Back to India - with love - Marie-Thérèse Schins - E-Book

Back to India - with love E-Book

Marie-Thérèse Schins

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Beschreibung

Sommerferien: Doros Vater ist wegen Reportagen für längere Zeit in Indonesien unterwegs, während sich die 17jährige Doro zu Hause in Hamburg langweilt. Plötzlich weiß sie genau, wo sie hin möchte: Nach Indien! Auf eigene Faust organisiert sie die Reise und lernt Sergej aus Moskau kennen, der ihr mehr bedeutet, als sie zugeben mag. Was unterwegs alles geschieht, hat sich Doro in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Ab etwa 14 Jahre www.marie-therese-schins.de

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Biographie

Marie-Thérèse Schins, geboren in den Niederlanden, war zunächst Kinderbibliothekarin. Heute lebt sie als freue Autorin und Malerin in Hamburg mit Lehrauftrag für das Fach Sprache und Kommunikation, Kinder- und Jugendliteratur. Seit fünfundzwanzig Jahren reist sie durch die Welt und hält überall Workshops für Kinder und Jugendliche, mit den Schwerpunkten Indien und Afrika. In Indien baute sie 15 Schulen/Bibliotheken durch finanzielle Unterstützung aus Hamburg und Hilfe vor Ort von indischen Frauen und Männern.

In der Literaturliste eigene Veröffentlichungen zu Indien.

Kontakt Lesungen und Workshops und nähere Angaben:

www.marie-therese-schins.de

Vermittlung von Lesungen

Leseagentur Freies Lektorat Autorencoaching

Herthastr. 12

13189 Berlin

Heike Brillmann-Ede

Tel (030) 91744899

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

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Kapitel

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Kapitel

Kapitel

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Epilog

1.

Als ich die Wohnungstür öffne, weiß ich sofort, dass Albina da war. Ich rieche es. Sämtliche Putzmittelgerüche aus dem Drogeriemarkt um die Ecke wabern mir entgegen. Sie liebt es, für jede Ecke in der Wohnung einen anderen Duft, ein anderes Reinigungswunderwerk zu benutzen. Wenn ich im Flur den Putzschrank öffne, glaube ich, mitten in der Verkaufsabteilung für Scheuer- und Waschmittel zu stehen.

Paps stören die chemischen Duftwolken nicht. Er reißt sämtliche Fenster und die Balkontür auf und nach ein paar Minuten sind wir wieder in unserem eigenen Aroma, wie er es immer nennt.

Mich stört aber heute der Mief aus dem Supermarkt. Meine Laune ist ohnehin im Keller. Ich werfe das Schlüsselbund auf den Holzteller, der im Flur auf einem alten Schränkchen aus der Erbschaft von Oma-Toskana steht. Ein grässlicher Holzkasten auf gedrechselten Beinen. Aber er gehörte Paps Mutter und soll dort stehen bleiben. Wenn ich durch den Flur gehe, guckt mich dieses merkwürdige Möbelstück jedes Mal an. Oma-Toskana ist vor einigen Jahren in Italien gestorben. In den letzten Jahren ihres Lebens wohnte sie ‚wegen der Knochen’ und des milden Klimas dort mit ihrer Freundin Els. Oma-Toskana hatte schlimme Rheuma-Schmerzen in Hamburg. Deshalb wagte sie im hohen Alter noch einen Umzug in die Toskana. Dort ging es ihr dann besser, behauptete sie. Sie war genau das Gegenteil von meinem liebevollen, knuddeligen Vater: Wenn sie mich umarmte, glaubte ich einen angekleideten, dünn gepolsterten Besenstiel im Arm zu halten. Mit herzlichen Gefühlsausbrüchen hatte sie es nicht so. Sie behielt ihre Gefühle ganz für sich allein und fiel niemals aus der Rolle. Ach, Oma-Toskana. Jetzt stehst du hier bei uns im Flur und bist für mich immer noch ein stocksteifes Möbelstück.

Ich reiße die Balkonstür mit soviel Schwung auf, dass im Regal neben der Tür einige Bücher auf den Boden fliegen. Ist mir egal, ich lasse sie liegen. In Paps Arbeitszimmer, in meinem Zimmer und im Wohnzimmer reiße ich ebenfalls alles auf, was es nur zu öffnen gibt. Papierfetzen fliegen von Paps Schreibtisch durch die Gegend. Das wird ihm nicht gefallen. Also bücke ich mich und sammle alles wieder ein. Da fällt eine von mir eine ausgedruckte Seite in die Hand, die er vorige Woche geschickt hatte. Paps ist irgendwo in Asien unterwegs. Das hier war seine letzte Nachricht aus Bali.

‚Meine liebe Dorotochter,

und so ging die Odyssee weiter:

Ich wartete und wartete und wartete auf meine Koffer. Weniger erleichtert als überrascht lagen sie dann auf einmal zerknautscht auf dem Band. Ich war locker in den Knien geblieben. Hatte ich doch für den Ernstfall das Handgepäck ganz anders gepackt, mit Zahnbürste, frische Unterwäsche etc.

Rein statistisch war ich davon ausgegangen, dass auch ich mal fällig sein muss für diese spezielle Überraschung.’

Ich mache eine kleine Pause beim Lesen und sehe aus dem Fenster. Da hockt die gesprenkelte Taube, die ständig versucht, unserer Haustaube zu werden und sich mit ihrem krummen Fuß ausgerechnet bei uns auf der Fensterbank niedergelassen hat. Sie versucht es immer wieder. Tauben kann ich nicht ausstehen und ihr eintöniges Gurren macht mich aggressiv. Ich habe leider kein Mitleid mit dieser Taube mit ihrem krummen rechten Fuß. „Weg da!“ schreie ich und wedele mit der letzten Nachricht von meinem Vater. Albina schimpft immer über die Taubenkacke auf der Fensterbank draußen. Kann ich verstehen.

Irgendetwas zwingt mich, weiter zu lesen. Ich weiß noch nicht warum. Eigentlich kenne ich die Zeilen fast auswendig.

‚Es folgte aber eine andere Überraschung. Ich hatte in Deutschland den Transfer vom Flughafen hier zu dem 3,5 Std. entfernten Hotel angefragt.

Statt mir den Preis zu nennen, hatte das Reisebüro den Transfer gleich gebucht. Ich wollte keinen Zwergenaufstand machen, akzeptierte und zahlte die Fahrt. Da stand ich dann. Niemand, der auf mich wartete. Ich lief auf und ab und prüfte die Schilder, ich ließ meinen Fahrer dauernd ausrufen, ich rief pausenlos im Hotel an (niemand hob ab, um es kurz zu machen, mein Reisebüro hatte mir die falsche Nummer gegeben). Langst aber schlich ein Taxifahrer um mich rum und wartete auf meine Kapitulation.... Ich fragte zwei Dinge: Können Sie auch langsam fahren? (Ich dachte an unsere Kamikaze-Fahrten in Indien, weißt Du noch, Doro?) und: Wissen Sie auch bestimmt, wo das Hotel sich befindet? Klar, kein Problem. Die Fahrt gliederte sich in drei Abschnitte: In der ersten diskutierten wir darüber, was „schnell“ ist, wir hatten eine denkbar andere Vorstellung davon. Vielleicht hatte der Fahrer auch recht. Es ging gar nicht um das Tempo, es ging um diese Millimeterarbeit, diese Tuchfühlung mit den anderen Verkehrsteilnehmern, besonders mit dem Gegenverkehr.

Der zweite Abschnitt: Wir kamen in den Bergen an und es ging nichts mehr.

Die gesamte motorisierte balinesische Bevölkerung befand sich auch in den Bergen, auf der einzigen Strasse, die dorthin führt. Wir wissen ja, der Asiat hat es gern kühl und heute ist irgendein Feiertag. Wir standen nur noch, stop and go konnte man es nicht mehr nennen. Ich dachte, der Fahrer muss nun explodieren, der muss kochen, der muss wahnsinnig werden. Aber nix. Ganz Asiat übte er sich in Gelassenheit (üben müssen die ja gar nicht mehr), sagte „sorry“ zu mir und ich verstand nichts. Ich sagte auch „sorry“, weil er mir nun wirklich leid tat, wir bemitleideten uns wechselseitig! Dritter Abschnitt:

Irgendwann lief es dann doch wieder...’

Wieder mache ich eine Lesepause und denke an mein Gemecker, als ich, 12 Jahre alt, mit meinem Vater durch Indien gereist bin.

Ich muss ihn, und nicht den Fahrer - der blieb gelassen -, eigentlich zur Weißglut gebracht haben, auf der Fahrt durch die Backofenhitze der Wüste im Süden von Tamil Nadu. Draußen war es glühend heiß, die Teerdecke auf der Straße war kurz vor dem Siedepunkt. Es gab kaum Schatten. Die Landschaft im Osten ist knochentrocken, kahl und flach und meistens langweilig. Ab und zu ein paar verdorrte Büsche, eine zerfledderte Palme oder eine winzige Hütte. Mein Vater hatte dem Fahrer fünf Dollar extra versprochen, wenn er mit seinem Bleifuß nicht ständig das Gaspedal traktieren und mit dem Hupen aufhören würde. Auf der Rückseite vom Taxi stand in großen Buchstaben: car with aircondition. Das war fett gelogen. Ich glaubte, in einer fahrenden Kochstelle zu sitzen und nervte meinen Vater weiter. Ich sagte:

„Wenn ich jetzt Tiefkühlbrötchen aus dem Fenster halte, sind die in drei Minuten aufgetaut.“ Noch blieb mein Vater ruhig. Aber als ich weiterhin versuchte, ihn fertig zu machen, habe ich irgendwann gemerkt, dass ich aufhören sollte mit dem Gejammer.

Ja, in Indien glaubte ich, dass ich nach unserer Wahnsinnsreise durch Togo und Ghana im Jahr davor mit meinen Erfahrungen, die nicht immer lustig waren, bereits diplomierte Reisende geworden war. Alles andere als das war der Fall!

Ich stelle mich in die Sonne, die in dem Augenblick in Paps Arbeitszimmer scheint und lese weiter:

‚Der Taxifahrer sprang einmal in einem Stau aus dem Auto, die Handbremse war zum Glück angezogen, rannte die Böschung runter (während ich dachte, wenn die Kolonne sich jetzt in Bewegung setzt, gibt es ein Hupkonzert) und kam sichtlich erleichtert irgendwann wieder. Ja, wir Männer haben es da etwas einfacher. Ich berichte demnächst weiter. Dein dich liebhabender Paps.’

Aber mein Vater hat seitdem nichts mehr weiter berichtet. Seit mehr als einer Woche. Eigentlich mache ich mir keine Sorgen um ihn. Er ist ein so erfahrener Journalist. Vielleicht befindet er sich gerade irgendwo im Urwald, wo es keine Möglichkeit gibt, mich über Internet oder Mobile zu erreichen. Ich seufze.

Plötzlich fällt es auch mir wie Schuppen von den Augen.

Ich will auch weg. Ich will nach Indien! Das ist es, was in mir geflackert hat in den letzten Wochen, während ich allein zu Hause war und mein Vater für eine größere Foto- und Textreportage in Asien unterwegs ist. Diese Unsicherheit, was mit mir los sein könnte, machte mir deshalb manchmal schlechte Laune. In Hamburg rumhängen und zu warten, bis Paps wieder nach Hause kommt. Nicht mein Ding. Außerdem: mein Vater kommt vorläufig nicht. Und inzwischen ist es schon fast Mitte August.

Am Liebsten möchte ich auf der Stelle meinen Rucksack packen.

Leider gibt es vorher ganz bestimmt einige Hürden zu überwinden. Paps und auch Oma- und Opa-Amsterdam darf ich in meiner Spontanaktion nicht unterschätzen. Ihren Sohn und meinen allerliebsten Onkel Kees dort erst recht nicht. Aber wenn Doro sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist sie nicht mehr zu bremsen. Ich lege den Bericht aus Bali auf den Schreibtisch. Es geht los.

Nachdenken, organisieren, ab nach Indien!

2.

Ich gehe in mein Zimmer und mache einen Plan.

Wie viel Geld habe ich auf dem Konto?

Was kostet einen Flug nach Trivandrum, Delhi oder Mumbai?

Wie lange möchte ich in Indien bleiben?

Wen möchte ich von der vorigen Reise besuchen?

Was möchte ich dort unbedingt sehen?

Mein altes Gedankenbuch suchen und genau durchlesen

Für wichtige Informationen!

Wie bringe ich es meinen Großeltern in Amsterdam

Onkel Kees, und vor allem meinem Vater bei?

Ist mein Pass noch mindestens 6 Monate gültig? (Weiß ich von anderen Reisen).

Reise-Internet-Vertrag (Date-Roaming?) für Smartphone und iPad.

Da habe mir ja echt etwas ausgedacht, meine Güte. Aber: ich habe mit 17 mein Turbo-Abi in der Tasche, Abi-Ball ist auch abgehakt, und die meisten aus meiner Klasse sind schon längst irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs, ehe sie an die Uni oder in eine andere Ausbildung gehen. Oder sogar ein Sozialjahr machen. Ich möchte den Beruf meines Vaters studieren. Dafür habe ich mich in Hamburg, wo wir wohnen, an der Journalistenschule beworben. Die Messlatte für diese Ausbildung liegt dort extrem hoch. Auf die Antwort warte ich, es wird dauern, hat mein Vater gesagt, und mich in die Arme genommen. Er freute sich, aber war auch skeptisch.

„Bist du dir ganz sicher, dass du diesen Beruf lernen möchtest?

Gerade in Zeiten, in denen immer mehr Verlage aufgekauft und zusammen gelegt werden, Zeitungsredaktionen drastisch verkleinert, Journalisten entlassen und Buchläden dicht machen?

Diese Welt der Buchstaben und Bilder ist ein Haifischbecken, Doro, überlege es dir gut.“

Aber er ist stolz, weil ich hartnäckig bin und hat sich mit mir hingesetzt und alle Papiere, die ich für die Bewerbung brauchte, ausgefüllt und zusammen gestellt. Ich kann warten und wenn es ein ganzes Jahr ist. Irgendwie kriege ich die Zeit überbrückt.

Ich weiß, dass Oma- und Opa-Amsterdam für mich ein Konto angelegt haben. Für besondere Fälle, sagen sie immer.

Jetzt ist der besondere Fall da.

Ich wähle die Nummer meiner Großeltern in Amsterdam und drücke mir die Daumen, dass sie auch da sind.

Tatsächlich, Opa ist dran.

„Hoi, Opa, wie geht’s? Doro hier.“

„Ach, Doro, wie schön, dass du anrufst. Ich sitze hier mit Oma bei einer Tasse Tee und wir haben uns darüber unterhalten, was du in den Ferien machst, nach deinem Abitur.“

Uff, gleich fragt Opa bestimmt, ob ich nach Amsterdam kommen möchte. Würde ich normalerweise auch tun, aber jetzt brennt mir Indien auf den Nägeln.

„Wie wäre es mit einem Abstecher nach Amsterdam? Du kannst entweder bei uns, oder in der Wohnung von Kees wohnen. Der ist gerade mit seinem Orchester in Japan und danach in China unterwegs.“

Meine Güte, alle sind am Ende der Welt, nur ich nicht.

„Opa, ich wollte euch etwas ganz anderes fragen.“

Wie mache ich das jetzt bloß? Ihm sagen, dass ich ihn und Oma sehr, sehr lieb habe, meinen schwulen Lieblingsonkel Kees ebenfalls, aber dringend Geld brauche und allein nach Indien will?“

„Na, dann lass hören, Doro. Bin gespannt.“

So, nun tief Luft holen, Gedanken sortieren, und ganz langsam, Doro.

„Also“, fange ich an, „also, ich würde euch gern besuchen…“

„Wunderbar Doro, wann denn?“

Das geht eindeutig in die falsche Richtung. Nun spreche endlich Klartext mit Opa, sonst wird das nichts, Doro.

„Opa, ich möchte nach Indien.“

Es ist still auf der anderen Seite der Leitung.

„Bist du noch da, Opa?“

Nach einer Weile, ich fange an mir schon Sorgen zu machen, ob es Opa gerade schlecht geht und er gar nicht mehr antworten kann, da sagt er ziemlich laut:

„Doro, bist du dir auch ganz sicher? In der heutigen Zeit, wo es doch so viele schlimme Berichte über Indien in den Medien gibt über böse Männer und unschuldige Mädchen und Frauen in Indien…“

„Weiß ich doch alles Opa.“

Mein Vater und ich sind immer wieder entsetzt über das, was wir über Kinder- und Frauenhandel, Vergewaltigungen und Tötungen von Kindern und Frauen in Indien lesen. Wir haben häufig darüber gesprochen, und mein Vater bleibt zum Glück objektiv.

Er war ziemlich oft in Indien. Es ist ein Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern, mit unzähligen Kulturen und Sprachen, mit Unterdrückung der Frauen in vielerlei Hinsicht, mit einem rücksichtslosen Kastensystem. Aber er würde sich niemals ein Urteil darüber erlauben. Er berichtet sachlich und konkret über das, was er sieht und hört. Er möchte, dass die Menschen, die seine Reportagen lesen, sich ihr eigenes Urteil bilden.

„Doro, bist du noch da? Ich gebe dir mal Oma.“

„Dorokind, was höre ich da von Opa. Du willst nach Indien?“

„Ja, Oma.“

„Allein?“ Ich sehe Oma vor mir. Ihr liebenswertes Gesicht mit den hellblauen Augen, eingerahmt von vielen schneeweißen Löckchen, die sie ständig streichholzkurz abschneiden lässt.

„Ja, Oma. Allein. Es ist mein allergrößter Wunsch.“

Oma kennt mich sehr genau. Sie ist die Mutter von meiner Mama, die bei meiner Geburt in Amsterdam gestorben ist.

Meine Mutter wollte, dass ich dort geboren werde, damit ich einen niederländischen Pass bekomme. O je, da fällt mir ein, dass ich eventuell für die Verlängerung von meinem Pass nach Berlin muss. In Hamburg gibt es kein niederländisches Konsulat mehr.

Geschlossen. Gut, dann vorher nach Berlin. Aber wer weiß, habe ich Glück und brauche dort nicht hin.

„Oma, Paps ist nicht da. Ich wollte erst mit euch reden, ehe ich konkrete Pläne mache.“

Dann spreche ich lange mit meiner Oma, und sie ist gar nicht aufgeregt. Im Gegenteil.

„Du hast schon eine Menge Reise-Erfahrungen für dein Alter, Doro. Und dein Vater kennt viele Leute in Indien, bei denen du bestimmt auch übernachten kannst, die dir helfen, wenn du Hilfe brauchst.“ Sie macht eine Pause.

„Doro, hast du schon einen groben Plan gemacht?

„Eigentlich nur so halb. Aber ich bin dran.“

Oma rät mir, alle Punkte, die ich aufgeschrieben habe, genau zu klären.

„Wenn du die Liste, die du gerade vorgelesen hast, abarbeitest, können wir sehen, was wir finanziell beisteuern können. Du weißt ja, das Konto für besondere Fälle.“

„Ach, Oma…“

„Kindchen, wenn ich in deinem Alter wäre, würde ich das genauso tun. Vielleicht magst du über Amsterdam nach Indien fliegen? Oder auf dem Rückweg?“

Ich höre, wie Opa im Hintergrund grummelt.

Gib mir die Doro noch mal, sagt er gerade ziemlich laut.

„Doro, ich bin zwar ein uralter Mann, aber ich weiß, dass du ein sehr hübsches Mädchen bist. Du solltest vorsichtig sein.“

„Opa, ich habe den schwarzen Gürtel im Judo, vergessen?“

„Nein Kind, habe ich nicht. Aber wie willst du einen Inder umwerfen, wenn du mit einem Rucksack unterwegs bist?“

„Ach, Opa, so weit ist es doch noch gar nicht. Außerdem kann ich ziemlich gut um mich treten. Wir können regelmäßig skypen.

Oma kennt sich damit aus, dann kannst du auf dem Bildschirm sehen, dass ich keine dicken, blauen Augen habe oder mir ein paar Zähne fehlen. Okay?“

Oma nimmt ihm den Hörer aus der Hand, ich höre es.

„Doro, mache dich an die Arbeit. Du möchtest doch so schnell wie möglich weg, stimmt es?“

„Stimmt Oma.“

„Das hast du von deinem Vater. Ich drücke dich, Kind, und weihe uns bitte bald in deine Pläne ein, ja?“

„Versprochen, Oma, versprochen!“

Irgendwo in einem Schreibtischschubfach von meinem Vater finde ich meinen Pass. Was für ein Glück: er ist noch ein Jahr gültig. Jetzt gehe ich ins Internet und suche nach der Website vom indischen Konsulat in Hamburg. Die Formulare sind schweineschwer auszufüllen. Sie verlangen ein funkelnagelneues Foto, mit anderen Maßen als die Fotos für einen niederländischen Pass. Ich versuche, die Fragen alle zu beantworten, was gar nicht so leicht ist. Aber ich möchte es unbedingt schaffen. Dann suche ich weiter im Internet nach Flügen. Nach einer Weile brummt mir das Hirn. Ich brauche eine Pause. Da klopft es auf dem Bildschirm. Paps hat geschrieben.

‚Mein liebes Dorokind,

mailen stellt mich hier auf eine extreme Geduldsprobe und seit einer Woche bin ich so tief in der Provinz, dass ich gar nicht immer mailen kann. Dies nur zu deiner Info. Wenn ich nicht schreibe, lebe ich trotzdem noch...

Ansonsten kann ich nicht klagen, ganz im Gegenteil. Das sage ich, obwohl ich letzte Nacht das Festmahl einer unersättlichen Moskitogroßfamilie war und erst in den frühen Morgenstunden einschlief. Ich wollte meinen Koffer nicht nach dem Moskitoschutz durchwühlen, denn ich sollte ja noch umziehen.

Der Wechsel heute brachte mich vom Touristen-Reihenhaus zur eigenen, freistehenden Hütte mit dem Nebeneffekt, dass ich nicht mehr die Gespräche der Nachbarn verfolgen muss. Beide Räume haben eine Terrasse und die von mir so geschätzte Außendusche. Das jetzige Etablissement liegt noch näher am Meer.

Heute kam ich dann erstmals in den Genuss einer authentischen balinesischen Massage. Es war der 7. Himmel. Ich buchte weitere Himmel für alle Tage, die ich noch hier bin. Damit bereite ich mich vor auf die Reise, die mich noch weiter ins Innere von Bali bringen wird.“

Aha, bei meinem Vater weiß man nie, wann er von einer Reportagenreise nach Hause kommt. Gut so, dann könnte ich…

In meinem erhitzten Schädel wächst gerade ein unglaublicher Plan. Mal sehen, ob ich den umsetzen kann. Sollte ich das tun, dann hoffe ich, dass Paps und auch Onkel Kees mich nicht köpfen… Ich kenne Paps gut, er sucht noch nach Stoff für den längeren Artikel, den er plant.

’Der Balinese trägt nur noch selten die traditionelle balinesische Kleidung, die ihm (nach unserer Ansicht) so gut steht. Das Kapitel ist hier abgeschlossen.

Nur das Hotelpersonal wird verdonnert, im Sarong zu bedienen, damit wir Bali-Feeling haben. Die Anlage vermittelt auch ansonsten viel Balinesisches: kleine Altäre, Figürchen und tropische Gärten.

Morgen relaxe ich noch mal. Übermorgen werde ich um 5 Uhr geweckt, weil ich mich zu bestimmten Tempeln bringen lasse möchte. Mir wurde außerdem vorsichtig nahe gelegt, ich solle die Hunde und Katzen nicht füttern. Ich war gar nicht in der Versuchung, die Tiere zu verzärteln. Die Katzen würden sonst keine Ratten (!) mehr fressen und die aufgebrachten Hunde würden in die Schuhe der Gäste beißen. Na, Doro, das wäre doch etwas für dich, oder?

Du würdest daraus eine Geschichte machen. Ich nicht. Ich brauche anderen Erzählstoff. Du weißt es.

Wie geht es dir, mein Kind? Doro allein zu Hause.. Hast du dir etwas überlegt für die Sommerferien? Bitte informiere mich, wenn du etwas Bestimmtes ins Auge gefasst hast. Und wie ich dir dann helfen kann. Aber eigentlich bist du so selbständig, dass meine Hilfe wahrscheinlich gar nicht brauchst, große Tochter! Lasse es mich aber wissen. Ich weiß noch nicht, wann ich wieder nach Hamburg komme, denn das, was ich mir vorgenommen habe, kann dauern.

Hast Du schon etwas von deiner Bewerbung an der Journalistenschule gehört?

In Liebe, dein Vater.’

Oje, riecht mein Vater etwa den Braten? Dass ich vorhabe, bald wie eine Rakete nach Indien abzudüsen?

Wie mache ich das nur? Soll ich ihn erst informieren, wenn ich schon in Indien bin, oder vorher, noch in Hamburg?

Etwas Zeit zum Überlegen habe ich noch.

3.

Alle Punkte meiner Liste sind abgehakt. Sogar der Briefkasten wird geleert von unserer neugierigen, alten Nachbarin Frau Bütenführ mit ihrem dicken Dackel, die beide unter uns wohnen.

Der Dackel braucht für die Spaziergänge mit seinem Hängebauch bald ein Gestell mit Rädern, weil zwischen seinem Bauch und dem Boden höchsten noch 1 Zentimeter Platz ist. Ich wollte Frau Bütenführ schon anbieten, dass ich zusammen mit Kalle, meinem Ex-Lover, der in meine Klasse ging, so ein Gestell für sie in den Ferien basteln könnte. Aber nun muss das Bastelprojekt verschoben werden auf später. Vielleicht schafft der Dackel es noch, in seinem hohen Alter abzunehmen. Frau Bütenführ sagt immer, wenn ich sie im Treppenhaus treffe: „Eigentlich sollte mein Dackelchen abnehmen, aber er mag zu gerne Pralinen, vor allem die aus weißer Schokolade, gefüllt mit Sahnecreme.“

Frau Bütenführ und Dackelchen habe ich einen Bären aufgebunden, es ging nicht anders.

„Mein Vater hat mich nach Bali eingeladen. Es kann ein paar Wochen dauern, bis wir wieder da sind.“

Blablabla und Super und Dankeschön und ich bringe Ihnen und Dackelchen auch etwas Leckeres mit aus Asien (das war noch nicht mal gelogen, Indien gehört ja zu Asien), versprochen, okay, hier ist der Briefkastenschlüssel, ich rufe sie zwischendurch mal an, ob alles in Ordnung ist. So, nun, bloß weg aus dem Treppenhaus, zurück in unsere Wohnung, in der es gerade aussieht wie nach einem Wirbelsturm.

Frau Bütenführ hat es mir geglaubt, tatsächlich. Da muss ich wohl ziemlich überzeugend gequasselt und ausgesehen haben.

Mein Gedankenbuch aus Indien habe ich nach langem Suchen endlich gefunden. Es liegt oben auf dem Haufen der Klamotten und Sachen, die ich einpacken muss. Aber wenn ich das so betrachte, was ich alles aus meinem Schrank und Schubfächern gezogen habe… Das ist echt zu viel. Da fällt mir ein, dass ich einen Bananenkarton brauche, aus dem Supermarkt. ‚Jeder soll nur so viel Gepäck mitnehmen, wie in eines dieser Dinger reinpasst.’ Paps goldene Reiseregel. Also schnappe ich mir das Schlüsselbund, und rase los. Frau Bütenführ steht mit Dackelchen vor der Tür.

„Na, Doro, wo geht’s denn jetzt hin?“ Die will aber auch alles wissen.

„Einen Bananenkarton holen, für meine Reise.“

Ihr fallen die Kinnläden auseinander. Dackelchen guckt ähnlich, aber das kommt, weil er kaum Luft bekommt.

Die Kinnläden bei ihm stehen meistens offen, damit er hecheln kann.

„Braucht man das in Asien?“ Herrlich, diese sensationslüsterne, neugierige Frau Bütenführ.

„Nee, Frau Bütenführ, aber wenn ich wieder da bin, baue ich für Dackelchen daraus eine schöne Hundehütte für den Balkon.“

Schon bin ich weg, finde mich für ein paar Sekunden ziemlich gemein, fliege um die Ecke und finde tatsächlich vor der Tür vom Supermarkt zwischen den Papp- und Papierabfällen, die noch abgeholt werden müssen, einen Bananenkarton.

Zuhause rede ich mit meinem Vater, der nicht da ist.

„So, Paps, nun stürzt sich deine Tochter Doro zum ersten Mal allein in ein Fernreiseabenteuer. Sie möchte es mal ausprobieren.

Wenn alles schief geht, werde ich dich bestimmt irgendwo in Asien erreichen und dann sehen wir weiter. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns da.

Ich kann es kaum erwaten, nach Indien zu fliegen. Danke übrigens, es war gut, dass du in deinem Zettelkasten mit den Adressen unter I von Indien so viele Visitenkarten von dort aufgehoben hast. Habe alle gescannt und auf einen Stick gezogen, außerdem Papierkopien gemacht, auch von meinen Reiseunterlagen und dem Pass. Kannst stolz sein auf Doro.

Wenigstens was das Gepäck betrifft, bin ich eine artige Tochter und nehme nur das mit, was im Bananenkarton reinpasst. Hast ja recht, man sollte so wenig wie möglich mit sich rumschleppen.“

Es klopft im Computer. Aha, vielleicht eine Nachricht von Paps.

Ich öffne die Mails, tatsächlich. Paps hat geschrieben.

‚Liebes Dorokind,

bei euch ist es mehrere Stunden früher. Hier ist schon Abend, aber ich möchte dir von den Morgenstunden kurz etwas berichten. Die ortsansässigen Hähne sind spätestens um 4 Uhr morgens hellwach und äußerst kommunikativ. Sie sind völlig aus dem Häuschen und krähen aus voller Kehle (durch meine Ohrstopfen hindurch). Weißt du noch, die Krähen in Indien? Nur eine einzige brauchte ein Auge aufzumachen und den Schnabel ebenfalls, schon krächzten tausende gleichzeitig mit. Aber die Hähne hier stehen noch früher auf. Wenigstens die Moskitos lassen mich vorher in Ruhe schlafen, weil ich mein Moskitonetz aufgehängt habe.“

Mensch, Paps, du ahnst doch wohl nicht, was ich hier gerade vorbereite und wohin ich morgen in aller Frühe fliege? Ständig erinnerst du mich an unsere Indienreise.

Mir schlottern gerade die Knie, aber ich habe mich entschieden und zieh das Ding durch: Back to India, zurück zu den Tempel-Elefanten! Indien – ich komme!

‚Gestern Abend bei Tisch gesellte sich der freundliche Hotelmanager zu mir und stand meinen als bohrend bekannten Fragen Rede und Antwort. Dabei erfuhr ich, dass seine älteste Tochter seine Großmutter gewesen sei. Die jüngeren Zwillinge waren Reinkarnationen der Ahnen in 8. Generation. Er sprach über die Sprachverwirrungen in Indonesien. Ich lernte, dass die „bösen Geister“, die Krakeeler, der Nervtöter, privilegiert als erste mit Opfergaben bedient würden – und dies stets am Boden, der ihnen zugedachte Platz – damit sie Ruhe geben und keinen Aufstand (Krach durch klappernde Türen etc.) mehr machen. Ich denke so ist das auch sonst im Leben, wer am lautesten schreit.

Wollen wir mal skypen, Doro? Wenn du gerade zu Hause bist, ich sitze hier an einem Computer, mit dem das klappen könnte.

Liebste Grüße, dein Vater.’

Mir läuft der Schweiß aus allen Körperporen, die gerade zur Verfügung stehen. Mal sehen, ich muss den ganzen Krempel, den ich auf den Fußboden ausgebreitet habe, komplett zur Seite schieben, oder in ein anderes Zimmer bringen. Denn wenn mein Vater sieht, dass hier ein Bananenkarton und Klamotten liegen, dann riecht er garantiert Lunte und will mehr wissen. Hastig greife ich blitzschnell nach allem, was nicht gesehen werden darf und schmeiße es im hohen Bogen in den Flur.

Okay, ich werde skypen.

Sekunden später steht die Verbindung. Mein Vater hat hier einen schnellen PC, braucht man in seinem Job. Und der in Bali scheint ebenfalls von der flotten Sorte zu sein.

„Oh, Doro, es hat ja geklappt! Wunderbar. Wie geht’s dir so allein zu Hause?’

„Prima, Paps. Erhole mich vom Abi-Stress und den Partys hinterher und denke nach und überlege, was ich sonst noch so machen kann. Vielleicht schreibe ich ein paar Kolumnen, als Fingerübungen für die Journalistenschule. Mein Tagebuch ist eher ein Wochenbuch geworden, es gibt eine Menge nachzuholen.

Vielleicht gehe ich an die Alster und melde mich an für das Training mit Drachenbooten. Wollte ich schon immer. Übrigens, die meisten aus meiner Klasse sind irgendwo unterwegs und…“

„Doro, führst du etwas im Schilde?“

„Nee, wieso?“

„Weil du mir ein bisschen flatterig vorkommst.“

„Ach was, ich war im Supermarkt und habe dort dies und das geholt und bin nach oben gerannt. Übe für den nächsten Hamburg-Marathon. (Das ist nicht gelogen) Viele Grüße soll ich ausrichten von Frau Bütenführ und Dackelchen. Sie wollten los und frische Pralinen kaufen.“ (Gleich geht meine Phantasie noch mit mir durch. Vorsicht Doro, dein Vater kennt dich zu gut.)

„Also weißt du immer noch nicht, ob und wohin du verreist?“

(Und jetzt? Lügen?)

„Ich habe mit Oma in Amsterdam telefoniert. Mal sehen.“

„Kannst sie doch besuchen, die freuen sich bestimmt.“

(Auf dem Rückflug Paps, das habe ich mit Opa und Oma abgesprochen).

„Mach dir keine Sorgen, Paps, ich komme schon klar und sage dir Bescheid, okay?“

„Na gut. Schade, dass du nicht hier bist. Es würde dir richtig gefallen, du fehlst mir.“

„Du mir auch, Paps.“

Wir geben uns elektronisch-mediale Luftküsse, versichern uns, wie lieb wir uns haben, und ich schalte Paps PC aus, ehe ich mich verplappere.

Vor Erleichterung seufze ich so tief, dass ein paar Zettelchen neben dem Computer wie Blätter im Herbst flattern.

Endlich sortiere ich mein Gepäck, packe den Rucksack und schnalle ihn zu. Ich lege mir alles zurecht, was ich im Handgepäck mitnehmen darf. Schreibe Albina einen Kurzbrief, dass sie vorläufig nur ein Mal insgesamt sauber zu machen braucht. Sie wollte sowieso bald für einen Monat zur Familie nach Portugal.

Mit einem hämmernden Herzen lass ich mich aufs Bett fallen. Das Gedankenbuch aus Indien liegt neben mir. Es gibt Gerüchte, dass man Bücher im Schlaf lesen soll. Fest steht, dass ich im Flugzeug darin lesen werde.

Irgendwann klingeln die Wecktöne vom Mobile. Bald steht mein Taxi zum Flughafen vor der Tür. Tschüss Hamburg!

4.

Ich habe mich für einen sanften Einstieg in mein Indienabenteuer entschieden. Vor 3 Jahren war ich auf der Durchreise nach Australien mit meinem Vater vorher zum zweiten Mal in Südindien. Dort, wo er während unserer ersten Indienreise einen Bericht über Alkoholmissbrauch der Männer, die Folgen des Alkoholismus und die Proteste der Frauen dagegen machte.

Venita, bei deren Mutter und Bruder Saji ich wohnte, wurde meine Indien-Freundin. Inzwischen studiert sie Medizin an der Universität in Trivandrum, Hauptstadt von Kerala.

„Saji, Mama und ich freuen uns riesig auf Dich“, hat sie mir geschrieben. „Ich nehme mir Zeit für Dich und zeige Dir, wo ich gerade mein Praktikum mache, nämlich im Government Hospital.“

Wie vor 3 Jahren stehen Venita und ihr Bruder Saji lächelnd am Flughafen in Trivandrum, als ich mit meinem Rucksack aus dem Ausgang in die flirrende Mittagshitze stolpere. Saji hängt mir einen Kranz aus Jasminblüten um, den nur wichtige Gäste bekommen.

Bin ich das wirklich? Ich muss einfach heulen. Venita ist noch schöner geworden, ihr dickes schwarzes Haar hat sie zu einem langen Zopf geflochten. Sie trägt einen orangefarbenen Sari mit besticktem Goldrand. Ich weiß, sie trägt ihn mir zuliebe. Venita und ich klammern uns an einander, auch sie muss ein bisschen weinen. Saji steht unbeholfen und verlegen neben uns. Ein Mann darf in der Öffentlichkeit eine Frau nicht umarmen. Eigentlich umarmen sich Inderinnen auch nicht auf der Straße. Also gebe ich Saji artig die Hand. Er ist dicker geworden, sehe ich. Ob er schon verheiratet ist? Das werde ich nachher fragen. Männer nehmen in Indien nach der Hochzeit manchmal zu, weil sie den Heirats- und Hochzeitsstress nicht mehr haben.

Erst mal ankommen nach dem Flug mit den unzähligen Baustellen am Himmel. Es hat ziemlich gerumpelt. Über dem Bengalischen Meer sind oft Turbulenzen. Das kenne ich schon.

Mir macht es nichts mehr aus. Irgendwie und irgendwann kommt man immer runter. Klingt zynisch, ist es auch.

Ich gucke Saji noch mal an. Außer einer kleinen Fettrolle über dem Gürtel hat er sich nicht geändert. Als Masseur behandelt er inzwischen auch Frauen. Das schrieb mir Venita irgendwann.

Völlig unüblich in der 5000 Jahren alten Ayurveda-Medizin. Aber die Touristinnen, vor allem die Frauen aus Russland, haben das verlangt. „We need manpower!“

Es hat sich noch mehr geändert. Während ich mit Venita in der schnatternden Menschenmenge vor dem Flughafen in der Knallsonne auf Saji warte und glaube, dass er mit einem Taxi vorfährt, hält plötzlich eine hupende Rostlaube, Marke Toyota, vor uns.

„Ja, Saji hat jetzt ein eigenes Auto’ sagt Venita stolz. Hinten im Kofferraum liegen ein Reserverad und ein noch einiges mehr, Ölflecken überall.

„Ich nehme den Rucksack mit auf den Rücksitz“, entscheide ich, denn ich möchte nicht sofort alles voll mit Ölflecken haben.

Mensch, Doro, du wirst richtig spießig. Du bist in Indien und nicht in einem Taxi aus Hamburg unterwegs.

„Wohnst du noch zu Hause?“ frage ich Venita, als wir auf dem Frotteehandtuch sitzen. Die Frotteetücher werden gegen Schweiß hingelegt, und um die (fleckigen?) Sitze zu schonen. Aber Flöhe und auch Läuse fühlen sich sauwohl unter dem Frotteebelag. Sie besuchen mich gern auf Reisen, nicht nur in Indien.

„Ja, ab und zu. Aber wenn ich an der Uni oder im Krankenhaus zu tun habe, schlafe ich im Studentenwohnheim für Frauen. Ich zeige dir alles.“

„Und Saji, wohnst du noch bei Mama?“

Saji sieht mich im Rückspiegel an und grinst.

„Ja, aber nicht mehr lange.“

„Wieso?“

„Ich heirate bald. Meine Freunde und ich bauen ein kleines Haus für meine Verlobte und mich, am Ende der Dorfstraße.“

„Aber ich dachte, dass die Braut dann bei euch einzieht, also bei der Schwiegermutter.“ Ich erinnere mich daran, als Paps und ich auf einer Hochzeit waren mit mehr als tausend Gästen. Die Braut sah zwar ziemlich glücklich aus, aber vielleicht dachte sie doch auch schon mit Schrecken an die Schwiegermutter, bei der sie wohnen musste. Und nach der Hochzeit alles machen soll, was die von der frisch Angetrauten verlangt. Nicht auszudenken. Meistens können sich junge Ehepaare in Indien nach der Hochzeit noch kein eigenes Haus oder eine Wohnung leisten.

„Was? Du heiratest? Eine Frau aus dem Dorf?“

„Nein, dort gab es keine Frauen mehr.“

Ich verstehe Bahnhof, doch dann fällt mir ein, worüber Paps und ich diskutiert haben vor einigen Monaten.

„Indien wird ein Riesenproblem bekommen“, sagte er damals.

„Frauen werde in Indien immer noch umgebracht, als Ungeborenes im Leib der Mutter, als Baby und Kleinkind, als Ehefrau oder Witwe, Inzwischen fehlen Indien mehr als 30

Millionen heiratsfähige Frauen. Also gibt es einen großen Männerüberschuss.“ Ich war unendlich traurig und fassungslos, als mein Vater mir von den Abtreibungen erzählte. Er brachte einen Artikel mit aus einer englischen Zeitschrift für Medizin.

Sogar noch kurz vor der Geburt werden Babys getötet, weil die Familien zu arm für den Brautschatz und die Hochzeit von Töchtern sind. Eigentlich ist es in Indien inzwischen nicht mehr erlaubt, beim Arzt vor der Geburt nach dem Geschlecht des Ungeborenen zu fragen. Aber auch Ärzte sind käuflich und verraten es ihnen gegen Schmiergelder. Ich konnte den Bericht kaum lesen, habe trotzdem bis zum Ende des Artikels durchgehalten.

Ich wage nicht, Saji weiter zu interviewen zu seiner bevorstehenden Hochzeit, weil ich mir nicht die Zunge verbrennen möchte mit einer Bemerkung, die ihn und auch Venita verletzten könnte. Er erzählt fröhlich:

„Wir haben vor einiger Zeit eine Anzeige in der Wochenendausgabe der Kerala-Zeitung aufgegeben. War zwar teuer, aber es hat geklappt.“

„Wie, geklappt?“

„Naja, es haben sich ein paar Eltern bei uns gemeldet, also auf meinem Mobile, und dann haben meine Mutter und die Eltern mit einander verhandelt. Und die künftige Frau für mich ausgewählt.“

Ich bin sprachlos. Saji, der täglich Frauen berührt und durchknetet, die nackt auf seiner Massagebank rumliegen, lässt seine Mutter eine Braut aussuchen, die sich durch ihre Eltern auf seine Anzeige gemeldet hat? Wie passt denn das zusammen?

„Durftest du sie wenigstens vorher sehen?“ Ich vermeide das Wort ‚besichtigen’. Ich muss echt aufpassen, dass mein loses Mundwerk mich nicht in Schwierigkeiten bringt.

„Erst nachdem die Eltern noch einen Sternendeuter besucht haben. Wir wollten auch sicher sein, dass unsere Horoskope zusammen passen. Glück gehabt! Danach durfte ich sie für 15

Minuten sehen. Vor kurzem noch mal für eine halbe Stunde, weil ich ihr einen Verlobungsring gekauft hatte. Guck mal Doro, das ist mein Verlobungsring.“

Die Rostlaube schlingert, als Saji sich umdreht, um mir den Ring zu zeigen. Ein überfüllter Uraltbus kann gerade noch ausweichen.

Ich möchte nicht wissen, wie die Passagiere im Bus durcheinander geschlingert wurden.

„Mensch, Saji, heute ist der erste Tag meiner Indienreise! Ich wollt eigentlich länger bleiben als nur heute. Und nicht gleich in einer Kiste im Tiefkühlfach vom nächsten Flieger wieder nach Hause geschickt werden.“

Er muss so lachen, dass er fast schon wieder auf der falschen Seite fährt. „He, wo hast du deinen Führerschein gemacht? Am Strand?“

„Du bist noch genau so frech wie vor drei Jahren, Doro.“ Venita schmunzelt.

„Ich fürchte, noch frecher“, grinse ich zurück.

Die Mama steht, wie vor drei Jahren, wieder am Gartentor, lächelnd. Wie damals begrüßt sie mich mit ihrem zarten Kopfwiegen von links und rechts, die Hände vor der Brust gefaltet. Wieder duftet es aus dem Häuschen verführerisch. Sofort läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Vergessen sind der unbequeme Flug auf engsten Raum mit angezogenen Beinen und einem zähen Brötchen mit lappigem Lederkäse, das nach Pappe schmeckte.

„Schlafen wir wieder auf deinem Bettgestell?“ will ich wissen.

„Nein, wir haben für dich beim Nachbarn Vinod ein kleines Zimmer gemietet. Dort hast Du sogar eine Dusche und ein Klo mit Wasserspülung. Außerdem gibt es Internetanschluss.“

Eigentlich hatte ich mich schon seelisch auf das Stehklo hinten im Garten bei Venita eingestellt, auch auf das Löffelchen-Liegen mit ihr auf dem schmalen Bettgestell, unter meinem Moskitonetz.

Meine Güte, was für Ängste hatte ich, als ich zum ersten Mal im Garten hinter Büschen über dem Kackloch hing und mir den Hintern mit Pflanzenblättern abwischen musste. Ungefähr fünf Jahre ist es her, meine Erfahrung mit dem ersten Freiluftklo. Mein Vater ließ mich wegen seiner Arbeit allein bei Venita und ihrer Familie. Wie wütend war ich damals auf ihn! Doch es wurde zu einem, unvergesslichen, unglaublichen Abenteuer, gemeinsam mit der hinreißenden Venita.

Aber vielleicht ist es besser so mit dem Zimmer beim Nachbarn.

Ich brauche wahrscheinlich hin und wieder ein bisschen Zeit und Platz für mich selbst. Kann dort auch meinen ganzen Rucksack auspacken und mich ausbreiten, ohne Venitas Platz in der kleinen Ecke in der Hütte zu sehr in Anspruch zu nehmen. Mama schläft immer auf einer Bastmatte neben der Kochstelle. Saji sucht sich einen Platz im Garten, und bei Regenwetter auf der Veranda.

Ich lasse den Rucksack vor den moosgrünen, fleckigen Stufen der Veranda fallen und setze mich zu Venita.

„Meine Güte, Venita, war das eine lange Reise! Neben mir saß einer, der hat 6 Stunden am Stück geschnarcht. Er hörte erst auf, als es ein Brötchen gab. Vor uns hatte sich eine Familie mit zwei kreischenden Babys auf den schmalen Stühlen zusammen gequetscht. Zum Glück hatte ich einen Gangplatz und konnte ab und zu aufstehen. Für die Beine gab es kaum Platz.“

„Ja, du bist ziemlich lang geworden.“ Saji sieht mich prüfend an.

„Hab ich von meinem Vater geerbt. Der ist fast zwei Meter. Bin aber immer noch 16 Zentimeter kürzer als mein Vater. Wird wohl so bleiben, hoffe ich doch.“

Am Flughafen ist mir bewusst geworden, dass ich mit Kopf und Schultern aus der Menschenmasse rage. Venita kam mir bei der Umarmung nur bis zur Brust. So wie ich, als ich 11 Jahre alt war, während ich versuchte, meinen Vater zu umarmen.

Wieder falle ich hier auf. Lang, dünn, mit Touri-Klamotten, quarkweißer Haut. Daran werde ich mich aufs Neue gewöhnen müssen, dass ich hier manchmal angestarrt werde, wegen der blonden Farbe meiner fusseligen Schnittlauchhaare, wegen der hellen Haut, und nun auch noch wegen meiner Länge.

„Mama hat uns etwas zu essen vorbereitet. Hast du Hunger?“

„Und wie… Sonst hätte ich persönlich einen Dorfhund in den Kochtopf geworfen.“

„Also Doro!“

„Na ja, in China ist das so. Gilt als Delikatesse. Habe ich dort zwar nicht gegessen, aber die Chinesen lieben Hundefleisch.“

„Igitt, bin ich froh, dass wir kein Fleisch essen. Da kommt Mama, möchtest du hier sitzen bleiben?“

Mama bringt mehrere Dabbas, die kleinen, glänzenden Blechtöpfe, aus denen es so betörend duftet, dass ich mich