Baden-Airport - Roland Dietrich - E-Book

Baden-Airport E-Book

Roland Dietrich

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Beschreibung

Dr. Rainer Gerstner kehrt an einem Samstag nicht von einer Tour mit seinem Fahrrad zurück. Seine Familie wendet sich an die Polizei, sie denkt an einen Unfall oder ein Verbrechen. Kriminalhauptkommissar Karl Berger schenkt der Vermisstenanzeigen zunächst nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Er ist zu sehr mit dem Überfall auf den russischen Kurstadtbesucher Alexander Akatov beschäftigt, der eine Menge fabrikneuer Waffen mit sich führte. Die zwei Fälle sind jedoch enger verknüpft, als es zunächst den Anschein hat; und ein Wettrennen um das Leben von Rainer Gerstner beginnt.

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Das Buch

Dr. Rainer Gerstner kehrt an einem Samstag nicht von einer Tour mit seinem Fahrrad zurück. Seine Familie wendet sich an die Polizei, sie denkt an einen Unfall oder ein Verbrechen. Kriminalhauptkommissar Karl Berger schenkt der Vermisstenanzeigen zunächst nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Er ist zu sehr mit dem Überfall auf den russischen Kurstadtbesucher Alexander Akatov beschäftigt, der eine Menge fabrikneuer Waffen mit sich führte, die er wahrscheinlich nach Frankreich verbringen wollte.

Gerstners Sohn, Tim Gerstner, beginnt daraufhin, selbstständig auf die Suche nach dem vermissten Vater und stößt auf eine erschreckende Geschichte, ohne zu ahnen, in welche Gefahr er sich damit bringt.

Der Autor

Roland Dietrich wurde 1949 in Baden-Baden geboren. Als Jugendlicher half er seinem Vater, einem Golflehrer, als Caddy. Er studierte Medizin und arbeitete als Chirurg. Zwischen 2000 und 2011 war er zudem als Notarzt auf dem Jet bei der Deutschen Rettungsfluggesellschaft DRF tätig und flog weltweite Intensivtransporte.

ROLAND DIETRICH

BADEN AIRPORT

BADEN-BADEN - KRIMI

LAUINGER VERLAG

Die fiktive Handlung und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit existierenden, lebenden, realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Lauinger Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement, Lektorat: Miriam Bengert

Umschlaggestaltung, Bildbearbeitung, Satz & Layout: Sonia Lauinger

Korrektorat: Lisa Cristea, Nina Gibler

Titelfoto: ©Rudy und Peter Skitterians, pixabay

Druck: Arkadruk, Warschau, Polen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-2157-2

eISBN: 978-3-7650-2158-9

Dieser Titel erscheint auch als E-Book: ISBN: 978-3-7650-2158-9

http://www.lauinger-verlag.de

http://www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

https://twitter.com/DKBVerlag

https://www.instagram.com/lauingerverlag/

INHALT

PROLOG

NACHTSCHICHT

DER ÜBERFALL

GOLFPLATZ BADEN-BADEN

IM BÜRO

GOLDKANAL

FUNDSACHE

EINSATZBESPRECHUNG

POLIZEIREVIER

STADTKLINIK, PROSEKTUR

TAUCHEREINSATZ

SPÄTSCHICHT

STADTKLINIK, WACHSTATION

GOLFPLATZ, ZWEITE RUNDE

IM LANDESKRIMINALAMT

NEUE ERKENNTNIS

FRANKREICH

HARDBERGBAD

IN NANCY

KRANKENBESUCH

KIT

GEBURTSTAG

RÖSCHWOOG, ELSASS

DER RHEIN

WAFFENHANDEL

DT. RETTUNGSFLUGWACHT

GEFANGEN

DIE FLUCHT

DIE BEICHTE

DER JAGDPLAN

DER AUFTRAG

DER EINSATZ

NÄCHTLICHER ANRUF

IN DER FALLE

ZU SPÄT!

DER HILFERUF

LANDUNG

AMTSHILFE

VERSTECKSPIEL

NOTRUF 110

SPARKASSE BADEN-OOS

ADAC INTENSIVTRANSPORT

SMS

DER REVOLVER

STRAßBURG

ENTFÜHRUNG

AM FLUGHAFEN STRAßBURG

DROHNENEINSATZ

IM TOWER

ZUGRIFF!

»Zu jedem menschlichen Problem gibt es eine Lösung.

Einfach, plausibel und falsch.«

Henry Louis Mencken, 1921

Samstag, 3. August

PROLOG

Rainer Gerstner stieg ab und schob sein Rad die letzten Meter über den sandigen Boden bis zum Fahrradständer des Rastatter Ruderclubs. Von der weiten Fahrt in schwüler Sommerhitze war sein Hemd von Schweiß durchnässt. Er zog es aus und hängte es über die Lenkstange, bevor er das Rad mit dem Zahlenschloss sicherte. Er schaute auf seine Armbanduhr, sie zeigte zwanzig Minuten vor zehn am Abend. Für diese Uhrzeit war es bereits ungewöhnlich dunkel. Eine tiefhängende Wolkendecke hatte sich vor den mondlosen Himmel geschoben. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Er hatte es nicht vorhergesehen, aber das Wetter passte perfekt zu seinem Plan. Im Klubraum brannte noch Licht. Gedämpftes Gemurmel drang bis zu ihm nach draußen.

Rainer Gerstner sah sich nach allen Seiten um, konnte jedoch niemanden entdecken. Dann zog er auch seine Schuhe aus und klemmte sie unter den Gummizug des Gepäckträgers. Barfuß ging er den Strand entlang bis zu den Bootsstegen. Er öffnete die Bootsplane am Heck seiner Kieljolle und wickelte sie über den Großbaum nur so weit nach vorne, bis er genügend Platz zum Einsteigen hatte. Dann löste er die Leinen und paddelte am leeren Badestrand vorbei bis zum nördlichen Ende des Sees. Etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt ließ er das Boot treiben. Er räumte das kleine Zelt unter das Vordeck, ebenso die drei Rettungswesten, den Schlafsack und eine Wolldecke. Er griff nach den Schwimmflossen und wollte sie ebenfalls nach vorne werfen. Später wusste er nicht mehr, warum er sie gleich wieder abgelegt hatte. Sie störten ihn nicht. Er zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und setzte sich in die Plicht unter die Bootsplane, so dass er vom Ufer aus nicht zu sehen war. Er schaltete das Handy auf stumm und wartete ab. Der angekündigte Regen setzte ein. Erst war es nur ein leises Nieseln, doch bald ließen dicke Tropfen ein Trommelfeuer auf der Plane ertönen.

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis das Display aufleuchtete. Rainer Gerstner tippte auf das grüne Symbol mit dem Telefonhörer und meldete sich knapp mit einem »Ja«. Er erkannte die leicht heißere Stimme am anderen Ende der Verbindung, den Balkanakzent und das rudimentäre Deutsch, welches bereits die vorangegangenen Gespräche erschwert hatte. »Ich sehen Schild mit Name Goldkanal.« Einen Moment lang lauschte Gerstner, ob er noch andere Geräusche wahrnehmen konnte, bevor er seine Anweisungen durchgab. »Gut! Lassen Sie Ihr Auto stehen und gehen den Weg zu Fuß bis zum Ufer. Dann wenden Sie sich nach rechts und gehen am Strand entlang bis Sie am Ende am Waldrand ankommen. Wählen Sie meine Nummer und warten Sie ab, bis Sie mich sehen. Und Sie kommen alleine! Sobald ich eine zweite Person entdecke, breche ich unser Treffen ab.«

Als das Display erneut blinkte, stand Rainer Gerstner auf und blickte in Richtung Ufer. Er erschrak als er erkannte, dass die Jolle bis auf zwanzig Meter zum Ufer hingetrieben war. Er sah den korpulenten Mann, dessen Smartphone noch immer leuchtete. Sein weißes Hemd war trotz der Dunkelheit deutlich zu erkennen. Der Mann war ganz offensichtlich überrascht von einer Situation, mit der er nicht gerechnet hatte. Er drehte sich nach rechts, dann nach links. Gerstner nahm an, dass er nach Möglichkeiten suchte, die Distanz zum Boot zu überwinden.

Rainer Gerstner formte die Hände zu einem Schalltrichter und rief dem fremden Mann zu. »Was wollen Sie von mir? Warum schicken Sie mir diese Mails, warum stellen Sie mir nach? Woher kennen Sie mich?«

Der Fremde war wohl nicht auf eine Konversation eingestellt. Er zögerte eine Weile, bevor er antwortete. »Wollen Informatie wie machen Uran. Sie wissen wie geht. Wir anbieten viel Geld. Sie nicht wollen mitmachen.«

»Nein, ich mache da nicht mit. Das haben Sie richtig verstanden. Aber es ist doch längst kein Geheimnis mehr, wie das funktioniert. Dazu brauchen Sie mich nicht.«

»Sie nicht mitmachen, dann Sie mitkommen.«

Aus dem Gebüsch lösten sich jetzt zwei weitere Männer. Eine Taschenlampe leuchtete auf. Der harte Strahl einer LED traf Gerstner im Gesicht. Er war geblendet, konnte nichts mehr erkennen. Mit der Hand schirmte er seine Augen vor dem grellen Licht ab. Schnell bückte er sich nach dem Paddel und tauchte es in den See. Ein Schuss durchbrach die Stille der Nacht, begleitet von einem metallischen Klick unmittelbar neben ihm. Er hörte, wie jemand rief »Perestan, Idiot*«. Einer der Männer sprang ins Wasser und schwamm mit ungelenken Schwimmzügen zu ihm hin. Es war zu spät, um dem Angreifer zu entkommen. Der hatte bereits die Distanz überwunden und hielt sich am Boot fest. Panik überkam Rainer Gerstner. Er holte aus und schlug mit dem Paddel zu. Mit einem Schrei ließ der Mann die getroffene Hand los. Mit der anderen Hand bekam er Gerstners linken Arm zu fassen. Mit einem schmerzhaften Ruck riss sich Gerstner los. Er fasste jetzt das Paddel mit beiden Händen. Ein harter gezielter Schlag auf den Kopf ließ den Mann wegsinken. Es dauerte einige Sekunden, bis seine kahl rasierte Glatze wieder auftauchte. Ein Strom von Wasser und Blut lief über das Gesicht des Mannes. Hustend rang er nach Luft. Rainer Gerstner ließ das Paddel los und bückte sich nach den Schwimmflossen. Rücklings ließ er sich in den See fallen. Mit ein paar hektischen Schwimmzügen gewann er Distanz zu dem Boot. Er hielt die Luft an und zog die Flossen über seine Füße. Noch einmal holte er tief Luft, tauchte und schwamm unter Wasser in Richtung des Kanals, der den Baggersee mit dem Rhein verbindet. Er hatte keine Orientierung und konnte nur hoffen, dass er die eingeschlagene Richtung beibehielt. Rainer Gerstner kämpfte gegen den Atemreiz. Noch wagte er nicht, Luft zu holen. Erst als er spürte, wie er vom Schilfgras am Ufer des Kanals aufgenommen wurde tauchte er auf und schaute zurück. Am Ufer wateten die beiden Begleiter in knietiefem Wasser hin und her, während ihr Chef ihnen Anweisungen zurief. Rainer Gerstner füllte erneut seine Lungen und setzte seinen Weg in der Tiefe fort. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt. Für den Moment war er entkommen.

*›Lass das, du Idiot.‹

Freitag, 9. August

NACHTSCHICHT

Ganz leise kroch der weiße Mercedes die Ausfahrt der Kurhaustiefgarage herauf. Draußen erwartete den Fahrer eine sternenklare, mondlose Sommernacht. Sogar zu fortgeschrittener Stunde war es immer noch heiß, trotzdem trug er Krawatte und Jackett. Die Klimaanlage war es, die diese Garderobe ermöglichte. Der Wagen beschleunigte nicht, fast lautlos rollte er weiter durch die Enge der Kreuzstraße. An deren Ende bog er in die Lichtentaler Straße ab, passierte links das »Café König« und gegenüber die geschlossenen Gitterläden des Uhrengeschäftes »Thoma«. Kurz darauf überquerte er den Leopoldsplatz, wo er die ausgefahrenen Poller in Richtung der mehrspurigen Ausfallstraße umfuhr, indem er kurzerhand auf den Gehsteig wechselte. Der breite Wagen passte gerade noch zwischen Fahrradständern und dem angrenzenden Mäuerchen hindurch. Dann setzte er seine Fahrt, kaum schneller als im Lauftempo, entlang der Oos fort. Es war kurz vor Mitternacht von Freitag auf Samstag, die Straßen waren leer. Nur vor dem »Leo« standen noch ein paar junge Leute, die versuchten, der Langeweile der kurstädtischen Ruhe zu entkommen.

Nach der Spätschicht am Mittwoch und der Frühschicht gestern, am Donnerstag, befanden sich Polizeikommissaranwärterin Kirsten Schweickert und ihr unmittelbarer Vorgesetzter Polizeihauptwachtmeister Markus Gebhardt nun in der Nachtschicht. Wenn man das Alter der beiden Polizisten bedachte, waren sie ein ungleiches Paar. Markus Gebhardt war der erfahrene ältere Kollege. Seitdem ihm Kirsten Schweickert, noch nicht einmal halb so alt wie er, als Streifenpartnerin zugeteilt war, fielen ihm immer öfter die grauen Strähnen auf, die durch sein ehemals dichtes blondes Haar schimmerten. Am Anfang hatte er gedacht, das einzig Gute daran könnte sein, dass ihm diese Veränderung seines Aussehens Respekt einbrachte. Mittlerweile hatte er diesen Gedanken jedoch verworfen, seitdem sich zwischen ihm und seiner jungen Kollegin ein Vertrauensverhältnis entwickelt hatte, welches solche Überlegungen überflüssig machte.

Mit der Vorfreude auf das freie Wochenende waren sie den Dienst gelassen angegangen. Die Nächte in der Kurstadt waren meist ruhig. Sie hatten mehrere Radfahrer ermahnt, die ohne Licht unterwegs gewesen waren, waren in Baden-Oos einer Ruhestörung nachgegangen und hatten einen angeheiterten Zecher auf den rechten Weg gebracht. Es waren die üblichen Einsätze, nichts Aufregendes. Dazwischen flossen die Stunden zäh dahin. Jetzt standen sie mit ihrem Wagen an der Bushaltestelle am »Leo« und stillten ihren Hunger mit Hamburger und Pommes.

»Hey, hast du das gesehen, wieder einer, der das Durchfahrtverbot zwischen Rettigstraße und Leopoldsplatz ignoriert«, unterbrach Markus Gebhardt seine Mahlzeit, während er dem weißen Mercedes nachschaute, der soeben den Streifenwagen passiert hatte.

»Haben wir vergessen, die Poller wieder hochzufahren?«

Seine junge Kollegin tauchte eine Pommes in die Mayonnaise.

»Nein, der hat die Sperren einfach umfahren.«

Markus Gebhardt schüttelte den Kopf. »Das gibt’s doch gar nicht, das ist ja an Dreistigkeit nicht zu überbieten.«

»Na ja, ich kann es ihm nicht verdenken, die Umgehung zum Autobahnzubringer ist ja ein derartiger Umweg«, entgegnete Kirsten, »und außerdem fährt so eine S-Klasse so leise, dass sie garantiert niemanden aus dem Schlaf reißen kann.«

Markus Gebhardt hob die Schultern und sah noch immer in die Richtung, in der der Mercedes soeben verschwunden war. »Aber über den Gehweg zu fahren, das ist schon eine Frechheit.«

Die Streifenbesatzungen waren in solchen Fällen häufig nachsichtig, so dass die Beiden in diesem Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung im Augenblick keinen ausreichenden Grund sahen, ihr mitternächtliches Dinner zu unterbrechen.

Die Kommissaranwärterin wandte sich an ihren Schichtführer. »Was kostet denn das überhaupt, ich meine, das Fahren über den Gehweg?«

»Keine Ahnung, das musst doch du wissen, du hast doch das erst auf der Polizeischule gelernt.«

Kirsten Schweickert stellte ihren Pappbecher auf der Motorhaube ab. Sie band ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz, bevor sie ihr Handy aus der Tasche zog und kurz darauf herumtippte. »Ordnungswidrigkeit! Ganze 10 Euro. Deswegen lohnt es sich kaum, dass wir ihm hinterherfahren.«

Markus schaute sie fragend an. Kirsten lachte und zeigte auf das Display ihres Smartphones. »Steht hier, im bundeseinheitlichen Tatbestandskatalog.«

Gebhardt wiederholte die letzten Worte. »Bundeseinheitlicher Tatbestandskatalog. Den hatte ich auch einmal gebüffelt. Vielleicht sollte ich noch einmal auf die Schule gehen, aber mit euren Handys habt ihr ja alle inzwischen eure eigene Bibliothek dabei, da kann so ein Dinosaurier wie Unsereiner nicht mehr mithalten.« Kirsten steckte ihr Handy wieder ein, nahm ihren Becher und trank einen Schluck. »Ich denke, mit deinen noch nicht einmal fünfzig Jahren könntest du dich vielleicht doch noch dazu überwinden, dir so ein Ding zuzulegen. Damit wärst du wieder ganz vorne mit dabei.«

Markus Gebhardt runzelte die Stirn und wiegte den Kopf hin und her, bevor er sich wieder seinem Burger widmete, während seine junge Kollegin weitersprach.

»Das musst du einmal erleben, wie sich das anfühlt in so einem Fünfliterschlitten. Du gleitest so ruhig dahin, hörst so gut wie keinen Laut vom Motor, das ist einfach nur entspannend, man fühlt sich wie auf der Liege im Ruheraum der Caracalla-Sauna.«

»Leiser als unsere E-Klasse?«

»Viel leiser, ja. Das Dieselmotörchen in unserem Streifenwagen grummelt ja doch noch hörbar vor sich hin, aber von diesem V8 hörst du einfach gar nichts.«

»Und woher weißt du das als überzeugte Radfahrerin? Ich dachte, Autos sind für dich Teufelswerk, abgesehen natürlich von deinem kleinen Twingo, aber der wird ja wohl kaum in dieser Liga mitspielen.«

»Hm, du weißt doch, dass ich ab und zu ein paar – na ja, sagen wir mal – etwas betuchtere Herrschaften chauffiere, und dabei habe ich schon so manche Luxuskarre gesteuert. Neulich sogar einmal einen Maserati Quattroporto. Der hört sich allerdings schon ganz anders an. Wenn du dich da nur mal am Bein kratzt und dabei versehentlich das Gaspedal streichelst, löst du ein ungeheures Gewitter aus und es erwacht sofort der Jagdinstinkt.«

Markus Gebhardt war der Einzige, der von dem kleinen Nebenverdienst seiner Auszubildenden wusste. Ihr Bruder Ulrich hatte diese Gelegenheitsjobs eingefädelt. Er arbeitete als Physiotherapeut auf der »Bühler Höhe«, der Klinik mit dem Charme eines Hotels, in dem früher so manche Größen der Politik Erholung gesucht hatten. Inzwischen war es, wie so viele Luxusimmobilien in Baden-Baden, in russische Hände übergegangen, und wer sich da oben auf der Schwarzwaldhöhe tummelte, war alles andere als bettelarm. Ab und zu nahmen diese Herrschaften das Angebot wahr, von einem Fahrer durch die Lande befördert zu werden. Sicherlich war besonders den männlichen Gästen eine so hübsche Erscheinung wie Kirsten Schweickert am Steuer nicht gerade unangenehm. Neben dem hoteleigenen VW-Bus ließen sich die Gäste auch schon einmal gerne in ihrem eigenen Luxusschlitten chauffieren, so sparten sie sich den Stress der Parkplatzsuche beim Shoppen in den teuren Baden-Badener Boutiquen.

Eigentlich waren solche Nebenbeschäftigungen für die Polizisten nicht gerne gesehen, aber es war kein Geheimnis, dass sich der eine oder andere in der Freizeit gerne sein Beamtengehalt etwas aufbesserte. So wurde Markus dafür geschätzt, dass er als Sohn eines Fliesenlegermeisters, dessen Sanitärgeschäft inzwischen von seinem Bruder geführt wurde, dieses Handwerk perfekt beherrschte. Einige der Badezimmer der Kollegen waren bereits unter seinen geschickten Händen in neuem Glanz erblüht, und bei den Preisen für die Fliesen konnte er für sie außerdem einen unschlagbaren Rabatt einräumen.

Kirsten knüllte ihre Pommes Schachtel lautstark zusammen und knetete sie wie einen Schneeball. Nach der King Size Cola erschien sie plötzlich unternehmungslustig. Mit einer übertrieben ausladenden Bewegung, die einen Basketballspieler imitieren sollte, warf sie den Becher gekonnt in den Mülleimer auf der anderen Seite des Gehwegs. »Was meinst du, sollen wir diese edle Limousine einmal unter die Lupe nehmen?«

Markus wischte sich nach dem letzten Bissen seines Hamburgers den Mund ab und konnte einen kleinen Rülpser nicht unterdrücken, bevor er antwortete. »Gut, die Nacht war bisher nicht gerade stressig, von mir aus können wir ja eine Routinekontrolle durchführen. Nur so zur Übung, und natürlich für das Protokoll.«

Kirsten startete den Motor und fuhr los. Der weiße Mercedes fuhr in gemäßigtem Tempo weiter, sie brauchten kein Sondersignal, um den Wagen noch vor dem Zubringer einzuholen. Gebhardt schaltete den Schriftzug »Stopp« im Heckfenster ein. Der Wagen fuhr nach rechts und hielt neben einer Tankstelle an. Im Schein der Preisanzeigen konnten die beiden Polizisten erkennen, dass der Fahrer ein eher osteuropäisches Aussehen hatte, einen leicht dunklen Teint, dichte schwarze Haare, schwarzer Schnurrbart. Sein Anzug sah nach einer makellosen Schneiderarbeit aus. Er trug einen auffallend großen goldenen Ring am linken kleinen Finger. Außer ihm waren keine weiteren Personen im Auto.

»Guten Abend, dürfen wir bitte Ihren Fahrausweis und die Fahrzeugpapiere sehen?«

Der Fahrer griff in seine linke Westentasche und zog seinen Führerschein hervor. »Etwas nicht in Ordnung? Ich zu schnell, das nicht kann sein?«, fragte er mit osteuropäischem Akzent.

»Nein, nein, das ist eine reine Routinekontrolle«, beschwichtigte ihn der Hauptwachtmeister. Er trat einen Schritt zurück und versuchte vergeblich, die kyrillische Schrift in dem Führerschein zu entziffern, während der Fahrer im Handschuhfach nach dem Fahrzeugschein griff. Der Russe übergab Markus seinen Reisepass.

Der Hauptwachtmeister drehte sich zu seiner Kollegin um und leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Pass. »Alexander Akatov, geboren in Alma Ata, Kasachstan«, murmelte er leise vor sich hin. Obwohl es nur ein kurzes Zucken im Mundwinkel war, entging ihm nicht, wie Kirsten bei dem Namen erschrak. Der Polizist hätte erwartet, dass sie inzwischen den Kraftfahrzeugschein mit den Nummernschildern abgleicht und die Daten per Funk an das Revier weiterleitet, aber sie hielt sich ganz im Hintergrund und überließ ihm diese Arbeit, wodurch er sich jetzt als alleiniger Akteur in diesem Szenario fühlte.

»Wo kommen Sie gerade her? Sie sind soeben durch die gesperrte Lichtentaler Straße gefahren.«

»Ich im Casino, etwas Geld gewinnen, jetzt fahren nach Hause.«

»Das ist ein Mietwagen. Wo ist Ihr zu Hause?«

»In Russland, in Rostov. Mein Flugzeug geht bei Baden-Airport.«

»Sie wissen, dass Sie einen Internationalen Führerschein mitführen sollten?« Gebhardt wartete die Antwort nicht ab. Als er sich Kirsten zuwenden wollte, stellte er überrascht fest, dass sich seine Dienstpartnerin zu ihrem Polizeiauto zurückgezogen hatte. Er ging die paar Schritte zu ihr. »Was meinst du, sollten wir einmal einen Blick in den Kofferraum werfen?«, sagte er leise, aber Kirsten schüttelte nur den Kopf und flüsterte: »Komm, lass gut sein.« Sie öffnete die Fahrertür des Streifenwagens und deutete mit einer Handbewegung an, dass sie gerne weiterfahren würde.

Polizeihauptwachtmeister Markus Gebhardt ging zurück und stellte sich seitlich neben die B-Säule des weißen Mercedes.

»Wieviel kostet, Fahren durch Straße?« Herr Akatov hatte bereits ein Bündel Euroscheine in der Hand.

»Nein, alles in Ordnung, wir lassen das heute mal durchgehen. Wie gesagt, nur eine Routinekontrolle, aber das nächste Mal kostet es was. Danke schön und gute Fahrt.«

Der Fahrer des Mercedes steuerte seinen Wagen auf die Bundesstraße 500, zog am Autobahnanschluss vorbei weiter in westliche Richtung. Die Ampel an der B 36 war auf Nachtbetrieb geschaltet und blinkte gelb, also drosselte er das Tempo, um sich nach kreuzendem Verkehr umzusehen. Er hatte zunächst den Lieferwagen gar nicht bemerkt, der ohne Licht von links heranbrauste und sich mit quietschenden Reifen direkt vor ihm quer stellte. Nur mit einer Vollbremsung konnte der Russe einen Aufprall verhindern. Sofort sprangen zwei maskierte Männer aus dem Lieferwagen, einer von ihnen hielt eine Pistole in der Hand. Alexander Akatov griff neben sich in die Ablage der Mittelkonsole. Obwohl ihm sofort klar war, dass die nächsten Sekunden über sein Leben entscheiden konnten, blieb er ruhig. Im Zeitraffer gingen ihm die Optionen durch den Kopf, die ihm blieben. Es war eine kluge Idee gewesen, die Walter P99 mitzunehmen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich mit einer Pistole aus einer Klemme befreien musste. Der kalte Stahl fühlte sich gut an, obwohl es nicht seine eigene Waffe war. Sie gab ihm in diesem Moment eine Illusion von Sicherheit, selbst in dieser fatalen Situation.

Er hielt die automatische Pistole zwischen seinen Knien nach unten und lud das Magazin durch, dann öffnete er ruckartig die Fahrertür, drehte sich auf seinem Sitz nach links und zielte auf den ersten der heranlaufenden Männer. Er drückte sofort ab, sein Arm hatte jedoch zwischen Türrahmen und Karosserie nicht genügend Platz, um einen zweiten Schuss auf den Angreifer abzugeben. Die Kugel hatte ihr Ziel offensichtlich nicht ganz verfehlt, mit einem lauten Schrei sackte der Verletzte auf die Knie. Akatov wollte aussteigen, aber der zweite der beiden Männer warf sich mit voller Wucht gegen die Fahrertür.

Akatov stöhnte, als seine Beine zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt wurden. Er wusste instinktiv, dass er jetzt handeln musste, um das hier zu überleben. Er feuerte ein, zwei Schüsse durch die Fahrertür. Der Maskierte stand plötzlich regungslos da. Er bot jetzt durch die Seitenscheibe ein nicht zu verfehlendes Ziel. Von der dritten Kugel wurde er zurückgeschleudert und stürzte rücklings auf den Asphalt. Akatov richtete sich auf und drehte sich dem bewaffneten Räuber zu, der noch immer auf der Straße kniete. Aber bevor er ein weiteres Mal abdrücken konnte, hörte er den Knall aus der gegnerischen Waffe. Er spürte einen dumpfen Schlag gegen die Brust, wie ein Fausthieb, dann einen vernichtenden Schmerz in der rechten Schulter. Danach hörte er nichts mehr, kraftlos sackte sein Körper zusammen.

Samstag, 10. August

DER ÜBERFALL

»Sag mal Kirsten, was war denn vorhin mit dir los? Hattest du plötzlich Angst vor deiner eigenen Courage, oder was?« Sie hatten ihre Streife nach Lichtental fortgesetzt und waren jetzt unterwegs zurück zum Revier. Markus Gebhardt wischte sich mit dem Unterarm ein paar Schweißtropfen von der Stirn und schaute missmutig zu seiner Kollegin. Zynismus war nicht unbedingt seine Art. Er gehörte nicht zu den Kollegen, die versuchten, die jungen Kommissaranwärter aus Neid auf deren Aussichten auf den gehobenen Dienst bloßzustellen oder zu drangsalieren. Außerdem schätzte und mochte er seine Auszubildende und achtete immer sorgfältig darauf, jede Art von Machogehabe zu vermeiden, was man nicht von allen Polizisten behaupten konnte. Jetzt aber machte er keinen Versuch, seinen Ärger zu verbergen.

»Ach, es war nichts, wie kommst du darauf?«

»Na komm, du kannst mir doch nichts vormachen, da stimmte doch irgendetwas nicht! Du hast dich plötzlich aus der Sache zurückgezogen, dabei war es doch deine Idee, den Wagen zu kontrollieren. Außerdem bist du doch jetzt schon eine Weile dabei und weißt, wie wir das hier handhaben.«

»Du weißt doch, was das für ein Aufwand gewesen wäre, alle Daten zu überprüfen. Schließlich hätte der Mann seinen Flieger verpasst, und am Ende hätte sich sowieso herausgestellt, dass er ein unbeschriebenes Blatt ist.« Markus Gebhardt runzelte die Stirn und verdrehte die Augen. Er wollte noch etwas sagen, verkniff sich dann jedoch einen weiteren Kommentar. Auch Kirsten Schweickert blieb stumm. Während sie auf ihrer Unterlippe kaute, vermied sie den Blickkontakt zu ihrem Beifahrer.

Die Uhr im Blatt des Tachometers zeigte inzwischen fast drei. Beide mochten diese Stunden bis zum Sonnenaufgang nicht, es war die Phase der größten Müdigkeit. Es kostete einiges an Anstrengung, in dieser Zeit wach zu bleiben, daran konnten auch die Hits aus dem Radio nichts mehr ändern, und einer steckte den anderen mit seinem Gähnen an. Ein Funkspruch riss sie aus ihrer Lethargie.

»Berta Acht Zwo Zwölf, bitte melden.« Markus Gebhardt nahm den Hörer aus der Halterung.

»Zwo Zwölf hört.«

»Wo seid ihr gerade?«

»Brahmsplatz.«

»Mit Signal zur B 500, Anschluss B 36, dort Überfall. Notarzt und Feuerwehr sind alarmiert, vermutlich Tote. Achten Sie auf Eigenschutz, Verstärkung wird angefordert.«

»Verstanden, sind unterwegs.« Die Polizeianwärterin wendete den Mercedes und fuhr mit Blaulicht zurück zum Eingang des Stadttunnels. Mit Sondersignal rasten sie durch die leere Betonröhre. Das blaue Blinklicht wurde von den Wänden zurückgeworfen und zauberte ein Lichtspiel wie in einer Diskothek. Im Radio lief Michael Jacksons »Thriller« auf SWR 1. Normalerweise hätten sie jetzt die Lautstärke bis zum Flattern der Hosenbeine hochgedreht, sie waren beide Jacko-Fans, und »Thriller« war in den Wochen ihrer Zusammenarbeit trotz ihres Altersunterschiedes zu so etwas wie ihrem Team-Song geworden. Doch die Einsatzorder hatte sie nicht gerade in Hochstimmung versetzt.

Markus Gebhardt schaltete das Radio aus, als im Tunnel nur noch ein Krächzen empfangen wurde. Als sie am Ende des Tunnels auftauchten, war der Rettungswagen bereits vor ihnen auf den Zubringer eingeschert. Kirsten Schweickert trat das Gaspedal ruckartig durch, die Automatik schaltete einen Gang zurück und mit heulender Sirene zog sie auf der Überholspur vorbei.

»Auch das noch! Ich denke, wir werden vor dem RTW da sein, das sieht nicht gerade gut aus.«

»Tja, das ist nun dein neuer Job«, entgegnete Markus Gebhardt mit dem ihm eigenen Galgenhumor. Aber seine Stimme verriet, dass ihm alles andere als zum Lachen war.

An der Ampelkreuzung hatte sich bereits ein kleiner Stau gebildet. Leute liefen um den weißen Mercedes herum, ein Mann stand am Straßenrand und erbrach sich. Kirsten stockte der Atem, als sie den Wagen sah.

»Scheiße, das ist ja unser Russe von vorhin«, entfuhr es Markus Gebhardt. Sie sprangen aus dem Streifenwagen und bahnten sich den Weg durch die Schaulustigen, die Taschenlampen in der Hand. Auf dem Fahrersitz des Mercedes saß Alexander Akatov. Der Oberkörper war halb nach rechts gekippt, das Hemd war blutüberströmt. Ein leises Stöhnen und Blubbern kamen aus seinem Mund, der voller blutigem Schaum war. Einen Moment lang dachten sie an das, was sie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatten, aber zu dieser extremen Situation fiel ihnen kein passendes Rezept ein. Erleichtert nahmen sie zur Kenntnis, dass der Rettungswagen und kurz dahinter das Notarztfahrzeug eintraf. Die Rettungsassistenten teilten sich auf, die Trage wurde geholt, ein anderer schaute nach dem zweiten Opfer. Der Mann lag leblos in einer Blutlache, die Augen weit aufgerissen, neben dem Kopf lag eine dunkle Wollmütze, eine Tarnmütze. Einer der Anwesenden hatte sie ihm vom Kopf gezogen, sich dann jedoch gescheut bei dem Leblosem mit Reanimationsmaßnahmen zu beginnen, wie er es vor Jahren für den Führerschein gelernt hatte. Der Rettungsassistent versuchte nur kurz, einen Puls zu ertasten und begann unmittelbar mit der Herzdruckmassage. Sein Kollege klebte vier EKG-Elektroden auf und schaltete den Monitor ein.

»Nulllinie«, kommentierte er trocken. »Mach mal weiter, ich sage kurz Bescheid«. Er lief zurück zum Notarzt, der seine erste orientierende Untersuchung des noch Lebenden abgeschlossen hatte und gab ihm Meldung.

»Schau dir eben mal den anderen an. Ich glaube, da ist nichts mehr zu machen, in der Zwischenzeit holen wir ihn hier erst einmal raus.«

Die Kommissaranwärterin schaute Gebhardt hilfesuchend an. »Was sollen wir denn jetzt tun?«

»Das mit der Tatortabsperrung ist ja wohl gelaufen, versuche doch jetzt erst einmal herauszufinden, wer etwas gesehen hat und vor allem, wer die 110 angerufen hat. Und alle, die später dazugekommen sind, schickst du weiter, ich kümmere mich derweil um die Absicherung.«

Ein weiteres Polizeiauto kam mit Blaulicht angerast. »Die Verstärkung«, bemerkte Markus trocken. »Die Kollegen aus Rastatt. Ich werde sie bitten, die Umleitung zu organisieren. Ich hoffe, es wird nicht mehr lange dauern, bis die Kripo hier aufschlägt.«

GOLFPLATZ BADEN-BADEN

Karl Berger ging noch einmal prüfend um die Fahne auf dem zweiten Grün des Golfplatz Baden-Baden herum, bevor er sich an den Vier-Meter-Putt wagte. Noch war das Gras etwas feucht von der vergangenen Nacht, und es war schwer abzuschätzen, wie sehr der Ball dadurch beim Rollen abgebremst würde. Andreas König hatte seinen Ball schon eingelocht und war mit seiner Fünf auf der langen Bahn zufrieden.

»Lass die Fahne ruhig stecken, das gibt ja sowieso nichts, auf die Entfernung«, rief ihm Berger zu. Er gab seinem Ball einiges an Tempo mit und hatte den Lauf der Kugel bereits mit einem »viel zu schnell« kommentiert, als der Ball mittig auf den Flaggenstock traf und mit einem Klackern im Loch verschwand. König lächelte ihm zu.

»Na also, geht doch, sei doch nicht immer so pessimistisch. Beide mit einem Par durchgekommen, das passt doch!«

Für Kriminalhauptkommissar Karl Berger und seinen alten Schulfreund Andreas König war das gemeinsame Golfspiel am Samstagmorgen zu einem festen Ritual geworden. Auch wenn Karl Berger sich das ein- oder andere Mal vor der Verabredung drücken wollte, schaffte es der Direktor des Baden-Badener Casinos regelmäßig, ihn aus der Melancholie herauszuholen, die den Kommissar an manchen Wochenenden fest im Griff hatte. Heute war König in aller Frühe mit seinem vierzig Jahre alten Porsche Targa bei seinem Freund vorgefahren und hatte ihn zu Hause mit den Worten: »Widerstand zwecklos« abgeholt. Und hatte hämisch grinsend hinzugefügt: »Wenn Sie kooperieren, kann sich das strafmildernd auswirken.« Berger hatte zunächst mürrisch dreingeblickt, konnte sich aber am Ende nicht gegen ein Lachen wehren.

Den Abschlag auf der 3. Bahn verzog Karl Berger weit nach links. Sein Ball landete in tiefstem Rough. »Das gibt’s doch wohl nicht«, kommentierte er verärgert. »Jetzt ist das Loch Drei doch gerade einmal hundert Meter lang. Hier bräuchte man eigentlich keinen Schläger, man könnte den Ball auch aufs Grün werfen. Und das soll dann auch noch Spaß machen!«

König legte lachend seine Hand auf die Schulter seines Partners. »Hör mal, Golf ist nicht dazu da, Spaß zu haben. Das ist schließlich eine todernste Sache. Aber das mit dem Werfen wäre ja keine schlechte Idee. Jedenfalls hättest du als ehemaliger Kugelstoßer dabei sicherlich die besseren Karten.«

Berger winkte ab. »Ach, lass mal, das ist lange her! Damals bestanden meine fünfundneunzig Kilo noch zu einem großen Teil aus Muskeln. Davon geblieben ist leider nur die angezeigte Zahl auf der Waage.«

Zwei Bahnen weiter hatte König seinen Ball im angrenzenden Wald verloren.

»Vielleicht sollten wir die Sache nicht zu lange ausdehnen, die beiden älteren Damen hinter uns sind uns schon auf den Fersen«, sagte Andreas König.

Berger sah verärgert zurück. »Ich mag das nicht, wenn der Flight hinter uns so dicht auf den Fersen ist. Aber mit diesen Fairway-schubserinnen in ihren rosa Golfklamotten ist es immer dasselbe. Sie schlagen kaum weiter als neunzig Meter, bleiben aber immer schön auf der Bahn. Und am Ende brauchen sie weniger Schläge als Unsereiner.«

Schließlich gaben sie den Ball auf und begaben sich zum nächsten Abschlag.

Karl Berger hatte gerade den Ball auf das Tee gelegt, als sein Diensttelefon klingelte. Mit einer entschuldigenden Geste nahm er das Handy aus dem Golfbag. Er meldete sich kurz.

»Hallo Brax! Auf dem Golfplatz, ja. Ein Verkehrsunfall? Ja, und weiter, das machen doch die Kollegen von der Unfallaufnahme! Ein Schwerverletzter und ein Toter? Aha! Na gut, dann also die Unfallaufnahme, der Notarzt, der Rettungswagen und der Leichenwagen. Ich verstehe nicht, was haben wir damit zu tun?« Für eine halbe Minute lauschte er der Stimme am anderen Ende, bevor er überrascht reagierte. »Ach, du Scheiße! O.K., ich komme so schnell wie möglich. Aber eine Dreiviertelstunde werde ich schon brauchen.« Er wandte sich an seinen Golfpartner. »Sorry Andreas, aber du musst allein weiterspielen. Das war mein Assistent Braxmeier, ich muss los.«

»Ich dachte, du hast heute frei, es ist schließlich Wochenende?« »Ja, aber Brax ist so einer Sache alleine nicht gewachsen. Wie komme ich jetzt am schnellsten zum Clubhaus?« Es war weniger eine Frage als der ausgesprochene Gedanke an den mühsamen Weg zurück.

»Wir sollten das nächste Mal vielleicht doch einen Golfcart nehmen«, bemerkte König. Karl Berger winkte ab.

»Das kann ich mir bei meinem bescheidenen Gehalt als Kriminalkommissar nicht leisten, und ich denke nicht, dass das Finanzamt mir das als Dienstfahrt anerkennen würde.«

Inzwischen waren auch die beiden Damen am Abschlag angekommen. Ihre Mienen verhießen nichts Gutes.

»Wenn Sie schon telefonieren müssen, so sind Sie doch sicherlich so nett und lassen uns durchspielen?«

»Aber bitte doch, ja«, antwortete König höflich, »wir hören sowieso hier auf, also spielen Sie ruhig.« Berger drehte sich noch einmal um, während er den Eisenschläger in seine Golftasche zurücksteckte.

»Du kannst doch weiterspielen, musst doch nicht wegen mir abbrechen.« Andreas König winkte ab.

»Und wie willst du in die Stadt kommen? Ich fahr’ dich natürlich.« Eine der beiden Damen sah König lächelnd an. »Sie können sich doch gerne uns anschließen, das wäre doch schade, wenn Sie jetzt aufhören würden.« Andreas König legte die Stirn in Falten, während Karl Berger ihm mit einem Grinsen im Gesicht zunickte. »Du wirst doch so ein Angebot sicherlich nicht ausschlagen!« Er wandte sich an die Damen. »Ich darf mich verabschieden. Ich wünsche Ihnen Dreien weiterhin ein schönes Spiel.« Mit einer flüchtigen Handbewegung machte sich Berger auf den Weg. Auf dem steilen Gelände kam er schnell außer Atem, während er sich mit dem Handy ein Taxi an den Parkplatz des Golfclubs bestellte.

IM BÜRO

Eugen Braxmeier schaute von seinem Computerbildschirm auf, als Hauptkommissar Berger in ihr gemeinsames Büro eintrat. Braxmeier sah übernächtigt aus. Die Aufregung der vergangenen Stunden, in denen er als Diensthabender des Kriminaldauerdienstes alleine auf sich gestellt war, hatten ihre Spuren hinterlassen. Seine Frisur hatte bis zum Morgen noch keine Bürste gesehen. Seine Handbewegungen wirkten fahrig. Er beugte sich wieder über seine Tastatur und vertippte sich mehrfach bei dem Versuch, den angefangenen Satz in seinem Bericht zu Ende zu schreiben, bevor er mit einem Stoßseufzer aufgab. »Gut, dass du da bist! Ich hatte schon in der Nacht versucht, dich zu erreichen.«

Karl Berger überging den leicht anklagenden Unterton in der Stimme seines jungen Assistenten. »Ich hatte beide Telefone ausgeschaltet. Schließlich steht auch mir einmal ein ungestörtes Wochenende zu.«

»Ja, natürlich, das sollte kein Vorwurf sein, entschuldige bitte.« Berger lehnte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schon gut, schieß los.«

Eugen Braxmeier rieb sich die Augen, während er angestrengt nachdachte, wie er anfangen sollte. »So wie es aussieht ein Raubüberfall. Auf der Kreuzung das reinste Chaos. Ein erschossener Toter auf der Straße, ein angeschossener Schwerverletzter im Auto. Vielleicht noch weitere Personen, die sich aus dem Staub gemacht haben.« Er schilderte in knappen Worten, wie er den Tatort vorgefunden hatte. Kommissar Berger hatte Mühe, den Ausführungen seines Kollegen zu folgen. »Zeugen?«, fragte er knapp.

»Ja, zwei Autofahrer waren zuerst da, von ihnen kam auch der Notruf. Ich habe mit ihnen gesprochen. Einer der beiden sagte, er habe noch die Rücklichter eines Lieferwagens gesehen, der in Richtung Elsass fuhr. Aber Modell, Farbe, Kennzeichen: Fehlanzeige! Viel mehr war nicht zu erfahren.«

»Hast du eine Idee, worauf es der oder die Räuber abgesehen haben könnten? Vielleicht auf das Auto?«

Braxmeier hob die Hände in Richtung Decke. »Keine Ahnung! Ich habe den Wagen nicht angefasst, ich wollte keine Spuren verwischen.«

»Und wer war von uns alles dort?«

»Markus Gebhardt und Kirsten Schweickert hatten Streifendienst. Sie waren heute früh ganz schön fertig. Dann natürlich die Spurensicherung, die dürften inzwischen abgerückt sein. Aber vielleicht sollten wir beide nochmal hinfahren, du willst dir sicherlich selbst ein Bild machen.«

Berger nickte kurz, gab sich einen Ruck und griff nach dem Schlüssel des Dienstwagens.

GOLDKANAL

Marianne Gerstner schnappte ihre Tasche, sprang vom Stuhl auf und beeilte sich, aus dem Klassenzimmer zu kommen. Es war der letzte Schultag vor den Sommerferien, und für ihre Klasse der letzte Schultag überhaupt. Das Abitur war geschafft! Der Unterricht hatte nur noch Unterhaltungswert gehabt. Der Physiklehrer des Markgraf-Ludwig-Gymnasiums hatte über die scheinbare Unvereinbarkeit der Quantenmechanik mit den Gravitationstheorien referiert sowie über die Bedeutung des Urknalls für das Verständnis des Universums, eine Vorschau auf das, was die naturwissenschaftlich Orientierten unter ihnen im Studium erwarten könnte. Für ihren Klassenkameraden Linus Bender, den Überflieger des naturwissenschaftlichen Zweiges des Gymnasiums, waren das alles bereits alte Kamellen. Er las Einsteins Abhandlung über die Verbiegung von Raum und Zeit wie andere Leute einen Asterix-Comic.

Physik war nicht gerade Mariannes größtes Interessengebiet. Sie wartete dagegen auf die Zusage der Universität Freiburg zum Sportstudium. Ihre Chancen darauf standen gut. In der vergangenen Saison war man landesweit auf ihre Erfolge im Schwimmsport aufmerksam geworden.

Trotz allem hätte sie unter normalen Umständen Gefallen an dem spannend dargebotenen Thema gefunden. Doch war es ihr nicht gelungen, sich ununterbrochen auf den Vortrag zu konzentrieren. Zu sehr war sie die ganze Zeit beschäftigt mit dem Schicksal ihres Vaters, über dessen Aufenthaltsort es bis jetzt keinen einzigen Anhaltspunkt gab. Die Belastung durch die Ungewissheit hatte die Familie in den letzten Tagen gelähmt. Trotzdem konnte Tim seine Schwester dazu überreden, zum Zelten mitzukommen. Das gemeinsame Wochenende am Goldkanal mit ihrem Banknachbarn Linus und Tims bestem Freund Konrad sollte ein kleiner Trost sein für die lange geplante Auslandsreise, die Marianne in letzter Minute abgesagt hatte.

Tim hatte bereits alles besorgt: Das Grillgut und allerlei Getränke, dabei auch den Sechserpack Bier, den Ghettoblaster und das Frisbee. Sie zwängten sich zu dritt in den alten Fiat 500 Giardiniera, der Stolz von Tims Vater, der das Auto einst von einem Bauern in der Toskana erstanden und einige Zeit damit verbracht hatte, den Wagen zu restaurieren. Tim hatte in jeder freien Minute daran mitgearbeitet, ohne zu ahnen, dass das Auto sein Geschenk zum Abitur sein würde. Das war jetzt fünf Jahre her.

Linus setzte sich auf den Beifahrersitz, Zelt, Schlafsäcke und Isomatten auf dem Schoß, Marianne teilte sich den Rücksitz mit dem Rest des Gepäcks, welches im Kofferraum keinen Platz mehr gefunden hatte. Konrad, Tims engster Freund, hatte sich entschieden, mit dem Fahrrad zu fahren. Für ihn standen demnächst die Abschlussprüfungen in seinem Studium zum Lehrer für Englisch und Sport an, und so kam er wenigstens zu einer kleinen Trainingseinheit. Es war ein heißer Tag, die jungen Leute hatten das Stoffschiebedach und die Seitenfenster geöffnet und ließen sich den Fahrtwind um die Ohren wehen. Es war alles so, wie man es sich für ein perfektes Wochenende wünschte, doch auch die Freunde waren durch das Geschehene befangen und wussten nicht recht, ob sie sich der Erleichterung nach den letzten anstrengenden Wochen so einfach hingeben durften.

Herr Gerstner war von einem Ausflug am Wochenende nicht mehr nach Hause gekommen. Er wollte mit dem Fahrrad an den Goldkanal fahren. Seiner Frau hatte er eine Nachricht hinterlassen, er würde nach der Segeljolle schauen, die er dort liegen hatte. Er hatte sich am Samstagnachmittag auf sein Mountainbike gesetzt und war am Abend nicht zurückgekommen. Frau Gerstner war zunächst nur wenig beunruhigt, hatte aber doch ein merkwürdiges Gefühl, dass etwas nicht stimmen könnte. Es kam schon gelegentlich vor, dass ihr Mann auf dem kleinen Boot schlief. Manchmal saß er am Abend mit den Kameraden vom Ruder-Club Rastatt bei ein paar Bieren zusammen. Dann blieb er einfach über Nacht auf dem Boot. Normalerweise meldete er sich dann zu Hause und sagte Bescheid, damit man nicht auf ihn wartete. Doch diesmal hatte er nicht angerufen. Nicht am Abend und auch nicht am nächsten Morgen. Seither war er spurlos verschwunden. Es gab auch keine Nachricht von ihm. Das war jetzt genau eine Woche her.

Natürlich hatte Frau Gerstner die Polizei eingeschaltet. Sie rieten zunächst zu warten, nahmen aber am Montag darauf doch etwas widerwillig den Sachverhalt auf. Es wurde eine Vermisstenmeldung herausgegeben. Frau Gerstner und deren Kinder Tim und Marianne wurden ausgiebig über den Ehemann und Vater befragt. Es sei nichts Außergewöhnliches, dass sich jemand auf diese Art aus einer für ihn belastenden Situation befreit, hatte man sie belehrt. Häufig steckten Beziehungsprobleme, eine heimliche Liebschaft, eine »midlife crisis« dahinter, wie sie es nannten. Die Polizei hatte versucht, die Familie zu beschwichtigen, mit dem Hinweis, dass in den meisten Fällen die Männer irgendwann wieder auftauchten, das hätten sie schon mehrfach erlebt. Erst nach Tagen hatte man sich etwas eingehender mit dem Fall befasst. Sie hatten Gerstners Laptop mitgenommen, dutzende Fragen gestellt. Ja, es hatte Unstimmigkeiten in seinem Lebenswandel gegeben. Er war in letzter Zeit öfter spät nach Hause gekommen, hatte nicht immer eine passende Erklärung dafür, wirkte häufig verstockt. Als Sicherheitsingenieur am Forschungsreaktor Karlsruhe wurde er immer wieder aus der Freizeit heraus angefordert, und auch das Kernkraftwerk in Philippsburg brauchte gelegentlich seine Expertise. Klar, dass er keinen geregelten Arbeitstag hatte und es auch vorkam, dass er mitten in der Nacht das Haus verließ, ohne die Familie zu wecken. Ebenso hatte es die Familie längst akzeptiert, dass er nicht berechtigt war, über alle Einzelheiten seiner Tätigkeit zu berichten, er war zur Geheimhaltung über Vieles verpflichtet. Der Abgleich der Abwesenheiten mit den Einsatzzeiten bei seinem Arbeitgeber hatte jedoch Unstimmigkeiten ergeben, Fragen aufgeworfen. Die vielen offenen Fragen hatten auch Frau Gerstner schließlich verunsichert. Hatte ihr Mann Rainer tatsächlich eine Affäre? Die Unsicherheit quälte sie mehr, als es je eine Gewissheit tun könnte, und die Anspannung im Hause Gerstner war zuweilen unerträglich. Welche Gefühle waren angebracht? Trauer oder Wut, Hoffnung oder Endzeitstimmung?