Bachtels Aufbrüche - Hans Rudolf Ruchti - E-Book

Bachtels Aufbrüche E-Book

Hans Rudolf Ruchti

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Beschreibung

Als Thomas Bachtel seine Stelle verliert, weil man ihn durch einen Jüngeren ersetzt, fällt er in ein tiefes Loch. Bald wird ihm jedoch klar, dass nun ein Leben voller Möglichkeiten vor ihm liegt. Ein Paradies wartet auf ihn: Korsika.

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Seitenzahl: 372

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Bachtels Aufbrüche

BACHTELS GESCHICHTE

1 Donnerstag

2 Freitag

3 Samstag

4 Sonntag

5 Montag

6 Dienstag

7 Mittwoch

8 Donnerstag

9 Freitag

10 Samstag

11 Sonntag

12 Montag

13 Dienstag

14 Mittwoch

15 Donnerstag

16 Freitag

17 Samstag

18 Montag

19 Dienstag

20 Mittwoch

21 Donnerstag

22 Freitag

23 Samstag

24 Montag

25 Dienstag

26 Mittwoch

27 Donnerstag

28 Freitag

29 Dienstag

30 Montag

31 Montag

32 Samstag

33 Sonntag

34 Montag

35 Dienstag

36 Mittwoch

37 Donnerstag

38 Freitag

FRÜHJAHR

39

40

41

42

43

44

45

EPILOG

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019Vindobona Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-946810-53-7

ISBN e-book: 978-3-946810-54-4

Lektorat: K. Kulin

Umschlagfoto: Yokeetod | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Vindobona Verlag

www.vindobonaverlag.com

Bachtels Aufbrüche

Pierre Trittin, ehemaliger Journalist der Tageszeitung Express de Neuchâtel, überlegt ernsthaft, ob er den Renault 4, neben dem ÖV seit Jahrzehnten sein wichtigstes Fortbewegungsmittel, verkaufen soll. Eigentlich gibt es nichts zu überlegen. Wenn er nicht aus der Wohnung geschmissen werden oder verhungern will, muss er wohl oder übel auf den fahrbaren Untersatz verzichten. Womöglich muss er auch noch Entsorgungsgebühr bezahlen. Vor ein paar Wochen hat er bereits seinen Hund, einen Border-Collie-Mischling, einschläfern lassen müssen. Dem Hund hatten Altersschwäche und Arthrose so sehr zugesetzt, dass er die Treppen zu Trittins Wohnung nicht mehr schaffte. Trittin kann sich ein Leben ohne Hund zwar nicht wirklich vorstellen, aber ein Leben mit Hund kann er sich nicht mehr leisten. In den Medien hört es sich jeweils an wie das Ende einer Geschichte, wenn wieder mal ein Betrieb dichtmacht, eine Firma restrukturiert wird, saniert oder wie immer die technischen Begriffe für die Dramen des Alltags heißen. Aber für Trittin war die einschneidende Entwicklung mit der Entlassung aus der Redaktion des Zeitungsverlags keineswegs ausgestanden. Sie hatte damit erst so richtig begonnen. Seine finanzielle Situation hat sich seither fast nur noch verschlechtert. Die Lage ist jedenfalls mehr als prekär an dem Tag, als ein Berufskollege aus Korsika anruft und fragt, ob er, Trittin, auch deutsch spreche. Sicher tue er das, bestätigt Trittin, schließlich lebe er in der Schweiz, mit Deutsch als wichtigster Landessprache.

Gut, lacht Kollege François Buffet aus Bastia, ich hätte da nämlich was für dich. Vielleicht. Wenn du mir deine E-Mail-Adresse durchgibst, schicke ich dir eine Geschichte, die dich interessieren könnte. Möglicherweise.

Dann solle er die Sache mal rüberbeamen, meint Trittin und erstickt sämtliche Hoffnungen auf einen gut bezahlten Job im Keime. Könnte, vielleicht, möglicherweise. Mehr Konjunktiv ging wohl nicht.

Im Laufe des Tages trifft das Dokument ein, eine gradlinig erzählte Geschichte, aufgeschrieben von Thomas Bachtel, einem Schweizer, der Erlebnisse aus einem halben Jahr seines Lebens festgehalten hat. Entdeckt habe die Aufzeichnungen ein Mann namens Jérôme Del Vecchio, schreibt Buffet in der E-Mail. Und nun ist die Erzählung via Notar und korsischen Journalisten also bei Trittin gelandet. Abgesehen von den verschlungenen Wegen, die die Schreibe genommen hat, wahrscheinlich nichts Besonderes, mutmaßt Trittin und überfliegt die ersten Seiten. Dann braut er sich eine Kanne Kaffee, weil er nun glaubt, dass ihn die Sache sehr wohl interessieren könnte und ihn, wie sich die Story auf den ersten Seiten liest, über längere Zeit absorbieren würde. So ist es dann auch. Trittin kommt erst nach Mitternacht ins Bett. Das ist zwar nichts Ungewohntes. Ungewöhnlich ist jedoch, dass er sich bereits am nächsten Morgen daranmacht, die Geschichte des Thomas Bachtel auf Französisch zu übersetzen. Er, der sonst grundsätzlich bis mittags nichts tut als schlafen.

Eine Woche später sendet Trittin das Manuskript an mehrere Verlage. Die Erwartung, endlich wieder mal Geld zu verdienen, schraubt er auch bei dieser Aktion auf Sparflamme. Meistens muss er Wochen oder gar Monate warten, bis er Bericht erhält von einem Verlag. Oftmals bekommt er auch gar keine Antwort. Was auch eine Antwort ist. Diesmal aber reagiert einer der Verlage beinahe postwendend. Sie sind interessiert, wünschen aber, die Geschichte auf Deutsch zu publizieren. Erst mal. Schließlich gehe es beim Protagonisten um einen Deutschschweizer. Die Übersetzung werde der Verlag ebenso leisten wie das Lektorat. Und die wirklich gute Nachricht ist: Trittin soll schon in den nächsten Tagen einen Vorschuss erhalten. Etwas Besseres hätte dem blitzgescheiten Mann, der zunehmend aussieht wie ein Clochard, nicht passieren können. Er verrät der Kontaktperson beim Verlag nichts davon, dass bereits eine deutschsprachige Version der Geschichte existiert.

Unmittelbar anschließend an das Telefongespräch mit der Dame vom Verlag sucht Trittin im Internet nach einem neuen Hund. Dann meldet er den betagten R4 zur längst überfälligen Wartung an.

BACHTELS GESCHICHTE

1 Donnerstag

Zurück vom erfolgreich verlaufenen Kundentermin, checkte Thomas Bachtel am Arbeitsplatz seine E-Mails. Es war nichts dabei, was sogleich zu erledigen gewesen wäre. Er war zufrieden, ja aufgekratzt, versuchte aber, die gute Laune unter dem Deckel zu halten. Nicht alle Kolleginnen und Kollegen im Großraumbüro konnten damit umgehen, dass er der unbestrittene Topverkäufer der Firma war. Erst letztes Jahr war er ausgezeichnet worden, nachdem die Firma Umsatz- und Gewinnzahlen veröffentlicht hatte. Bachtel war Verkaufsleiter und führte eine Gruppe jüngerer Außendienstmitarbeiter, für deren Ergebnisse er ebenso verantwortlich zeichnete wie für seine eigenen Abschlüsse. Jeder in Bachtels Team arbeitete weitgehend selbstständig. Diese Führungsphilosophie hatte mit der Zeit dazu geführt, dass Bachtel Leute um sich hatte, die damit umgehen konnten, es sogar ausdrücklich schätzten, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln. Umgekehrt profitierte Bachtel davon, seinen Leuten nicht ständig über die Schulter schauen oder sie gar bei der Hand nehmen zu müssen. Und natürlich nutzten die überdurchschnittlichen Ergebnisse der Vertriebseinheit Bachtels in erster Linie der Firma. Ab und zu fragte sich Bachtel, wie es ihm hatte gelingen können, seine Motivation über die vielen Jahre aufrechtzuerhalten, sich immer noch ab und zu über Erfolge zu freuen wie ein Kind. Er war besonders dann stolz auf seine Leistung, wenn der Abschluss mit dem Kunden eine echte Herausforderung bedeutet hatte. So wie heute.

Um siebzehn Uhr klopfte er an die Türe zum Büro seines Chefs. Der Raum war angeschrieben mit ,Head of Marketing’. Donnerstagabend war Teammeeting.

Come in, kam die Aufforderung einzutreten auf Englisch. Bachtel fiel es nicht auf, denn Englisch schien sich als neue Firmensprache zu etablieren. Als Bachtel aber dann im Chefbüro stand, wurde ihm klar, dass etwas nicht stimmte. Am runden Besprechungstisch saßen nicht wie gewohnt die Kollegen vom Marketing Team. Neben seinem Chef saß eine Personalassistentin, die Bachtel gelegentlich in der Cafeteria gesehen hatte. Den Jüngling aber, der kaum in seinen Businessanzug gewachsen schien, hatte er noch nie gesehen.

Glad to see you, Mr. Bachtel. My name is George Beeman, sagte der junge Herr, hörbar bemüht, seiner Stimme sonoren Klang zu geben. Sitdown, please.

Bachtel nahm Platz. Bubi, der Wortführer der Anwesenden, wie es schien, schob ein A4-Quer verkehrt herum vor Bachtel, sodass der es von der richtigen Seite einsehen konnte.ORGANIZATION MARKETINGstand über der Struktur, die auf Anhieb aussah wie bisher, nur dass jetzt alles in Englisch war. Bei näherem Hinsehen bemerkte Bachtel jedoch, dass im Kästchen mit der Bezeichnung ,Head of Marketing’ der Name stand, den Bachtel eben zum ersten Mal gehört hatte: George Beeman. Darunter, im Kästchen, das mit ,Head of Sales’ angeschrieben war und wo bisher Bachtels Name gestanden hatte, war nun der Name seines Chefs, dem bisherigen Leiter Marketing, eingetragen.

This is me, sagte der Businessanzug und wies auf das Kästchen ,Head of Marketing’. Als ob Bachtel dies nicht längst kombiniert hätte.

Nice meeting you, sagte Bachtel automatisch und fragte auf Englisch, wo denn nun er selber sei im Organigramm. Bachtel fand seinen Namen nirgendwo auf der Darstellung. Der Jüngling sah zur Personalfachfrau.

Die räusperte sich, rutschte auf dem Stuhl hin und her, bevor sie Bachtel ansah und zögernd sagte, der Hauptinvestor habe der Firma ein Sparprogramm auferlegt. Der Verwaltungsrat, führte sie weiter aus, habe daraufhin beschlossen, ältere Mitarbeiter zu entlassen, weil die zu teuer seien. Man finde heute im Ausland gut qualifizierte junge Leute mit vergleichbaren Kompetenzen, die aber für weniger Geld arbeiten würden. Aus diesem Grund müsse sich das Unternehmen leider von ein paar langjährigen Mitarbeitern trennen.

Auch von Ihnen, Mister Bachtel, müssen wir uns leider trennen. Kommen Sie doch bitte nachher zu mir ins Personalbüro. Es ist alles vorbereitet.

Die Frau von den Human Resources hatte während ihres Vortrags unverwandt auf ihre Schreibmappe gestarrt.

Er habe bis Punkt achtzehn Uhr Zeit, seinen Arbeitsplatz zu räumen, zwitscherte Beeman, der neue Kopf des Marketing, zum sprachlosen Bachtel.

Fuck you, schrie Bachtel, stand auf, streckte den Mittelfinger in die Luft, stapfte aus dem Chefbüro und ließ die Tür ins Schloss knallen.

Mit vierzig Jahren gehört man nun also zu den älteren Mitarbeitern, die zu teuer geworden sind. Bachtel konnte sich nicht erholen von der Disqualifikation, die ihn eben ereilt hatte, wollte das Desaster nicht wahrhaben. Mechanisch fuhr er den gewohnten Weg nach Hause. Seinen Arbeitsplatz hatte er ebenso wenig geräumt wie er bei der Frau der Human Resources vorbeigeschaut hatte. Schlüssel und Zutrittskarte hatte er allerdings an der Pforte abgeben müssen.

In der Wohnung angelangt, hatte Bachtel Hunger. Er verstand zwar nicht, wie man Appetit haben konnte, nachdem man eben entlassen worden war. Aber so war es. Der Blick in den Kühlschrank und in die Küchenschublade mit den bescheidenen Lebensmittelvorräten zeigte, was er eigentlich bereits gewusst hatte: Nichts dabei, was ihm hätte Freude bereiten können. Im Tiefkühler lag eine Packung Brotscheiben, die aber erst aufgetaut werden mussten. Sonst war Ebbe. Im Kühlschrank waren Milch und Joghurt, zwei Eier mit Legedatum aus dem Vormonat und Butter, die er eigentlich nur noch zum Anbraten hatte aufbrauchen wollen. Obwohl er kaum je etwas briet. Dann waren da noch ein paar Scheiben Salami und ein Weichkäse, der so erbärmlich stank, dass Bachtel die unansehnliche Masse entsorgte, bevor er den Deckel ganz aufgemacht hatte. In der Gemüseschublade lagen schrumpelige Kartoffeln und ein halber Bund Radieschen, ebenfalls nicht mehr taufrisch. Das Angebot hinkte jedenfalls weit hinter seinen akuten kulinarischen Bedürfnissen hinterher. Aber aus dem Haus mochte er nicht nochmals. Also bestellte er beim Lieferdienst eine Pizza.

2 Freitag

Bachtel lag wach im Bett. Bilder eines Traumes waren wie eingebrannt in seinen Kopf. Träume können aber doch nicht auf der Netzhaut nachwirken wie grelles Licht, denn im Traum hat man die Augen ja geschlossen, dachte er verwirrt. Die Erinnerung an den Traum war wie ein Video, auf dem er sich selber hatte zusehen können, wie er auf einem steilen Schneefeld mit Geröll erfolglos versuchte, hochzukommen. Er hätte unbedingt da oben hinsollen, obwohl dort nichts gewesen war als graue Dämmerung. Aber irgendwas hätte er da oben zu tun gehabt. Er wusste nur nicht mehr, was es gewesen war. Vielleicht hatte er dies auch im Traum nicht gewusst. Nur, dass er unbedingt da hinaufsollte, war klar gewesen, und auch, dass er es nicht mal ansatzweise geschafft hatte. Der Misserfolg des Traumgeschehens lag im Mund wie bitterer Nachgeschmack. Er wunderte sich, dass er es überhaupt geschafft hatte, einzuschlafen, gestern Nacht, nach dem Ereignis, das ihn aus der Bahn geworfen hatte, aus dem Berufsleben gerissen, ihn innerlich zerzaust wie ein Herbststurm die Bäume. Gut, zum Einschlafen bedurfte es ja wohl keiner Anstrengung, wohl eher die Kunst, loszulassen. Nun aber fühlte es sich an wie Kater. Obwohl er keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte, gestern, plagten ihn Kopfschmerzen, lähmte ihn bleierne Müdigkeit. Ächzend richtete er sich auf, saß eine Weile auf dem Bettrand. Nachdem er sich getraut hatte, aufzustehen, schleppte er sich unter die Dusche. Die perlenden Wasserstrahlen konnten das Katergefühl zwar nur oberflächlich wegschwemmen, die ausgefransten Traumfetzen hingegen schienen mit dem Wirbel im Abfluss der Dusche zu verschwinden. Mechanisch verrichtete Bachtel seine Morgentoilette. Wie jeden Tag. Nur war heute nicht wie jeder Tag. Als Bachtel das Ergebnis der Rasur im Spiegel prüfte, sah er ein Gesicht, das um Jahre gealtert schien. Zwei tiefe Furchen hatten sich senkrecht über der Nasenwurzel in die Stirn gepflügt, eine Andeutung von Tränensäcken. Die Gesichtshaut wirkte käsig im LED-Licht des Badezimmers. Anschließend war Frühstück. Er saß am Küchentisch, hatte die Hände um die Schale mit den Flocken gelegt, die in Milch und Joghurt schwammen. Der Löffel blieb unbenutzt. Vom heißen Milchkaffe hatte er nur den Schaum geschlürft. Der Kaffee wurde langsam kalt. Bachtel legte die Ellenbogen auf den Tisch, stützte den Kopf in die Hände. Er konnte einfach nicht glauben, was geschehen war, und glaubte es erst recht nicht, nachdem er die Sache nochmals in Gedanken durchgegangen war. Am besten, so schien ihm, würde er tun, als würde das Gestern gar nicht existieren, wäre gestern kein Tag gewesen. Entgegen seiner Gewohnheit ließ er das benutzte Geschirr auf dem Küchentisch stehen. Sonst räumte er stets sogleich alles ab und spülte das Geschirr. Ordnung gab ihm Struktur, Unordnung störte ihn beim Denken. Er machte sich fertig, um zur Arbeit zu fahren, so wie er es jeden Wochentag tat.

Was soll das denn jetzt, fragte die Stimme der Vernunft. Oder woher immer das Signal kam, sich dem zu stellen, was Sache war. Aber Bachtel hörte nicht hin, ging stur seines Weges.

Er pendelte mit dem Privatauto zur Arbeit, machte die meisten Kundenbesuche mit dem eigenen Wagen, einer anthrazitfarbenen Audi Limousine, stark motorisiert, allradgetrieben. Viel zu groß, eigentlich, für ihn allein und zu schwer. Alles andere als ökonomisch. Ökologisch schon gar nicht. Ab und zu, wenn er im Stau stand, fragte er sich, wieso die knapp zwei Tonnen Stahl, Aluminium und Kunststoff eigentlich Fahrzeug hießen, wenn sie doch die meiste Zeit irgendwo standen. Der Schadstoffausstoß ließe sich mit einem sparsamen Modell bestimmt auf die Hälfte reduzieren, mit Hybrid, Erdgas oder elektrisch sogar um mehr als die Hälfte, das war ihm klar. Mit dem ÖV reisen würde bedeuten, schädliche Emissionen fast ganz zu vermeiden. Man wusste es zwar, hatte sich aber an die autonome Mobilität gewöhnt, hörte im Auto seine Lieblingsmusik, war nicht unverständlichem, fremdländischem Geschwätz ausgesetzt wie in Bahn, Bus oder Tram. Selbst im Stau gab es die Annehmlichkeit des Ungestörtseins, der freien Wahl bevorzugter Musik oder des Radiosenders, der gerade passte. Die Lautstärke störte keinen. Zudem war der Wagen Statussymbol. Man konnte sich damit sehen lassen, bei Kunden, bei Kollegen und bei den Frauen. Obwohl man das Auto ja kaum je in der Öffentlichkeit sah, sondern überwiegend zu Hause in der Tiefgarage, in der Einstellhalle der Firma oder in irgendeinem öffentlichen Parkhaus. Bachtel konnte die Kosten für die Pendlerfahrten von den Steuern absetzen. Zudem erhielt er von der Firma Kilometerentschädigung für berufsbedingte Fahrten mit dem Privatwagen.

Dies war so bis gestern, mahnte die Stimme.

Bachtel musste sich geradezu zwingen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ab sofort gab es weder Kundenbesuche noch Kilometer-Entschädigung. Der Zeitpunkt wäre definitiv gekommen, sich zu beschränken, zu bescheiden. Wahrscheinlich würde er dies über kurz oder lang sowieso müssen. Zumindest darüber nachzudenken wäre jetzt wohl nicht falsch. Bachtel hatte sich auch schon vorgenommen, den Unsinn mit den stets größer werdenden Modellen nicht mehr mitzumachen und beim nächsten Neukauf auf das nächstkleinere Modell zu wechseln, das inzwischen beinahe ebenso mächtig und topausgerüstet war, wie es das aktuelle Fahrzeug beim letzten Kauf gewesen war. Weder wurden Straßen breiter noch Parkplätze größer. Eher im Gegenteil. Mal sehen. Hat ja noch Zeit. Damit hatte er sich bis heute stets vertröstet, seine Unentschlossenheit erklärt. Er hatte Entwicklungen abgewartet, anstatt sie zu antizipieren. Aber nun war nichts mehr, wie es gewesen war, nüchtern betrachtet. Im üblichen Stau stehend, regten ihn die sonnigen, groovigen Rhythmen aus dem Soundsystem des Wagens nur auf, anstatt ihn abzulenken von den ungewohnt belastenden Gedanken, die sich nicht verscheuchen ließen. Nachrichten über Kriege und Katastrophen, die nach dem Zappen auf einen anderen Kanal aus den vielen Lautsprechern drangen, konnten seine Laune auch nicht bessern. Im Gegenteil.

Man muss Karriere machen. Männer müssen das. Bachtel hatte das Credo so oft gehört, bis er es geglaubt und verinnerlicht hatte. Im Sinne dieser Zielsetzung hatte er alles richtig gemacht im bisherigen Leben. Einschlägige berufliche Erfahrungen und Erfolge schmückten seinen Lebenslauf. Er hatte auf Ausbau und Pflege relevanter Business-Netzwerke geachtet. Erfolg wertet auf, sichert ab, das hatte er immer wieder bestätigt bekommen. Freunde, Kolleginnen und Kollegen hatten inzwischen geheiratet, Familien gegründet, sich häuslich niedergelassen. Bachtel war beruflich viel unterwegs, übernachtete oft auswärts. Natürlich wäre es schön, sesshaft zu werden, abends zu seinen Lieben nach Hause zu kommen. Aber dies hatte ja noch Zeit. Hatte er geglaubt. Bis gestern. Aber nun war niemand da, dem er sein Leid hätte klagen, mit dem er seinen Frust hätte teilen können. Frust war auch eines dieser unpräzisen Allerweltswörter, die nichts aussagten darüber, ob man traurig war oder wütend, enttäuscht oder verbittert, dachte er, immer noch im Stau stehend. Er merkte, wie er zunehmend wütend wurde, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.

Spontan griff er zum Mobiltelefon und rief seine eigene Büronummer an. Seine ehemalige Büronummer, genau genommen. Bachtel erwartete, gemäß der neuen Organisation damit nun seinen Ex-Chef anzurufen. Und war dann doch erstaunt, dass sich tatsächlich derjenige meldete, den er anrufen wollte.

Du bist so ein feiges Arschloch! Nach allem, was wir gemeinsam durchlebt und erreicht haben, gibst du mir einfach den Schuh! Und lässt dich selber auch noch degradieren! Es soll dir Glück bringen in deinem künftigen, verschissenen Leben! Bachtel drückte die Nummer weg. Der andere hatte nichts gesagt. War auch nicht nötig. Und faktisch hatte es natürlich nichts gebracht. Trotzdem fühlte sich Bachtel erleichtert nach dem Anruf an seinem bisherigen Arbeitsplatz.

Thomas Bachtel wohnte in der Agglomeration, einer Schlafstadt, wie man sagt, einer Stadt außerhalb der Stadt. Seine Wohnung war spartanisch eingerichtet, beinahe klinisch rein. Die Küche sah aus, als wäre sie noch nie wirklich benutzt worden. Das hatte einerseits zu tun mit der Putz- und Wasch-Fee, die wöchentlich mit chemischer Keule nach dem Rechten sah. Anderseits aber auch damit, dass Bachtel kaum je selber kochte. Er hatte eine Freundin. Freundin beschrieb ebenso undifferenziert wie Frust, was gemeint war. Freundin konnte alles bedeuten. Bachtels Freundin hieß Petra, eine Frau in seinem Alter, ledig, kinderlos. Ab und zu ging er mit ihr aus, dann hatten sie Sex. Er gönnte sich aber ebenso One-Night-Stands, wenn er auf Geschäftsreise war, schätzte die Unverbindlichkeit, sowohl Petra als auch allen anderen Frauen gegenüber, mit denen er gelegentlich intim war. Petra hatte dieselben Freiheiten. Ob sie sie nutzte oder nicht, wusste er nicht. Es war ihm egal. Sie hatten gemeinsam einen Urlaub verbracht. Das heißt, so gemeinsam waren die Ferien dann doch nicht wirklich gewesen. Bachtel war chronischer Frühaufsteher. Wie eine Lerche, die sich bei Tagesanbruch in die Lüfte erhebt und jubiliert, wie Petra zu schmollen pflegte, während sie selber eher dem Tageslauf der Nachteule frönte, bei der das aktive Leben mit der Abenddämmerung einsetzt. Jedenfalls war der Urlaub mehr und mehr zum Flop ausgeartet, weil Sonnenaufgänge und Discobesuche schon nach wenigen Tagen nicht mehr zu vereinbaren gewesen waren. Im Urlaub würde man sich erst so richtig kennenlernen, hatte Bachtel mal gehört. Oder gelesen. Schon möglich. Eingefleischte Gewohnheiten ließen sich auf Dauer nicht ignorieren, wenn man im Doppelzimmer wohnte. Das Thema des Zusammenlebens mit der Lebensgefährtin, oder wie immer man Partner in Konkubinats-Beziehungen nennen wollte, stieg von Zeit zu Zeit immer mal wieder hoch. Vor allem bei Petra. Wäre doch ganz angenehm mit gemeinsamem Haushalt, propagierte sie. Aber einschränkend, war Bachtels stereotype Entgegnung. Kinder auf jeden Fall. Wären einschränkend. Und wie. Überall, wo er hinkam, schien sich alles nur noch um die Kinder zu drehen, Tagesprogramme, Wochenprogramme, Jahresprogramme, Lager, Ferien, Weihnachtsvorbereitungen bereits im Oktober. Da lobte er sich seine Freiräume. Mal sehen. Vielleicht später mal. Hatte ja noch Zeit. Außer bei Petra, die erklärte, ihre biologische Uhr ticke nun schon unüberhörbar, als sie das Thema erst kürzlich wieder aufs Tapet gebracht hatte. Seit dem vierzigsten Geburtstag beschäftigte Bachtel das Thema Beziehung, Familie, Zukunft zwar mehr und öfter als vorher, aber er war immer noch nicht bereit, ernsthaft darüber zu sprechen. Bis anhin hatte er sich vor allem um das berufliche Vorankommen gekümmert. Aber seit gestern war sowieso alles anders. Er hatte seinen Job verloren. Von einem Tag auf den andern. Vor Jahresfrist hatte ein großer Mitbewerber die Firma übernommen, bei der Bachtel seit Jahren Verkaufsleiter war. Fusion hatte man den Deal genannt, dabei hatte der große Amerikaner den kleinen Europäer schlicht gefressen. Und nun war der Mutterkonzern daran, die nicht verdaubaren Reste auszuspucken. Leute wie den gut verdienenden Thomas Bachtel zum Beispiel.

Endlich hatte sich der morgendliche Stau verflüssigt und der Verkehr strömte zügig voran. Bachtel war auf dem Weg zur Arbeit. Wie jeden Werktag. Heute konnte er aber nicht in die Firma. Er war entlassen, hatte Schlüssel und Zutrittskarte abgeben müssen, sein E-Mail-Account war gesperrt, der Arbeitsplatz von seinem Ex-Chef eingenommen. Und der Parkplatz war bestimmt auch schon von einem der vielen Anwärter auf der Warteliste belegt. Im letzten Kreisverkehr vor der Industriezone nahm er, statt wie sonst die zweite Ausfahrt geradeaus, die vierte Ausfahrt in die Straße zurück, auf der er in den Kreisel gefahren war. Aber wohin jetzt? Nach Hause mochte er nicht. Er hätte nicht gewusst, was er da sollte. Also fuhr er in die Stadt. Ungewohnte Leere um diese Zeit im Zentrum. Ein paar LKW lieferten Ware aus. Es gab kaum Fußgänger. Bachtel fand auf Anhieb einen Parkplatz. Er nahm seine Mappe, der gewohnte Griff, wenn er den Wagen verließ, und ging in ein Café. Er war noch nie dort gewesen. Er sah sich um, wählte einen Tisch, der vom Eingang her nicht einzusehen war, von wo aus man aber das Lokal überblicken konnte. Es gab einen Fluchtweg zu den Toiletten, vielleicht zu einem Hinterausgang, sollte er ertappt werden. Bachtel konnte nur den Kopf schütteln ob der Vorsichtsmaßnahme. Wie ein paar Stunden doch das Leben verändern konnten. Er benahm sich, als wäre er auf der Flucht, hatte aber keine Ahnung, wovor er fliehen sollte. Wohin schon gar nicht.

Er bestellte Milchkaffee. Gebäck stand in einem schmuddeligen Körbchen auf dem Tisch. Offen. Wohl noch nie was von Hygiene gehört hier, ärgerte sich Bachtel. Der Kaffee schmeckte scheußlich. Da hätte er sich gescheiter zu Hause einen aus der Espressomaschine laufen lassen. Weil er aber nun schon mal hier war, nahm er das Tablet aus der Mappe und begann in einer neuen Datei zögernd mit dem Zeigefinger über sein Leben nachzudenken. Oder darüber, was sein Leben denn nun werden sollte. Werden könnte, vielleicht eher. Er hatte am Morgen spontan entschieden, zu tun, als ginge alles weiter wie bisher. Das Gefühl von Normalität hatte aber nicht mal bis in die Zone seines bisherigen Arbeitsorts gehalten. Außer sich selber musste er zwar keinem beweisen, dass alles ganz normal sei, denn keiner wusste wirklich, wann er wo war und was genau er tat. Aber für ihn selber war es erst mal einfacher gewesen, zu tun, als wäre nichts geschehen, als herrschte gewohnter Alltag. Hatte er gedacht. Nun fragte er sich aber, im tristen Kaffeehaus sitzend, ob dies denn überhaupt eine Strategie sei, um mit der Situation umzugehen. Oder gar fertig zu werden. Nach außen hin, ja, vielleicht. Aber schon machten sich Zweifel breit, ob es auf Dauer funktionieren könnte, sich selber etwas vorzumachen. Also doch besser einen Plan B herzaubern. Erst kürzlich hatte er irgendwo gelesen:

If plan A didn’t work, the alphabet has 25 more letters.

Er erstellte eine Tabelle mit Namen von Leuten, die er wegen der veränderten Situation benachrichtigen musste. Dann fragte er sich, was wohl wäre, wenn keiner außer der Vertriebsabteilung und der Personaldienste der Firma seine Entlassung mitbekommen würde.

Ex-Firma, schon vergessen, fauchte die Stimme.

Auf Anhieb sah es aus, als wäre es tatsächlich das Einfachste, niemandem zu kommunizieren, was Sache war. Er langte nach der Kaffeetasse. Der Kaffee war kalt. Schon der zweite Kaffee heute, der kalt war, bevor er ihn getrunken hatte. Bachtel beschloss, dass er nun definitiv ungenießbar sei, der Kaffee, und bestellte ein Kännchen grünen Tee. Beim Tee, der wesentlich bekömmlicher schmeckte als der Kaffee, überlegte er, welche offiziellen Stellen zu benachrichtigen waren in seinem Fall. Als er realisierte, dass er nun offenbar ein Fall war, kratzte er sich irritiert am Kopf. Dann schrieb er AHV, Steuerbehörde und Krankenversicherung (Unfallschutz) auf seine Liste. Später setzte er die Putzfrau hinzu. Noch später das Jobcenter. Bis jetzt, also bis gestern, war er überzeugt gewesen, Jobcenter seien für Leute, die nicht arbeiten wollten, also niemals für jemanden wie ihn. Er hatte keine Ahnung, ob und bis wann er sich dort melden musste. Aber die Information konnte man bestimmt im Internet finden. Wegen des Geldes musste er dort auch nicht hin. Wenigstens nicht sofort. Er hatte ein paar Anlagen, ein gut gefülltes Girokonto, einen teuren Wagen, den er jederzeit gegen ein billigeres Modell eintauschen konnte. Zudem musste die Firma gemäß Arbeitsvertrag eine sogenanntegratuity,eine finanzielle Abfindung, leisten. Bachtel kam es nun vor wie die Abwrackprämie, die man mal erhalten hatte, wenn man Autos mit veralteter Motorentechnik abgestoßen hatte. Er loggte sich bei seiner Bank ein und notierte ein paar Zahlen auf dem Kassazettel der Kaffeebestellung. Nachdem er sich Tee nachgeschenkt und dabei den Kassenzettel ertränkt hatte, öffnete er eine neue Datei. ‚ZUKUNFT’schrieb er oben auf die leere Seite. Dann schrieb er eine ganze Weile nichts. Er hatte keine Ahnung, wie eine Zukunft ohne Arbeit, ohne Anstellung und ohne gesichertes Einkommen aussehen könnte. Vielleicht musste er mal raus aus dem unsympathischen Café und an die frische Luft. Es würden zwar wohl eher frische Abgase sein im immer noch nicht verkehrsfreien Zentrum und bei dem kompakten Hochnebeldeckel. Er selber trug dazu bei, das war ihm klar. Er bezahlte, ging zum Wagen und fuhr aus der Stadt. Der Nase nach. Ihm kam es allerdings so vor, als würde die Kühlerhaube des Audi den Weg vorgeben. Schließlich fand er sich beim Tierpark wieder. Vom Parkplatz gingen Wanderwege ab. Er kannte sich nicht aus mit den Flurnamen. Eine Karte war nirgendwo zu sehen. Also marschierte er einfach mal drauflos. Das Natursträßchen ging in einen Feldweg über. Sein Business-Outfit war alles andere als geeignet für die Wanderung querfeldein. Die Straßenschuhe mit den Ledersohlen gaben ihm etwa so viel Halt auf dem feuchten Gras wie sein Glaube an Gott. Aber das war eine andere Geschichte. Der Marsch durch die unbekannte Landschaft tat gut, regte das Denken an. Aber anstatt an die Zukunft zu denken, wie er sich vorgenommen hatte, analysierte er sein bisheriges Leben. Kognitive Dissonanz und innere Zerrissenheit, diagnostizierte er seine aktuelle Urteilsfähigkeit jenseits jeglicher Objektivität. Unabhängigkeit, sowohl im Beruf wie in Beziehungen, war ihm stets wichtig gewesen. Andererseits hatte er aber doch ab und zu auch das Gefühl, im Privatleben würden alle anderen an ihm vorbeiziehen. Manchmal, und wie es schien in kürzer werdenden Abständen, wünschte er sich schon auch eine Frau an seiner Seite. Vielleicht sogar eine Familie, wenn es sein musste. Wenn er gefragt wurde, wie sein Leben sei, war in erster Linie das Privatleben gemeint. Leute, die ihn weniger gut kannten, fragten direkt nach der Familie. Sein Fokus war jedoch bisher stets auf Beruf und Karriere gerichtet gewesen. Der Erfolg hatte ihn, wenn auch nicht glücklich, so doch einigermaßen zufrieden und unabhängig gemacht. Von außen betrachtet, sah sein Leben bestimmt großartig aus, dachte er mit einer Mischung aus Genugtuung und Bitterkeit.

Hat vielleicht so ausgesehen bis gestern, korrigierte die Stimme.

Und wie sieht mein Leben denn eigentlich von innen betrachtet aus, fragte er sich halblaut auf seiner Feld-, Wald- und Wiesenwanderung. Vielleicht habe ich zu sehr darauf geachtet, was andere von mir denken, von mir erwarten und zu wenig darauf, was ich selber will. Möglicherweise will ich mich auch gar nicht damit auseinandersetzen, was ich wirklich will, murmelte er im Gehen.

Das wird nun richtig blöd aussehen, die Lücke im Lebenslauf, bis du wieder eine Anstellung hast, stellte die Stimme fest.

Der Schwung des frohen Wandersmanns war verpufft. Bachtel setzte sich auf eine morsche Bank. Er wollte nachdenken. Aber sein Denken hatte sich verselbstständigt. Es schien unmöglich, einen vernünftigen Plan zu fassen. Als er sich fragte, ob Pläne denn stets vernünftig zu sein hätten, brachte er die vielen Dinge, die gleichzeitig durch seinen Kopf schwirrten, nicht mehr auf die Reihe. Eine existenziell neue Erfahrung für den sonst stets strukturiert denkenden Macher Thomas Bachtel. Aber er erstarrte in Verwirrung, anstatt dass er sich der Auseinandersetzung zwischen Struktur und Chaos hätte stellen können.

Zurück im Wagen wusste er definitiv nicht weiter. Er wusste nicht mal mehr, wie er von der Ruhebank zum Auto gekommen war, hatte keine Ahnung, worüber er zuletzt nachgedacht hatte.

Hirn einschalten, knurrte er halblaut vor sich hin, sei ein vernünftiger Mensch, Bachtel.

Genau. Vernünftig war das Stichwort. Ob Pläne denn stets vernünftig zu sein hätten, hatte er sich vor vielleicht einer halben Stunde gefragt. Aber wieso sollten Menschen denn stets vernünftig sein? Wozu muss man à tout prix vernünftig handeln, fragte er sich, nun in genereller Form. Die Antwort war klar wie Kartoffelsuppe. Für seinen Vater, den Ausbund an Vernunft, wäre schon nur die Frage absurd. Natürlich gab es Menschen, von denen man sagte, sie seien unvernünftig oder sie würden sich unvernünftig verhalten. Aber das waren die Ausnahmen, die Außenseiter, zu welchen sich Bachtel bis jetzt nie gezählt hatte. Im Gegenteil hatte er sich stets bemüht, vernunftbetonte Entscheide zu treffen und umzusetzen.

Wirklich stets?, fragte die Stimme.

Irgendwie kam es ihm vor, als gäbe es nun so etwas wie eine Zeitrechnung vor und nach der Entlassung, sein persönliches industrielles und nachindustrielles Zeitalter sozusagen. Nichts schien mehr zu sein, wie es bis gestern gewesen war. Und nichts mehr würde sein, wie es mal angedacht war.

Stimmt überhaupt nicht, vernünftig betrachtet, mahnte die Stimme zu Sachlichkeit. Die Erde dreht sich weiter. Es kann also nicht der Weltuntergang sein, was dir widerfahren ist.

Aber was war es denn dann? Spöttelnd hatte er einem Kollegen vor ein paar Wochen gesagt, er gehe wohl gerade durch die berühmte Midlife-Crisis, als der gesagt hatte, dass ihm nichts mehr Spaß mache im Leben. Nun war er, Bachtel, offenbar auch so weit. Noch gestern – und schon war er wieder in der Vergangenheit – hatte er Kunden intelligente Energielösungen verkauft, hatte Entscheidungsträger zu überzeugen versucht, mit den Produkten, die er an den Mann, die Frau, die Firmen zu bringen hatte, würden Effizienz und Effektivität gesteigert. Damit wurden natürlich auch Arbeitskräfte eingespart. Letzteres hatte er zwar nie ausdrücklich gesagt, aber ihm war bereits vor seiner eigenen Entlassung klar gewesen, dass Arbeitskräfte Menschen waren und nicht nur Kostenfaktoren. Bei den Produkten seines letzten Arbeitgebers ging es vor allem darum, dass die Kunden damit Kosten sparen konnten. Und nun erlebte Bachtel gerade am eigenen Leibe, wie Rationalisierung funktionierte, wie es war, wenn man eingespart wurde, entsorgt. Opfer der Globalisierung, nannte man den, der auf der Strecke blieb, weil der Wettbewerb nun weltweit stattfand und brutal war. Bachtel hatte die Verkaufsargumente, die Floskeln, wie es ihm heute schon vorkam, noch im Ohr. Selbstverständlich, denn bis gestern waren sie die Munition gewesen, mit der die Kunden sich breitschlagen ließen.

Wenn du etwas verkaufen willst, musst du selber daran glauben, hatte der Marketingtrainer doziert. Aber hatte er, Bachtel, die Sermone denn auch wirklich geglaubt, die er gebetsmühleartig geleiert hatte? Er konnte es sich schon kaum mehr vorstellen. So schnell ging Vergessen. Dabei hatte er den Psalm natürlich nach wie vor intus:

Intelligente Sensoren sehen Probleme voraus, ungeplante Stillstandzeiten werden reduziert, weil keine menschengemachten Störungen mehr auftreten. Der Energieverbrauch der Produktion sinkt dank datengestützter Lösungen beträchtlich. Prozesse werden mit unseren Lösungen ein Qualitäts- und Produktivitätsniveau erreichen, von dem Sie bisher nur träumen konnten.

Um besonders störrische Kunden zu knacken, wie der Trainer geblafft hatte, war den Verkäufern die Einwand-Behandlungstechnik beigebracht worden. Das hatte sich zum Beispiel wie folgt angehört:

Die auf die Wirtschaft zukommenden Veränderungen lassen sich mit nichts vergleichen. Das gilt für die Qualität der hergestellten Produkte, für die angebotenen Dienstleistungen, für den gelieferten Mehrwert, für den angestrebten Wettbewerbsvorteil sowie für künftige Kooperationsmodelle.

Nicht zu reden von den Heerscharen entlassener Mitarbeiter, die dank integrativer Lösungen nicht mehr gebraucht werden, ergänzte Bachtel seine ihn nun selber betreffenden Verkaufsleitsätze bitter.

Nach einem Tag ziellosen Umherfahrens tigerte Bachtel zu Hause durch die Wohnung.

Soll mir mal einer sagen, wo ich denn sonst hinsollte, brummte er, als er im Italy Classics-Sessel vor sich hinlümmelte. Er hatte sich ein Fernseh-Plättchen gerichtet, dunkles Brot, Salami, Käse, Radieschen. Irgendetwas Grünes musste man ja zu sich nehmen, auch wenn das Grünzeug hier zufälligerweise rot war. Das Bier trank er direkt aus der Flasche. Petra, die er damit gestört hätte, war ja nicht da. Im Fernsehen lief die Tagesschau. Ein ziemlich wild illustrierter Schwerpunktbericht:

US-Präsident Donald Trump unterzeichnet Dekrete zur Lockerung der Umweltvorschriften. Trump will Regulierungen für Kohlekraftwerke rückgängig machen, Kohle erneut fördern, die Nutzung fossiler Ressourcen innerhalb der USA vereinfachen. Die Folgen dieser Dekrete sind kaum abzuschätzen. Aber bestehende Gesetze lassen sich nicht einfach so kippen, Klagen dürften das Vorhaben verzögern, und die Republikaner könnten ihre Mehrheit im Kongress verlieren. Trotzdem scheinen die Klimaziele von Paris in Gefahr.

Es folgten Bilder, Tabellen, Videos. Dann führte der Sprecher weiter aus.

Mit dem Klimaabkommen von Paris ist klar geworden, dass alle ihren Beitrag leisten müssen. Wenn die USA ihre CO2-Reduktionen nicht einhalten, könnten andere Staaten dies ebenso tun. Damit wäre das Zwei-Grad-Klimaziel definitiv außer Reichweite. Die optimistische Sicht ist, dass die Dekrete wenig ändern, weil Kohle kaum mehr rentabel ist. Trump hatte mehrfach behauptet, der menschengemachte Klimawandel sei eine Lüge. Der Leiter der US Umweltbehörde soll kürzlich gesagt haben, er sei nicht der Meinung, dass Kohlendioxyd hauptverantwortlich sei für die globale Erwärmung. So werden wissenschaftliche Tatsachen verneint und alternative Fakten geschaffen. Wer recht hat, ist irrelevant.

Die Themen überschlugen sich, folgten aufeinander im Minutentakt, obwohl sie nichts miteinander zu tun hatten.

Bachtel war nicht mehr bei der Sache. Wer recht hat, ist irrelevant, grummelte er vor sich hin, nahm einen Schluck Bier. Was sollte denn der Scheiß mit den Fake News, alternativen Fakten oder wie immer die Etikette lautete. Wenn nicht mal mehr wissenschaftlich erhärtete Ergebnisse als Tatsache gelten, was kann man denn dann eigentlich noch glauben, regte Bachtel sich auf. Zur Strafe für das doofe Fernsehprogramm, wie er zeterte, zappte er auf einen Radiosender mit Jazz. Obwohl das Fernsehen – die Medien ganz allgemein – natürlich lediglich die Überbringer der Nachrichten mit Brechreiz waren, das war ihm schon klar. Aber der Abend, so beschloss Bachtel zerknirscht, war verdorben. Seit gestern war so ziemlich alles verdorben, was man sich vorstellen konnte. Er hatte den Impuls, Petra anzurufen. Aber bevor er auf dem Smartphone ihren Namen aufrief, überlegte er, was er ihr denn sagen sollte, nachdem er sich doch vorgenommen hatte, niemandem etwas von seiner Entlassung zu sagen. Petra stand zuoberst auf der imaginären Liste von Leuten, die geradenichtbenachrichtigt werden sollten. Wenigstens nicht sogleich.

Später stand er unschlüssig vor dem Regal mit der bescheidenen Auswahl an Büchern, die er alle bereits gelesen hatte, zum Teil mehrmals schon. Aber nichts von dem, was da aufgereiht war, machte ihn an. Also scrollte er auf dem Tablet durch Listen der E-Books, Thriller, Krimis, Novellen, Romane. Schließlich blieb er hängen am TitelMaskenzwang. Erzählungen des längst verstorbenen Schweizer Psychiaters Walter Vogt. Die rudimentäre Buchbeschreibung lautete:

Der Autor lotet spielerisch leicht seelische Abgründe des Menschen aus.

Bachtel wurde neugierig. Das Werk war 1985 erschienen und natürlich nicht als E-Book aufgelegt. Im Internet fand Bachtel immerhin einen Auszug:

Die Frau ist eine Phantasie des Mannes/Der Mann eine Maske der Frau/Der Mann ist eine Phantasie der Frau/Die Frau eine Maske des Mannes

Die vor langer Zeit zu Papier gebrachten Einsichten Vogts reichten aus, um für Bachtel aus dem verdorbenen Abend eine Nacht des Grübelns zu machen. Erst versuchte er, seine Gedanken im PC festzuhalten, ließ es aber bald bleiben. Grübeln kommt von Graben, kam ihm in den Sinn. Aber wonach grub er denn nun eigentlich? Nach der Wahrheit? Dem Stein der Weisen? Lange nach Mitternacht briet er sich ein Steak aus dem Frigo. Dafür hatte er wieder mal das Kochfeld in seiner Küche anwerfen müssen.

3 Samstag

Um 05.30 Uhr spielte der Radiowecker in Bachtels Schlafzimmer Musik.Bad Moon Rising, ein fröhlich dahergespielter Titel der Creedence Clearwater Revival Band aus den 60er Jahren groovte durch den Raum. Bachtel lauschte einen Moment lang dem Text, der überhaupt nicht zu der leichtfüßig gespielten Melodie passen wollte. John Fogerty warnte in dem Song vor allen möglichen Bedrohungen. Bachtel schälte sich aus den Decken. Er konnte sich an keinen Traum erinnern, hatte aber auch nur ein paar wenige Stunden geschlafen. Nach dem CCR-Song war Verkehrsfunk, minutenlang Staumeldungen, morgendlicher Dauerzustand auf den Pendlerachsen. Staus in den Agglomerationen wurden nicht mal mehr gemeldet. Automatisch absolvierte Bachtel seine Morgenrituale, stets dieselben Verrichtungen in stets derselben Reihenfolge. Dann saß er, wie jeden Morgen, vor den aufgeweichten Frühstücksflocken. Heute gelang es ihm sogar, zu essen, anstatt zu denken. Oder beides gleichzeitig. Der erste Kaffee des Tages schmeckte köstlich.

Die Fahrt zur Arbeit verlief ungewohnt ruhig, es gab auffallend wenig Verkehr. Ob er sich wohl um eine Stunde vertan hatte, zu früh dran war? Die Digitalanzeige am Display auf dem Armaturenbrett zeigte 06.44 Uhr, die gewohnte Zeit für den Arbeitsweg. Nur war er heute beträchtlich weiter vorangekommen als sonst um die Zeit, weil nicht wie üblich stockender Verkehr seine Fahrt behinderte. Neue Verkehrsmeldung, nun aus dem Autoradio:

Heute, am Samstag, betreffen die Verkehrsbehinderungen vor allem den Freizeitverkehr,

verkündete die Frauenstimme in Bühnendeutsch. Samstag! Bachtel blies die Backen auf. Jetzt weiß ich nicht mal mehr, welchen Wochentag wir haben! Und der blöde Wecker funktioniert auch nicht, wie er sollte. Er hatte die Software doch vor dem Einschlafen noch rasch neu programmiert. Kurz vor dem Ziel seiner Fahrt zur Arbeit, die seit zwei Tagen eine Reise ins Ungewisse war, vollführte er im letzten Kreisverkehr die 360-Grad-Wende, wusste aber noch weniger als gestern schon, wo er nun hinfahren sollte. Vielleicht erst mal zu Hause die Kleidung wechseln,Freizeitlook tat’s auch, wenn man nicht zur Arbeit ging. Er hielt bei der Bäckerei, kaufte Croissants. Vom Kneipenkaffee hatte er die Schnauze voll. Am Kiosk erstand er eine dicke Zeitung. Und Zigaretten. Er hatte das Rauchen zwar vor Jahren aufgegeben, aber irgendetwas musste man ja nun tun, wenn man nicht mehr gebraucht wurde. Er kam sich völlig fremdbestimmt vor. Fremdbestimmt hatte er sich zwar sein Leben lang schon gefühlt. Mit wenigen Ausnahmen. Nun funktionierte aber auf der imaginären Fernsteuerung derer, die ihn durchs Leben zappten, der wichtigste Kanal nicht mehr: Die Arbeit war weg. Fremde Mächte hinderten ihn daran, seiner gewohnten Tätigkeit nachzugehen. Also eine noch weitergehende, schier absolute Fremdbestimmung. Sein Leben kam ihm vor wie tiefgefroren.

Zu Hause koppelte er das Smartphone an das Ladegerät, welches in der Steckdose über der Küchenabdeckung steckte. Bachtel wusste, dass man den Adapter nach Gebrauch vom Netz nehmen sollte, um Strom zu sparen. Aber ihn dort stecken zu lassen, war eben bequem, weil man das Teil dann niemals suchen musste. Er ging auf den Balkon, schüttelte eine Zigarette aus der Packung, entflammte ein Streichholz, steckte die Zigarette an. Ging alles wie von selbst. Rauchen ist wie Radfahren, dachte er, man verlernt es nie. Die Zigarette schmeckte nicht.

Gescheiter hätte ich Zigarren gekauft, jetzt, wo ich mal Zeit hätte, sie zu genießen, tadelte Bachtel sich selber und blies grauen Dunst in die kühle Luft.

Nachdem er frischen Kaffee aus der Maschine hatte laufen lassen, legte er die Croissants in das Brotkörbchen und breitete die Zeitung auf dem Küchentisch aus. Ungewohnt, das Format. Seit Jahren hatte er sich Zeitungen ausschließlich im Internet angesehen. Er blätterte, überflog Überschriften. Für immer jung, stand da, ein Artikel über das Bemühen von Wissenschaftlern, das Altern der Menschen zu stoppen. Überspringen. Wohin sich Frankreich entwickelt. Weiterblättern. Mehrere Seiten über Türken in der EU. Interessierte ihn nicht. Es folgten Analysen über Terroranschläge mit Alltagswerkzeugen, Küchenmessern, Äxten, Hämmern. Oder LKW. Die jeweilige TV-Aktualität reichte Bachtel vollauf, da brauchte er nicht auch noch Analysen auf Papier. Das Blatt enthielt etliche Sportseiten. Sport war gleich Fußball, konnte man meinen, wenn man das Ausmaß der Reportagen betrachtete. Bachtel war einer der wenigen Männer, die sich nicht für Fußball interessierten. Umblättern. Im Feuilleton ein Bericht zum Wettbewerb zwischen Eltern und Kinderlosen um das richtige Lebensmodell. Hätte er sich wohl jetzt reinziehen sollen, den Artikel, dachte Bachtel, er fände da eventuell Argumente für die Dauerdiskussion mit Petra. Aber was, wenn die Argumente für Petras Meinung sprachen? Umblättern. Bachtel schmunzelte über Comics, löste Sudokus. Es gab einen ganzen Bund mit Stellenanzeigen. Deswegen hatte er die Zeitung zwar nicht gekauft, aber es konnte ja nicht schaden, sich mal einen Überblick über den aktuellen Arbeitsmarkt zu verschaffen. Die Inserate waren seitenweise gegliedert in die Schwerpunkte Management, Bildung, Verwaltung, Kommunikation, Kultur, Soziales sowie Lehre & Forschung. Letzteres machte den weitaus größten Abschnitt aus. Professuren wurden da angeboten, wissenschaftliche Mitarbeiter gesucht. Wo aber gehörte er denn hin als Betriebswirt? Er fand keine einzige Anzeige, die seinem Profil entsprochen hätte. Die Formulierungen glichen sich, Anforderungen wiederholten sich. Erfahrung in Projektmanagement, Teamfähigkeit, Kommunikationskompetenz, Englisch in Wort und Schrift. Aber es war nichts dabei, was ihn angesprochen hätte. Oder wofür er qualifiziert gewesen wäre. Falsche Zeitung, tröstete er sich, nahm aber die Tatsache zur Kenntnis, dass fast ausschließlich Dienstleister gesucht wurden. Er war bislang an Wertschöpfungsketten beteiligt gewesen, hatte technische Lösungen verkauft, die bereits produziert waren, wenn sie den Kunden angeboten wurden. Bei Dienstleistungen war der Vorgang meist umgekehrt. In dem ihm vorliegenden Stellenanzeiger suchten zudem vorwiegend öffentlich-rechtliche Organisationen und Institutionen Personal. Und da hätte Bachtel sowieso keine Chance, sollte er einen dieser Jobs anstreben. Er bezeichnete sich zwar als Master in Economics, hatte den Abschluss aber verpasst, geschmissen, damals in Berkeley, an der University of California, hatte die entscheidenden Prüfungen verschlafen, versoffen, verhurt. Damals, das war vor bald zwanzig Jahren gewesen, noch vor dem Platzen der sogenannten Dotcom-Blase und lange vor der weltweiten Banken- und Wirtschaftskrise. Und da war es noch ohne Weiteres möglich gewesen, auf Basis mündlicher Vereinbarungen eine Arbeit zu finden. Zumindest in den USA. Jobs mit Anforderungen, notabene, als hätte man den Abschluss geschafft und nicht nur die Kenntnisse aus dem Studium. Ausgezeichnete Arbeitszeugnisse und Referenzen aus den ersten Anstellungen hatten es Bachtel erlaubt, ohne attestierten Master’s Degree auf dem entsprechenden Niveau Karriere zu machen. Irgendwann hatte keiner mehr nach Bildungsabschlüssen gefragt. Man hatte sich vor allem für den Erfolgsausweis aus der Berufspraxis interessiert. Bachtel war gesegnet mit einem überdurchschnittlich guten Gedächtnis, konnte Wissen zum richtigen Zeitpunkt blitzartig abrufen, etwa Namen von Leuten, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte. Oder lediglich auf Bildern. Er hatte stets alle notwendigen Daten und Informationen, die es brauchte, im Kopf, benutzte kaum je Papier oder den PC in Sitzungen. Ein unbezahlbares Plus im täglichen Umgang mit Kunden. Dies hatte zu seinem beruflichen Erfolg beigetragen und war entscheidend gewesen in Bewerbungsinterviews. Aber die Zeiten hatten sich geändert, das war ihm klar. Heute wurde nur noch eingeladen, wer die passenden Papiere beibringen konnte. Und in seinen aktuellen Netzwerken würde früher oder später jeder, der ihn hätte vermitteln können, mitbekommen haben, dass er beim letzten Arbeitgeber unfreiwillig ausgeschieden war. So war das. Dies wenigstens glaubte Bachtel an Tag zwei seiner Arbeitslosigkeit. Verärgert packte er die Zeitung in die Papiersammlung. Ihm war klar, dass sein Ärger im Kraftakt an der Wochenzeitung falsch adressiert war. Aber dieses Wissen machte es auch nicht einfacher, damit umzugehen. Ein Teil des Zorns richtete sich gegen ihn selber, betraf seine notorische Naivität. Aber auch diese Einsicht brachte ihn keinen Schritt weiter auf dem Weg in eine Zukunft, von der er keine Ahnung hatte, wie sie aussehen könnte oder wo er mit Suchen beginnen müsste, um sie zu finden.

Erneut setzte er sich an den Küchentisch. Die Croissants waren unberührt, der Kaffee schon wieder kalt. Er brauchte eine Strategie. Aber Strategien ohne Ziele führten ins Leere, da hatte er gut aufgepasst im betreffenden Seminar. Also brauchte er erst mal ein Ziel. Er stützte den Kopf in die Hände, versuchte nachzudenken.

Warum nur muss gerade mir eine solche Scheiße passieren, fragte er mit wehleidiger Stimme die Kücheneinrichtung.

Shit happens, imitierte die Stimme aus seinem Innern seine amerikanischen Freunde.

Aber doch nicht mir!, nuschelte er, weil er beim Aufstützen mit den Händen die Wangen zusammendrückte. Bisher hatte der Spruch von dem Scheiß, der halt eben passiert, stets anderen gegolten, hatten die Missgeschicke andere betroffen. Oder es hatte sich um Bagatellen gehandelt. Aber eine Entlassung ohne irgendwelche Perspektive war keine Bagatelle. Die Frage nach dem Warum hatte ihn schon wieder eingeholt, blockierte ihn hoffnungslos in der Vergangenheit. An irgendeine Strategie des Vorgehens war so natürlich nicht zu denken. Man muss doch erst mal akzeptieren, was ist, bevor man etwas an der Situation ändern kann, geisterte einer von Petras weisen Sprüchen durch seinen Kopf.