Wir Propagandisten - Gabriel Wolkenfeld - E-Book

Wir Propagandisten E-Book

Gabriel Wolkenfeld

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Beschreibung

Gabriel Wolkenfelds Roman "Wir Propagandisten" entstand 2013 als literarische Reaktion auf die Verabschiedung des sogenannten Homo-Propaganda-Gesetzes in Russland. Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Deutschen, der ein Jahr lang als Sprachlehrer in Jekaterinburg Land und Leute kennenlernt und dabei die Einführung des Gesetzes vor Ort mitbekommt. In klarer, doch assoziativer Sprache zeichnet der Text ein lebendiges Porträt des Alltags jenseits des Kremls, berichtet von Wodka-Gelagen in WG-Küchen, von schwulen Hinterhof-Partys, von zaghaftem Widerstand und geflüsterten Geständnissen, aber auch von der Angst, die sie auslösen. Und immer wieder von den lichten Momenten seligen Trotzes, die stärker sind als das Poltern der Gegner: "Verdammt noch mal, denke ich, das Leben ist schön. Wir haben – auf absehbare Zeit zumindest – nur dieses eine." Zehn Jahre nach seiner Entstehung ist "Wir Propagandisten" aktueller denn je. Nicht nur wurde das Homo- Propaganda-Gesetz seither von Ländern wie Ungarn adaptiert und in Russland 2022 nochmals verschärft, es lädt im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch zu neuem Nachdenken über die Zusammenhänge von chauvinistisch-autoritären Machtstrukturen und Homophobie ein. In dieser Hinsicht erscheint Wolkenfelds Text fast schon prophetisch. Vor allem aber vermittelt er eine Perspektive, die im Zuge von Nachrichtensperren und Kriegsberichterstattung immer mehr aus dem Fokus gerät: den Alltag einer undogmatisch-oppositionellen russischen Bevölkerung. Für diese Neuausgabe hat der Autor ein aktuelles Nachwort verfasst, das die jüngsten Entwicklungen in Russland reflektiert.

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WIR PROPAGANDISTEN

GABRIEL WOLKENFELD

WIR PROPAGANDISTEN

ROMAN

Wir Propagandisten erschien erstmals

2015 im Männerschwarm Verlag.

1. Auflage

© 2023 Albino Verlag, Berlin

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

[email protected]

Umschlaggestaltung: Robert Schulze unter Verwendung eines Fotos von stock.adobe.com/olly

Satz: Robert Schulze

Printed in the Czech Republic

ISBN 978-3-86300-366-1

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:

www.albino-verlag.de

INHALT

Verlagsinformation

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Nachruf

VERLAGSINFORMATION

Gabriel Wolkenfelds Roman Wir Propagandisten entstand 2013 als literarische Reaktion auf die Verabschiedung des sogenannten Homo-Propaganda-Gesetzes in Russland. Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Deutschen, der ein Jahr lang als Sprachlehrer in Jekaterinburg Land und Leute kennenlernt und dabei die Einführung des Gesetzes vor Ort mitbekommt. In klarer, doch assoziativer Sprache zeichnet der Text ein lebendiges Porträt des Alltags jenseits des Kremls, berichtet von Wodka-Gelagen in WGKüchen, von schwulen Hinterhof-Partys, von zaghaftem Widerstand und geflüsterten Geständnissen, aber auch von der Angst, die sie auslösen. Und immer wieder von den lichten Momenten seligen Trotzes, die stärker sind als das Poltern der Gegner: »Verdammt noch mal, denke ich, das Leben ist schön. Wir haben – auf absehbare Zeit zumindest – nur dieses eine.«

Zehn Jahre nach seiner Entstehung ist Wir Propagandisten aktueller denn je. Nicht nur wurde das Homo-Propaganda-Gesetz seither von Ländern wie Ungarn adaptiert und in Russland 2022 nochmals verschärft, es lädt im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch zu neuem Nachdenken über die Zusammenhänge von chauvinistisch-autoritären Machtstrukturen und Homophobie ein. In einem aktuellen Nachwort reflektiert Gabriel Wolkenfeld die jüngsten Entwicklungen und setzt sie in Beziehung zu seinem Roman.

Gabriel Wolkenfeld, 1985 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Russistik und Literaturwissenschaft und lebte für jeweils ein Jahr in Estland, Russland und der Ukraine. Neben den Romanen Wir Propagandisten und Babylonisches Repertoire veröffentlichte er die Gedichtbände Sandoasen (Israelisches Album) und Nebelatlas (Ukrainisches Album). Für seine Lyrik gewann Wolkenfeld u. a. den Hanns-Meinke-Preis und den Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis.

KAPITEL 1

Dann kommst du von einem Land in ein anderes und wunderst dich, wie kurz sich der Weg in deinem Rückspiegel ausnimmt, wie unendlich lang hingegen die Fluchten und Schluchten, die den gewöhnlichsten Hinterhof in einen Highway verwandeln. Du fragst dich, kaum dass dir der Riemen entglitten, die Reisetasche mit gewaltigem Rums auf dem Fußboden aufgeschlagen ist: Warum schleppe ich all dieses Zeug bloß mit mir herum? Warum habe ich mich nicht auf Kreditkarte und Zahnbürste verlassen können, Studium, den festen Schritt, eine Stimme, die sich auch in der fremden Sprache auskennt …

Es ist der zwölfte September, dort, wo du stehst, es ist drei Uhr nachts und die Gelegenheit scheint günstig, mit dem Bestehenden zu brechen und das Wagnis eines Neuanfangs einzugehen, sich endlich einzulassen auf das tausendmal vor sich Hergeschobene. Und ich? Betrete mein neues Zimmer und denke erst einmal nichts als: Kein Staubkorn hat sich hier niedergelassen. Ich streiche, der Maserung folgend, über das Sideboard, öffne die Schubladen und – keine Anzeichen für ein fremdes Leben – schließe sie wieder. An der Wand hängt kein Bild. Und das Bett ist noch unbezogen, die Regale leer. Die Heiligen auf dem Nachttischchen werden sich schnell vermehren, doch heute wiegt Maria nur ein einziges Kind in den Schlaf. Ich lasse mich fallen, um gleich wieder aufzustehen. Vom Flur her ruft Friedrich: Bettwäsche wirst du dir kaufen müssen. Was da war, habe ich mir erst mal genommen. Aber Bier steht im Kühlschrank. Und schon stehe ich in der Küche und halte ein Shiguli in der Hand. Mein Lieblingsgeräusch, scherzt Friedrich, als ich die Flasche ploppen lasse. Und breitet gönnerhaft die Arme aus: Unser neues Zuhause.

Zuhause? Wenigstens bietet mir mein österreichischer Kollege nicht gleich eine Heimat an. Du suchst einen Ort, wo du deinen Koffer abstellen kannst, und man drängt dir ein neues Zuhause auf. Weil du befürchten musst, dass du da nie wieder rauskommst, wagst du es kaum, den Hausflur zu betreten, einen Hausflur, der einer Fledermaushöhle gleicht. Und drinnen glänzen die Scheiben, dass du regelrecht gezwungen bist, die Augen zusammenzukneifen. Vornehm schweigen die Türen und die Gardinen, blütenweiß und mit Eiskristallen besetzt, atmen Lavendel. Ein Zustand, das wissen wir beide, der wird sich nicht lange aufrechterhalten lassen. Nicht, wenn wir nebenbei noch unterrichten wollen. Nicht, wenn wir um die Häuser ziehen und morgens nach einer rauschenden Feier verkatert in einer Zimmerecke aufwachen, im entlegensten Außenbezirk, bei Leuten, denen wir im Vorübergehen Feuer gegeben haben; nicht, wenn wir uns zu Fachkundigen landestypischer Gepflogenheiten entwickeln wollen, referieren wollen, dozieren, wenn wir Reisen ins Umland unternehmen wollen, nach Kazan oder Novosibirsk oder an einen Ort, dessen Existenz noch im Verborgenen liegt.

Die Flaschen, wie von alleine, fliegen aufeinander zu und erzeugen, als sie sich treffen, einen schrillen, feierlichen Ton. Es sitzen sich gegenüber, auf der einen Seite: Ein Zauberer in seinen Zwanzigern, zaudernd noch, beladen mit Zweifeln, silbrig die Schläfen, auf der anderen Seite, je nach Lichteinfall: Pirat oder Indianer, das Grinsen des Wagemutigen, Rasierschaum auf dem Bademantelkragen. Oder trinkst du, fragt Friedrich, lieber aus dem Glas? Ist alles da. Friedrich demonstriert mir unseren Reichtum an Gläsern, Tassen und Schalen; erklärt mir, dass er noch niemanden kennengelernt, aber bereits herausgefunden habe, welche Tram in die Innenstadt tuckert, welche zur Uni, welche zum Kosmos, zur Wajnera, aus der Stadt hinaus. Friedrich ist schon vor drei Tagen angereist, um, wie er sagt, durch die Straßen zu laufen; und weiß nun, wo sich zu wieviel Rubel Bettzeug beschaffen lässt und welche lokalen Biersorten genießbar sind, welcher Park dazu einlädt, russischen Schönheiten in abgetragenen Jogginghosen dabei zuzusehen, wie sie ihre winzigen Kinder in bunten Wägelchen hin- und herschieben, während sie in ihre Mobiltelefone piepsen, lachen und klagen, jammern und fordern in zum Himmel aufsteigenden Tönen. Das Internet hat er eingerichtet und festgestellt, dass Müll, den man in der Wohnung gewissenhaft in bunte Plastikeimer aufteilt, in den Containern mühelos wieder zusammenfindet.

Der Weg, sagt Friedrich, vorbei an dem Buddelkasten mit der gehörnten Eidechse, zwischen den Blöcken hindurch, führt direkt zur Haltestelle, linker Hand haben wir eine Apotheke, auf der Ecke ein Spirituosengeschäft, sieben Freitage, dann einen Laden, wo du Schuhcreme und Zahnpasta kaufen kannst, nichts über zweihundert Rubel, ein Zimmer, wo du Passbilder machen kannst, kopieren und drucken. Entlang der Haltestelle sind Kioske und Verkaufsstände aufgestellt, Marktfrauen mit wettergegerbten Gesichtern bieten Obst und Gemüse an. Einen Fleischer gibt es, und einen Schuster. Und im Häuschen am Ende der Zeile stapelt ein Weib – oval auch sie, und kahl wie ihre Ware – Eier zu gigantischen Bergen. Verrat doch nicht alles, unterbreche ich ihn. Und schiebe, bedacht darauf, dass keine Eiskristalle herausfallen, die Gardine beiseite. In einer Hütte, ganz Pappe und Wellblech, sitzt ein Männchen und leuchtet mit seiner Taschenlampe in die Nacht. Und bewacht, einem Schäfer gleich, seine Autos, zählt inoffiziell Ratten. Oder blättert in seinen Magazinen. Oder verliert seinen Blick in den Quadraten einer vorbeieilenden Netzstrumpfhose. Kannst du erkennen, frage ich, was der Hund dort in seinem Maul fortträgt?

Friedrich reibt sich die Augen, wischt weg, was er nicht sehen will, was er – vielleicht, weil es nicht da ist – gar nicht sehen kann. Ich bin dran vorbeigelaufen, aus dem winzigen Lada gehüpft und dran vorbeigelaufen und nun, von hier oben, ordnen sich die Eindrücke neu, überlappen, verschwimmen, gehen unbekannte Verbindungen ein. Friedrich tippt auf sein Handgelenk, als könnte diese Berührung, von rotblonden Härchen abgefedert, das Klacken eines Glases imitieren. Du gehst gleich in die Vollen. Jetzt setz dich, fordert er mich auf. Und: Erzähl.

Meinen Koffer nachziehend, trippele ich Richtung Ausgang. Mit weichen Knien und Gepäck, das mit jedem Schritt an Gewicht zunimmt, verlasse ich den Sicherheitsbereich des Flughafens. Da stürzt, woher eigentlich, ein Mann auf mich zu, nicht etwa meine Bekanntschaft aus dem Schwulenchat, sondern ein Waldschrat, ein Ungeheuer mit Rauschebart und Dohlenaugen. Der bietet mir, onkelhaft die Hand auf meine Schulter legend, zuvorkommend an, in sein Taxi zu steigen. Dieses sei nicht nur preiswerter als jene an der Registratur, sondern auch komfortabler, Corvette oder Chrysler, und würde keine fünf Meter von hier auf mich warten. Ich könne rauchen. Und wenn ich es eilig hätte – der Fuß findet das Gaspedal … Von seinen wulstigen, sich unangenehm aufdrängenden Lippen vermag ich mit einiger Anstrengung meinen Blick zu lösen, dem stechenden Weiß seiner Iris entkomme ich nicht. Ich stammele zusammen, was mein Russisch ob solch eines Überfalls hergibt, bitte um Verständnis, auch – warum eigentlich? – Nachsicht und danke, danke, da tippt mir ein junger Mann auf die Schulter: Mit einem Lächeln, das zu den Mundwinkeln hin ausfranst, begrüßt mich der Ministerpräsident und weicht, statt mir die Hand zu geben, einen Schritt zurück, um dann doch vorzutreten, ruckartig einem Einfall folgend, und mir ein verhaltenes Hallo! ins Ohr zu flüstern. Ein Hallo, das mit einem Laut anklingt, der aus meiner Sprache adoptiert ist, aber behaucht, als sei er darauf angelegt, sich sanft dem Angesprochenen in die Ohrmuschel zu legen …

Hinter Medwedew tritt ein Hüne hervor, mit dem Gesicht eines Mannes, der Ungutes im Schilde führt, mit Zügen, die beschlossen sind, ein für allemal festgelegt, unwiderruflich, mit Bewegungen, die zu schnell sind und zu heftig. Als sein Handschlag mir fast die Gelenke zerschmettert und der Schmerz mir, für einen Augenblick, das Gesicht verzerrt, präsentiert mir Goscha – Goscha, und du? – die Kraterlandschaft seiner Zähne. Munter redet er drauflos, laut und unbeherrscht, er lacht und redet – auf mich ein oder, zu seinen Freunden, über mich hinweg, in einer Sprache, die man an keiner Universität lernt, weder in der Mensa noch auf dem Campus, eher in den dunklen Hinterhöfen verschlafener Vorstadtsiedlungen als auf dem Pausenhof eines Gymnasiums. Ich nicke ihm zu und begleite seine Äußerungen mit danke! und ähm-äh-hem und einem Lächeln, das sich bei mir in solchen Situationen ganz von alleine einstellt.

Schließlich schlüpft ein bleicher Jüngling, der mir als Schurik vorgestellt wird, aus dem Schatten seines Freundes. Ob ich einen angenehmen Flug gehabt hätte, erkundigt er sich höflich, macht sich dann aber, ohne eine Antwort abzuwarten, mit meinem Gepäck davon. Goscha plaudert, während ich irritiert dem sich entfernenden Schurik nachschaue, in einem fort und schlägt mir bisweilen auf die Schulter. Der war gut, oder? Der war sehr gut. Im Gehen flüstert mir der Ministerpräsident mit einer Stimme, so sehr zurückgenommen, dass sie sich fast als Einbildung abtun lässt, hinter vorgehaltener Hand zu: Goscha fährt.

Endlich stehen wir uns gegenüber: Mitja, dem ich vorab Blumen geschickt habe, kleinpixelige Anemonen, Nelken zum Staatsfeiertag, Bilder meiner Stadt, drei Gigabyte Rosenstolz und Marteria. In natura gleicht er dem Ministerpräsidenten noch mehr. Im realen Leben, das sich, weil die Einstellung noch nicht sitzt, wie ein Traum anfühlt. Schön, dass du da bist, probiere ich es. Und Mitja errötet, schaut verlegen zur Seite, erklärt: Der Flughafen liegt außerhalb. Zu den Banditen, die sich als Chauffeure anbieten, steigt nur ins Auto, wem an seinen Wertsachen nicht viel gelegen ist. Denen könne man nicht trauen, wirft Goscha dazwischen. Die Augen eines Wahnsinnigen, lacht er, und dreht sich, schon weniger vorlaut, nach dem Waldschrat um, der einer jungen Mutter eine behutsame Fahrt verspricht. Dass mir dieses Schicksal erspart geblieben ist, ausgeraubt am Waldesrand aufzuwachen! Ich lache, viel zu angestrengt. Und meinem Lachen folgt kein Echo. Den Misserfolg meines Witzes muss ich anerkennen, doch sehe ich mich vor dem inneren Auge, halb verfaultes Laub im Haar, Erde, ein Bluterguss von der Größe einer Fünf-Rubel-Münze. Dann, ernüchtert, weil dieses Bild nicht einmal den Scheinwerfern eines herannahenden Autos standhält, protestiere ich: Vielleicht singt dieser Mann, während er seinen Wagen sanft über die Straße führt, Wiegenlieder?

Die Nacht schlägt uns ihren kalten Atem ins Gesicht. Ein feiner Regen benetzt meine Brillengläser und leckt das Puder von meinen Wangen. Ins Flugzeug bin ich gestiegen, da hatten wir zwanzig Grad. Nächste Woche, weiß Goscha, soll es Bodenfrost geben, und er verkündet – ein spöttisches Lächeln gräbt sich in sein Gesicht – das Ende meines Sommers. Als wir am Auto ankommen, hievt Schurik gerade mein Gepäck in den winzigen Lada. Steine, fragt er. Und ich antworte: Federn. Ja, ja, aufgeschlagen bewegen sich die Gedanken fast schwerelos, winzige Partikel, die kaum Treibstoff benötigen. Zugeschlagen verdreifacht sich das Gewicht eines Buches. Man weiß nicht, wohin mit den Armen und Beinen, ruft Goscha in einer Lautstärke, als säße ich nicht direkt hinter ihm, sondern stünde noch draußen auf der Straße. Ich behaupte, froh zu sein, nicht laufen zu müssen. Und: Im Allgemeinen. Die Ellenbogen platziere ich auf meinen Knien, die Beine halte ich schräg angewinkelt.

Aus dem Fenster, über die Schulter hinweg, wage ich einen Blick auf den Flughafen: Jekaterinburg. Die Stadt Katharinas. Gläserner Rumpf, links und rechts davon Zylinder, kalkfarbene Honigwaben, Hotels in Kaufhofoptik. Zarinnenhochburg. Die Erste oder die Zweite, frage ich. Die Zweite, ruft Goscha. Die Erste, meint Schurik bestimmt. Und fügt trocken hinzu: Jekaterina Alekseewna. Und du, frage ich Mitja. Nach links, antwortet er diplomatisch. Wir zeigen dir die Stadt. Wo du arbeiten wirst. Und wo du abhängen wirst, wenn du nicht arbeiten wirst.

Wir könnten doch, schlägt Goscha vor. Jetzt noch, wendet Schurik ein. Lasst uns, meint Mitja. Drei Jungs gackern, lachen. Reden über dich hinweg, als wärst du noch gar nicht angekommen, überreden mich, über den Umweg des Ministerpräsidenten, zu einer nächtlichen Spritztour. Schnall dich an, ruft Goscha. Es kann holperig werden. Und schon poltern wir los.

Zuallererst klären sie mich über den schlechten Zustand der Straßen auf. Es gingen, behauptet Goscha, hierzulande Legenden um von den Straßen in Deutschland, großzügig asphaltiert, von Fahrradstreifen und unbeschränkten Geschwindigkeiten; in Russland würden nicht die Gesetze, sondern die Straßenschäden die Geschwindigkeit regulieren. Erbärmlich sei auch die Trunksucht der Männer, die Gefalllust der Frauen. Goscha und Mitja – einander ins Wort fallend, sich übertönend, um zu betonen, worin sich beide einig sind – versuchen mich von der Undurchsichtigkeit ihrer Bürokratie zu überzeugen, von Korruption und der Schlechtigkeit ihrer Landsleute, der allgemeinen Unlust, einander etwas zu gönnen, nicht einmal den zuckrigen Guss auf einem Pfannkuchen, von dem barbarischen Vergnügen, ein Verbrechen an seinem Nächsten zu begehen. Meine Einwände, die Namen allzu bekannter Schriftsteller und Komponisten, Medaillenträger und Popstars, quittieren die beiden mit einem müden Lächeln, einem Lächeln, das für beide reicht, das sich getrost auf ihre blassen, slawischen Gesichter aufteilen lässt: Welchen der fünf Elefanten Dostojewskis hast du denn gelesen? Auch Rachmaninow und Strawinski konnten nicht verhindern, dass wir in Ossetien einmarschieren.

Während Goscha und Mitja mit den Namen verschiedenster Automarken jonglieren und von perfekt asphaltierten Straßen träumen, ziehen die Sehenswürdigkeiten der Stadt an mir vorüber: Der Funkturm mit seinem roten Geflimmer verschwimmt mit der Kathedrale auf dem Blut; ihre Kuppeln, vergoldete Eicheln, wippen beim Anfahren; in der Kurve begrüßt mich Kirow, erhaben, in Stein gegossen; die Universität als Panorama, vormals Gorki, umbenannt nach Jelzin, der stattliche Bau am Kopf der Leninallee, weiter unten – hier wirst du arbeiten! – eine bescheidenere Ausgabe, mausgrau und direkt an der Straße gelegen, immerhin die Trikolore gehisst; irgendein Gewässer, Fluss oder Kanal, auf dessen Oberfläche die nächtlichen Lichter schaukeln wie Glühwürmchen in einem lauen Lüftchen.

Wo sind wir, frage ich, als Goscha unnötig scharf bremst und den Lada, als würde er von einem Magneten angezogen, in eine winzige Lücke am Seitenrand lenkt. Wir sind da, verkündet Mitja. Wo? In der Innenstadt. Eine Straße russischen Maßstabs, gut zehn Meter breit, und so weit das Auge reicht: Haltestellenhäuschen aus Wellblech, Restaurants, Kinos, Theater, goldene Kuppeln, bestimmt findet sich irgendwo auch noch eine Leninstatue. Um den Regen abzuwehren, ziehe ich die Kapuze ins Gesicht, wehre die Eindrücke ab, die, fetten Tropfen gleich, auf meinen Kopf trommeln. Seitwärts zittert Neon. Eine Werbetafel fängt an zu sprechen. Ich schlüpfe, jemand hält mir eine Tür auf, in einen Raum, der grell beleuchtet ist, der Geruch abgestandenen Fetts schlägt mir entgegen. Am Ende des Ganges steht Mitja und winkt mich heran. Geh nicht verloren, lächelt er. Und weist mir den Platz in der Ecke zu, mit Blick in den Raum; der Sitz, zu weich gepolstert, gibt meinem Gewicht nach. Ich sinke ein, schrumpfe zusammen, wieder ein Kind, die Hände reichen kaum über die Kante.

Goscha und Schurik stellen Burger, Pommes, Cola auf den Tisch, Cappuccino, Zuckerpröbchen: Zeit, sich kennenzulernen. Machen wir einander bekannt. Ein Lehrbuchsatz, der Generationen von Russischschülern, wenn sie alles andere auch längst vergessen haben, noch ewig im Ohr liegt. Daran denke ich. Ich habe diesen Satz für eine Erfindung gehalten, für nicht anwendbar, den Regeln eines natürlichen Gespräches nicht gemäß. Und nun, bei Pommes und Cappuccino, bittet mich Goscha – worum eigentlich? Ich habe kein Talent für diese Art von Konversation. Entweder rutscht dir, wenn du den Mund öffnest, dein halbes Leben heraus, oder du verschluckst dich an den alltäglichsten Gegebenheiten, fragst dich, kaum dass dir Berlin über die Lippen kommt, ob du nicht doch aus Hamburg stammst. Deine Mutter, auf einmal, verkauft Eiscreme im Stadtpark und das Diplom, das du zerknittert aus deinem Jutebeutel fischst, hat sich in einen abgelaufenen Fahrschein verwandelt. Mitja, sage ich, hat euch doch bestimmt schon alles über mich erzählt?

Als hätte ich bereits alles gesagt, was zu sagen ist, in unseren gelegentlichen Gesprächen, die Gesichter eingefasst in das Quadrat eines Webcam-Fensters, Stunden und Kilometer voneinander entfernt, die Stimmen metallisch, ein Rauschen, als gälte es, vier Regenwälder zu überwinden. Der junge Mann, der mir auf dem Flughafen als Kopie des Ministerpräsidenten entgegengetreten ist, rückt unsicher auf seinem Platz hin und her. Hast du mich denn gleich erkannt, fragt er. Ich habe dich für Dmitri Anatoljewitsch gehalten, sage ich. Und Goscha kreischt auf. Schurik verschluckt sich. Ich habe einen einfachen Jungen erwartet und wurde vom Ministerpräsidenten empfangen. Mitja schüttelt den Kopf. Findet ihr auch, dass ich Medwedew ähnlich sehe? Als würdest du das zum ersten Mal hören, grölt Goscha.

Warum ich denn nicht nach Amerika gegangen bin? Er wäre ja, sagt Goscha, nach Amerika gegangen, nach New York oder Los Angeles. Oder London. Bist du vielleicht falsch abgebogen? Ich dippe phlegmatisch ein Kartoffelstäbchen in die Mayonnaise. Und wie fühlt es sich an, hier zu sein, fragt Schurik. Gut, sage ich. Gut, weil die Situation keine alternative Antwort zulässt: Drei hoffnungsvolle, zugewandte Gesichter sind wie Scheinwerfer auf mich gerichtet. Bist du schon einmal in einem anderen Land gewesen, frage ich. In Sibirien, sagt Schurik. Verstehst du? Und Mitja gibt mir zu verstehen, dass ich einen Bart aus Milchschaum trage. Wie fühlt es sich an, anzukommen? Wie viel hat Ankommen mit Weggehen zu tun? Und: Wie kann von Ankommen die Rede sein, wenn man überhaupt keine Ahnung davon hat, wo man sich befindet? Und: Ob ich schon mal in Russland gewesen bin? In Petersburg. Petersburg? Das sei Russland im Weichspülgang. Da würden die Hunde nicht in Rudeln …

Meine neuen Freunde glauben, dass es in Deutschland eine allgemeine Nacktbadepflicht gäbe. Dass man sommers nackt im Stadtpark liegt und zwischendurch die Gebüsche aufsucht, glauben sie nicht. Wo bist du gewesen, frage ich Mitja. Der sagt: Männer liefen dort auf den Straßen, Hand in Hand, einer hatte gar seine Hand in der Gesäßtasche des anderen, die junge Frau, die ihnen entgegenlief, hat sich nicht umgedreht, und in den Schaufenstern hingen Satinshorts und Gasmasken. Widerlich. Dort willst du hin? Goscha will wissen, welches Auto ich fahre. Welches Auto? Ich muss mich räuspern. Oder: Ich werde geräuspert. Schurik tippt mahnend auf das gesprungene Glas seiner Armbanduhr: Die Zeiger haben sich anscheinend verlaufen. Wann musst du morgen in der Uni sein? Ich weiß nicht. Das steht irgendwo in meinen Unterlagen.

Schon zerrt mich Mitja zu einem Kiosk unter der Straßenunterführung. Damit ich dich anrufen kann, sagt er. Und Goscha, weil er ihn dabei hat, hält der Dame am Schalter seinen Ausweis hin und leistet zwei Unterschriften. Goscha leiht mir seine Identität. Würde ich ihn – morgen vielleicht noch, aber übermorgen oder in drei, vier Tagen? – auf der Straße wiedererkennen, im Berufsverkehr, einen jungen, hochgewachsenen Mann, flachsblondes Haar, Jeans, eine ausrangierte Jacke, das Gesicht eines Passanten, vielleicht ein wenig gröber, brutaler. Schurik fummelt die SIM-Karte in mein Handy, schon erreicht mich der erste Anruf: Mitja, mit verstellter Stimme, fragt mich, ob ich heute noch etwas vorhabe.

Und dieser Goscha, fragt Friedrich, also ich wüsste nicht, ob ich mich zu so einem ins Auto setzen würde. Warum nicht? Ich bin froh, dass mich keine geschniegelten Bankierssöhne am Flughafen abgepasst haben, darauf bedacht, mir einen unvergesslichen Empfang zu bereiten, sondern reale Personen, aufgeregt und unbeholfen, mit Frisuren, die mehr Haar als Frisur sind, und Schuhen zum Laufen, nicht zum Gehen bestimmt. Von denen kannst du was lernen, lacht Friedrich. Und noch einmal treffen sich unsere Bierflaschen. Auf uns, Jekaterinburg, ein Jahr.

In unseren Sätzen nistet die Hoffnung auf eine ruhige Zeit, nach all den Stürmen der Studienjahre, dem Gedrängel in überfüllten Vorlesungssälen, bohrendem Zweifel auf unwirtlichen Korridoren, sengenden Stimmen, die deine Antworten zu Fußnoten zusammenstauchen: Wir gönnen uns eine Verschnaufpause und geben ein bisschen Deutsch an einer Hochschule, die von uns nicht viel mehr erwartet als unsere Muttersprache. Wir versprechen einander, uns nicht allzu sehr unter Druck zu setzen. Weshalb sollen wir das Unterrichten neu erfinden? Friedrich isst Tintenfisch, schrumpelig vom Salz, und den Geruch angegangener Hammelhoden verströmend. Und ich bin auf dem Boden meiner Flasche angelangt, bin müde, erschöpft, wahnsinnig ob des Taumels, in den mich meine dreifache Begegnung versetzt hat.

Am frühen Morgen, noch verheddert in einen unruhigen Schlaf, liege ich in einem Bett, das nun mein Bett ist, weil es meinen Geruch angenommen hat und weil mir die Heilige Mutter Gottes, das propere Jesuskind auf dem Arm, vom Nachttischchen aufmunternd zuzwinkert. Den Laptop auf dem Schoß, schaue ich mir eine Dokumentation über den Ural an, spule vor und zurück, vor, weil es mich allenfalls marginal interessiert, was sich ein Graureiher und ein Aland, Nachbarn im Nebel des Pelym, zu sagen haben, und zurück, weil ich doch eine Information benötige, die erzählenswert ist, Aufhänger oder Anknüpfpunkt, ein Rettungsanker in einem kleinen Gespräch mit der Lehrstuhlleiterin. Ich fühle mich wie vor einer Prüfung, überzeugt davon, nichts zu wissen, das von Relevanz wäre. Niemand hier, versuche ich mir einzureden, würde ausgerechnet dich konsultieren, wenn er etwas über den Ural erfahren wollte.

Aufgedonnert, als sei ich zu einem Empfang geladen, haste ich in den Vorflur, einen winzigen Raum, vollgestellt mit Schuhen und dem Krempel unserer Nachbarn, der den Hausflur von unseren Wohnungen trennt, und erliege beinah im Kampf mit dem Schloss, links- oder rechtsrum, was hat Friedrich gesagt, der große oder der kleine, gezackt oder abgerundet? Da springt – der Schweiß beißt mir in die Augen, mir verschwimmt das Gesicht, bestimmt ist eine Braue auf die Wange gerutscht – endlich die Tür auf. Ein Mann, leicht untersetzt, in Dunkelheit gehüllt, steht vor mir: Mitja, diesmal sogar in Stoffhose, grinst mich schelmisch an. Warum gehst du nicht an dein Handy? Beeil dich. Wir sind spät dran. Wir? Ich schaue, der Fahrstuhl rattert, auf das Display meines Handys: fünf unbeantwortete Anrufe. Was hast du gedacht, wie du rechtzeitig zur Uni gelangst? Zu Fuß, sage ich. Zu Fuß, lacht Mitja. Auf der Karte sieht das ganz nah aus, protestiere ich und steige ins Taxi. Den Zahn werde ich ihm ziehen, denke ich. Der braucht sich nicht einzubilden, mir auf Schritt und Tritt folgen zu müssen. Gleichzeitig breitet sich diese wohlige Wärme in mir aus, eine zugeschneite Dankbarkeit, die offenzulegen ich keinen Mut besitze. Ohne diesen schlitzohrigen Bengel würde ich die Universität niemals rechtzeitig erreichen. Ich schlüpfe, Mitja im Schlepptau, durch die schwere Eingangstür, links schälen sich aufgehübschte Mädchen aus ihren Mänteln, scheiteln das Haar, ziehen den Pony nach, eine dickliche Garderobenfrau verteilt Marken, rechts gammeln, auf einfachen Holzstühlen sitzend, Grüppchen von Studenten vor sich hin, plaudern, warten, holen Geld an einem Automaten. Geradeaus führt eine breite marmorne Treppe in die oberen Stockwerke, davon lässt sich nicht viel erahnen. Irgendwo hier sollte Warwara Filipowna auf mich warten. Ich mustere die Gesichter der umstehenden Mädchen, doch fühlt sich keines eingeladen, mich nach meinem Namen zu fragen. Ohne Warwara Filipownas Ausweis mit dem Kreuzchen aber komme ich unmöglich an dem bulligen Türsteher vorbei. Der schmeißt sich, wenn er es für nötig befindet, mit seinem ganzen Gewicht auf dich. Der schießt, warnt Mitja. Der guckt dich an wie einer, der nicht erst fragt, bevor er schießt.

Wie sieht sie denn aus? Ich zucke mit den Schultern: Sie weiß, wie ich aussehe. Sprich die da an, schlägt Mitja vor. Die sieht aus, als warte sie nur darauf, angesprochen zu werden. Ich mache zwei Schritte in die Richtung einer asiatischen Schönheit, da setzt ein ohrenbetäubender Alarm ein. Durch die Korridore strömen uns alsbald Scharen aufgehübschter Mädchen entgegen. Ich versuche, der Strömung auszuweichen, da raunt mir ein älterer Herr zu, man ließe nun niemanden rein, ausgeschlossen, es zu versuchen. Aber ich habe einen Termin! Mitja zieht mich am Ärmel und wir stehen umringt von Hunderten von Studenten auf dem kleinen Vorplatz. Und Warwara Filipowna? Hast du ihre Nummer, fragt Mitja. Nein. Keine Nummer und keine Ahnung, wie ich sie sonst erreichen könnte. Der perfekte Vorwand, lacht Mitja, ein kleines Frühstück zu nehmen.

Schon sitzen wir in einem nahe gelegenen Café. Blinis dampfen, in Kondensmilch schwimmend, vor sich hin. Der Geruch fauler Sonntage steigt mir in die Nase. Ein Kaffee füllt sich nach. Niemand wird behaupten können, ich sei nicht rechtzeitig vor Ort gewesen. Und bestimmt wird mir auch irgendwas zum Ural einfallen. Hat nicht die Zarenfamilie den Großteil ihrer Köpfe hier verloren?

Als wir zurückkommen, ist die Menschenmenge verschwunden. Vereinzelt ziehen junge Frauen übriggebliebene Brauen nach, vor dem Guckloch der Garderobe hängt ein Schildchen: Pause. Und nun, frage ich Mitja. Einen Nachtisch? Kopf hoch, sagt Mitja. Was sollen wir machen? Komm mit, aber halt dich zurück. Was, frage ich. Was? Und Mitja: Überlass das Reden mir. Wir gehen zum Wachmann, der, noch bevor Mitja den Mund öffnet, sich knurrend nach unseren Ausweisen erkundigt. Mitja, mit einer Stimme halb Honig, halb Eisen, erklärt in allen Farben des Regenbogens meine missliche Lage. Dabei macht er aus mir einen Würdenträger, den lang erwarteten Abgesandten der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland: Dieser Herr, stellen Sie sich das einmal vor, assistiert der Sprache, dem unerschütterlichen Fundament der hohen Wissenschaften. Der bullige Wachmann, vielleicht amüsiert ob der willkommenen Ablenkung, betrachtet mich eine kurze Weile, dann tritt er, einen Diener machend, zur Seite. Als hätte Mitja die richtige Zahlenkombination eingegeben, verziehen sich seine Mundwinkel zu einem verhaltenen Lächeln.

Die Quittung für meinen Ungehorsam bekomme ich dann am Institut für Politik- und Sozialwissenschaften serviert: Vom lokalen Alphaweibchen werde ich mit einem aufrichtig gehässigen Schön-dass-Sie-auch-schon-da-sind empfangen. Der Alarm, setze ich an, und Warwara Filipowna – da wendet mir die Lehrstuhlleiterin ihren katzbuckligen Rücken zu. Setzen Sie sich, befiehlt sie. Und ich setze mich, noch immer im Mantel, die Tasche auf dem Schoß. Mit ausladenden Bewegungen, Händen, die den Sturzflug eines Adlers nachzeichnen, wird mir erklärt, dass meine Aufnahme, obgleich nun in meiner Abwesenheit, beschlossen wurde, ich also die Ehre haben werde, an diesem in seiner Bedeutung alles überragenden Lehrstuhl, die zukünftige Elite der westsibirischen Tiefebene auszubilden. Dass ich ihr, Marfa Jakowlena, zu Dank verpflichtet sei, verstehe sich von selbst, zumal sie auf der Mitarbeiterkonferenz höchstpersönlich und gnädigerweise – und wohlbemerkt vollkommen überzeugend – meine Person vertreten habe. Wie ich eigentlich dazu komme, ein Flugticket zu buchen, bevor ich die Einladung, korrekt datiert, gestempelt und mit allen notwendigen Unterschriften versehen, in den Händen gehalten habe? Nein, erstatten, natürlich, können wir gar nichts. Im Übrigen sind wir auch für das Behördliche nicht zuständig. Was man uns, von etwas so Sekundärem wie Sprache abgesehen, denn im Slawistikstudium beigebracht habe? Shanna Nikolajewna, so viel vorweg, sei kein geeigneter Ansprechpartner. In allen Fragen, die in ihrer Wichtigkeit über die Auswahl eines White-Board-Markers hinausgehen, sei einzig und allein sie, Marfa Jakowlena, zu konsultieren. In Fällen äußerster Dringlichkeit könne ich mich bei Warwara Filipowna, ihrer äußerst geschätzten Assistentin, quasi von Assistent zu Assistent, ha ha ha ha, danach erkundigen, wie sie, Marfa Jakowlena, sich in entsprechenden Situationen zu verhalten pflege. Meine Vorgängerin habe zweimal hier im Büro gesessen, heulend, weil ihr ein Stempel fehlte oder eine Unterschrift. Sie wollen doch nicht weinen? Halten Sie sich an meine Worte.

Ich nicke, rückwärts aus dem Zimmer trippelnd, artig mit dem Kopf und lächle mein Kleine-Jungs-Lächeln. Dabei denke ich nur: Fotze, Fotze, Fotze …

Du siehst aus, als wäre ein Orkan über dich hinweggefegt. Was ist passiert, fragt Mitja. Ich greife nach der Zigarette, die ihm zwischen den Lippen steckt. Und raune ihm zu: Was schon? Dich umweht der Duft von frischem Kaffee, lacht Mitja. Das hat sie rasend gemacht. Die Studenten werden aus dem Haus gejagt und die Oberen, an ihre weich gepolsterten Stühle festgetackert, befinden über das Geschick ihres jungen Kollegen, der kein Kollege, sondern ein Assistent ist. Weißt du, wie man bei uns Assistent abkürzt?

Auf uns zu eilt eine asiatische Schönheit, kostümiert als Sekretärin, Wespentaille, eine schwarzgerandete Brille auf den filigranen Nasenflügeln, hinter den Gläsern ein Blick, der Medusen verjagt, samtene Wimpern, dazu eine Fülle kupferbraunen Haars. Einen Fingerbreit vor mir bleibt Warwara Filipowna stehen: Wo sind Sie gewesen? Sie sehen nicht wie auf dem Foto aus, das Sie mir zugeschickt haben. Wie hätte ich Sie da erkennen sollen? Sie waren nicht allein. Und ich habe vermutet, Sie würden eine andere Sprache sprechen. Warwara Filipowna, nicht ohne Genugtuung, springt munter zwischen den Sprachen hin und her. Deutsch bereitet ihr, von den Umlauten abgesehen, keinerlei Schwierigkeiten. Kommen Sie mit. Wir lassen Ihnen einen Ausweis machen. Oder – die rechte Braue wandert gen Norden – wollen Sie, dass ich jeden Morgen am Fuße der Treppe auf Sie warte? Ihren Freund können Sie mitnehmen, ruft sie mir zu, als Mitja und ich uns gerade verabschieden wollen. Ihren Freund? Ihren Freund, wiederholt Mitja, nicht allzu laut, dabei irgendwie anerkennend, als gälte es, dieses Wort auszuprobieren.

Student oder Hochschullehrer, fragt die junge Frau, bekittelt wie eine Ärztin, der ich den Stapel mit meinen Unterlagen ausgehändigt habe. Hochschullehrer, sage ich. Im Vorraum sitzen Mitja und Warwara Filipowna. Bestimmt fragt sie ihn jetzt, woher wir uns kennen. Bestimmt errötet Mitja leicht bei der Frage. Hoffentlich fällt ihm etwas Besseres als die Wahrheit ein. Mit oder ohne Weichheitszeichen? Dass ich ihn in einem Schwulenchat gefunden habe, soll nicht bedeuten, dass ich nach ihm gesucht hätte. Lehrstuhl für Fremdsprachen, richtig? Können Sie auch lächeln? Sie sehen, ermahnt mich die Schwester, wie Raskolnikow aus, bevor er der Alten eins übergebraten hat.

Hier könne ich kopieren, erklärt mir Warwara Filipowna. Eine Tür öffnet sich und fliegt wieder zu. Hier erhalte ich den Schlüssel. Kaum habe ich einen Blick in den Raum geworfen, fliegt auch diese Tür wieder zu. Hier, zwei, drei Korridore weiter, könne ich mir Beamer und Laptop leihen, alles, versteht sich, gegen eine Unterschrift und nach Voranmeldung. Und hier – Warwara Filipowna saust den Korridor entlang – könne ich die Zugangsdaten für das Konto beantragen, auf welches die Universität mein Gehalt überweisen wird, allerdings erst bei Vorlage einer Bescheinigung, die ich wohl kaum vor Monatsende werde erhalten können. Die Mensa befindet sich, folgen Sie einfach dem Geruch, in beiden Gebäudeteilen ganz unten, die auf der Turgenewa ist etwas geräumiger, dafür gibt es auf der Lenina frische Piroggen. Sie sei sehr beschäftigt, erklärt Warwara Filipowna, fast schon entschuldigend, die Stimme, nicht aber das gepuderte Gesichtchen senkend. Am Lehrstuhl für Fremdsprachen verlässt sie mich: Angenehmen Einstand!

Also gut, denke ich. Schlimmer kann es kaum werden. Ich beschließe, mein Glück noch einmal zu versuchen, Raum 256, ich klopfe, kaum hörbar eigentlich, und es öffnet sich die Tür in ein paralleles Universum. Am Lehrstuhl für Fremdsprachen beweist mir die viel besungene russische Gastfreundlichkeit, und zwar aufs Herrlichste, ihre Existenz. Neugierig tritt eine aufgeweckte Hühnerschar an mich heran: wohlgesonnene Großmütter, die den ausländischen Gast bestaunen, hätscheln, mit Komplimenten und gut gemeinten Ratschlägen versorgen. Ein junger Mann, mit feinen Zügen, bebrillt, mit – ja, ja, keine Widerrede, das sieht man sofort – exquisiten Manieren, das wird Walentina Stepanowna freuen. Literaturwissenschaft? Sie müssen mir unbedingt erzählen, was die Jugend in Deutschland heute so liest. Fast schon überschwänglich lobt man mein Russisch. Man setzt für mich die Regeln der russischen Grammatik außer Kraft, diskutiert meinen Akzent weg. Bübisch nennt man mich. Wie alt sind Sie? Aber noch keine fünfundzwanzig? Von der Statur her – Anshelika Efimowna wiegt nachdenklich ihr blasses Haupt – eher Student als Dozent. Dagegen müsse etwas unternommen werden. Man sorgt sich, ganz offensichtlich, um meine Autorität und beschließt, dass ich mehr essen muss. Anshelika Efimowna hat bereits alles stehen und liegen gelassen und fliegt, engkurvig den Treppenbogen nehmend, Richtung Mensa. Zwei Minuten später dampft auf dem Schreibtisch vor mir eine doppelte Lage Blinis, in Kondensmilch ertränkt, vor sich hin. In meinen Tee plumpsen drei Würfel Zucker.

Ein wahnsinniges Glück ist es, guten Menschen zu begegnen. Ist es das, fragt Mitja mürrisch. Wo bist du, um Himmels willen, so lange gewesen? Sag nicht, dass du mich vermisst hast, ziehe ich ihn auf. Und trete, versucht, ihn in die Backen zu kneifen, auf ihn zu, wie er da im Korridor auf einem Holzstuhl sitzt, zweifelnd, ob es sich, da er nun ohnehin eine Ewigkeit gewartet habe, noch lohne, sich zu erheben. Ich habe meinen Einstand gefeiert, flüstere ich. Sieben Frauen, darunter drei Großmütter, haben mir ihre Lebensgeschichten erzählen müssen.

Draußen fegt ein kalter Schauer über die Straßen. Fahren oder laufen? Eine Tram, die regenlaunigen Passagiere zusammengepfercht wie Vieh, rattert an uns vorüber. Wir sind doch nicht aus Zucker, wehre ich ab. Und Mitja, immer beglückt, mich korrigieren zu können: Wir sind nicht zuckern. In meiner Sprache heißt es anders. Wir sind, zieht Mitja mich auf, aber nicht in deiner Sprache. Nach zwei Schritten jedenfalls tragen wir Leopardenmuster. Nach fünf Schritten suppt kalter Schlamm in meinen hübschen Stiefeletten.

Wir folgen der großen, breiten, leicht abschüssigen Straße Richtung … Wo gehen wir hin? Mitjas Worte, zu einem Shhhh! zermahlen, erreichen mich nicht: An uns vorbei, vierspurig, rasen Autos und Busse, auf dem Mittelstreifen, in verwitterten Farben, Straßenbahnen, der Wind, knisternd und knirschend, legt sich uns in die Ohren und aus den Lautsprechern, die an den Außenfassaden oberhalb der vielen kleinen Geschäfte befestigt sind, tönt es: Kauf! Kauf! Kauf! Ja, ich brauche Papier, fällt mir ein, Papier, Stifte, einen Stadtplan, Schere, Kleber. Eine Treppe, Ruhm dem Herrn, führt sogleich hinunter in ein Schreibwarengeschäft. Während Mitja die für meine Arbeit nötigen Utensilien zusammenträgt, laufe ich die Regale mit der schöngeistigen Literatur entlang, prüfe die Auswahl, fahre mit dem leicht erregten Zeigefinger über die Buchrücken meiner Lieblinge. Dieses hier benötige ich auch noch, und dieses hier, ohne dieses vertrocknet mein Hirn, Walnuss oder Trockenfrucht, such es dir aus, ich weiß nicht, ob mein Leben noch weiter Sinn macht. Und was liest du, frage ich. Und Mitja zuckt die Schultern: Zeitung? Schon laufen wir, jeder ein Tütchen schwenkend, weiter die mächtige Leninallee hinunter.

Die hohen Fassaden versperren den Blick auf alles andere. Sowjetische Prachtbauten mit abgelaufener Halbwertszeit wechseln sich mit Boutiquen und Restaurants ab. Institutionen mit langen Namen, die sich kein Mensch merken kann, mieten Büroräume an. Alle dreißig, vierzig Meter ist die Allee unterbrochen, Straßen mit kleineren Geschäften zweigen ab, ohne Lautsprecher und Neonreklame, keine Bildschirme, auf denen verpixelte Schönheiten tanzen. All diese Straßen, erzählt Mitja, führen hierher. Hier, im absoluten Zentrum, treffen sie sich. Und das – Mitja bleibt unvermittelt stehen –, das ist die Post. Ein riesiges, hellblau gestrichenes Quadrat, das, obzwar von der Zeit angeknabbert, recht ehrwürdig wirkt. Gehen wir rein? Nein. Denn zu sehen gibt es dort nichts. Oder möchtest du einen Brief verschicken? Gegenüber: Eine winzige Kapelle mit einem goldenen Zwiebeltürmchen. Gehen wir rein? Nein, lieber nicht. Ich möchte keinem Geistlichen auf die Füße treten. Und: Was willst du da?

Hier, erzählt Mitja, als es noch keine Bars gab, haben sich Männer bei Sonnenuntergang zugelächelt. Blumenrabatten mit welken Rosen, verblühenden Veilchen, im Frühjahr bestimmt ein herrliches Plätzchen. Auf den Bänken haben Herren in Sonntagskleidung gesessen. Von Zeit zu Zeit ist ein Junge vorbeigekommen und hat sehr lange die Blumen betrachtet, hat sich vor ein Beet hingehockt und den süßlichen Duft eingesogen und sich dann, geschwächt infolge des Rausches, zu jemandem auf die Bank gesetzt. Sagt man, sagt Mitja, um klarzumachen, dass er selbst sowas nur vom Hörensagen wissen könne. Das war vor deiner Zeit. Jetzt sucht man sich, scherze ich, seine Zuckerväter im Internet.

An diesen kleinen Platz, auf dem sich ein Denkmal Katharina der Ersten hervorragend ausnehmen würde, schließt sich – da kann man nicht reingehen! – die Stadtverwaltung an, ein Gebäude, das in jeder größeren russischen Stadt stehen könnte: Das Werk eines Zuckerbäckers. Drehst du dich um, zerfällt es vor deinem inneren Auge, aber aus den Versatzstücken von Gebäuden, die du in Berlin, Tallinn, Moskau gesehen hast, lässt sich kinderleicht ein identisches zusammensetzen. Nimm Geraden, die jedes Hindernis überwinden, ein winziges Fenster, verhundertfacht, setz links und rechts der Pforte ein paar Säulen hin, obendrauf Kapitelle, grob geschwungen, ein Türmchen, Figuren, irgendwas zwischen griechischen Gottheiten und Bolschewiken. Streu Kränze ein, ein Weizenfeld. Der fünfzackige Stern muss fast schon am Himmel hängen, dann Hammer und Sichel, die Ähre, aus der das sättigende Korn beinahe herausfällt. Und Farben? Rot und das letzte Grün im November, und Gold, die Farbe der Diktatoren.

Ich mag diese Ästhetik, gebe ich zu. Und Mitja, warum eigentlich, fühlt sich geschmeichelt: Soll ich ein Foto machen? Wovon, frage ich. Du wohnst hier. Und ich brauche keine Fotos. Ich will meinen Weg nicht mit Erinnerung pflastern. Wer hat das gesagt? Ich kann mir nicht helfen, sage ich. Es kommt mir vor, als bewegten wir uns nicht durch eine lebendige Stadt, sondern spazierten durch einen Themenpark. Ein Museum für Gäste aus dem Westen, Nachwendekinder. Und doch gefallen mir diese entseelten Giganten. Komisch, nicht wahr? Und gegenüber – also doch! –, auf der anderen Straßenseite, ragt Onkelchen Lenin empor und überwacht, wie Mitja erklärt, den Platz des Jahres 1905: Lenin, sein Verzicht predigendes Gesicht, unverrückbar, die Geste der Selbstgerechten, wer wollte dieses gusseiserne Monstrum verrücken? Wer käme, zwanzig Jahre nach Zerfall des Sowjetreiches, auf diese tollkühne Idee? Was steht dort unten, frage ich. Und Mitja: Nichts. Irgend so ein Spruch. Gehen wir zum Stadtteich.

Hier, sagt Mitja, wurden die ersten Häuser errichtet. Von der Tafel liest er die Zahl 1723 ab und fügt, ermutigt durch das Gelesene, hinzu: Von denen da. Ich lese zwei Namen, die ich gleich wieder vergesse, zwei Männer, stattlich gekleidet, die sich ein Gesicht teilen, der eine trägt Mozarts Perücke, der andere einen schlichten Dreispitz. Hier hat die industrielle Revolution des russischen Reiches ihre Geburt erlebt. Mit der Errichtung einer Eisenhütte, auf sumpfigem Grund, im Quadrat angeordneten Wohnungen, entlang der gezähmten Isset. Die Steine, erklärt Mitja und deutet dabei auf eine kleine Kollektion von Steinen, die auf der Wiese längs des Flusses liegen, stammen alle aus der Region. Steine, die von innen leuchten. Und funkeln wie das Gefieder eines die Wasseroberfläche durchbrechenden Vogels.

Sommers schaulaufen die jungen Mädchen hier. Paare gehen spazieren, junge Menschen, zu kleinen Grüppchen zusammengerottet, verbringen hier Tage und Nächte. Die Cafés an beiden Ufern bewirten mit Schaschlik und Bier. Schade, sagt Mitja, dass du ausgerechnet zur ersten Schlammperiode auftauchst. Schade, sagt er, und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. An die erste, fällt es mir ein, schließt sich dann wohl die zweite Schlammperiode an? Sogleich bereue ich, mich nicht beherrscht zu haben. Nein, sagt Mitja. Erst kommt der Winter.

Und auf der Ecke dort – Mitja deutet auf eine Villa, die auf den ersten Blick an die Hermitage erinnert – residiert Putin, wenn er gerade in der Stadt ist. Was er, fügt Mitja hinzu, nicht allzu oft ist. Ruhm dem Herrn, an den wir nicht glauben. Wir laufen, den ratternden, trötenden, hupenden Verkehr umgehend, durch eine Unterführung, deren Wände über und über mit Graffitis besprüht sind. Viktor Zoi, die schwarze Mähne toupiert, eine Zigarette im Mund, mustert uns eindringlich. Meine Mutter, erzählt Mitja, hat den rauf und runter gehört. Kennt man den bei euch? Ich weiß nicht, sage ich. Weil ich nicht für andere sprechen kann oder möchte oder weil meine Generation mit Britney Spears und den Backstreet Boys aufgewachsen ist. Hört deine Generation seine Lieder, setze ich an und merke, wie ich mich – räumlich, zeitlich? – von ihm entferne, spüre, obgleich nur für den einen Moment, dass eine Kluft zwischen uns liegt, ein Raum, den keine Lieder füllen.

Mit jedem Schritt wächst die stattliche Villa vor uns in die Höhe. Eine Rotunde steht auf der Ecke, die Fassade folgt auf der einen Seite der Straße, auf der anderen dem Issetufer. Gotische Fensterbögen in Türkis und Terrakotta, weiß getünchte Säulen, Giebel, aufgemalte Ornamente, Drei- und Vierpass. Na, fragt Mitja, als hätte er die Residenz des Zaren selbst errichtet. Was sagst du? Ich vermisse, beschwere ich mich, Hammer und Sichel. Schau dir diese Farben an, ermahnt mich mein Stadtführer. Die suchst du außerhalb der Innenstadt vergebens. Dann: Stell dich in den Pavillon. Ich mache ein Bild von dir. Meinetwegen, rufe ich. Aber schick es mir nicht. Vor mir liegt der Stadtteich, eine Decke aus flüssigem Metall, frisch erkaltet, müde, allein der Regen zieht Fäden. Ich gebe mir, während Mitja erklärt, es handle sich bei dem Teich um einen winzigen Teil eines gewaltigen Stroms, Mühe, möglichst verträumt zu gucken, die Brille halte ich in der Hand, die Lippen habe ich maßvoll gespitzt, dass sie üppig aussehen, nicht aber geschwollen. Mitja gefällt das. Sehr gut, ruft er. Noch eins. Noch eins.

Die Ufer entlang haben sie Hotelanlagen und Bürogebäude hochgezogen, mit spiegelglatten Fassaden und gläsernen Gardinen. Darauf ziehen, ganz gemächlich, dunkle Wolken vorbei. Nirgends kann man sich festhalten. Der Blick wird abgelenkt oder zurückgeworfen. Neben dem Sportpalast – treibst du eigentlich Sport? – befindet sich ein Haus, das wie das Skelett eines Fisches aussieht. Gebaut wird, solange der Geldhahn sprudelt. Springen Sponsoren ab, bleiben vom Traum eines Hauses nur die Grundmauern stehen. Diese Stadt, sagt Mitja, ist voller Narben. Häuser älteren Datums rührt man nicht an. Die stehen, zwischen den schicken Anlagen, unberührt. Marodes Gewebe, das schneidet man erst heraus, wenn man den Platz für was Neues braucht.

Ob sie ihm dennoch gefalle? Er würde, sagt Mitja, eher heute als morgen weit weg gehen, nach Moskau oder Petersburg, besser noch weiter, am liebsten nach Deutschland, nach Berlin, aber Hauptsache weg von hier. Und dir? Wie gefällt dir die Stadt? Ich kann mir noch kein Urteil bilden. Und generell ziehe ich den Zustand einer lauen Unbestimmtheit einem unerschütterlichen Entschiedensein deutlich vor. Ich möchte laufen, ohne zu wissen, wohin. Was meinst du, fragt Mitja. Bis jetzt sind wir eine einzige Straße entlanggelaufen. Es ist windig und laut. Die Sonne ist eine blasse Erinnerung. Halten wir ein Eis in den Händen? Nein, wir halten einen Regenschirm. Real war bis jetzt nur der Regen. Verstehst du?

Was ist das für eine Uhr? Sotschi, sagt Mitja. Sotschi? Die Spiele. Ob ich nichts davon gehört habe: Man redet seit Wochen über nichts anderes. Nicht? Zwei invalide Dreiecke, räumlich versetzt, die ablaufende Zeit in Rot, Countdown oder Zeitbombe. Wie stehst du dazu? Ich interessiere mich nicht besonders für Sport. Den Fußballern schaue ich allenfalls auf die Waden, an den Eiskunstläufern fasziniert mich der Schritt.

Dann stehen wir plötzlich vor der Kathedrale. Die Kathedrale wurde elf Jahre, nachdem man den Zaren wieder lieben und ehren durfte, dort errichtet, wo sich in der Nacht auf den 17. Juli 1918 eine bleierne Kugel in sein Herz gebohrt und blaues Blut das leinene Hemd des Häftlings genässt hat. Die weiße Kirche mit den goldenen Kuppeln nimmt sich – das ist nicht zu leugnen – prächtig gegen jeden Himmel aus. Ein geeignetes Postkartenmotiv, Kulisse für Brautpaare und Pilgerstätte für Anhänger eines verschleppten, erschossenen, verscharrten Monarchen. Erinnerst du dich, fragt Mitja. Als hätte ich, aus dem Auto heraus, gestern mehr als einen Blick auf die Zwiebeltürme werfen können. Ja, sage ich, ohne zu wissen, warum ich lüge. Diese Kathedrale kenne ich aus meinen Träumen. Mitja lächelt befriedet.

Als der Regen heftiger wird, retten wir uns in ein Café. Mitja malt mir ein Kreuz dorthin, wo wir gerade sitzen, markiert die Schreibwarenhandlung und zeichnet den Verlauf der Straßen nach, die wir gegangen sind. Die Stadt liegt, ein ausgebreitetes Tischtuch, vor uns, das Spinnennetz der Innenstadt, das Industriegebiet im Norden, die Schlafsiedlungen drum herum, wo Mitja wohnt. Ihr habt einen See? Einen? Hunderte, empört sich Mitja. Aber glaube nicht, dass man darin schwimmen kann. Und das hier, frage ich, und tippe auf die riesige Grünfläche am südlichen Stadtrand. Majakowski, sagt Mitja. Der Dichter? Ein Park. Dahin gehen wir, wenn die zweite Schlammperiode überstanden ist. Und wo geht man einkaufen? Gibt es einen Zoo? Ein Kunstmuseum? Wo befindet sich die Stadtbibliothek? Theater, Konzertsaal, Synagoge? Wo treten Mumi Troll und Zemfira auf? Und wo geht man hin, wenn man einmal nicht gesehen werden will? Mitja versteht nicht sofort. Na, wo geht man hin, wenn man mal, länger als nötig, einen Mann anschauen möchte, ohne zu riskieren, dass er einem ein Veilchen verpasst? Thematische Clubs meinst du. Das sagt er, als könne