Babydoll - Hollie Overton - E-Book

Babydoll E-Book

Hollie Overton

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Beschreibung

Lily Risers neues Leben beginnt an einem kalten Winterabend: Nur mit einem dünnen Schlafanzug bekleidet tritt sie vor die Tür, drückt ihre Tochter an sich – und rennt los. Weg von dem Haus im Wald, weg von dem Mann, der sie acht Jahre lang gefangen hielt. Dem Vater ihrer Tochter Sky, dem Mann, der an diesem Abend zum ersten Mal einen Fehler machte, als er vergaß, die Tür zu verriegeln. Doch schnell wird klar, dass es für Lily kein Zurück zur Normalität gibt. Zu viel ist geschehen, zu tief sind die Wunden, die sie und ihre Familie durch die Entführung davongetragen haben. Schritt für Schritt tasten sie sich in eine mögliche Zukunft, ohne zu ahnen, dass die dramatischste Bewährungsprobe noch vor ihnen liegt. Denn selbst im Gefängnis plant Lilys Entführer bereits, wie er sie, seine Babydoll, für ihren Ungehorsam bestrafen wird ...

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Buch

Lily Risers neues Leben beginnt an einem kalten Winterabend: Nur mit einem dünnen Schlafanzug bekleidet tritt sie vor die Tür, drückt ihre Tochter an sich – und rennt los. Weg von dem Haus im Wald, weg von dem Mann, der sie acht Jahre lang gefangen hielt. Dem Vater ihrer Tochter Sky, dem Mann, der an diesem Abend zum ersten Mal einen Fehler machte, als er vergaß, die Tür zu verriegeln. Doch schnell wird klar, dass es für Lily kein Zurück zur Normalität gibt. Zu viel ist geschehen, zu tief sind die Wunden, die sie und ihre Familie durch die Entführung davongetragen haben. Schritt für Schritt tasten sie sich in eine mögliche Zukunft, ohne zu ahnen, dass die dramatischste Bewährungsprobe noch vor ihnen liegt. Denn selbst im Gefängnis plant Lilys Entführer bereits, wie er sie, seine Babydoll, für ihren Ungehorsam bestrafen wird …

Autorin

Hollie Overton wuchs zusammen mit ihrer Zwillingsschwester bei ihrer Mutter auf. Erst spät erfuhr sie, dass ihr Vater ein Mitglied der kriminellen Overton Gang war, die in den 1960ern in Texas zu zweifelhaftem Ruhm gelangte, und dass er sogar mehrere Jahre wegen Totschlags im Gefängnis saß. Die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend haben sie stark geprägt und sind auch in ihren Debütroman »Babydoll« eingeflossen. Als Drehbuchschreiberin war Hollie Overton an erfolgreichen TV-Formaten wie zum Beispiel »Cold Case« beteiligt. Hollie Overton lebt mit ihrem Mann in Los Angeles und schreibt bereits an ihrem nächsten Roman.

HOLLIE OVERTON

Babydoll

ROMAN

Deutsch vonMarie-Luise Bezzenberger

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Baby Doll« bei Redhook Books/Orbit, Hachette Book Group, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Hollie Overton

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved.

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung der Umschlaggestaltung von Kirk Benshoff,

© 2016 Hachette Book Group

Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Samantha Pugsley;

Umschlaginnenseiten: Fine Pic®, München

An · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-18681-4V001

www.goldmann-verlag.de

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1. Kapitel

LILY

Ein Riegelschloss macht ein ganz spezielles Geräusch. Lily war Expertin darin, bestimmte Geräusche wiederzuerkennen – das Knarren der Dielen, das seine Ankunft signalisierte, die Mäuse, die auf Futtersuche über den Betonboden huschten. Doch für das Quietschen des Riegels wappnete sie sich jedes Mal, lauschte, wie Metall über Metall schabte. Das Schloss rostete allmählich, deshalb musste er es jedes Mal mehrfach versuchen. Aber am Ende hörte sie immer unweigerlich das Klicken, jenen Laut, der bedeutete, dass sie eine weitere Woche lang eingesperrt sein würden, einen weiteren Monat, ein weiteres Jahr. Heute Abend jedoch hörte sie nichts. Nur ohrenbetäubende Stille. Stunden vergingen, und sie konnte nicht aufhören, an das Schloss zu denken.

Neben ihr rührte sich Sky im Schlaf und seufzte. Lily strich ihrer Tochter über das rabenschwarze Haar. Ihr Blick blieb an dem dämlichen gelben Stoffaffen hängen, den Rick Sky zu Weihnachten geschenkt hatte. Lily konnte den Affen nicht ausstehen, wollte ihrer Tochter das Spielzeug aber auch nicht verbieten. Nicht, wenn sie ohnehin schon so wenig hatten.

Das Schloss – wieso hatte sie das Schloss nicht gehört?

Hör auf, dich da reinzusteigern, und schlaf, befahl Lily sich. Sie durfte nicht müde sein, wenn er zurückkam; sie wusste doch, wie böse er sein würde, wenn sie müde war. Sich in etwas hineinzusteigern war dumm. Heute Abend aber konnte sie anscheinend einfach nicht anders. Sie war schon seit Wochen irgendwie nervös. Sie hoffte, dass es bloß die Nachwirkungen der Magen-Darm-Grippe waren, mit der sie sich herumgeschlagen hatte. Aber das erklärte nicht, wieso sie das Türschloss nicht gehört hatte.

Nur: Rick machte keine Fehler. Dafür war er zu präzise, zu gewissenhaft. Vielleicht stellte er sie ja mal wieder auf die Probe. Am Anfang hatte es so viele Prüfungen gegeben. Aber sie hatte sie alle bestanden. Er glaubte, dass sie ihm gehörte. Sie hatte ihn dazu gebracht, das zu glauben.

Vielleicht hatte er es ja deshalb vergessen? Und wenn er ihr endlich vertraute? Was, wenn dies tatsächlich ihre Chance war zu entkommen? Es gab so viele Was-wenns, dass sie wie gelähmt war. Sie wog das Für und Wider ab, erinnerte sich daran, was das letzte Mal passiert war, als sie zu fliehen versucht hatte. Da regte Sky sich erneut, und mehr brauchte Lily nicht. Sie raffte all ihren Mut zusammen und schlüpfte behutsam aus dem Bett. Schlich langsam die hölzerne Treppe hinauf, den Magen zu einem riesigen Klumpen verknotet. Und wenn er jetzt auf der anderen Seite der Tür stand? Sie sah schon sein breites Grinsen vor sich, wie er mit dem Zeigefinger wackelte, die Augenbrauen berechnend zusammengezogen. Tss, tss, Babydoll. Hab ich dir nicht gesagt, was passiert, wenn du mir nicht gehorchst?

Oben an der Treppe zögerte Lily. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Ihr letzter Ausbruchsversuch wäre beinahe ihr Tod gewesen. Konnte sie sich Rick wirklich widersetzen? Fast hätte sie sich die Treppe wieder hinuntergetastet, doch ihr Blick fiel auf Sky, die so viel Unschuld ausstrahlte, und Lily begriff, dass sie ihr Kind nicht enttäuschen durfte. Tu’s für Sky, sagte sie sich. Sie drückte die Klinke, und die Tür schwang auf, einfach so. Zögernd trat sie in die perfekt ausgestattete Winterhütte. Flauschige Fellteppiche lagen auf stabilen Eichendielen. Ein verzierter antiker Schreibtisch stand in der Ecke, eine gut bestückte Bar an der Wand gegenüber: ein ganz normaler Raum für einen Mann, der alles andere als normal war.

Lily hielt den Atem an. Nur Stille begrüßte sie. Rasch schaute sie zum Fenster hinüber. Mondlicht flutete durch die weißen Vorhänge aus italienischer Seide herein, riesige Kiefern ragten überall um sie herum in den Himmel hinauf.

Sie vergaß Rick und seine Drohungen, stürzte zur Vordertür, und plötzlich stand sie im Türrahmen und starrte auf den schneebedeckten Weg vor sich.

Draußen. Sie war draußen!

Sie war so lange nicht mehr im Freien gewesen. Hier herrschte eine andere Art von Stille als die, an die sie sich gewöhnt hatte. Diese hier war friedlich und behaglich. Eine ganze Welt entfaltete sich um sie herum, und irgendwo dort draußen in der Ferne war ihre Familie.

Weg! Wir müssen schnell weg!

Lily rannte zurück in die Hütte, stolperte fast, als sie die wackelige Treppe hinuntereilte. Dann schaute sie in den behelfsmäßigen Schrank, wo ihre Kleider hingen – nichts davon war für Winterwetter geeignet.

»Meine Babydoll muss doch schön sein«, hatte er immer entgegnet, wenn Lily um praktischere Sachen bat. Ihre Pyjamas würden kaum Schutz vor der Kälte bieten, aber es ging nicht anders. Lieber würde Lily erfrieren, als diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Sie trat zu Sky, die noch immer fest schlief. Am liebsten hätte sie geschrien Steh auf! Beeil dich! Schnell! Die Uhr tickte, und ihre Panik wuchs. Doch sie zwang sich, tief durchzuatmen. Sie musste dafür sorgen, dass Sky ruhig blieb. Sie kniete sich neben ihrer schlafenden Tochter nieder und rüttelte sie sanft.

»Wach auf, Schatz, wir müssen los.«

Sky fuhr hoch, rieb sich die Augen und blinzelte den Schlaf weg. Auch wenn sie sich den Umständen hier unten gut angepasst hatte, schien sie doch instinktiv zu wissen, dass ein solches Leben nicht normal war.

»Ist es Zeit für unser Abenteuer, Mommy?«

Lily hatte Sky immer gesagt, dass sie so glücklich miteinander wären, nur sie drei, da bräuchten sie die Welt da draußen gar nicht. Doch manchmal, wenn Rick nicht da war, hatte sie Sky von den magischen Abenteuern erzählt, die sie eines Tages erleben würden. Von Reisen nach Paris, nach Marokko oder Indonesien. Länder, von denen Lily nur online oder im Erdkundeunterricht ihrer Highschool gelesen hatte. Jedes Kind verdiente es, an Märchen zu glauben, auch wenn Lily wusste, dass es nur Geschichten waren.

»Ja, Hühnchen, es ist so weit. Aber wir müssen uns beeilen.«

Sky griff sich den blöden gelben Affen und umklammerte ihn fest. Lily zögerte. Die Vorstellung, irgendetwas mitzunehmen, was Rick berührt hatte, überstieg ihre Kräfte.

»Sky, deinen Affen müssen wir hierlassen.«

Skys Augen wurden riesengroß, während sie vehement den Kopf schüttelte.

»Mommy, ich kann nicht … Er muss mitkommen.«

»Mommy findet einen neuen Freund für dich. Versprochen.«

Sky zögerte, doch sie würde ihrer Mutter gegenüber niemals ungehorsam sein. Tapfer schob sie den Stoffaffen wieder unter die Decke und gab ihm einen zärtlichen Abschiedskuss. Lily zog ihr mehrere Pyjamahosen und drei Pullover übereinander an, bis sie dick eingemummelt war. Dann nahm sie eine Daunendecke und legte sie Sky über die Schultern. »Halt die gut fest, okay? Nicht loslassen.«

»Okay, Mommy.«

Sobald Sky fertig war, zog Lily sich mehrere Paar Strumpfhosen und ihre Pyjamahose an. Ihre Hände zitterten heftig; sie fürchtete, er könnte jeden Moment zurückkehren. Doch sie atmete weiter tief durch, sagte sich wieder und wieder, dass sie hier rauskommen würden, wenn sie nur ruhig bliebe.

Dann waren sie beide fertig. Eins musste Lily jedoch noch tun. Sie eilte in eine Ecke des Raumes und hob eine lose Diele hoch. Dann zog sie ein paar abgegriffene Blätter Papier heraus, die Botschaft, die sie vor Jahren geschrieben hatte, als sie selbst noch fast ein Kind und Mutter eines Neugeborenen gewesen war. Die Seiten waren mit dem Alter vergilbt, doch die Schrift war noch leserlich, jedes Wort sorgfältig niedergeschrieben. Wenn das hier eine Falle war, dann gab es keine Hoffnung für Lily. Sie wusste, ihre Strafe würde tödlich sein. Doch sie musste einfach daran glauben, dass vielleicht Sky eine Chance hatte.

Lily nahm die Blätter, faltete sie zusammen und stopfte sie in die Tasche von Skys Pyjamahose.

»Erinnerst du dich noch an Mommys Regeln für das große Abenteuer?«

»Wenn du sagst, lauf, renne ich los. Nicht anhalten. Nicht umdrehen. Einen Polizisten suchen und ihm das da geben.«

»Und woher weißt du, dass jemand ein Polizist ist?«

»Weil er eine Uniform anhat und auf mich aufpassen wird.«

»Du bist Mommys wunderbarer kleiner Engel, das weißt du doch, oder?«

Sky lächelte tapfer, als Lily sie auf den Arm nahm. Der Körper ihrer Kleinen war so winzig und vogelzart; sie fühlte sich an, als wöge sie überhaupt nichts. Als sie langsam die Treppe hinaufstiegen, ertappte Lily sich dabei, wie sie über das Geländer in den Raum hinabstarrte, der sie acht Jahre lang beherbergt hatte. Nicht mehr als vierzig Quadratmeter, mit diesen feuchten, dunklen Wänden … Die Hölle auf Erden, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit jedem knarrenden Schritt schwor sie sich, nie mehr zurückzukehren. Sie würde nicht zulassen, dass er sie beide wieder hierherbrachte. Entschlossen drückte sie die Tür auf und trug ihre Tochter durch die Hütte. Sekunden später standen sie im Freien.

Die kalte Luft ließ Lilys Haar umherwirbeln, ihr Gesicht brannte in der frostigen Luft. Sky japste laut auf und fuhr sich mit den Händen über die Wangen, als könne sie die Kälte wegwischen. Dann klammerte sie sich an Lilys Hals; ihr ganzer Körper verkrampfte sich unter dem brutalen Ansturm des Winters. Lily jedoch genoss den Augenblick in vollen Zügen. Der Schnee knirschte unter ihren Hausschuhen, und sie vermochte ihre Freude kaum zu zügeln.

»Jetzt geht’s los, Hühnchen! Jetzt fängt unser großes Abenteuer an!«

Doch Sky hörte nicht zu. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie das weiße Pulver an, das sich vor ihnen erstreckte.

»Was ist das für weißes Zeugs, Mommy?« Die einzige Forderung, der Rick nachgegeben hatte, waren Bücher gewesen. Sie hatten vom Wetter und von den Jahreszeiten gelesen. Sommer. Winter. Herbst. Frühling. Aber wie konnte die süße, kleine Sky wirklich begreifen, was Schnee war, wenn sie noch nie welchen gesehen hatte? Wie konnte ein Kind, das in diesem furchtbaren fensterlosen Verlies aufgewachsen war, überhaupt etwas über eine Welt wissen, die es nie hatte sehen oder anfassen oder spüren können? Lily wollte es ihr erklären, wollte Sky Gelegenheit geben, diese neuen Erfahrungen auszukosten, doch dafür war jetzt keine Zeit.

»Keine Fragen, Hühnchen. Du musst tun, was ich sage, und zwar, wann ich es sage.«

Die Schärfe in Lilys Stimme war untypisch für sie, doch darüber konnte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Sky verstummte, als Lily losmarschierte. Sie zwang sich, nicht auf die unheilvollen, drohenden Schatten zu achten, die die Kiefern warfen. Mit jedem Schritt wurde sie schneller; sie weigerte sich, sich noch einmal nach der unauffälligen Hütte umzudrehen. Aus dem Gehen wurde ein Joggen, und dann rannte sie. Die Beine taten ihr weh; ihre Muskeln waren schwach vom Nichtstun, doch sie kämpfte sich durch den Schmerz hindurch. Sie hatte so viel ertragen; dies hier war nichts dagegen. Lilys Herz hämmerte heftig in ihrem Brustkorb. Es war so lange her, dass sie hatte rennen können, aber die Erinnerung an ihr Langstrecken-Training kam schlagartig zurück. Fast konnte sie die Stimme von Coach Skrovan hören: »Finde einen Rhythmus. Finde deine Schrittlänge.«

Lily achtete nicht auf die Kratzer, die Zweige und dichtes Gestrüpp in ihrem Gesicht hinterließen. Jegliches Zeitgefühl kam ihr abhanden, während sie den Weg hinuntereilte. Sie rannte weiter, bis sie eine Straße erreichte. Lily kniff die Augen zusammen, versuchte, das Schild in der Ferne zu entziffern. Als sie näher kam, rang sie jäh nach Luft und blieb wie angewurzelt stehen. Highway 12. Mit wachsendem Grauen wurde ihr klar, dass sie sich keine fünf Meilen von zu Hause entfernt befanden. Fünf Meilen!

Die Erkenntnis ließ sie fast zusammenbrechen. Am liebsten wäre sie auf die Knie gefallen und hätte vor hilfloser Wut laut aufgeschrien. Doch das ging nicht. Konzentrier dich auf diesen Moment. Dieser Moment war alles, worauf es ankam. Immer einen Fuß vor den anderen, wies sie sich an.

Sie konzentrierte sich auf Sky, die vor Kälte wimmerte. »Du bist so ein tapferes Mädchen. Mommy ist ja so stolz auf ihr tapferes kleines Mädchen.«

Es war schwer, Skys Zittern mit anzusehen. Doch die Dunkelheit war ihre Rettung, und sie durfte keine Zeit verschwenden. Trotz der Kälte, trotz Skys Schlottern, wurde Lily jäh klar, dass der heutige Tag ein spektakulärer war. So einen hatte sie seit dreitausendeinhundertzehn Tagen nicht mehr erlebt. Das war so ein albernes Spiel mit ihrer Zwillingsschwester Abby gewesen. In der siebten Klasse hatten sie angefangen, sich ihre »spektakulären« Tage zu merken.

Spektakulär war ein Wort aus dem Wörterbuch. Definition: auf dramatische, aufsehenerregende Weise schön. Abby, sechs Minuten älter, war damals vollkommen von Oprah Winfrey und deren Philosophie der Sorglosigkeit besessen gewesen und hatte einen Kalender gebastelt, um ihrer beider spektakulären Tage zu dokumentieren. Und so hatte es angefangen: der Tag, an dem sie es beide in die Leichtathletik-Schulmannschaft geschafft hatten. Der Tag, an dem sie beide ihre Führerscheinprüfung bestanden und mit ihren Banana Splits vor der Eisdiele auf dem Kühler ihres Jeeps gesessen und in dem Wissen geschwelgt hatten, wie erwachsen sie endlich waren. Und dann der spektakulärste Tag von allen, als Wes Lily ins Kino eingeladen hatte. Lily war die Erste, die ein Date hatte, doch Abby half ihr, sich zurechtzumachen, suchte ihr das perfekte Outfit aus und schminkte sie. Allerdings beschlich Lily, nachdem Wes sie abgeholt hatte, die Angst, dass aus ihrem spektakulären Tag nichts werden würde. Wes war wortkarg und nervös gewesen, keine Spur von dem sorglosen, albernen Jungen, für den sie schon das halbe Schuljahr über geschwärmt hatte. Immer wieder fragte sie nach. »Ist alles okay? Sicher? Was ist denn? Du kannst es mir ruhig sagen.«

Wes hatte schließlich die Beherrschung verloren und gesagt, es sei überhaupt nichts okay. Sein Vater war wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden. Wes versuchte, so zu tun, als sei ihm das egal.

»Eigentlich dürfte mich das nicht groß überraschen; ich sollt’s ja gewöhnt sein, dass er sich wie ein Arschloch benimmt. Ist doch bescheuert; ich will uns den Abend nicht verderben. Los, komm, wir verpassen noch die Vorschauen.« Lily hatte ihn am Arm gepackt, ehe er aussteigen konnte.

»Die Vorschauen sind mir schnuppe. Und das ist überhaupt nicht bescheuert. Erzähl mal.«

Ein Ausdruck der Dankbarkeit huschte über Wes’ Züge. »Echt jetzt?«

Lily hatte genickt. Kein Film in ganz Hollywood konnte sich mit diesem Augenblick messen. Sie saßen in dem Pick-up, während Wes erzählte, dass es mit der Trinkerei seines Vaters seit dem Tod von Wes’ Mutter immer schlimmer geworden sei. Er bemühe sich, dafür zu sorgen, dass die Rechnungen bezahlt wurden und dass sein Vater regelmäßig zur Arbeit ging, doch das zehre an ihm. Dann erkundigte er sich nach Lilys Leben und hörte zu, als sie von Abby erzählte, davon, wie nahe sie sich standen und dass sie solche Angst hatte, ihre Eltern könnten vorhaben, sich scheiden zu lassen. Sie unterhielten sich so angeregt, dass sie glatt den Film verpassten, und Lily wäre um ein Haar zu spät nach Hause gekommen. Sie konnte es kaum glauben. So wohl hatte sie sich bisher nur mit Abby gefühlt. Und gerade, als Lily dachte, der Abend könne gar nicht noch schöner werden, hatte Wes sich herübergebeugt und sie geküsst. Danach reihte sich in ihrem Leben ein spektakulärer Tag an den anderen.

Lily rannte weiter, rückte Sky in ihren Armen zurecht, doch sie konnte nicht aufhören, an das spektakuläre Jahr mit Wes zu denken. Natürlich war jener Septemberdienstag so weit von spektakulär entfernt gewesen, wie es überhaupt nur ging. Um ehrlich zu sein, war es ein total beschissener Tag gewesen. Sie war auf Krücken herumgehumpelt, nachdem sie sich die Woche zuvor bei einem Wettkampf den Knöchel verstaucht hatte. Außerdem war sie am Abend zuvor erst spät ins Bett gekommen, weil sie so lange mit Wes telefoniert hatte, und sie hatte total vergessen, für einen Chemietest zu lernen. Ihr war klar, dass sie den völlig versiebt hatte. Lily war zu Abbys Spind hinübergehumpelt, um sich bei ihrer Schwester darüber auszuheulen, dass sie sich ihren Notenschnitt versaut hatte. Aber Abby hatte gar nicht erst versucht, ihren Ärger zu verbergen.

»Wo ist mein schwarzer Pulli? Du hast doch gesagt, du legst ihn wieder in meinen Spind?«, wollte sie wissen.

»Hab ich doch. Den hattest du doch letzte Woche nach dem Training an.«

»Nein, hatte ich nicht. Du hast meinen verdammten Lieblingspulli verschlampt, stimmt’s? Ich hab’s ja gewusst.«

Lily hatte hartnäckig beteuert, sie habe den Pullover nicht verschlampt. Aber Abby hatte ihr nicht geglaubt und sie als Lügnerin beschimpft. Rot im Gesicht, die Lippen schmal wie Striche, auf diese Art und Weise zusammengekniffen, die Lily stets rasend machte, hatte Abby sie wütend angefunkelt. Ein Streit war unvermeidlich gewesen.

»Du bist so eine Flachpfeife«, hatte Abby geblafft.

»Ach ja … und du bist ja sooo was von perfekt, nicht wahr?«, hatte Lily zurückgefaucht. Es kotzte sie an, dass Abby immer so tat, als wäre sie die Wiedergeburt Christi, bloß weil sie sechs Minuten älter war.

»Von mir aus. Ich leih dir nie wieder meine Klamotten.«

»Abby, jetzt mal im Ernst … Ich hab das Teil nicht verschlampt.«

»Nie kannst du akzeptieren, dass du im Unrecht bist. Ich schwör’s, du bist eine dermaßen egoistische Zicke. Ohne dich wär das Leben so viel einfacher.«

Damit war sie davongestürmt. Lily hatte gewusst, dass Abby das Auto nehmen würde, an diesem Tag war nämlich sie mit Fahren an der Reihe. Doch das war ihr egal. Lieber würde sie sich von Wes nach Hause fahren lassen oder ihre Eltern anrufen, als sich die dämlichen Tiraden ihrer Schwester über einen Pullover anzuhören, von dem Lily ganz genau wusste, dass sie ihn ihr zurückgegeben hatte.

Was sie sich da gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, hörte sich für einen Außenstehenden vielleicht schrecklich an, aber so stritten Zwillinge nun einmal. Ihre Kräche hatten nichts zu bedeuten. Eben tauschten sie noch wüste Beschimpfungen aus, und im nächsten Moment lagen sie im Wohnzimmer gemeinsam auf dem Sofa, betrachteten ihre Facebook-Seite und schmiedeten Pläne fürs Wochenende. An jedem anderen Abend wäre Lily nach Hause gekommen, hätte sich neben Abby aufs Sofa plumpsen lassen, und der ganze Streit wäre vergessen gewesen. Woher hätte sie denn wissen sollen, dass sie sich an diesem Tag zum letzten Mal sahen? Sie hatte doch nicht ahnen können, was kommen würde. Niemand hatte das ahnen können.

Mittlerweile schmerzten Lilys Arme; sie rückte Sky erneut zurecht, gab ihr einen Kuss und flüsterte aufmunternde Worte. Sie achtete darauf, sich neben der Straße zu halten und sich jedes Mal zu ducken, wenn sich Scheinwerfer näherten. Sie mussten bald irgendwo ins Warme, sonst riskierten sie es, völlig auszukühlen. Lily hatte keine Ahnung, wie lange sie gelaufen war, aber weit konnte es nicht mehr sein. Sie kam um eine Biegung und schnappte jäh nach Luft. Da stand es: WILLKOMMENINCRESTEDGLEN. Jahrelang hatte Lily dieses Schild nicht ausstehen können. Sie hasste das, was es für sie bedeutete – einen weiteren Tag in der Vorstadt festzusitzen. Sie hatte sich nach Wolkenkratzern und der Hektik einer Großstadt gesehnt. Nach Cafés und Hookah-Bars und winzigen Pubs, wo hippe Barkeeper endlose Pints Guinness über den Tresen reichten. Sie hatte davon geträumt, sich Off-Broadway-Inszenierungen anzusehen und in kleinen Trödelläden zu stöbern. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie sich einen Beruf suchen würde, der ihr Freude machte. Wie sie mit Abby in einem Loft im West Village wohnen würde und sie beide gemeinsam New York City erkunden würden. »Die Riser-Zwillinge Erobern Manhattan« war ihr Kindertraum gewesen; sie hatten Collagen gebastelt und in endlosen Tagträumen ihr Loft eingerichtet. Crested Glen war das genaue Gegenteil von New York City. Lily hatte immer Witze darüber gerissen, von wegen, dorthin kämen Träume zum Sterben. Nie hätte sie sich vorgestellt, solche Freude zu empfinden, wieder hier zu sein. Sie lief schneller, flüsterte Sky zu, dass alles gut werden würde. Weiter, dachte Lily. Lauf einfach weiter.

2. Kapitel

RICK

Sei kein Weichei, befahl sich Rick, während er die verschneiten Nebenstraßen entlangfuhr. Lass dich von dem Stress nicht fertigmachen. Stress machte einen unvorsichtig, und Rick konnte es sich nicht leisten, unvorsichtig zu sein. Die letzten Monate hatte er sich übernommen, mit dem Unterricht, seiner Frau, seinen Mädchen. Aber damit kam er klar. Er musste sich einfach nur die Zeit besser einteilen.

Rick drehte das Radio lauter; die Rolling Stones erfüllten das Wageninnere mit »Get Out of My Cloud«. Mein Gott, wie er diesen Song liebte. Er hatte gehofft, die Musik würde ihn beruhigen, aber er war immer noch sauer. Es hatte ihm solchen Spaß gemacht, Lily und Sky etwas über die Schönheit der Beat-Age-Poeten beizubringen, und er verließ sie nur ungern. Er hatte erwogen, über Nacht zu bleiben, doch er war schon seit zwei Tagen weg, und das Letzte, was er wollte, war, dass Missy ihn suchen kam. Sie war schon einmal in der Hütte aufgekreuzt, und damals war es höllisch knapp gewesen. Deswegen hatte er sich gelobt, ihr niemals wieder Anlass zum Misstrauen zu geben.

Als könnte Missy Gedanken lesen, surrte Ricks Handy. Er brauchte nicht einmal auf das Display zu schauen, um zu wissen, dass es seine Frau war. Rick seufzte, meldete sich aber trotzdem.

»Babe«, jaulte Missy los, wie nicht anders zu erwarten. Ihre Stimme dröhnte aus seinen Bluetooth-Lautsprechern. »Es ist schon fast drei Uhr. Du hast doch gesagt, du kommst heute früh nach Hause.«

»Ich weiß, Miss. Aber ich hab mich festgeschrieben und gar nicht gemerkt, dass es schon so spät war. Ich bin gerade beim Tanken. Bitte sag mir, dass du schon mal das Bett anwärmst.«

»Es ist doch schon so spät, und wir müssen morgen beide arbeiten …«

»Machst du Witze, Babe? Zieh dir lieber was richtig Scharfes an, sonst bin ich echt enttäuscht.«

»Ich liebe dich, Ricky«, hauchte sie atemlos und legte auf.

Er sah sie vor sich, wie sie sich ihr drittes Glas Merlot einschenkte und lächelnd ihre »Verführung« plante. Großer Gott, sie war so langweilig und berechenbar, und er konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihn Ricky nannte. Das hatte er ihr wieder und wieder gesagt, aber Missy hörte ja nie zu. Rick merkte, wie sein Whiskey-Hoch nachließ und sich erste Anzeichen für Kopfschmerzen ganz unten an den Schläfen bemerkbar machten. Missy zu manipulieren war leicht, aber wahnsinnig ermüdend.

Mindestens einmal in der Woche spielte er mit dem Gedanken, sich scheiden zu lassen. Die Vorstellung, Missy in den Wind zu schießen und ihrem Vater, diesem verklemmten Sackgesicht, zu sagen, er solle sich seine Kohle in den Allerwertesten schieben, war verlockend. Er hatte viele Planungsphasen damit verbracht, online nach einer Junggesellenwohnung zu suchen, wo er sich mit all den Dingen beschäftigen konnte, die ihn glücklich machten. Doch es war zu riskant, sie da draußen rumlaufen zu lassen, zu riskieren, dass sie Fragen stellte und ihm nachlief. Wie er sie kannte, würde sie wahrscheinlich einen Privatdetektiv anheuern, irgendjemanden, den sie in einer dieser hirnlosen Talkshows gesehen hatte, auf die sie so abfuhr. Nein, er würde erst dann frei von Missy sein, wenn sie tot war. Und im Augenblick war das nicht umsetzbar, also ertrug er sie.

Rick fuhr weiter und trommelte auf dem Lenkrad mit, als Led Zepelins »Black Dog« begann.

Ein echt guter Song, dachte Rick. Sein Handy surrte abermals. Rasch schaute er auf das Display hinunter und sah Missys »Sex-Kätzchen«-Pose.

Verdammt noch mal! Er war genervt, vermisste Lily jetzt schon. Und dann traf es Rick wie ein Schlag. Ihm fiel ein, dass er in der Hütte die Tür nicht abgeschlossen hatte. Er trat das Gaspedal durch und fing an, nach der nächsten Wendemöglichkeit Ausschau zu halten. Dabei konzentrierte er sich so sehr darauf, zur Hütte zurückzukommen, dass er das Polizeiauto übersah, das geduldig am Straßenrand wartete. Eine Sirene heulte los, und als Rick aufsah, erblickte er das flackernde Blaulicht. Mühsam kämpfte er gegen den Impuls an, mit der Hand aufs Lenkrad einzudreschen. Kein Grund zur Panik. Er war doch schon öfter gerade so davongekommen. Überraschungsbesuche wie der von seinen Basketballkumpels, die auf einen Drink in der Hütte vorbeigeschaut und sich nach dem Bestseller erkundigt hatten, den er angeblich gerade schrieb. Dann dieser lange Hawaii-Urlaub mit seinen Schwiegereltern, der es ihm unmöglich gemacht hatte, seine Mädchen zu sehen. Oder Missys unangekündigter Besuch, als er es gerade noch rechtzeitig nach oben geschafft hatte. All diese Stolpersteine hatte er problemlos bewältigt. Das hier war irgendein Scheißvorstadtbulle, und er war Rick Hanson.

Rick bremste vorsichtig und fuhr an den Straßenrand. Dann griff er in ein Konsolenfach, holte zwei Kaugummis hervor, riss das Papier ab und stopfte sie sich beide in den Mund. Er kaute heftig und hoffte, dass die Minze die Whiskeyfahne überdecken würde. Er war deutlich über dem Limit; wenn sie ihn wegen Alkohol am Steuer drankriegen würden, würde die ganze Stadt es erfahren. Missy würde Zustände kriegen. Sein Boss würde stocksauer sein. Sogar seinen Führerschein könnte er verlieren. Unfassbar, dass das hier wirklich passierte. Wenn Missy nicht gewesen wäre, wäre er noch immer bei den Mädchen. Das war alles ihre Schuld. Diese blöde Schlampe.

Vergiss sie, sagte er sich. Konzentrier dich, Rick. Konzentrier dich!

Er ließ das Fenster hinunter und beobachtete im Seitenspiegel, wie der Streifenpolizist angeschlendert kam.

»Fahrerlaubnis und Zulassung, Sir.«

Rick nickte gehorsam und reichte Führerschein und Fahrzeugpapiere aus dem Fenster. Der Cop leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Papiere, dann in Ricks Gesicht, der wegen des hellen Lichts unbehaglich blinzeln musste.

Du blödes Arschgesicht, dachte Rick, ließ sich seine Wut aber nicht anmerken.

»Was ist denn los, Officer?«, erkundigte er sich.

»Wissen Sie, wie schnell Sie gefahren sind, Sir?«

»Bin mir nicht sicher. Aber so, wie’s aussieht, würde ich sagen, zu schnell.«

Der Cop runzelte die Stirn; anscheinend überzeugte ihn Ricks Versuch, das Ganze ungezwungen anzugehen, nicht besonders.

»Ihnen ist doch klar, dass man’s auf einen Unfall anlegt, wenn man bei dieser Witterung fünfundachtzig Meilen die Stunde fährt?«

Rick kannte sich mit Menschen aus. Er studierte sie, verstand ihre psychologische Struktur, wusste, wie man ihr Vertrauen gewinnt. Das hier war ein Kinderspiel.

»Tut mir sehr leid, Officer. Sie haben völlig recht. Es ist nur, meine Frau wartet auf mich, und da hab ich wohl nicht aufgepasst.«

Rick hielt sein Handy hoch, zeigte das Foto und Missys beeindruckende Reize vor. Der Cop zögerte kurz, dann änderte sich sein Verhalten um hundertachtzig Grad. Ein Lächeln legte sich auf sein breites Gesicht.

»Scheiße, ich würde gegen jede Geschwindigkeitsbegrenzung im Staat verstoßen, um bei der zu landen.«

»Da war ich wohl ein bisschen übereifrig. Aber ich verstehe, dass Sie Ihren Job machen müssen.«

Der Streifenpolizist gab Rick die Papiere zurück. »Sie sind ein verfluchter Glückspilz. Ich hoffe, das wissen Sie?«

»Ja, Sir, das weiß ich. Hab verdammt großes Glück.«

»Sehen Sie sich vor da draußen. Wir wollen doch nicht, dass Ihnen was passiert und Ihre Frau unglücklich wird, nicht wahr?«

»Nein, Officer, bestimmt nicht.«

Der Cop lächelte ihm noch einmal zu und ging dann zurück zu seinem Dienstwagen. Rick hätte am liebsten einen Siegestanz aufgeführt. Doch er konnte nicht allen Ruhm für sich beanspruchen. Wenigstens einmal in ihrem Leben war Missy tatsächlich zu etwas nutze gewesen.

Langsam fuhr Rick wieder los. Hätte der Cop nicht dort hinten geparkt und auf sein nächstes Opfer gelauert, wäre Rick sofort zur Hütte zurückgekehrt und hätte die Tür abgeschlossen. Nicht weil er Lily nicht traute, sondern weil ihn seine Achtlosigkeit ärgerte. Er musste seine Routineabläufe einhalten, sonst würde alles, was er sich aufgebaut hatte, in sich zusammenstürzen. Aber er würde in der Mittagspause zur Hütte fahren und nach den Mädchen sehen. Im Augenblick wartete Missy auf ihn, und am Morgen musste er zum Unterricht. Abgesehen davon war es völlig unmöglich, dass Lily jemals ungehorsam sein würde. Rick drehte die Musik noch lauter. Vielleicht würde er Missy morgen nach der Arbeit etwas Hübsches kaufen. Verdammt, wenn er schon beim Einkaufen war, würde er auch etwas für Lily besorgen. Seine beiden Mädchen hatten eine Belohnung dafür verdient, dass sie sich so gut benahmen.

3. Kapitel

LILY

Lilys Lunge schmerzte, ihre Oberschenkel und Waden brannten. Ihre Arme fühlten sich an, als könnten sie jeden Augenblick nachgeben, und Sky wurde immer unruhiger; sie wimmerte und jammerte: »Ich will zu Daddy Rick. Bitte lass uns nach Hause gehen.«

Doch Lily lief weiter. Sie hetzte an dem Spielplatz vorbei, wo sie endlose Stunden mit Abby verbracht hatte. Die Schaukeln, das bunte Klettergerüst und das Karussell waren verwaist und von Schnee bedeckt. Doch Lily sah Abby beinahe vor sich, an ihrer Seite, in identischen pinkfarbenen Schneeanzügen, wie sie Hand in Hand dahinrannten, so sehr im Einklang miteinander, dass sie fast ein und dieselbe Person zu sein schienen. Abby. All die Jahre lang hatte Lily niemals aufgehört, Abby zu vermissen. Ihre Zwillingsschwester.

Tagsüber zwang Lily sich, nicht an Abby zu denken. Es gab reichlich Dinge, mit denen sie sich beschäftigen konnte. Sie arbeiteten ihren Unterrichtsplan ab, erledigten die Hausarbeit, putzten, so gut es ging, um Viehzeug und Insekten fernzuhalten. Das Ende jeden Tages verbrachten sie damit, sich für Ricks Besuch bereitzumachen; sie wussten zwar nie, wann er kommen würde, aber es war klar, dass sie dann bereit sein mussten. Lily musste dafür sorgen, dass sie richtig angezogen und gut gelaunt waren. Erst spätnachts, wenn Rick gegangen war und Sky schlief, gestattete Lily sich, an Abby zu denken. Als sie jetzt den Spielplatz wiedersah, kam all das in einem Schwall zurück. Das Lächeln ihrer Schwester. Ihr Lachen. Die enge Verbindung zwischen ihnen. Abby war nicht länger nur eine Erinnerung, die Lily heraufbeschwor, um eine dieser endlosen Nächte zu überstehen. Bald würde Abby Wirklichkeit sein.

Derart in Gedanken blieb Lily mit dem Fuß an einem Stein hängen und stolperte. Sie konnte Sky gerade noch packen, bevor sie auf dem Boden landete. Seit mindestens einer Stunde waren sie auf der Flucht, und Lilys Arme schmerzten höllisch. Doch sie musste besser aufpassen.

»Entschuldige, Hühnchen. Ich hab dich, ich lass dich nicht los.«

Sky klammerte sich noch fester an Lilys Hals. »Mommy, wir kriegen doch Ärger. Bitte … lass uns zu Daddy Rick zurückgehen.«

Lily küsste ihre Tochter auf die Stirn.

»Sei einfach noch ein bisschen länger Mommys tapfere Kleine.«

Lily bog um die Ecke und erblickte das Haus – ihr Haus – am Ende der Sackgasse. Die himmelblauen Fensterläden waren ausgeblichen. Der Ahornbaum, unter dem sie stundenlang gelegen und Harry Potter oder Wer die Nachtigall stört gelesen hatte, war verschwunden. Schnee bedeckte den Garten, in dem Dad im Frühling immer endlos geschuftet hatte, ansonsten sah das Haus noch genauso aus, wie sie es zurückgelassen hatte. Acht Jahre war es her, seit sie ihr Zuhause zum letzten Mal gesehen hatte, und es war, als sei die Zeit stehen geblieben. Lily schloss die Augen. Fast konnte sie das Lachen der Nachbarskinder hören. Sie erinnerte sich an ihre endlosen Schneeballschlachten, wie Abby ihr geholfen hatte, die Eltern gründlich zu besiegen. Sie sah sich selbst, wie sie im Vorgarten auf einer Decke lag, mit Wes, ihrer ersten Liebe, ihrer einzigen Liebe. Wie die Sommersonne auf sie herabbrannte, sein Arm um ihre Taille. Sie erinnerte sich, wie er »Ich liebe dich« geflüstert hatte. Der erste Junge, der je diese Worte gesagt hatte, die Verheißung von so viel mehr.

Lily stand mitten auf der Straße und starrte das Haus an, als das Hupen eines Autos sie plötzlich aus ihren Träumen riss.

Sie erstarrte.

Rick. Ganz bestimmt war es Rick.

Sie dachte daran wegzulaufen, doch ihre Beine waren am Ende. Auf keinen Fall würden sie sie lange genug tragen, um ihm entfliehen zu können. Die Kehle wurde ihr eng, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Wenn er so nahe war, war kein Entkommen mehr möglich.

Langsam drehte sie sich um, kostete ihre letzten Sekunden in Freiheit aus. Doch es war niemand zu sehen außer einem grauhaarigen Rentner, der vom Fahrersitz seines ausgeblichenen Toyota Camry aus herüberwinkte. Der Mann machte ein betroffenes Gesicht, und ihr war klar, dass er sich bestimmt wunderte, was sie hier taten, so dürftig angezogen bei dieser Kälte.

»Alles okay, Miss? Ist doch schon schrecklich spät, und die Kleine sieht ganz durchgefroren aus.«

Lily mühte sich ab, etwas zu erwidern, doch ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich, versuchte es noch einmal, zwang sich, ganz ruhig und gefasst zu klingen. »Alles in Ordnung, Sir. Wir sind auf dem Weg nach Hause.«

Bevor der Mann noch etwas sagen konnte, drehte Lily sich um und marschierte entschlossen den Gehsteig entlang, als liefe sie ständig mitten im Winter im Pyjama herum. Geh weg, dachte sie. Lass uns in Ruhe. Gleich darauf hörte sie, wie der Wagen davonfuhr. Lily setzte Sky ab und kniete sich neben sie, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren.

»Ich weiß, du hast Angst, Schätzchen. Aber du musst noch ein kleines bisschen länger tapfer sein, okay?«

»Okay, Mommy«, flüsterte Sky leise.

Immer wieder staunte Lily, wie lieb und gehorsam dieses Kind war. Sie umarmte Sky fest und stand auf. Dann griff sie instinktiv nach der Türklinke. Sie wollte, dass die Tür aufging. Sie wollte wieder sechzehn sein und ins Haus stürzen, atemlos und verschwitzt von ihrem Morgenlauf. Abby war damals immer an ihr vorbeigeflitzt und hatte »Erster unter der Dusche« gejohlt. Lily tat dann so, als sei sie sauer, insgeheim jedoch fand sie es toll, ihren Vater ein bisschen für sich zu haben, ehe er sich eilends auf den Weg zur Morgenvisite im Krankenhaus machte. Aber das war Wunschdenken. In der wirklichen Welt war die Tür immer abgeschlossen.

Zuerst klopfte Lily nur leise an. Es war ja möglich, dass ihre Familie gar nicht mehr hier wohnte. Sie konnte schon vor Jahren weggezogen sein, konnte ohne sie ganz neu angefangen haben. Lily war klar, dass das möglich war, doch tief in ihrem Innern glaubte sie nicht, dass das jemals geschehen würde. Wäre es andersherum gewesen, so würde Lily ihr Zuhause niemals verlassen, das wusste sie. Nicht ohne Abby. Sie klopfte weiter, immer fester und fester, bis ihre Hände schmerzten.

»Herrgott noch mal, ist ja gut!«

Die Stimme war so vertraut, dass Lily unwillkürlich die Tränen aus den Augen schossen. Gleich darauf ging das Verandalicht an, und die Tür schwang auf. Eine endlos lange Pause entstand, während die ältere Frau Lily anstarrte. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, als wäre Lily ein Geist. Jäh begriff Lily, dass sie bis zu diesem Moment genau das gewesen war.

Heulen ist inakzeptabel, sagte Rick immer. In diesem Moment jedoch vergaß Lily alles, was er ihr eingeprügelt hatte. In diesem Moment hörte das gebrochene Mädchen im Keller auf zu existieren. Mit tränenüberströmtem Gesicht warf sich Lily ihrer Mutter in die Arme.

»Mom, ich bin’s. Ich bin wieder zu Hause.«

4. Kapitel

EVE

Eve versuchte zu begreifen, was da gerade geschah. Unmöglich, dass dieses junge, hohläugige Pyjama-Mädchen mit dem verhärmten Gesicht hier weinend vor ihr stand und sie Mom nannte. Oder doch? Konnte das wirklich ihre Lily sein?

Vielleicht ist es ja ein Traum, dachte Eve. Sie träumte jede Nacht. In manchen Nächten waren die Träume eine einzige Endlosschleife grauenvoller Bilder. Lilys Körper, blutig, zerschlagen und voller blauer Flecke, die Augen tief in den Höhlen, skelettartige Hände, die nach Eve griffen. »Hilf mir doch, Mommy! Rette mich. Bitte!«

Manchmal kam Eves Tochter mit Augen voller Hoffnung und liebevollen Worten zu Besuch. »Mommy, ich hab dich lieb. Du fehlst mir. Ich bin okay.« Diese Nächte waren am schlimmsten. Die Nächte, wenn Eve voller Hoffnung aufwachte, wenn sie an das Unmögliche glaubte: dass ihre Lily tatsächlich noch am Leben sein könnte. Vielleicht war das hier ja nichts anderes, sagte sie sich, während sie das Mädchen anstarrte. Vielleicht war das ja einer von diesen Wunschträumen.

Doch das Mädchen umklammerte Eve noch immer, hielt sie so fest umschlungen, und weinte. Eve konnte die spitzen Ecken und Kanten der jungen Frau fühlen. Sie war aus Fleisch und Blut und nannte Eve Mom.

Eve riss sich los. Sie musste genau hinsehen, musste sich vergewissern, dass das hier kein abartiges Täuschungsmanöver irgendeines Perversen war. Dort draußen gab es unglaublich gemeine Menschen, Menschen, die schon früher versucht hatten, Eves Schwäche, ihre Verletzlichkeit auszunutzen. Menschen, die Briefe schrieben, Geld verlangten, Antworten versprachen, die nie eintrafen. Denen hatte sie schon öfter geglaubt. Diesmal würde sie sich nicht hinters Licht führen lassen.

Unverwandt schaute Eve der jungen Frau in die grünen Augen, und plötzlich sah sie sich in den Kreißsaal zurückversetzt, in jenen Moment, als sie ihre eineiigen Zwillinge zum ersten Mal sah. Jetzt ließ es sich nicht mehr verleugnen. Das da waren Lilys Augen. Die Augen ihres Kindes vergisst eine Mutter nie.

Es war Lily. Sie war wieder da. Lily war zu Hause.

Acht Jahre lang hatte Eve auf Antworten gewartet. Tage waren vergangen. Wochen. Monate. Endlose Jahre. Am Anfang, als Eve noch ein Schäfchen gewesen war, das an eine höhere Macht glaubte, hatte sie gebetet, dass das Ganze ein Ende haben möge, hatte Gott angefleht, ihr Lily zurückzugeben. Selbst ein Leichnam wäre besser als die Leere oder die fürchterlichen Bilder, die ihr Unterbewusstsein heraufbeschwor. Das hier jedoch war Wirklichkeit. Eve stand hier, auf ihrer Veranda, und sah ihr lange verschollenes Kind vor sich.

Dann hörte sie ein Wimmern. Sie hatte Lily so gebannt angestarrt, dass sie das Kind, das neben ihr stand, überhaupt nicht bemerkt hatte. Die Kleine war blass, vielleicht drei oder vier Jahre alt, hatte leuchtend grüne Augen und machte ein völlig verängstigtes Gesicht. Mein Gott, die Ähnlichkeit mit Lily war geradezu unheimlich. Lily war eine Mutter? Sie hatte eine Tochter bekommen? Wo waren die beiden all die Jahre gewesen? Was in Gottes Namen hatte sie so lange von ihnen ferngehalten? So viele Fragen schossen Eve durch den Kopf, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sie öffnete den Mund, doch es kam kein Laut heraus.

»Mom, können wir reinkommen? Bitte!«, flüsterte Lily.

Scham durchzuckte Eve, als ihr klar wurde, wie kalt es war und wie wenig die beiden anhatten. Was war nur los mit ihr? Rasch lotste sie die beiden ins Haus. Kaum hatte Eve die Tür geschlossen, fuhr sie herum. Die erste Umarmung hatte sie vertan, diese hier jedoch würde sie sich nicht entgehen lassen. Sie zog Lily an sich und hielt sie ganz fest.

In ihren Träumen war Eve unverwüstlich gewesen, wenn Lily heimkehrte. Sie sagte und tat immer genau das Richtige. Dies hier jedoch war kein Traum. Nein, man konnte getrost sagen, dass Eve nicht die Fassung wahrte. Ganz und gar nicht.

5. Kapitel

LILY

Lily hatte erwartet, dass ihre Mutter wissen würde, was zu tun war. Cool, ruhig und gefasst, war sie immer diejenige gewesen, an die sich in einer Krise alle wandten. »Eve in der Brandung« hatte Lilys Vater sie immer genannt und erzählt, wie Eve damals einen kompletten Dienst in der Klinik absolviert hatte, elf Stunden, bevor sie irgendjemandem sagte, dass die Wehen eingesetzt hatten. Egal was passierte, Mom war stets die Ruhe selbst gewesen. Doch so wirkte die Frau nicht, die jetzt vor Lily stand. Sie wusste nicht, wer das hier war. Ihre Mutter weinte; ihr Körper verschwand praktisch in ihrem alten blauen Bademantel. Die dünnen, von dicken Adern gezeichneten Hände schoben immer wieder aschblondes Haar zurück, als könne sie irgendeinen Sinn in Unsinnigem erkennen, wenn sie sich das Haar auf den Kopf türmte. Das war ganz und gar nicht hinnehmbar. Sie brauchten Hilfe, doch ihre Mutter entpuppte sich als völlig hilflos.

Lily warf rasch einen Blick durch die großen Fenster. Bald würde es hell werden. Rick würde merken, was er getan hatte. Er würde merken, dass sie geflohen waren, und er würde sie suchen kommen. Lily packte Skys Hand. »Komm mit, okay?«

Sky gehorchte, hielt Schritt mit Lily, als diese durchs Haus eilte. Lily hörte, wie ihre Mutter ihr folgte, blickte sich jedoch nicht um. Sie schaltete das Licht ein, und das Wohnzimmer lag im Hellen. Sie betrachtete die hübschen Pastellfarben der Möbel, die bunten Zierkissen, das gemütliche Sofa, auf dem sie Stunden mit Lesen verbracht oder mit Abby ferngesehen hatte. Einen Moment lang versuchte Lily, sich einzureden, dass sie in Sicherheit wäre. Doch dann fiel ihr seine Warnung wieder ein, seine ständige Warnung. Ich lasse dich niemals gehen.

Lily wandte sich wieder an Mom. »Sind die anderen Türen abgeschlossen? Die Fenster? Sind die alle abgesperrt?«

»Ja, sie sind abgeschlossen. Wir schließen sie immer ab.«

Lily glaubte ihr nicht. Moms Schlampigkeit in Sachen Sicherheit hatte Dad damals schon wahnsinnig gemacht.

»Es passiert immer was, wenn man am wenigsten damit rechnet«, hatte er immer gesagt. Lily war klar, welche Ironie sich heute darin verbarg. Diesen Fehler würde sie nie wieder machen. Sich nie wieder auf jemanden verlassen. Sie musste die Türen und Fenster selbst überprüfen. Als sie das gesamte Erdgeschoss verrammelt hatte, sah sie sich um.

Sie war zu Hause. Lily war endlich wieder zu Hause.

Die vertraute Umgebung brach über sie herein. An den Wänden hingen Dutzende Fotos von ihr und Abby. Wie sie mit klaffenden Zahnlücken in die Kamera hinaufgrinsten, in eher misslichen Phasen mit verunglückten Dauerwellen und Babyspeck. Lily suchte nach neuen Fotos, hoffte, ihren Vater und Abby zu erblicken – einen flüchtigen Blick auf die Zukunft werfen zu können, die ihr vorenthalten worden war –, doch anscheinend war die Zeit in Crested Glen tatsächlich stehen geblieben. Sie wollte den Rest ihrer Familie sehen. Musste sie sehen. Ihr war klar, dass ihr Vater wahrscheinlich in der Klinik war, aber ihre Schwester, sie musste ihre Schwester sehen.

»Wo ist Abby? Wo ist sie?«

»Sie ist bei sich zu Hause. Das … ist gar nicht weit von hier, vielleicht zwanzig Minuten.«

»Ruf die Polizei an. Vergewissere dich, dass ihr nichts passiert ist, und sag denen, sie sollen herkommen.« Mom zögerte, starrte Lily an, als spräche sie eine fremde Sprache.

»Verflucht noch mal, Mom, ruf die Cops. Sofort!«

Sky neben ihr keuchte erschrocken auf und wich einen Schritt zurück. Scham loderte in Lily empor. Sie wurde doch sonst nie laut. Sie gebrauchte nie solche Ausdrücke. Das war seine Art. Rasch kniete sie sich nieder und schlang die Arme um ihre kleine Tochter. Sie musste daran denken, wer sie war, nicht, was er aus ihr zu machen versucht hatte. Sie schaute zu Mom empor, und ihre Stimme war leise und gefasst.

»Bitte, Mom. Wir brauchen die Polizei.«

Ihre Worte schienen irgendetwas in ihrer Mutter auszulösen, die schlagartig zum Leben erwachte. Mom verschwand im Esszimmer, und gleich darauf hörte Lily sie am Telefon, wie sie in gedämpftem, aber hektischem Flüsterton mit der Notrufzentrale sprach. Lily drückte Sky an sich, versuchte, sie ruhig zu halten.

»Ist schon okay, Hühnchen. Es ist alles gut. Jetzt sind wir in Sicherheit. Bald sind wir trocken und haben es warm. Wir kriegen was zu essen. Hier sind wir sicher. Uns passiert nichts Schlimmes. Jetzt nicht mehr.«

Fast glaubte Lily diese Worte, bis sie aufblickte und den Fremden auf dem Treppenabsatz stehen sah. Er war groß, mit grau meliertem Haar und Bart, und trug nur ein Paar zu enge, karierte Boxershorts, sodass sein Wanst sich aller Welt darbot.

Lily schrie laut los, ließ alle Angst und Verzweiflung heraus, die sie in ihrem Innern aufgestaut hatte. Erschrocken trat der Mann einen Schritt zurück. Ehe er wieder zur Besinnung kommen und auf sie losgehen konnte, sprang Lily auf. Mit der heulenden Sky im Schlepptau rannte sie in die Küche. Dort eilte sie zum Tresen und zog sämtliche Schubladen auf, schmiss Bratenwender und Nudelholz heraus, bis sie das größte, schärfste Messer zu fassen bekam, das sie finden konnte. Damit rannte sie zurück ins Wohnzimmer und richtete die Klinge auf den Mann, forderte ihn innerlich heraus, näher zu kommen, wenn er es nur wagte. Dies hier war ihr Haus. Ihr Zuhause.

Jetzt habe ich das Sagen, dachte Lily bei sich. Ich habe die Kontrolle.

6. Kapitel

EVE

Lilys durchdringender Schrei ließ Eve zusammenfahren.

»O Gott«, stieß sie hervor und bückte sich nach dem Hörer; ihr panisches Flehen war jäh unterbrochen worden.

»Ma’am, was ist los? Hallo? Ma’am?«

Eve verfluchte sich innerlich. Wie hatte sie ihr Kind auch nur eine Sekunde allein lassen können? Den Hörer noch immer in der Hand rannte sie zurück in die Küche. Dort sah sie Lily in der Mitte des Raumes stehen, Eves großes Kochmesser in der Hand, während sie mit der anderen das kleine Mädchen schützte. Eve schaute zum Treppenabsatz hinauf und sah den Mann, den sie gestern Abend aufgelesen hatte. Sie hatte ihn völlig vergessen. Eddie? Oder vielleicht Ethan? Sie wusste es nicht mehr. Jetzt starrte sie seinen Fettwanst an; seine Augen waren vor Verblüffung weit aufgerissen.

Eve ekelte sich vor sich selbst. Er hatte gesagt, sie wäre hübsch, hatte ihr einen Chardonnay nach dem anderen spendiert und geduldig zugehört, als sie ihm von ihren beiden Töchtern erzählt hatte. Eves Freunde waren ihre traurige Geschichte inzwischen leid. Sie war sie ja selbst leid. Es war leichter, loszuziehen und sich Wildfremde zu suchen, die ihr zuhörten. Dann dachte sie sich detaillierte Geschichten von ihren beiden Zwillingsmädchen aus und wie vollkommen ihr Leben doch sei, wie aus einem Bilderbuch. Letzten Endes wollte sie eigentlich nur jemanden, der sie in den Arm nahm, der diesen leeren Schmerz in ihrem Innern linderte. Stattdessen hatten sie unbeholfenen Sex gehabt, den sie danach sofort bereut hatte.

»Wer ist der Kerl? Wer ist das? Wo ist Daddy? Daddy!«, schrie Lily.

»Raus!«, brüllte Eve den Mann an. »Mach, dass du rauskommst!«

Er zögerte. Lily trat vor, das Messer noch immer in der Hand. Beschwichtigend hob der Mann die Hände. »Ich geh ja schon. Bin schon weg. Ich muss nur … Ich brauche meine Sachen.« Er machte kehrt und verschwand die Treppe hinauf.

»Ma’am, bitte, können Sie mich hören? Ist alles okay?« Jäh fiel Eve ein, dass sie noch immer mit der Telefonistin der Notrufzentrale verbunden war.

»Bitte schicken Sie einfach die Polizei her, so schnell es geht. Und sagen Sie Sheriff Rogers, er soll zu den Risers kommen. Bitte.«

»Die Streifenwagen sind unterwegs. Bleiben Sie dran …«

Eve achtete nicht auf die Frau und brach die Verbindung ab. Langsam trat sie auf Lily zu und blieb nur wenige Zentimeter vor dem gezückten Messer stehen.

»Ich weiß, dass du Angst hast, Lily. Aber die Polizei ist unterwegs. Du bist in Sicherheit. Wir passen auf, dass dir nichts passiert.«

»Das kannst du doch gar nicht versprechen. Das kannst du nicht.«

Eve wusste ihrer Tochter nichts zu entgegnen. Sie wusste nicht, wo Lily gewesen war oder wovor sie auf der Flucht war. Sie wusste gar nichts. Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten, die sie ihrem zerbrechlichen, verletzten Kind sagen könnte. Doch sie fand keine.

»Wer ist das? Wer ist der Mann?«, wollte Lily wissen und schaute noch immer zum Treppenabsatz empor.

»Niemand. Er ist nichts weiter.«

»Wo ist Dad? Habt ihr euch etwa getrennt? Wo ist er, Mom? Wo ist mein Daddy?«

Eve hasste und vermisste Dave zugleich.

»Ich erzähle dir alles, aber du musst erst das Messer weglegen. Bitte, Lily, du machst ja der Kleinen Angst. Gib mir das Messer.«

»Wo ist Daddy?«, fragte Lily abermals, die Stimme wund vor Verzweiflung.

Eve fragte sich, ob Worte einem tatsächlich das Herz durchbohren konnten. Abby war Mamas Liebling, oder zumindest war sie das früher gewesen. Lily jedoch war vom ersten Tag an Daddys kleines Mädchen gewesen. Wenn Lily einen bösen Traum oder Bauchweh hatte, eilte Dave ihr prompt zu Hilfe.

»Er ist nicht mehr da. Es tut mir so unendlich leid, aber Dad ist von uns gegangen.«

»Ich verstehe nicht. Ist er in der Klinik? Ruf ihn an. Sag ihm, er soll nach Hause kommen. Sag ihm, dass ich da bin.«

»Er ist gestorben, Lily. Ein paar Monate, nachdem du verschwunden bist. Er hatte einen schweren Herzinfarkt und ist gestorben.«

Lily reagierte, als hätte ihr jemand die Faust in den Bauch gerammt; sie krümmte sich vornüber, und ein Schluchzen brach aus ihrem Mund hervor. Sie ließ das Messer fallen; es klapperte zu Boden. Schwer lehnte Lily sich gegen den Tresen. Ihr plötzlicher Ausbruch erschreckte das Kind zu Tode, das verzweifelt an seiner Mutter zerrte.

»Mommy, nicht weinen! Bitte! Wir kriegen doch Ärger. Bitte … hör auf. Hör auf zu weinen, bitte!«

Lily schien das Flehen ihrer Tochter zu verstehen. Sie hörte auf zu weinen, holte immer wieder tief Luft. Dann sank sie zu Boden und zog die Kleine auf ihren Schoß. Sie begann, sie zu wiegen, schaukelte vor und zurück; ihre Worte waren für Eve vollkommen unverständlich, fast sinnloses Gestammel. Eve griff nach dem Messer, legte es auf den Tresen und ließ sich dann neben Lily und Sky nieder. Zu dritt kauerten sie eng aneinandergedrängt auf den kalten Küchenfliesen.

Eve musste Lily unbedingt beruhigen, also konzentrierte sie sich auf das Kind.

»Ist das deine Tochter, Lily?«

Lily blickte starr geradeaus, versuchte noch immer, die Neuigkeiten über ihren Vater zu verarbeiten. Sie nickte schwach. »Ja. Das ist Sky. Sie ist sechs. Sky, das ist meine Mutter. Deine Großmutter.«

Sky hielt das Gesicht weiter gegen Lilys Schulter gedrückt. Eve konnte es noch immer nicht glauben. Das hier war ihre Enkelin. Sie hatte eine Enkelin.

»Sie ist wunderschön, Lily. Genau wie ihre Mom.« Das meinte Eve ernst. Sie waren beide so wunderhübsch. Licht strömte durch das Küchenfenster und zeigte, dass es Morgen war. Vor einer Stunde hätte Eve den Sonnenaufgang gar nicht bemerkt. Sie hasste den Morgen, den Anbruch eines neuen Tages ohne Lily. Heute jedoch war alles hell und klar, als erwachten sie aus einem Schlaf, der acht Jahre gedauert hatte.

»Hier ist deine Mom, Lily«, sagte Eve mit leiser, fester Stimme. »Hier sitzt deine Mom. Ich weiß, das mit Daddy hat dir das Herz gebrochen. Mir auch. Es ist nur … Er hatte dich so lieb. Ich glaube, er hatte dich zu lieb. Und ich weiß, du hast Angst, aber ich bin hier, Lily. Ich bin hier bei dir.«

Eve hielt Lilys Blick mit dem ihren fest und sah, wie Lily das Kinn hob und die Schultern straffte, nach außen hin Courage zeigte. So tapfer, dachte Eve. Ihre tapfere, tapfere Tochter. Lily nahm Eves Hand und umklammerte sie fest, schaute auf ihre verschränkten Finger hinunter.

Ohne Vorwarnung schlang Lily die Arme abermals um Eves Hals und drückte sie von Neuem so fest, dass Eve dachte, ihre Rippen würden gleich brechen.

Von mir aus, dachte sie und ließ sich in Lilys Arme sinken. All die Momente, die sie sich zu vergessen gezwungen hatte. Wie Lily mit acht Monaten vorsichtig über den Wohnzimmerteppich kroch, Abby an ihrer Seite. Lily als Teenager – nicht mehr unbeholfen und schlaksig, sondern eine talentierte Athletin. Lily und Abby, die beim Keksebacken eine Riesenschweinerei veranstalteten und sich darum stritten, wer den letzten Rest Teig auffuttern durfte. Eve erinnerte sich daran, wie sie Lily an jenem letzten Morgen gesehen hatte, den Rucksack über die eine Schulter gehängt, an einer Scheibe Toast mümmelnd. So braungebrannt und voller Enthusiasmus, sie hatte zum Abschied gewinkt und war durch die Haustür ins Freie verschwunden. Aus ihrer aller Leben verschwunden. Und jetzt saßen sie hier, Zentimeter voneinander entfernt, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Niemand rührte sich, auch nicht, als sie hörten, wie die Haustür aufging, als der namenlose Mann verstohlen Eves Haus verließ.

Eve wartete, kämpfte gegen die Scham an, und dann wusste sie, dass sie in Gang kommen musste. Die Polizei würde bald hier sein, und sie musste noch an Abby denken. Es widerstrebte ihr, Lily abermals allein zu lassen, doch ihr blieb nichts anderes übrig. Sie stand auf.

»Ich bin gleich wieder hier, Lily. Bleib da sitzen. Ich komme gleich wieder.«

Eve schnappte sich das schnurlose Telefon und ging ins Esszimmer, ohne Lily aus den Augen zu lassen. Dann wählte sie, so ungeschickt, dass sie sich zweimal vertippte und von vorn anfangen musste. Wes meldete sich nach zweimal Klingeln auf seinem Handy. Eve wartete gar nicht erst ab, bis er Hallo gesagt hatte.

»Hier ist Eve. Lily ist nach Hause gekommen. Du musst zu Abby fahren. Die Polizei ist unterwegs zu ihr, aber du musst ihr sagen, dass ihre Schwester wieder da ist. Das muss von dir kommen.«

»Eve, wovon reden Sie eigentlich? Was soll das heißen, sie ist wieder da? Sie ist … Ich …«

»Ich hab keine Zeit für Fragen, Wes. Geh und hol Abby.«