die Jugend mit mir. Ich habe extra alle vier Kindersitze herausmontiert.“
Heike wendet sich dankbar an Mutter und Sohn. Beide strahlen die deutschen Freunde aus leuchtenden Augen an. Ihr eher gedrungener Körperbau verrät die Verwandtschaft und den ständigen Kampf gegen unnötige Gewichtszunahme. Doch während Chico sich wie sein Vater nicht lange mit dem Kämmen aufzuhalten braucht, seine Geheimratsecken schon in Halbglatze ausarten, umwippen bei seiner Mutter Ondina die weißen Löckchen das stets freundlich lächelnde Gesicht wie einen Heiligenschein und vertiefen dabei noch das Blitzeblau ihrer Augen hinter den randlosen Brillengläsern. Heike steht zu ihrer dackelgrauen Kurzhaarfrisur, außerdem erstickt Ondinas großmütige Hilfsbereitschaft Neid und Minderwertigkeitsverunsicherung sofort im Kern.
Aufrichtig gerührt, bedankt sich Heike im Namen beider Ehepaare: „Das ist wirklich äußerst nett, dass ihr uns abholt. Wir hätten doch ohne weiteres auch Taxis nehmen können. Es stehen ja genug herum. Nochmals herzliche Glückwünsche zur Geburt der Mädchen. Sabine und ich haben für alle vier Kinder etwas Nützliches ausgesucht, aber es befindet sich in Thomas Koffer. Laura und Lina müssten schon ein halbes Jahr alt sein, nicht wahr?“ Chico lacht glücklich: „Ja, sie fangen schon zu krabbeln an. Sie waren von Anfang an groß und schlagen wohl eher nach ihrem Großvater als nach ihrem Vater.“ Ergeben hebt er die Schultern, in seinen treuherzigen Rehaugen blitzt es schalkhaft: „Wenn sie ihre blauen Augen und roten Löckchen behalten, wird sie jeder für waschechte Irinnen halten. Ihre fast vierjährigen Brüder Miguel und Duarte haben dagegen, glaube ich, meine und Mamas kurze Beinchen geerbt.“ Mit gespieltem Entsetzen fährt er sich über sein sommerbraune Halbglatze. „Auf das sie nur nicht die den Dinis eigentümliche Abneigung gegen Haupthaar als Familientradition abbekommen haben!“ Heike lacht, klopft ihm aufmunternd auf die Schultern und beruhigt mit überzeugender Krankenschwestererfahrung: „Das ist alles noch gar nicht gesagt. Die Kinder sind ja noch so klein, und kleine Jungen werden nicht selten die größten und stattlichsten Männer.“ Verschwörerisch zwinkert sie Chico zu und gibt zu Bedenken: „Außerdem hatte ihre Frau ja genetisch auch noch ein Wort mitzureden, nicht wahr?“
Thomas freut und wundert sich, dass seine Frau den Berg-und-Talbahnflug so gut überstanden hat. Na ja, in ihrem Azorenurlaub letztes Jahr hatte sie sich ungefragt in kürzester Zeit an vielfältige Abenteuerüberraschungen gewöhnen müssen. Dafür sehen Freund und Kollege Bernd und seine Frau noch recht käsig um ihre spitzen Nasen aus. Das findet Ondina mit kritischem Blick auch. Der Wind hat viele ihrer weißen Löckchen aus der zugeschnürten Kapuze gelockt und jagt sie jetzt lustig wie ein Kranz über deren lila Blumenmuster. Dass sich Bettina noch nicht vollständig von dem turbulenten Anflug erholt hat, erkennt ihre azoranische Ferienfreundin daran, dass die sonst so akurate Tierärztin keine Anstalten macht, ihre frisch blondierte Pferdeschwanzfrisur vor dem wilden Windgezerre zu schützen. Weder bemüht sie die Kapuze ihrer hocheffizienten Outdoor-Jacke, noch versucht sie, wild umherfliegende Strähnen wieder einzufangen und zu Ruhe und Ordnung zu ermahnen. Da muss Ondina eben die Zügel in die Hand nehmen: „So machen wir es, Chico, mein Junge. Du fährst mit Gudrun und Alexander voraus, und nimmst Thomas auf dem Beifahrersitz mit. Heike sitzt neben mir. Und Alexander und Gudrun teilen sich die Rückbank mit Susi - wenn sie euch nicht zu viel Platz wegnimmt.“ Ondina zwinkert Thomas und Heike zu und wundert sich gleichzeitig, warum deren Tochter Gudrun hinter geschlossenen Lidern so genervt die Augen verdreht.
Gudrun würde bestimmt noch heftiger reagieren, wenn sie nicht beim Aussteigen die zurückgelassene, vollgekotzte Spuktüte auf Bettinas Platz in der Sitzbankreihe vor sich gesehen hätte. Dass diese so auf Perfektionismus getrimmte Bettina wirklich einen so empfindlichen Magen hat, würde ja keiner ahnen. Ob ihre Bewegungsunverträglichkeit mit ihrer strengen gesundheitlichen Ernährung in Zusammenhang hängt? Oder sollte sie diesen Gesundheitswahn als Folge einer lebensbeeinträchtigenden Schwachstelle übernommen haben? Für grüblerische Spitzfindigkeiten bleibt aber jetzt keine Zeit, denn schon findet sich Gudrun auf der Rückbank mit dem charmant lächelnden Alexander wieder. Das kann ja noch heiter werden! Innerliches Augenverdrehen sieht ja zum Glück keiner, meint Gudrun.
Fröhlich schwingt sich Chico auf den Fahrersitz, während Bernd aufatmend seinen Sitzgurt schließt und erleichtert den rundlichen jungen Mann anstrahlt: „Bei einem weiteren Anflugversuch hätte ich auch von meiner Spuktüte Gebrauch gemacht. Ist das Fliegen hier öfter so haarsträubend?“ Chico blinzelt verschmitzt in den Außenspiegel und reiht seinen Wagen in den abfahrenden Flughafenverkehr ein. „In den Wintermonate sind die Witterungsverhältnisse oft so, aber Anfang Juni habt ihr jetzt Pech gehabt.“ Er zuckt mit den Schultern und lehnt sich lässig zurück, denn schon befinden sie sich auf der Terceira diagonal überquerenden Schnellstraße. „Ihr werdet sehen, auf der Südküste haben wir eitlen Sonnenschein. So klein die Insel ist, so entschieden beeinflusst der 1000 Meter hohe Santa Barbara Vulkan in der Inselmitte die Wind- und Wolkenströmungen. Wir haben oft komplett unterschiedliche Wetterlagen auf der Nord- und Südseite der Insel. Jetzt wütet gerade ein Sturmtief aus der Karibik über den beiden nördlichen Azoreninseln Flores und Corvo und schickt dabei diese unangenehmen Ausläufer zur Nordseite der Insel.“
Alexander findet diese Wetterphänomene zwar auch faszinierend, wundert sich aber noch mehr über Chicos akzentfreies Deutsch. „Ähm, wie kommt es eigentlich, dass Sie auf dieser portugiesischen Azoreninsel mitten im Atlantik so gut Deutsch sprechen?“ Chico lacht: „Zuerst hätte ich eine Bitte: Können wir uns alle dutzen?“ Im Rückspiegel erkennt er allseitiges Nicken. Oder sollte Gudrun nur ihren Kopf zu den Geräuschen aus ihren Ohrhörern bewegen? Sie scheint unwillig, aufgeschlossene Ferienstimmung bei sich zulassen zu wollen. Und Alexander bewegt sich fast traumtänzerisch abwesend. Dabei sieht er eigentlich wie ein netter Kerl aus.
Chico holt tief Luft: „Unsere Mutter Ondina wuchs in Deutschland auf, und mein Vater in den USA. So hat unsere Mutter von klein auf nur Deutsch mit uns gesprochen, und mein Vater hat mit uns immer Englisch geredet, sozusagen aus dem Gefühl verdrängten Heimwehs, schätze ich. Sie selbst unterhalten sich – vielleicht aus romantischen Gefühlen - auf Portugiesisch, weil sie sich hier in den Azoren kennengelernt haben.“ Gerade erreichen sie auf der Schnellstraße die höchste Stelle. Wie von Zauberhand schlägt der Wolkenschatten hinter ihnen in eine Bilderbuchlandschaft aus saftig grünen Wiesen und Nadelbäumen bei strahlendstem Sonnenschein vom wolkenlosen Himmelsblau um. Verführerisch glitzert das saphir-blaue Meer in der Ferne. Nicht zu fassen, denken alle drei Neuankömmlinge. Ui, waren das nicht neuseeländische Baumfarne. Gudrun kann jedoch beim Umdrehen nach hinten nichts außer Koffern sehen, aber die Eltern hatten ja schon letztes Jahr Bilder von diesen urweltlichen Pflanzen gemacht. Da wachsen sie also wirklich so einfach zwischen Wald und Wiese, gleich neben der Autostraße! Schon cool!
Ondina bemerkt befriedigend, dass Bettina nicht mehr so angespannt und blässlich um die Nase nach draußen sieht. Ein leichtes Lächeln spielt bereits um ihren Mund, während die Finger ihrer rechten Hand automatisch Susi durch ihr Wuschelfell streicheln. Die kleine Chihuahuadame hat sofort die Tierfreundin auf dem Beifahrersitz erkannt, ist über die Handbremse vorsichtig nach vorne getrippelt und liegt jetzt, zufrieden zusammengerollt, mit geschlossenen Augen und aufmerksam aufgerichteten Öhrchen auf Bettinas Schoß. „Wo habt ihr eigentlich Chicito jetzt für die Ferien untergebracht?“ Bettinas Stimmung hellt sich zusehends auf, als sie den sturmumtosten Inselteil verlassen. „Ich hätte ihn ja in unserer Tierklinik unterbringen können, meine Partner machen das mit ihren Haustieren oft. Aber meine Mutter hat sich überraschend mit unserer champagnerfarbenen Schönheit angefreundet und deshalb angeboten, ihn diese 10 Tage bei sich aufzunehmen, damit er nicht so alleine ist.“ Bettina lächelt vielsagend zu Ondina herüber: „ Oder, damit sie nicht so alleine ist. Ihre beste Freundin, mit der sie sonst alles Mögliche unternimmt, ist nämlich frisch an der Hüfte operiert und somit relativ bewegungsunfähig.“
Ondina kneift die Augen zusammen und klappt die Sonnenblende herunter. „Das hört sich ideal an. Bereitet die Seeigelhacke denn noch Probleme?“ Lachend streicht Bettina ihre zerzausten Strähnen hinter die Ohren. „Nein, gar nicht mehr. Ich meine, noch ein oder zwei schwarze Pünktchen erkennen zu können, aber ansonsten ist die Hacke komplett verheilt und man merkt nichts.“ Ondina folgt Chicos Beispiel und überholt ein Mietauto. „Das Tempo unserer amerikanischen Sommergäste ist sicher altersadequat. Außerdem behaupten sie immer, dass ihnen selbst unsere Schnellstraße zu engspurig vorkommt.“ Unwillig tanzen Ondinas lustige weißen Löckchen um ihren sich vor Unverständnis schüttelnden Kopf.
Heike legt Thomas ihre Hand auf den Oberschenkel und zeigt augenzwinkernd nach draußen. Gerade fahren sie an dem Restaurant Quinta dos Azores vorbei, und allein die Erinnerung an dessen Essensvielfalt lässt Thomas das Wasser im Munde zusammenlaufen. Mit Stirnrunzeln beugt er sich zu Ondina vor: „Eigentlich wollten wir euch ja heute Abend einladen. Schließlich habt ihr uns auch die zentrale Mietwohnung in der Stadt so günstig besorgt.“ Ondinas blaue Augen blitzen ihn im Rückspiegel an: „Ja, aber wir freuen uns, dass ihr wiederkommt. Und unsere jüngste Tochter ist auch zur Zeit hier, bevor sie ab dem Herbst in Aberdeen, Schottland, ein Masterstudium. Und so bietet sich Chicos Restaurant zum gegenseitigen Kennenlernen geradezu an. Ihr wart noch nie dort, habt letztes Jahr nur sein Essen an der Sanjoaninas-Bude probiert.“ Gerade passieren sie den modernen Supermarktkomplex. „Ihr wisst ja inzwischen, dass man sich auf unserer Insel problemlos selbst versorgen kann. Dieses Alojamento Local in der Rua do São Pedro hat zudem die ideale Größe für eure beiden Familien und außerdem gibt es euch bei dem Preis die Freiheit, ruhig einige Nächte auf der einen oder anderen Insel der Zentralgruppe zu verbringen, falls ihr Abwechslung sucht.“
Thomas schaut etwas besorgt zu seiner Frau hinüber, will sich vor Bettina aber keine Blöße geben. „Jo mei, die Kinder sind auch deshalb mitgekommen, weil sie unsere Abenteuer vom letzten Jahr kaum glauben wollten und unbedingt Portugals höchste Erhebung auf der Insel Pico besteigen möchten. Ist schon recht, schließlich bin ich in meiner Jugend auch immer im Gebirge herumgekraxelt.“ Ondina lacht: „Hier haben wir weniger Gebirge, mehr Vulkane. Wisst ihr, dass der Pico eine fast identische Kopie des Fujiamas in Japan ist? Und unser Pico ist sicher eine Besteigung wert. Heutzutage wird man durch Chiparmband abgesichert und alles ist gut durchorganisiert von der Bergwachthütte auf halbem Weg nach oben. Bis dahin kann man sowieso bequem mit dem Auto fahren und hat schon dort einen tollen Blick.“
Versonnen hält Ondina an der roten Fußgängerampel vor der ehemaligen Stierkampfarena, die heute das moderne Kulturzentrum beherbergt, das, zweigeteilt, auf der einen Hälfte Kinofilme anbietet, während auf der anderen Seite neuste Bühnentechnik zu Kongressen, Musikaufführungen und Tanzsdarbietungen aller Art einlädt. Doch weder das eine noch das andere dürfte ihre deutschen Freunde interessieren, überlegt Ondina. „ Hier vom Kultur- und Kongress-Zentrum hat man einen schönen Blick über die Stadt bis zum Monte Brasil und bei klarem Wetter sogar bis zum Pico auf der Insel Pico. Ich habe meinen Francisco dort oben auf dem Pico kennengelernt. Seitdem war er noch zweimal oben, einmal mit Chico und einmal mit den Mädchen, bevor Andrea nach Lissabon zum Studium ging.“ Sie lacht verlegen: „Die Bergstation auf halber Höhe am Pico ist sehr bequem. Ich habe dort immer im Auto auf meine Bergsteiger gewartet, das erste Mal mit den Mädchen, das zweite Mal alleine. Den wahrhaft herrlichen Blick auf die umliegenden Inseln, die wie Smaragde im funkelnden Saphirozean schimmern, kann man stundenlang genießen. Meine schöne Erinnerung an Franciscos und mein erstes Kennenlernen wollte ich nicht mit erneuten, unnötigen Strapazen gefährden. Diese Denkweise kann Thomas ohne Weiteres nachvollziehen. Verständnisvoll nickt er Ondina im Rückspiegel zu.
Die Ampel springt auf Grün, und Ondina fährt vorsichtig hinter Chico um die Kurve. Haarscharf passen sie gerade an einer Leiter vorbei, auf der ein Mann auf der obersten Sprosse balanciert und hingebungsvoll sein Haus anstreicht. „Jetzt sind wir gleich da. Hier links ist der sogenannte Blaue Palast, der die offizielle Vertretung Portugals in den Azoren beherbergt. Allerdings hat der Vertreter Portugals noch auf verschiedenen anderen Azoreninseln Sommerresidenzen. So gut haben es die wenigsten Berufsdiplomaten, nicht wahr? Am 10. Juni, dem Nationalfeiertag Portugals, sind Francisco und ich zum offiziellen Empfang hier eingeladen, weil Francisco Polizeichef ist.“ Verschmitzt blinzelt Ondina Thomas und Heike im Rückspiegel wieder zu: „ In einem Partyzelt im Garten biegen sich dann die Büfetttische nur so unter leckeren Häppchen und Speisen.“ Dann überwölkt sich ihr Blick: „Allerdings muss ich mich für den Anlass in Schale werfen, und Francisco hasst es, den ganzen Abend, mit seiner Dienstkappe unter dem Arm und in seiner unbequemen Uniform einherzustolzieren.“ Schelmisch grinst sie, lässt Fußgänger über einen weiteren Zebrastreifen: „Es ist jedes Mal ein Abend für verbale Schlagabtäusche zwischen verfeindeten Parteien, für Auskundschaftungen der aktuellen politischen Lage und vielschichtiger Kuhhandelsabkommen. Oh, und was ich alles über die neusten Familiensituationen erfahre, veranlasst in meinem Kopf immer ein Summen wie in einem Bienenstock.“
Damit parkt Ondina geschickt hinter Chicos Touran, und sie sind an ihrem AL in einem traditionellen Stadthaus der Weltkulturerbestadt angekommen. Schon knipst Bettina mit ihrem Handy die farbenprächtigen Petunien, die sich, noch teilweise in Knospe, üppig über die antiken, gusseisernen Geländer ergießen. Schließlich möchte sie heute Abend Freunden und Verwandten die ersten Ferienvorzeigefotos in den sozialen Medien zukommen lassen. Aber zunächst muss sie unbedingt etwas entspannen und diesen Hinflug verarbeiten!
2 – Von exotischen Tieren in Haus und Natur