Babylonisches Repertoire - Gabriel Wolkenfeld - E-Book

Babylonisches Repertoire E-Book

Gabriel Wolkenfeld

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Beschreibung

Weil der 86-jährige Avigdor Seliger nicht mehr spricht, steckt ihn seine Tochter Hannah in ein Altersheim. Die Ärzte sind sich nicht sicher: Verirrt sich der Mann allmählich in die Nebel der Demenz oder verweigert er das Sprechen bewusst? Weil Enkel Yair fürchtet, der Großvater könnte seinen Bezug zur Realität verlieren, erzählt er ihm jene Geschichten, die der Senior während der Schulferien am See Genezareth einst ihm erzählt hat. Allerdings erinnert sich Yair nicht immer genau. Er erfindet hinzu, übertreibt, wandelt ab – in der Hoffnung, den Groß- vater doch noch aus der Reserve zu locken und sich selbst vom eigenen Lebenschaos im Tel Aviv der Gegenwart abzulenken. Er lässt die schöne Bella Rubinsteyn auferstehen, die sich während der Schwangerschaft nur von exotischem Obst ernährt, weil sie ein besonderes Wesen gebären will; die exaltierte Olympiada, die den Durst der KGBler nach Unbill mit körperlicher Liebe zu stillen sucht; Danuta, die als Anführerin einer Waisenkinder-Bande die Märkte von Taschkent unsicher macht... Mit welcher Erzähl- und Sprachkraft Gabriel Wolkenfeld einen derart großen Bogen schlägt und dabei das Gleichgewicht hält zwischen dem Wissen um sein handwerkliches Tun und der Hingabe an den Strom der Erinnerung, ist große Kunst und lässt von diesem Autor noch viel erwarten.

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch

Weil der 86-jährige Avigdor Seliger nicht mehr spricht, steckt ihn seine Tochter Hannah in ein Altersheim. Die Ärzte sind sich nicht sicher: Verirrt sich der Mann allmählich in die Nebel der Demenz oder verweigert er das Sprechen bewusst? Weil Enkel Yair fürchtet, der Großvater könnte seinen Bezug zur Realität verlieren, erzählt er ihm jene Geschichten, die der Senior während der Schulferien am See Genezareth einst ihm erzählt hat. Allerdings erinnert sich Yair nicht immer genau. Er erfindet hinzu, übertreibt, wandelt ab – in der Hoffnung, den Groß- vater doch noch aus der Reserve zu locken und sich selbst vom eigenen Lebenschaos im Tel Aviv der Gegenwart abzulenken. Er lässt die schöne Bella Rubinsteyn auferstehen, die sich während der Schwangerschaft nur von exotischem Obst ernährt, weil sie ein besonderes Wesen gebären will; die exaltierte Olympiada, die den Durst der KGBler nach Unbill mit körperlicher Liebe zu stillen sucht; Danuta, die als Anführerin einer Waisenkinder-Bande die Märkte von Taschkent unsicher macht...

Der Autor

Gabriel Wolkenfeld wurde 1985 in Berlin geboren. Er studierte Germanistik, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft sowie Russistik. Während seiner Studienzeit absolvierte er Arbeits- und Studienaufenthalte in Estland, Russland und der Ukraine. Bisher sind von ihm folgende Werke erschienen: Wir Propagandisten (2015) und Sandoasen (Israelisches Album) (2021).

Inhalt

Personenregister

Auf das Leben

Granatapfel

Einladung an die Raben

Abzweigung

Den Rausch vertonen

Monolog mit Sohn I

Feigen

Bellas Epilog

Monolog mit Sohn II

Der Kinderfänger von Ragožiai

Vier Jahreszeiten der Nacht

Ein Traum zweiten Grades I

Zitronen

Zwei Ringe aus Heidekraut

Kopfüber ins Liebesschlamassel

Fünf Fragen

Schaf, Bär, Papagei

Stolzer Phallus

Orangenschalen

Die heilige Stadt

Datteltrauben

Das erste Jahr

Das zweite Jahr

Das dritte Jahr

Das vierte Jahr

Das fünfte Jahr

Lizzy Katz

Das erste Jahr

Die Favoritin

Matkot

Die hängenden Gärten

Monolog mit Sohn III

Cherimoya

Die Notwendigkeit einer Muse

Auf hoher See

Die Literaturabende

Postkarten

Kirschen

Beifang

Pessach

Tiberius 2.0

Grapefruit

Nuklearer Winter

Eine Lüge

Sowjetische Pässe

Monolog mit Sohn IV

Medaillons

Die Bildbände des Großvaters

Picasso

Chagall

Van Dongen

Die babylonische Prinzessin

Tiberias

Am Toten Meer

Bananen

Letztes Wort

Eine außerkörperliche Erfahrung

Ein anderes Glück

Vielleicht

Auf die Leben!

Eurovision Village

Monolog mit Sohn V

Punktesieg

Gladiolen

Geschwister

Strelitzien

Danutas Geheimnis

Monolog mit Sohn VI

Schuhkarton

Ein Traum zweiten Grades II

Gewesene Liebhaber

Anmerkungen

Dank

Seitenliste

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Hauptitel

Textbeginn

Impressum

für Ilya

Personenregister

Arturo Sevivon, Ehemann von Hannah und Vater ihrer Kinder, Sohn argentinischer Juden

Avigdor Seliger, aufgewachsen in dem litauischen Schtetl Schyžev, im Frühjahr 1941 Übersiedlung nach Taschkent und Anfang der 80er Repatriation nach Israel, von seinem Neffen als Opa Avi, Großvater oder Saba (hebr. Großvater) angesprochen

Avital Sevivon, große Schwester von Yair und seine wichtigste Bezugsperson innerhalb der Kernfamilie, unverheiratete Mutter einer Tochter

Bella Seliger, geb. Rubinsteyn, Avigdors leibliche Mutter

Berta Seliger, geb. Freyberg, zweite Ehefrau von Isidor Seliger, Avigdors zweite Mutter

Chaya Seliger,Avigdors dritte Frau, Mutter dreier in Gorki geborener Töchter: Maja, Ewa, Hannah

Dina Seliger, Zwillingsschwester von Matvej, Bertas leibliche Tochter, 1941 in Taschkent geboren

Danuta, Avigdors enge Bezugsperson in Taschkent, seine­ angenommene Schwester, in Litauen geboren, wächst Danuta größtenteils im Zweiten Städtischen Waisenhaus von Taschkent heran

Esther Seliger, Avigdors große Schwester

Ewa Seliger, Tochter von Avigdor und Chaya Seliger, verheiratet mit Schimon

Fine (Josefine), Wolfgangs Freundin

Hannah Seliger, Tochter von Avigdor und Chaya Seliger, Mutter von Avital, Shaul, Yair und Yossi

Isidor Seliger, Avigdors Vater, Krämer, Casanova mit Hang zu illegalen Geschäften

Jana Tvardovskaya,Mitbewohnerin der Seligers in Taschkent, Mutter von Olexej

Jankel Seliger, Avigdors großer Bruder

Johanna (Hanni) Siebel, geb. Riebinger, Wolfgangs Großmutter

Maja Seliger, Tochter von Avigdor und Chaya Seliger, verheiratet mit Semjon

Matvej Seliger, Zwillingsbruder von Dina, Bertas leiblicher Sohn

Naftali Freyberg, Bruder von Berta und Vilma, organisiert die Unterkunft seiner Schwestern in Taschkent

Olympiada Wolkenfeld, Avigdors zweite Frau, auch Ada genannt, interessiert sich für den literarischen Untergrund

Perla Freyberg, Mutter von Berta und Vilma, Avigdors Großmutter

Shaul Sevivon, großer Bruder von Yair und Vater dreier Kinder

Tilka, Angehörige des Romavolkes

Vilma Freyberg, Schwester von Berta, Avigdors Tante

Wolfgang, als Maximilian Siebel in Koblenz geboren, Yairs Liebhaber

Yair Sevivon, Sohn von Hannah und Arturo, Enkel von Avigdor, besucht seinen Großvater regelmäßig in einem Seniorenwohnheim in Tel Aviv und erzählt ihm dessen Lebensgeschichte

Yossi Sevivon, kleiner Bruder von Yair, Überlebender ­eines Bombenanschlags während der Zweiten Intifada

Auf das Leben

Yair stand auf der Terrasse, die weiße Stadt in seinem Rücken. Er dachte: Wie vor der Erfindung der Sterne. Fast schwarz war der Himmel, und Tel Aviv badete in einem Meer aus Lichtern.

Er lehnte sich ans Geländer, ein Bein durchgestreckt, das andere angewinkelt, Standbein und Spielbein, eine Statue in karierten Boxershorts, fast unberührt von der Sonne, die tagsüber brannte. In der einen Hand hielt er ein Glas, in der anderen einen Joint. Er trank, setzte ab, nahm einen Zug – verschluckte sich am Rauch, hustete, stieß, ans Universum gerichtet, einen Fluch aus. Seine Schwester Avital machte sich manchmal über ihn lustig: „Du bist der einzige Israeli, der nicht anständig kiffen kann.“ Fürs Kiffen hatte Yair in der Tat kein Talent. Sein Kopf lief rot an, und ihm wurde unwohl zumute. Trotzdem. Da musste er durch. Alkohol allein brachte es nicht. Er nahm noch einen Zug und noch einen. Er sagte sich: Ich warte bis drei. Wenn er dann nicht da ist, schneide ich mir die Pulsadern auf.

Musik schwappte zu ihm herüber. Mizrahi Pop, Charts, Lounge. Frau Globerman hörte seit anderthalb Stunden eine Arie, wieder und wieder dieselbe. Auf die Entfernung eines Stockwerkes hörte sich die Sopranistin ganz solide an. Ihr Schmerz schien real.

Neulich im Hausflur hatte Frau Globerman ihm genau erklärt, für wen sie da schwärmte. Seine betagte­ Nachbarin, eine Repatriantin aus Polen, vermutete in ihm eine verwandte Seele, schließlich lebte auch er, wie sie es ausdrückte, in der Knechtschaft der Töne. Yair hatte sich ernsthaft bemüht, ihr zuzuhören. Sogar mit einer Nachfrage hatte er sich am Gespräch beteiligt. Er hatte genickt, genickt, genickt – und doch alles vergessen, kaum dass sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten: Name und Titel, üppige Ausführungen, die von der Musik selbst wegführten, theoretische Exkurse, die außergewöhnliche Karriere, die als Beweis für das seltene­ Talent der Sängerin herangezogen wurde.

In den Pausen zwischen den Tönen, immer dann, wenn die Sopranistin Luft holte, drangen Gesprächsfetzen zu ihm herauf, von anderen Balkonen oder von der Straße. Die Menschen hatten ihre Wohnungen verlassen, sobald es dunkel geworden war. Es trieb sie in die Nacht, die zwar keine Abkühlung versprach, aber mit Verheißungen anderer Art aufwartete. Yair hätte viel lieber dem Meer zugehört: Wenn alle einmal auf Pause­ drückten und einen Moment lang den Mund hielten, könnten sie das Rauschen der Wellen hören, ins Körperlose ausweichen, träumen, vergessen; aber nein, niemand hier war bereit, darauf zu verzichten, sich mitzuteilen. Immerzu musste geredet werden. Jeder wollte auf dem Laufenden halten. Über sich und seine Projekte. Jeder hatte auf einmal irgendwelche Projekte am Start. Jeder hatte die krassesten Erfahrungen gemacht. Die konnten natürlich nicht in gemäßigtem Ton mitgeteilt werden. Die mussten herausgeschrien werden. Leider war immerzu jemand mit dem, was ein anderer sagte, unzufrieden. Fühlte sich beleidigt, angegangen, gekränkt. Wie, fragte sich Yair, sollten sich die Menschen vertragen, wenn sie sich nicht mal auf eine Musik einigen konnten?

Im Schrank über der Küchenzeile bediente sich Yair an den Spirituosen, die Omer in übertriebenen Mengen heranschaffte. Aus den Flaschen, die weiter vorn standen, mischte er sich etwas, von dem er nicht sicher war, ob es schmecken würde. Er dachte: Hauptsache, es knallt.

Omer sollte ihn leidend vorfinden. Sollte sehen, wie er ihn zugrunde gerichtet hatte. Nie wieder wollte er gute Laune vorspielen. Lieber losheulen, wenn ihn sein Freund mal wieder verleugnete, weil ihre Liebe, die schon gar keine mehr war, nicht in das Weltbild irgendwelcher superwichtigen Geschäftspartner passte. Er wollte mit Geschirr schmeißen, wenn sich Omer nachts ins Bett schlich, nach Schweiß, nicht aber nach schlechtem Gewissen roch und nicht einmal die Hand nach ihm ausstreckte. Generell war er des Schauspiels müde. Er hatte es satt, immerzu und überall die Vorstellung eines Künstlers zu geben, kurz vor dem endgültigen Durchbruch, der bloß kellnert, weil er den Kontakt zu seinen reizenden Stammgästen so schätzt. In Wirklichkeit kotzte es ihn an, Gäste mit einem Lächeln zu bedienen, denen ohnehin nur auffiel, wenn er bei Drei nicht zur Stelle war. Skrupellos verrechneten die knausrigen Damen und Herren die kleinste Unaufmerksamkeit mit dem Trinkgeld. Die Eltern und Brüder und Tanten sprachen ihn schon kaum mehr darauf an, wann er sein Set beendete oder ob er mal wieder auflegte – in seinem Kopf schrien sie dennoch alle durcheinander. Wer es gut mit ihm meinte, glaubte ihn trösten zu müssen, und wer sich nicht dafür interessierte, was ihm wichtig war, der trug, in milde Vorwürfe verpackt, seine Zweifel an einem ach so risikoreichen Lebensentwurf vor.

23.58 Uhr.

Wo bist du, schrieb er. Und löschte den Satz, der es nicht mal zum Fragezeichen geschafft hatte, gleich wieder. Stattdessen schrieb er: Wann kommst du? Zweimal vertippte er sich in diesen drei Worten, aber die Autokorrektur stand ihm bei. Sein linker Zeigefinger schwebte­ über dem Display. Er wollte wissen, wo sich Omer herumtrieb. In wessen Gesellschaft er sich befand. Ob er lachte oder traurig war. Ob er in der Menge tanzte oder, an die fünfmillimeterdicke Wand einer Nachtclubtoilette gelehnt, Kuss oder Blowjob empfing.

Sie waren nicht verabredet für heute. Allenfalls wie Menschen, die zu lang schon zusammen waren und sich ein Appartement teilen. Die an die Gegenwart ­einer Person gewöhnt sind, deren Gesten und Gerüche vertraut sind, deren Körper keine Geheimnisse mehr bergen. Zwischen ihnen gab es die Übereinkunft, nicht auswärts zu übernachten, nicht bei dem zu bleiben, den man irgendwo aufgelesen hatte, keinem Typen – und sei er noch so geil – Hoffnung auf eine Wiederholung des Stattgefundenen zu machen. Obwohl unausgesprochen, galt es als verabredet, die Nähe, die zwischen zwei Fremden gelegentlich aufkommt, nicht mit Worten zu besiegeln. Männer, die einen Namen verdient hätten, gab es nicht. Gelegentlich schien es Yair aber, als zitterte hinter dem wehenden Salonvorhang eine Silhouette.

Wer zuletzt heimkam, schloss behutsam die Tür auf und zog die Schuhe aus, bevor er das Appartement betrat. Am nächsten Morgen, wenn man sich überhaupt sah, konnte man sich vorsichtig erkundigen, ob es ein schöner Abend gewesen war.

0.36 Uhr.

Allmählich wurden ihm die Lider schwer. Yair torkelte­ ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen, begrub sich unter der lächerlich großen Partnerdecke. Er erwartete die Ankunft eines alten Herrn – so nämlich stellte er sich den Schlaf seit Kindertagen vor, gutmütig und langsam in seinen Bewegungen, mit einer tiefen, einschmeichelnden Stimme, von der er kaum Gebrauch machen musste, da seine Zuhörer bereits bei den ersten Worten wegdämmerten.

In letzter Zeit flehte Yair ihn regelrecht an. Der alte Herr aber zeigte sich nicht. Stattdessen schickte er einen jungen Kollegen, ungeduldig und ohne Verständnis für Ängste, die einen wachhielten, dafür mit rabiaten Methoden. Der redete auf Yair ein, die bunten Pillen zu schlucken, die die Nacht künstlich herbeiführten, aber Yair lehnte ab: Ich kenne ein besseres Mittel, behauptete er.

Wieder in der Küche, mischte sich Yair einen Drink aus den Spirituosen, von denen nur kleine Mengen übrig waren.

Im Salon setzte er sich aufs Sofa. Wenn der Schlaf ihn mied, besuchte ihn vielleicht der Tod. Sie waren doch Brüder – und Brüder, wusste er, trafen sich selten, zu den Feiertagen oder zu Trauerfeiern. Wenn verkündet wurde, wie viel jeder bekam. In seiner Familie trafen sich die Brüder zusätzlich noch einmal im Sommer, fuhren in den etwas milderen Norden oder flüchteten, wenn die Hitze unerträglich wurde, gleich in andere Breitengrade. Dass sie sich in Norwegen zum Angeln trafen oder auf Fahrrädern das Baltikum bereisten, ging natürlich auf Yossis Konto. Der war, während der Zweiten Intifada, auf dem Weg nach Tiberias durch einen Bombenanschlag so schwer verletzt worden, dass er monatelang zwischen Leben und Tod hing. Im Krankenbett schließlich hatte er seine Familie neu kennengelernt, die Brüder aus Erwachsenenperspektive, ernst und verständig, die Eltern merkwürdig zusammengeschrumpft, den Vater seinen Abschied in stummer Trauer vorwegnehmend, die Mutter mürrisch, nicht bereit, den Tod mit ihrem Jungen davonkommen zu lassen. Sogar Avital, die abtrünnige Schwester, hatte sich ein paar Mal blicken lassen. Obgleich lose und willkürlich vom Schicksal zusammengestellt: Die Bande existierten. Darauf konnte man sich verlassen. Er habe, behauptete Yossi gern, noch einmal die Chance bekommen, es besser zu machen. Was er damit meinte, führte er allerdings nie aus. Yair vermutete: Das war so ein Satz, den er sich zurechtgelegt hatte. Der klang gut, nach Einsicht und Zuversicht, und ließ sich auch in ein seriöses Gespräch einfügen. Niemand käme auf die Idee, Yossi zu widersprechen. Yair dachte: Würde ich mir nicht gleich das Leben nehmen, würde ich ihn in Kaunas darauf ansprechen. Für dieses Jahr nämlich hatte Yossi vorgeschlagen, die Ahnen in den Dörfern um Kaunas aufzuscheuchen. Noch bevor Yair mit einer Ausrede aufwarten konnte, waren die Flugtickets gekauft. Und dazu eine Liste mit Unterkünften erstellt, die in Frage­ kamen.

Shaul, der älteste Bruder, hatte sich in dem Moment von der Familie losgelöst, als er seine eigene gründete. Mittlerweile stand er fest unter dem Pantoffel seiner Frau Yael, die die Geschäfte mit kaltem Verstand und den Haushalt mit strenger Hand führte. Ihren Mann setzte sie überall dort ein, wo er, der seine Unsicherheit mit aufbrausendem Temperament zu überspielen suchte, keinen allzu großen Schaden anrichten konnte. Yael bereitete es Freude, ihre Kinder wie Modepüppchen auszustaffieren. Sie war gewitzt. Sie war charmant und nie um eine Geschichte verlegen. Shaul verwandelte sich in den Jahren, in denen sie zusammenlebten, mehr und mehr zu ihrem Schatten. Die strahlende Yael lief voraus, er trottete hinterher. Ihr Gesicht hellte sich auf. Seins bekam eine durchschimmernde Blässe. Unter den Augen trug er dunkelblaue Ringe. Fragte man ihn nach seinem Befinden, so antwortete Shaul: Yael geht es gut. Oder: Yael hat mal wieder wahnsinnig viel zu tun. Das Geschäft immerhin lief bombastisch. Ihre knappen Höschen und löchrigen Negligés verschickte sie in alle Welt. In Japan konnte man sie aus Automaten ziehen. In den USA und Kanada eröffnete sie Filialen, und wann immer sich eine einsame Witwe oder ein von heißen Nächten träumender Ehemann im Netz auf die Suche nach Dessous begab, ploppte zuverlässig ein Fenster mit ihren Bestsellern auf.

Die Brüder waren sich auf den gemeinsamen Touren nicht nähergekommen. Seit dem Anschlag, der Yossi fast das Leben gekostet hatte, hielten sie sich immerhin auf dem Laufenden, versorgten einander mit den wichtigsten Informationen. Jeder hätte behaupten können, über den anderen Bescheid zu wissen, aber ihre Einschätzungen fielen oft so unterschiedlich aus, dass sie irgendwann aufgaben, um Zustimmung für ihre Ansichten zu werben.

Letzten Monat hatte Yair im Gespräch mit seiner heimlichen Lieblingstante Ewa erstaunt festgestellt, wie ­wenig er über seine Brüder wusste. Er hatte keinen Schimmer, ob Shaul bei den vorgezogenen Parlamentswahlen dem Likud oder der Kulanu seine Stimme geben würde.­ „Wen würde Yael wählen?“, fragte Tante Ewa. Yair wusste nicht, ob Shaul noch Ehud Banai auflegte. Den hatte er als Jugendlicher rauf und runter gehört. Ging Shaul ins Kino oder besuchte er Konzerte? Mit zwei Kindern? Eher nicht. Für ihn war sein großer Bruder immer noch der Teenager, nach außen hin vor Kraft strotzend, nach innen sensibel. Und Yossi? Was Yossi von sich gab, hatte Yair schon oft gehört, von Männern und Frauen in Wartesälen, auf Bahnhöfen, in der Armee und am Strand oder in einem schicken Restaurant in Florentin, wo sich die aufstrebenden Karrieristen mit den Etablierten zum Business Lunch trafen. Er teilte weder seinen Humor noch seinen Geschmack. Und diese unscheinbare Frau, mit der Yossi seit Hochschultagen ging – würde Yossi sie einmal heiraten oder doch gegen eine weniger blasse Person eintauschen, eine mit Präsenz, mit einer Stimme, die sich auch in einem Raum, vollgestopft mit Verwandten, vernehmen ließ?

Viel näher stand ihm Avital. Während andere in der Familie sich über seine Schwester das Maul zerrissen, schaute Yair zu ihr auf. Im vorigen Jahr hatte sie zum zweiten Mal, diesmal trotz Schwangerschaft, ihre Verlobung gelöst. Ihre Erklärung dazu hatte unter den Frauen der Familie für Empörung gesorgt und unter den Männern für Unverständnis: Sie fühlte sich außerstande, in einer Beziehung mit einer Person zu leben, die nicht sie selbst war – oder die nicht aus ihr hervorging. Wo andere Menschen sich in der Gegenwart des Partners gestärkt fühlten, wähnte Avital ihre Autonomie in Gefahr. Wenn ein Mann im Gespräch mit Bekannten seinen Arm um sie legte, sie zu sich heranzog und in sein mageres Wir einschloss, das war, fand sie, als würde ein anderer mit ihrem Namen unterschreiben. Sie hasste es, sich mit ­einem Mann ein Personalpronomen zu teilen.

Wo sie sich gerade herumtrieb, wusste sie selbst nicht immer. Legendär waren ihre Lagebeschreibungen. Manchmal wartete sie im Reisebus nicht ihre Station ab, sondern stieg, ihrer Intuition folgend, früher aus oder blieb einfach sitzen und fuhr weiter. Tief wurzelte in ihr die Gewissheit, dass sie nicht verloren gehen konnte. Sie besaß eine Wohnung in Bat Jam, ziemlich einfach und überaus spartanisch eingerichtet, die ihr ein Verehrer geschenkt hatte. Die vermietete sie in der Saison an Touristen. Solange kam sie bei Freundinnen unter, die über ganz Israel verteilt lebten. Ihre Freundinnen verwöhnte sie mit kulinarischen Extravaganzen, nahm aber, wenn sie allein aß, mit Pita und Hummus Vorlieb. Sie brauchte kein Bett, um sich geborgen zu fühlen, und machte es sich auf einem Teppich oder auf dem Balkon gemütlich. Fand sie eine Gitarre, spielte sie sie. Ohne Instrument sang sie israelische Schlager. Und manchmal, wenn ihr ein Stift in die Hand fiel, kritzelte sie das Gesicht einer Freundin aufs Papier, die violett gepunktete Zimmerpflanze, eine überreife Tomate.

In Avitals Gegenwart fühlte sich Yair leicht. Ihr gelang es, die Regenwolken zu vertreiben, die auf ihn angesetzt waren. Die Nachmittage und Abende in den Cafés und Bars um das Kunstmuseum zählten zu den heitersten Momenten seiner Studienjahre. Avital gackerte, lästerte, lachte, gern in unpassenden Situationen und meist viel zu laut. Passanten duckten sich weg. Tante Maja, die an ihrer Nichte einen Narren gefressen hatte, behauptete gern: Dieses Lachen stürzt einmal die Welt ins Chaos.

1.07 Uhr.

Endlich war es still, die Stimmen gedämpft: Sätze, niemandem mehr zuzuordnen, flatterten Nachtfaltern gleich. Die Sprecher hatten die Autorenschaft an ihren Worten abgetreten.

Yair trat auf die Terrasse und stieg auf einen Gartenstuhl. Er mühte sich nicht an der Knopfleiste ab, sondern zog die Shorts hinunter und richtete einen kräftigen Strahl auf den ausgeblichenen Rhododendron von Familie Abramovici.

Die Möbel im Salon waren in Dunkelheit getaucht. Sie hatten einst ziemlich Eindruck auf ihn gemacht. Wie aus einem Katalog, hatte Yair gestaunt, damals, im vierten Semester, als er, von Amors Pfeilen durchbohrt, Hals über Kopf zu Omer zog, von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht viel mehr wusste, als dass er für ihn geschaffen war. Das zumindest redete sich Yair erfolgreich ein, immer wieder, bis er es einmal vergaß. Seine paar Habseligkeiten hatten zwar in vier Kartons gepasst, aber in dem großzügig geschnittenen Appartement hatten sie trotzdem keinen Platz. So waren seine Bücher zusammen mit dem Hausrat und seiner Arche Noah in den Keller gewandert. Omer hatte von den Gesetzen der Ästhetik gesprochen und Yair hatte begriffen, dass die Figuren, die in Paaren auf seiner Kommode gestanden hatten, zu illegalen Einwanderern erklärt worden waren, die nicht in dieses gelobte Land passten. Die gläsernen Hälse der Giraffen, die Holzstoßzähne der Elefanten, die Papageien­federn vertrugen sich nicht mit einer Umgebung, die ohne Natur auskam.

1.12 Uhr.

Yairs Mutter Hannah bewahrte in ihrem Arbeitszimmer in einer der von Büroartikeln, Briefen und Notizblöcken überquellenden Schubladen auch eine Schatulle auf, die Yair ihr als Kind geschenkt hatte. Auf der Suche nach einem Kuvert war er neulich darauf gestoßen. Er hatte den Gegenstand vom Grund seiner Erinnerung gehoben und bewundernd in der Hand gehalten. Die Schatulle war aus einfachstem Material, aber der Sohn hatte sie mit buntem Glitzer dekoriert. Drei Versprechen befanden sich darin. In bemühter Schönschrift stand auf je ­einem linierten Papierstreifen: Ich bringe den Müll raus. Ich helfe Yossi bei den Hausaufgaben. Ich staubsauge das Wohnzimmer. Es war nicht seine Idee gewesen, der Mutter eine Freude zu machen. Die Lehrerin Ljuba hatte den Frauentag aus ihrem Heimatland ins Klassenzimmer der Kinar-Schule in Haifa importiert und ihre Schüler unter Androhung zusätzlicher Hausaufgaben dazu verpflichtet, den geliebten Müttern drei Gutscheine auszustellen.

Eigentlich konnte er sich nicht das Leben nehmen. Seine Mutter hatte keinen der Gutscheine eingelöst.

War es das, was von ihm übrigblieb? Eine Schatulle. Außerdem ein paar Gigabytes, passwortgeschützt, verteilt auf zwei Festplatten, ein paar hundert Tracks, die niemanden interessierten, Bilder, die meisten verwackelt, mit seiner billigen Handykamera aufgenommen. Seine Kleidung würde gespendet werden, an eine gemeinnützige Organisation, vielleicht in den Jemen oder in die besetzten Gebiete. Die Tierchen aus Holz, Keramik und Glas würden obdachlos werden oder in ihrem Karton in den Kindergarten in der Straße des Sieben-Tage-Krieges wandern. Schnell würden sie ihre Partner verlieren. Ein Kind würde sich einen Löwen schnappen, ein anderes die Eselin im Sandkasten verbuddeln.

1.18 Uhr.

Er war enttäuscht. Er spürte überhaupt nichts. Ich bin komplett nüchtern, dachte er, lief in die Küche und füllte ein Teeglas mit Rum, kippte es hinunter und goss sich gleich noch einmal nach.

„LeChaim!“

Er nahm einen Schluck und dachte: Zum Glück habe ich nichts geschrieben. Man wird mich nicht festnageln können auf Worte, die ich bloß benutzt habe, einfach weil mir die richtigen nicht eingefallen sind. Oder weil ich ihre wahre Bedeutung nicht kannte: Weil mir ihr wirkliches Wesen versperrt blieb.

Nur über die Musik konnte er sich ausdrücken. Nicht, dass ihm hier keine Fehler unterliefen, aber er bemerkte sofort, wenn ein falscher Ton angespielt wurde.­ Ein schlecht gestimmtes Instrument verursachte ihm physische Schmerzen. Er wusste, wo er an einem Track noch einmal arbeiten musste.

Seine Mutter sprach gern herablassend von dem, was er als seine Arbeit definierte. Seelenloses Gestampfe. Für die Freunde des flüchtigen Rausches. Er konnte sie nicht davon überzeugen, dass er in seinen Tracks Geschichten erzählte. Dass elektronische Musik eine Seele hatte.

Er hätte seinen Eltern etwas aus seinem letzten Set vorspielen können, aber seinem Vater fiel nie viel zu seiner Musik ein. „Interessant“, kommentierte der. „Hat was.“ Seine Mutter ging mit ihrem Sohn härter ins Gericht. Sie akzeptierte generell nur klassische Stücke längst verstorbener Komponisten, deren Wikipediaeinträge Männer mit ernster Miene zeigten, im vorgerückten Lebensalter, Eigenhaar oder Perücke egal, Hauptsache grau. War jemand wirklich von Genie durchdrungen, beseelt von jener Leichtigkeit, die zu imitieren kein noch so eifriger Meisterschüler vermochte, so war sie durchaus geneigt, ihm den ärgsten Antisemitismus zu verzeihen. Von den Walküren war sie begeistert, und wenn Siegfried, in die Tiefen unter dem Notenschlüssel abtauchend, einem Drachen sein Schwert in die Flanke rammte, schmolz sie dahin.

Von seinen Tracks abgesehen, hatte Yair nichts vorzuweisen. Er schaute auf zwei abgebrochene Studiengänge­ zurück, Kunstgeschichte und Medienkommunikation, Schwulenfächer ohne Perspektive, drei Beziehungen, von denen er retrospektiv zwei sicherlich nicht als Beziehung werten konnte, leergefegt war sein Konto, und sein Vertrauen in die Spezies Mensch hatte mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten einen Tiefpunkt erreicht. Sein Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, war rationaler Natur. Immerhin darauf, dachte er, wäre seine Mutter stolz.

1.29 Uhr.

Die Kindheit in Haifa kam ihm im Abstand der Jahre ziemlich unbeschwert vor, ruhig, ruhiger zumindest als alles, was später kam. Seine Mutter verbrachte im Zeitraum von drei Jahren etliche Abendstunden damit, ihre Schwester in Tel Aviv zu beruhigen. Während Tante Ewa keinen öffentlichen Bus mehr bestieg, weil fast täglich irgendwo in der Stadt eine Bombe hochging, durchstreiften die Sevivonkinder in Haifa die Nachbarschaft. Schließlich wurden sie bei Oma Chaya, kurz vor dem Technion, zur Gartenarbeit verpflichtet. Dabei ekelte sich Yair so vor Würmern. Ameisen zertrat er, wenn sie ihm zu nah kamen. Mit kochendem Wasser flutete er ihre unterirdischen Gänge. Schmetterlinge fand er schön, aber setzte sich einer auf seinen Arm, schrie er auf, als hätte man ihn mit Säure bespritzt. Oma Chaya gab dem Jungen daraufhin Wachsstifte. „Du, mein Schatz, taugst nicht zum Kibbuznik“, verriet sie ihm. Ihrer Tochter überreichte sie am Ende ihres Bereitschaftsdienstes drei braungebrannte Kinder und ein blütenweißes, nach Orangenwasser duftendes Kind, das den Eltern gegenüber stur behauptete, die Geschwister tatkräftig unterstützt zu haben. Einige Gemälde, die dank ihrer Farbenpracht tropischen Wäldern ähnelten, hingen bei Oma Chaya noch immer an den Wänden im Flur und am Kühlschrank.

Zu seinen schönsten Erinnerungen zählten die Sommer in Tiberias: Sein Großvater Avigdor, auch Saba genannt, störte sich nicht daran, dass die Kinder das Klavierspiel vernachlässigten und Leah Goldberg und Jehuda Amichai gegen Marvel, Sabraman und Uri On tauschten. Yair lag faul im ausgefransten Schatten ­einer Akazie am See Genezareth und blätterte in seinen Comics. Manchmal erfand er eigene Abenteuer, die er dann mit seiner Schwester auf Papierbögen illustrierte, die Opa Avi extra für sie zusammentackerte. Der Groß­vater kochte nicht halb so gut wie seine Frau, von der er getrennt lebte. Er nahm die Kinder mit in die Bäckerei oder auf den Markt. Gingen sie die Promenade entlang, sprang für die Kinder immer ein Eis heraus. Später, wenn sich Yair in Gesprächen mit seinen Geschwistern der Ferien in Tiberias erinnerte, sprach er von Softeissommern.

2.37 Uhr.

Auf einen Umschlag schrieb er den Namen seiner Schwester und auf einen anderen: Saba. Er schrieb ein paar weitere Zeilen, dann setzte er ab, las noch einmal, was er, in einer Handschrift, die nicht mehr seine war, zu Papier gebracht hatte – und zerriss das Blatt. Doch er musste irgendeine Notiz hinterlassen. So in der Art: Hat nichts mit euch zu tun.

Er wollte nicht, dass sich irgendwer, von Omer abgesehen, über ihn den Kopf zerbrach, die Gärten seiner Kindheit auf der Suche nach Traumata umpflügte, nach irreversiblen Schäden, die ihm eine vorenthaltene Umarmung oder eine Kopfnuss zugefügt hatte. Seine Großmutter Rosalía Amália Peres Sevivon hielt seine Homosexualität für den Ursprung allen Übels, davon würde sie sich auch nach seinem Tod nicht abbringen lassen. Da hätte er zehnmal schwören können, dass ihm der männliche Körper viel Lust und Vergnügen bereitete. Tante Maja würde seinen Vater verantwortlich machten, den patriotischen Trottel, der darauf bestanden hatte, dass man erst als Soldat erwachsen war und dass eine gebrochene Nase die beste Vorbereitung auf den Krieg sei, in dessen Nachbarschaft die Israelis seit der Gründung des Staates lebten.

2.48 Uhr.

Als müsste er sichergehen, dass er nicht gleich den Falschen tötete, betrachtete sich Yair im Spiegel, eingehender als sonst, und war verblüfft über die Verschwiegenheit seines Gesichts, das auch jetzt, im dreiunddreißigsten Jahr, keinen Verschleiß andeutete. Er legte die Stirn in Falten, aber die Falten sprangen zurück, sobald er entspannte. Er verzog den Mund, aber die traubige Fülle ließ sich nicht leugnen. Er befühlte das Muttermal in den Ausläufern eines Lächelns, das sich in letzter Zeit immer seltener zeigte. War es gewachsen? Mit einer Pinzette entfernte er die Härchen zwischen den Brauen. Dann rasierte er sich ziemlich sorgfältig die Wangen, weil er es hasste, nach der Rasur festzustellen, irgendwo ein Haar übersehen zu haben.

Er hatte erwartet, dass ihm aus dem Spiegel zwei Personen entgegenblicken würden, und wunderte sich nun, wie es möglich war, dass Täter und Opfer sich so gar nicht voneinander unterschieden.

3.12 Uhr.

Auf dem Badewannenrand sitzend, drehte er den Hahn voll auf. Wunderschön, wie sich das Wasser ergoss! Wie die Bläschen perlengleich auf der Oberfläche tanzten! Das bereitete ihm fast eine kindliche Freude. Entfernt erinnerte ihn das Rauschen an die Stimmen, die allabendlich von der Straße zu ihm hochwaberten. Nun aber sprachen sie nicht durcheinander. Mit einer Stimme, einschmeichelnd und doch nicht ohne gewissen Nachdruck, sprach das Wasser zu ihm: Komm zu mir. Komm. Yair gehorchte. Ohne seine Shorts auszuziehen, stieg er in die Wanne.

Wie zur Probe setzte er die Rasierklinge an. Wurde im Film eine Operation angedeutet, drehte er schnell den Kopf zur Seite. Ihm wurde übel, wenn er mitansehen musste, wie ein Skalpell das Fleisch eines Patienten ­teilte – und empfand es als Zumutung, wie leicht die Haut nachgab. Nun aber sollte es ihm zum Vorteil sein, dass diese Hülle, die Muskeln und Nerven umspannte, nur sehr unzureichenden Schutz bot.

Angespannt schaute er zu, wie sich die Rasierklinge oberhalb seines linken Knies unter die Haut schob. Es erstaunte ihn, dass Blut austrat. Dass sein Körper, der sich von allen anderen vor allem darin unterschied, dass er seiner war, keine Ausnahme bildete. In feinen Rinnsalen lief das Blut längs der Wunde das Bein hinunter und zerstob im Wasser. Wunderschön, dachte er. Als nächstes probierte er den Arm aus. Er setzte die Klinge dort an, wo er seine Armbanduhr trug. Der Hautstreifen war etwas blasser als seine Umgebung. Obwohl er tiefer schnitt als zuvor, schoss das Blut nicht hervor, sondern suppte eher unwillig. Merkwürdig, dass es kein bisschen wehtat. Seine Schwester hatte ihm im Kindesalter einmal mit einer Nagelschere in den Ringfinger geschnitten, als er ihr ein Büschel Gras hingehalten hatte. Er hatte aufgeschrien und Avital, erschüttert von seinem Schrei, war davongerannt, nicht zu den Eltern, um Hilfe zu holen, sondern zum nächsten Spielplatz, wo sie sich bis zum Abend in einem Holzhäuschen versteckte, felsenfest davon überzeugt, nun doch noch zur Adoption freigegeben zu werden. Dort, wo ihm die Schere ins Fleisch geschnitten hatte, war ein feiner elfenbeinfarbener Halbmond zurückgeblieben. Den zog er nun, mit der Rasierklinge in der zittrigen Hand, vorsichtig nach.

Granatapfel

Einmal – wenn er es schaffte, zweimal – in der Woche besuchte Yair seinen Großvater im Seniorenheim in der Sderat ha-Armonim,1 die ihren Namen dem Wunsch der Pioniere verdankt, in den sandigen Boden der neu gegründeten Stadt hinter dem alten Hafen Kastanienbäume zu pflanzen. Im April erblühten Feuerakazien, wo die Dolden der Kastanien in Weiß, Blassrosa oder Rostbraun wie Kerzen aus einer Geburtstagstorte hätten ragen sollen.

Yair setzte sich dann zu seinem Großvater auf die Terrasse, schnitt einen Apfel in Schiffchen oder häutete eine Orange. Heute zog er einen Granatapfel aus seiner Tasche. Mit einem Messer schnitt er Furchen hinein, dann brach er die Frucht auf und pulte die tiefroten, säuer­lichen Kerne heraus. Jetzt war er es, der sie dem Großvater in das Schälchen zählte und sagte: „Für jeden Kern darfst du dir etwas wünschen.“ So nämlich hatte es der Großvater getan, zu Rosh ha-Shana, wenn sie das neue Jahr begingen: Der Junge, der er damals war, hatte sich für jeden Granatapfelkern einen Wunsch zurechtgelegt, so dass er sich das ganze Jahr auf etwas freuen konnte.

Dieses Jahr war bald um. Karg an Schönem war es, zumindest ohne größere Erschütterungen, von der Trennung von Omer einmal abgesehen und dem halbherzig durchgeführten Selbstmordversuch, der ihm – vor sich selbst, aber auch vor Omer, zu dem er erst einmal gar keinen Kontakt mehr hatte – schrecklich peinlich war. Ein paar Kriege waren ausgebrochen oder aufgeflammt, hier und da, in Teilen der Welt, von denen er fast nichts wusste. Weltgeschichtlich aber würde dieses Jahr eine Fußnote bleiben.

Immerhin ein kleines Wunder geschah, hier im hübsch gestalteten Innenhof des Seniorenheims, am 28. August um 14.27 Uhr auf der Terrasse unter einem apricotfarbenen Sonnenschirm: Yair hielt, sobald er den letzten Kern aus der Frucht gepult hatte, dem Großvater das Schälchen hin. Der alte Mann nahm eine Handvoll, legte den Kopf in den Nacken und ließ die Granatapfelkerne in den Mund kullern. Er kaute genüsslich, schluckte. Er drückte die Lider fest aufeinander. Dabei rann aus seinem rechten Auge eine einzelne Träne.

Yair kam häufiger vorbei als Bekannte und Verwandte,­ die mehr Zeit mit dem Großvater verbracht hatten, die durch gemeinsame Widersacher, gemeinsamen Besitz oder durch Verträge an ihn gebunden waren oder mit ihm nach Frankreich oder nach Eilat ans Rote Meer gereist waren, als er noch bei besserer Laune und Gesundheit war. Sein Großvater, jetzt durch alle Sicherheitsnetze gefallen, tat ihm leid. Das letzte Jahrzehnt hatte er wie ein Einsiedler gelebt, in seiner Bruchbude in Tiberias, in ewiger Zwietracht mit Rohren und Leitungen. Kaum mehr hatte sich Opa Avi in den Bus nach Haifa gesetzt oder in den Zug nach Tel Aviv, das ihn, wie er mehrfach versichert hatte, gleichzeitig lockte und abstieß.

Yair erinnerte sich gern daran, wie sein Großvater ihm Märchen erzählt hatte, Kindergeschichten, unverfängliche Anekdoten, und wie er schließlich, vom ­Enkel zunächst unbemerkt, dazu übergegangen war, aus dem eigenen Leben zu berichten. Ein ums andere Mal erzählte Avigdor, manchmal in Variationen, vom Besuch der jüdischen Volksschule in Schyžev, von Taschkent, von ­einer Frau, heiter und farbenfroh, die ihm weglief und ihn doch nie ganz verließ, von Gorki, einer Stadt am Zusammenfluss zweier Giganten, Wolga und Oka, von den ersten Jahren in Eretz Israel. Sie saßen, meist zu dritt, in der Küchenzeile, in Ravakia, einem Viertel, fast ausschließlich von den Olim chadaschim bewohnt, Migranten aus der Sowjetunion, die es nicht geschafft hatten, anderswo unterzukommen. Die Eltern hatten Yair und seine Geschwister in den Ferien beim Großvater abgeliefert. Oft hatten die Großeltern die Enkelkinder auch unter sich aufgeteilt: Shaul und Yossi blieben bei Oma Chaya in Haifa. Avigdor nahm Yair und dessen große Schwester. Avital bürstete ihre Puppen, bis ihnen die Haare ausfielen, oder lief, auf der Suche nach Gegenständen, die sie zweckentfremden konnte, durch die zwei kleinen Zimmer. Yair rührte in seinem Kakao oder malte mit Wasserfarben, Fantasielandschaften oder Pferde, und hörte, zunächst ohne Fragen zu stellen, seinem Großvater zu. Erst später, Yair ging in die zweite oder dritte Klasse, kam der Enkel auf Avigdor zu: „Saba, Saba, erzähl uns noch mal von der Mäusekönigin. Und von der Zigeunerhochzeit2.“

Im Alter war der Großvater in seine Muttersprache zurückgekehrt. In Gesprächen mit seiner Tochter Hannah oder den Enkeln verfiel er, scheinbar ohne sich dessen bewusst zu sein, gelegentlich in diese schöne, alte Sprache, die von ihnen niemand sprach, ausgenommen seine Frau, von der er seit gut dreißig Jahren getrennt lebte und der er nur gelegentlich auf Familienfeiern begegnete, wenn man ihn – aus Rücksicht auf seine beiden anderen Töchter, die seine Anwesenheit nur leidlich ertrugen – nicht ausgeladen hatte. Zunächst schlichen sich nur vereinzelt Wörter ein, später vollständige Sätze. Schließlich bewältigte Avigdor ganze Gespräche in jener Sprache, die er noch in der Kindheit verlassen hatte. Allem Anschein nach legte er keinen Wert darauf, verstanden zu werden.

Yairs Eltern wollten nicht glauben, dass Avigdor die Sprache, die er zwar spät gelernt, aber in der er sich bemerkenswert elegant bewegt hatte, vollständig vergessen konnte, sonst aber bei wachem Verstand war. Nie lief Avigdor mit zerrauftem Haar und offenem Hemd auf die Straße. Er schaffte es immer rechtzeitig zur Toilette. Er verschenkte seine Geldbörse nicht und hielt einen struppigen Straßenhund weder für einen seiner Brüder noch für eine seiner Töchter. Jedoch schien sich der alte Mann immer weniger dafür zu interessieren, was um ihn herum geschah. Unaufgefordert meldete er sich gar nicht mehr zu Wort. Bald beschränkte er sich, wenn er angesprochen wurde, auf einen knappen Kommentar. Schließlich verzichtete er ganz auf Konversation. Er stellte das Sprechen ein.

Einige schoben das dem Alter zu, das angeblich bestimmte Eigenschaften abmilderte, während andere stärker hervortraten. Als Eigenbrötler galt er immer schon. Seiner Frau, als sie ihn verließ, hatte er sich nicht in den Weg gestellt. Auf die Suche nach einer neuen Weggefährtin hatte er sich nicht gemacht. Seine Tochter Hannah machte ihm schwere Vorwürfe: Sie konnte es ihrem Vater nicht verzeihen, dass er sich jetzt schon in ein Reich zurückzog, zu dem sie keinen Zutritt hatte. „Du bist am Leben!“, schrie sie ihn an. Von einigen altersbedingten Beschwerden abgesehen – Verdauung, Weitsicht, Motorik –, erfreute er sich bester Gesundheit. „Warum versetzt du mit deinen Sperenzchen die ganze Familie in Aufregung?“ So hatte, beim gemeinsamen Schabbatessen vor anderthalb Jahren, Yairs Mutter den damals noch nicht gänzlich verstummten alten Mann vor versammelter Familie angeschnauzt. Avital, die abtrünnige Schwester auf Heimatbesuch, war es, die daraufhin die Mutter anging. Wütend stampfte sie mit den Füßen auf und verfluchte das gesegnete, ohnehin mal wieder leicht angebrannte Mahl. Mutter und Tochter gingen von schnippischen Bemerkungen zu handfesten Beleidigungen über, schrien einander an, bis die Mutter endlich die Bombe platzen ließ und die Drohung aussprach, welche sie ihren Kindern längst als den besten Weg verkauft hatte: „Wenn du nicht endlich den Mund aufmachst, stecken wir dich ins Altersheim!“

Yairs Vater Arturo stand seinem Schwiegervater nicht bei. Das träge Familienoberhaupt kaute auf einem besonders zähen Stück Fleisch herum und bekam den Mund nicht auf. Großvater Avigdor saß seelenruhig auf seinem Platz, hörte sich an oder auch nicht, was sich die beiden Frauen – die eine seine Tochter, die andere seine Enkelin – an den Kopf zu werfen hatten. Welches Urteil auch gefällt wurde, es schien nicht ihn zu betreffen. Er gehörte hier keiner Partei an. Er war nur der Gegenstand dieses Streits. Und seit wann meldeten sich Gegenstände­ zu Wort? Yairs Brüder und die Frauen an ihrer Seite hörten mit offenen Mündern zu. Vielleicht kam es auch ihnen so vor, als befänden sie sich in einem absurden Theaterstück. Yair zumindest wollte sich das einreden. Er sammelte das schmutzige Geschirr ein und machte sich in der Küche an den Abwasch.

Obgleich der Großteil seiner Bibliothek in den Keller der Tochter gewandert war, sah man, wenn man Avigdor Seliger in seinem Wohnquadrat besuchte, vor allem eins: Bücher. Die Regale reichten bis fast unter die Zimmer­decke. Auf dem Schreibtisch lagen, penibel zurechtgerückt, stets zwei, drei Stapel. Öffnete man den Kleiderschrank – was Yair nur tat, um seinem Großvater Halstuch oder Pullover zu reichen –, kamen einem, wenn man sich vergriff, Bücher entgegen. Die Villa Ziv’oni3, in Wirklichkeit ein einigermaßen wohnlich eingerichtetes Gästehaus, war das Beste, worauf sich die Töchter hatten einigen können. Maja und Ewa gaben ihren Anteil dazu, verlangten aber von ihrer jüngeren Schwester im Gegenzug, den alten Stinkstiefel nicht besuchen zu müssen.

Das Personal meinte, Herr Seliger lebe mit den Figuren seiner Romane. Dabei wurde er nie, anders als einige­ seiner Altersgenossen, dabei beobachtet, wie er ­allein am Tisch sitzend Gespräche mit einem unsichtbaren Gegenüber führte. Avigdor fiel nicht auf und bereitete, von der eigenen Familie einmal abgesehen, niemandem Umstände.­ „Er hat es eilig, davonzukommen“, beschwerte sich seine Tochter Hannah. Dabei saß der alte Mann, in ein Buch vertieft, meist unten im Aufenthaltsraum neben den Zierfischen, genoss seine Lektüre und die Verschwiegenheit von Blaubarsch und Bitterlingsbarbe. „Reden Sie mit ihrem Großvater“, hatte Schwester Salita dem Enkel empfohlen. „Ein Mensch darf nie ganz seinen Halt in der Welt verlieren. Ist der Faden einmal gerissen, finden die Verirrten nicht mehr in ihr altes Leben zurück. Sie tappen im Dunkeln, bis sie darin verschwinden.“

Yair kam meist am früheren Nachmittag vorbei, im Anschluss an seine Schicht im Ludovico. Am liebsten schlenderte er auf dem Weg in die Sderat ha-Armonim über den Carmel-Markt. Er liebte es, seine Hände in Körbe voller Linsen oder Bohnen zu tauchen. Im Vorübergehen pflückte er sich eine Traube in den Mund. Er stibitzte eine Dattel, naschte von klebrig-süßem Gebäck. Es waren die zwei Stunden an der Scheide zwischen Tag und Nacht, in denen er sich merkwürdig befreit, fast schwerelos vorkam, die Arbeit war erledigt, und der Abend lag noch unangetastet vor ihm.

Ziellos konnte er durch die Straßen laufen, in anderen, besseren Cafés selbst Gast sein oder eben das Obst für den Großvater auswählen. Er kam ohne Plan, wählte aber auch nicht intuitiv. Er verglich, befühlte, probierte.­ Er testete, ob sich die Blätter der Ananas problemlos abpflücken ließen, schaute den Erdbeeren unter die Mützen. Er wählte das schönste Obst, Früchte, die es wert waren, Farben nach ihnen zu benennen. Heute war seine Wahl auf den Granatapfel gefallen, dessen blutige Eingeweide nun auf dem Marmortisch vor ihnen lagen, während die Rubine in dem Keramikschälchen einen hübschen Hügel bildeten. Yair würde, so sein Großvater aufgegessen hatte, einen zweiten Granatapfel hervorzaubern, auch dieser formvollendet, wie einem barocken Gemälde entwendet.

Eine halbe Stunde kam auch Yair ohne zu sprechen aus. Der Großvater und sein Enkel saßen beisammen und schwiegen, jeder in seiner Sprache und im eigenen Tempo. Wer von dem verstummten Alten nichts wusste, musste annehmen, dass sich die Männer – der eine alt, der andere jung – nichts zu sagen hatten oder sich nicht sonderlich mochten. Ein typischer Anstandsbesuch, von denen es hier so viele gab. Weil die Kinder es nicht schafften, schickten sie einen Enkel.

Yair konnte gut nachvollziehen, wie sich jemand von dem abwandte, was allgemein als Realität bezeichnet wird, um der Literatur den Vorrang zu geben. Anders als seine Mutter fühlte sich Yair nicht betrogen. Der Großvater lebte. Er hatte die Familie nicht verlassen. Er hatte sich ein Stück weit entfernt und noch nicht wieder angenähert. Mit ihren Vorwürfen trieb seine Mutter den Großvater vor sich her. „Erzählen Sie ihm etwas“, hatte Schwester Salita ihm geraten. „Aus Ihrem Alltag. Was Sie so machen. Was in Ihnen vorgeht.“ Yair aber hatte nichts zu erzählen. Ein Tag ähnelte dem anderen. Morgens ging er zur Arbeit, die ihm immer weniger Freude bereitete, und abends saß er an seiner Denon und tüftelte­ an Tracks, die niemand hören wollte. „Dann erzählen Sie ihm aus seinem eigenen Leben.“ – „Aus seinem ­eigenen Leben?“ – „Erinnerung ist der größte Halt.“ Avigdor hatte seinem Lieblingsenkel einen Vorrat an Geschichten mitgegeben, als Yair, noch ein Knirps, auf seinem Schoß gesessen hatte oder vor einer duftenden Tasse heißen ­Kakaos am Küchentisch in Tiberias. Yair hatte sich vorgenommen, ihm diese Geschichten zurückzugeben. Zweimal hatte er das schon aufgeschoben. Heute – das hatte er sich fest vorgenommen! – ließ er sich nicht von dem Schweigen einlullen, das ihm eine Einigkeit vorgaukelte, die womöglich gar nicht bestand.

Mir genügten ein paar Details, um zu wissen, von wem die Rede war. Dabei hab’ ich ihn gar nicht mehr kennengelernt. Vielleicht, weil er immer mal wieder in deinen Erzählungen auftauchte, ist er mir so vertraut. Du hast ihn weitergegeben. Wie den geschnitzten Elefanten, der jetzt bei mir auf dem Fensterbrett steht. Vielleicht, Saba, hast du auf diese Weise gehofft, deinen Vater loszuwerden. Einmal – ich glaube, wir turnten gerade um das Grab von Maimonides herum – hast du uns im Spiel unterbrochen: „Yairusch!“, hast du gerufen. Schuld­bewusst stieg ich vom Gerüst herunter. Ich erwartete, ausgeschimpft zu werden. Du aber hast verlangt: „Mach das nochmal!“ Um ganz sicher zu sein. Am Ende warst du dir sicher: „Diese Geste hast du von ihm.“ Was noch? Die Augen, hast du behauptet. Und die blasse Haut. Die Hände hat er mir nicht vermacht. Dein Vater hatte Mädchenhände. Erinnerst du dich? Du musst dich erinnern. Keine deiner Geschichten kam ohne dieses Detail aus.

Einladung an die Raben

In der Tat besaß Isidor Seliger, gerade für einen Mann seiner Statur, äußerst filigrane Hände, feingliedrig und zart. Zudem war er mit einem wachen, unternehmerischen Geist gesegnet. In einer anderen Zeit, unter anderen Umständen hätte er es leicht zu einem kleinen Vermögen gebracht. Er hätte eine große Familie ganz allein satt bekommen und nebenbei Liebschaften zu den hübschesten Flittchen unterhalten. Er hätte sich ein stattliches Haus bauen lassen und darin mit seiner angetrauten Frau, mit drei bis sieben gesunden, schwarzgelockten Kinderchen und einem sehr reinen Gewissen gelebt. Nun war er aber früh verwaist und stand ohne eigenes Vermögen da. Der jungen Frau, die bei einem Spaziergang über den Markt so unvorsichtig war, ihm zuzulächeln, konnte er nur die Hoffnung auf bessere Zeiten bieten. Zu allem Überfluss gehörte das junge Paar einer bei den Einwohnern der umliegenden Dörfer nicht allzu beliebten Minderheit an.

Isidor klapperte die Schtetl um Kaunas ab. In seinen Koffern führte er mit, was er auf seinen Reisen günstig angekauft oder geschickt eingetauscht hatte: Streichhölzer, Taschentücher, Trockenfrüchte. Einen Meter Stoff, Leinen, Baumwolle, selten einmal Brokat. Lederetuis. Schnürsenkel, Bleistifte. Überall fand der junge Mann Arbeit. Eine Frau, die ein neues Kleid benötigte. Einen Gelehrten mit zerkratzten Brillengläsern. Oder eine Mauer, die vom Einstürzen bedroht war. Eine windschiefe­ Wand. Überall entdeckte er freie Quadratmeter, perfekt für einen Anbau, eine Sommerküche, einen Schuppen, ein weiteres Schlafzimmer. Mörtel mischte er an, als verrührte er einen Teig. Mit der Kelle glitt er über die Ziegel, als bügelte er ein Hemd. Steine klopfte er fest, als beschlüge er einen Bilderrahmen. Männer und Frauen­ bemerkten anerkennend, mit welcher Anmut er sein Handwerk verrichtete. Die Männer, geradezu hypnotisiert, wunderten sich, dass ein Mann in ihnen Begehrlichkeiten wecken konnte. Die Frauen ließen sich von seiner Leichtigkeit verzaubern, beneideten und begehrten den flinken Handwerker. Die Kinder schätzten den Krämer, der nach Abschluss eines Geschäfts in ihren ausgestreckten Handflächen bunte Zuckerstangen Ballette aufführen ließ. Sie kreischten lauthals, wenn er ihnen als winziger Punkt in der Ferne erschien und umtanzten ihn wie junge Hunde, sobald er die Schwelle ihres Hauses überschritten hatte.

Wann genau sich Bella in ihn verguckt hatte, war Gegenstand wilder Spekulationen. Vielleicht geschah es, als der junge Mann ihren Eltern die Idee eines Kinderzimmers verkaufte – oder kurz darauf, als er lächelnd über dem klammen Boden kniete und mit seinen schönen, schmutzigen Händen Stein bearbeitete, als handelte es sich dabei um eine leicht formbare Masse, die sich gern auf seine Wärme einließ. Vielleicht geschah es, als er ihre kleine, vor Glück schreiende Schwester durch die Luft wirbelte. Legendär war Bellas Liebe zu Isidor. Bella­ selbst war nicht ganz von dieser Welt, eine Frau, die sich vor gut situierten, rechtschaffenen, gottesfürchtigen Verehrern kaum retten konnte, die nichts besaß als eine übertriebene Schönheit und sich dann ausgerechnet für diesen mittellosen Casanova entschied, der zwar Feigen und Datteln zu goutieren wusste, aber auch Fallobst nicht verschmähte.

Die Eltern gaben dem jungen Mann Bella zur Frau, um Schlimmeres zu vermeiden. Die Nachbarn zerrissen sich nämlich schon die Mäuler. Die Mädchen ihres Alters wechselten die Straßenseite, wenn sie die rothaarige Schönheit erblickten. Der junge Mann hätte es schlechter treffen können: Ihm fiel ein kleines Häuschen zu, ein wenig abgelegen zwar, dafür mit Hühnerstall und Gemüse­beet, einem kleinen Kartoffelfeld sogar, nicht weit von der Neris. Kurzum: Die Rubinsteyns ließen sich nicht lumpen. Ein Onkel, der in Vilnius eine Fleischerei betrieb, zeigte sich, vom Schreiben seiner schönen Nichte erweicht, überraschend spendabel. Isidor konnte zufrieden sein.

Bella bemühte sich, ihrem Mann eine gute Frau zu sein. Sie führte den Haushalt, wie sie es von ihrer Mutter kannte. Sie kochte die Speisen ihrer Großmutter nach. Sie wiederholte die Aussprüche, die Isidor von sich gab. Sie liebte bis zur Erschöpfung. Bevor sie das Haus verließ, versuchte sie, ihre allzu offenkundige Schönheit zu bändigen. Sie bemühte sich, den Kindern, die dieser Leidenschaft entwuchsen, die beste Mutter zu sein. Den Hennen brachte sie bei, zwei Eier auf einmal zu legen. Sie redete dem Kohl gut zu und pflückte die Schnecken von den Salatköpfen. Sie streichelte den Möhren über die grüne Mähne. Auch wenn sie es manchmal als Verschwendung ihrer Ressourcen betrachtete, plagte sich Bella, die eine erstklassige Schülerin gewesen war, mit der Ernte ab.

Einige Jahre hielt sie durch, viel länger, als ihre zahlreichen Neider ihr zugetraut hatten. Schließlich aber schwanden ihre Kräfte. Sie ließ das Fleisch anbrennen. Sie vergaß die Challah im Ofen. Sie bat die Tochter, sich um den kleinen Bruder zu kümmern. Die Johannisbeeren überließ sie den Amseln. Sie verteilte Pflaumen an die Maden. Die Saat drückte sie nur leicht in den Boden, als Einladung an die Raben, die sie mehr mochte als die Menschen. Sie war bereit, sich mit dem abzufinden, was die Erde ohne ihr Zutun ausspuckte. Sie vertraute auf die Hühner und auf die Eltern, die Selma oder Reizel schickten, und Brot, Kuchen, einen Korb voll sommersprossiger Äpfel, Birnen mit weichen Dellen. Sie verteidigte sich vor dem Mann und den Schwestern. Sie sei keine Bäuerin. Sie präsentierte ihre rissigen Hände, ein Fleißbeweis, der belächelt wurde. Sie kochte den Kindern Brei und hielt das Haus sauber. Man hätte es für unbewohnt halten können, wären da nicht die Stimmen der Kinder gewesen. Und obwohl sie das Feld und die Beete schon bald vernachlässigte, stand sie weiterhin früh auf und legte sich erst schlafen, wenn es längst dunkel war, wenn alle Socken gestopft waren und die Windeln des Jüngsten ausgekocht.

In freien Minuten stand Bella am offenen Fenster, den Kleinen, wenn er quengelte, im Arm wiegend, während das Mädchen wie ein Kätzchen um ihre Beine schlich.

Bella lauschte nicht dem Rauschen der Neris und schaute nicht zu, wie der Wind die Pappeln beugte. Die Sonne empfand sie als Konkurrenz. Vom Mond hielt sie nicht viel, und von dem verschwenderischen Licht der Sterne erst recht nicht. Sie weinte nicht, keine einzige Träne, und doch, Abend für Abend, wiederholte sie: Er wird sich die Hörner schon abstoßen. Er wird müde werden und zurückkommen, früher als gedacht, um mir den schweren Kopf in den Schoß zu legen. Er wird mir eine Kette aus bunten Glasperlen um den Hals legen und sagen, dass sie keiner Geliebten auch nur halb so gut stand, dass er in ihren Umarmungen nur die Erinnerung an mich auffrischen wollte, in ihren Mündern nach meiner Zunge fahndete und in ihren Schößen nach meiner Lust. Manchmal beendete sie ihr abendliches Gebet mit einem nervösen Hicks, meistens aber legte sie sich einfach schlafen.

Das dritte Kind, das unter ihrer Brust heranwuchs, fütterte sie mit exotischem Obst, überteuert, unreif geerntet oder bereits halbverdorben, wenn es aus der Hauptstadt endlich eintraf. Bella aber bestand darauf und nahm nichts anderes zu sich. Sie tauschte ihren Schmuck dafür ein, und als das nicht reichte, schrieb sie ihrem Onkel. Sie flehte ihre Schulfreundinnen Gittel und Fruma an. Mit den besten Absichten, Zuwendungen doppelt und dreifach zu vergelten, wandte sie sich an ihre älteren Schwestern. Die genossen es, dass Bellas Geschick ganz von ihrem Wohlwollen abhing. Sie halfen ihr, nicht übereilt und nicht über die Maßen, aber sie gaben ihr, was sie ohne große Einbuße entbehren konnten. Dass Bella ihnen von ihrer Schönheit nichts abgegeben hatte, vergaßen sie ihr nicht. Sie hatten gehofft, dass Bella­ auseinanderginge, wenigstens nach dem zweiten Kind, ihr Haar seinen Glanz verlöre, die Augen an Tiefe. Zum Verdruss der Schwestern aber wuchs Bellas Schönheit mit den Jahren noch. Betrat sie einen Laden, vergaß der Händler, dass es noch andere Kunden gab, überhaupt: dass andere Wesen – egal, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts – möglich waren.

Irgendwo hatte sie aufgeschnappt, dass man durch eine gezielte Ernährung das Geschlecht des Kindes beeinflussen könnte. Ernährte sich die Frau während der Schwangerschaft von Milchigem und Süßem, so würde sie ein Mädchen gebären. Nahm sie vor allem Fleischiges zu sich, so würde sie einen Jungen zur Welt bringen. Ihre Schwestern lachten sich krumm und schief: „Mischst du Milchiges mit Fleischigem, bringst du noch einen Goj zur Welt!“

Zum Geburtstag servierte Fruma ihrer schwangeren Freundin saftige Lammkoteletts. Gittel buk Piroggen mit Quark. Von allen Seiten bewunderte Bella das goldbraune­ Gebäck. Während sie das Fleisch ignorierte, nahm sie das Gebäck immerhin in die Hand. Sie führte es an die Nase. Gierig sog sie den Duft ein. Dann legte sie es ­zurück.

Ihre Freundinnen tauschten nervöse Blicke aus. Wie würde sich das ungeborene Leben entwickeln, wenn sich die werdende Mutter einzig von Früchten ernährte, insbesondere von solchen, welche der hiesige Boden gar nicht hergab? „Was, wenn es kein Mensch wird?“, gab Fruma zu bedenken. Gittel entgegnete: „Oder ein Mischding?“ Bella zuckte ungläubig mit den Schultern. „Auf dem indischen Kontinent hat es so etwas gegeben.“ Völlig absurd. Ein Wesen, das beides war, Mann und Frau? Was den Nachwuchs anging, war ihr das Geschlecht einerlei. Sie gab es nicht zu, nicht einmal den Freundinnen gegenüber, aber sie hoffte insgeheim, dass die ungewöhnliche Ernährung ein besonderes Wesen heranreifen ließ, eines, das weniger anfällig für Trübsinn war, mit heiterem Gemüt, nicht so dumpf wie die Menschen, die dieser karge Landstrich hervorbrachte. Bella bestand nicht einmal auf einem weiteren Menschenkind. Warum nicht ein Kätzchen? Oder ein Vogel, ein paradiesisches Wesen, unfähig, einen menschlichen Laut von sich zu geben, dafür mit rotem Gefieder ausgestattet, schillernd wie die Kerne des Granatapfels, orange wie das Fleisch einer Papaya, violett wie die Frucht eines Feigenbaums, dazu ein hübscher spitzer Schnabel.

Vielleicht lag es daran, dass Bella die Geduld verlor. Sie war es leid, auf Isidor zu warten. Der nahm, als es soweit war, in einer Scheune in Butrimonys zwischen Kühen und Schweinen den großen Zeh seiner Geliebten in den Mund. Vielleicht lag es an der eigenwilligen Ernährung. Vielleicht begriff das Kind, dass der mütterliche Leib ihm kein gutes Zuhause war – jedenfalls platzte die Fruchtblase, als sich Esther und Jankel im Streit um einen geschnitzten Elefanten gerade gegenseitig an den Haaren zogen. Die Kinder schrien sich in ungesunden Tonlagen an. Sie traten und schlugen sich, als wollten sie einander umbringen. Bella sackte zusammen. So, dachte­ sie, muss es sich anfühlen, der einsamste Mensch auf der Welt zu sein. Sie zog in Erwägung, es doch einmal mit Weinen zu versuchen – oder einfach den Kindern zuzuschauen, abzuwarten, wer das Duell auf Leben oder Tod gewinnen würde. Schließlich besann sie sich. Sie gab beiden Kindern eine Backpfeife und beschlagnahmte den Elefanten. Sie lief über den Hof, dann querfeldein Richtung Jonava. Fünfzehn Minuten Fußmarsch überstand sie, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Sie flehte nicht den Himmel an. Sie verabschiedete sich nicht von der Neris, in der sie nie geschwommen war. Sie erwiderte das Muhen der Kühe nicht. Sie lief und lief, und dann brach sie zusammen, kreidebleich im Gesicht, blutverschmiert die Röcke, Teig- und Rußflecken über der ausgebleichten Blumenwiese.

Isidor gab sich sehr besorgt, als ihn frühmorgens ein grässliches Poltern aus einem süßen Traum riss. Die Nachricht, dass seine schwangere Frau auf offenem Feld, keinen Kilometer hinter Schyžev, die Besinnung verloren hatte, sprach sich in weniger als vierundzwanzig Stunden auch im verschlafenen Butrimonys herum.

Das Mädchen, mit dem er die Nacht auf dem Dachboden der Scheune verbracht hatte, würde als polnische Schlampe in die Familiengeschichte eingehen. Hier und da würde sie in anderen Geschichten auftauchen, mal als Magd, mal als Melkerin, immer im Verdacht, mit dem Teufel in Verbindung zu stehen.