Bakhita - Véronique Olmi - E-Book
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Bakhita E-Book

Véronique Olmi

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Beschreibung

Sieben Jahre alt ist Bakhita, als sie aus ihrem Dorf im Sudan entführt wird. Damals heißt sie noch anders, doch die Erinnerung an ihren Namen verblasst mit jedem Jahr, in dem sie verschiedenen Herren dienen muss. Die Freundschaft mit Binah ist ihr in dieser Zeit der größte Halt, obwohl das Mädchen nicht Bakhitas Sprache spricht. Als ein italienischer Konsul Bakhita kauft, erkennt die junge Frau ihre Chance, das Schicksal zu wenden: Sie setzt alles daran, mit ihm nach Italien zu kommen. Hier hört sie erstmals von Jesus Christus und beschließt, dem "gekreuzigten Sklaven" als einzigem Herrn zu dienen. Doch selbst als die Menschen sich an den Anblick der schwarzen Nonne gewöhnen, stehen die Spuren der Vergangenheit Bakhita ein Leben lang auf den Körper geschrieben und erinnern sie an die Familie, die sie hinter sich lassen musste. Josephine Bakhita (1869–1947) wurde von Johannes Paul II. heiliggesprochen. Véronique Olmi zeichnet das ergreifende und zugleich erhebende Porträt einer Frau, der es gelingt, allen Härten zum Trotz ihr eigenes und das Leben anderer zu retten.

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Seitenzahl: 531

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Véronique Olmi

Bakhita

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Hoffmann und Campe

Für Louis

Für Bonnie

Auch den Namen wird man uns nehmen; wollen wir ihn bewahren, so müssen wir in uns selber die Kraft dazu finden, müssen dafür Sorge tragen, dass über den Namen hinaus etwas von uns verbleibe, von dem, wie wir einmal gewesen.

Primo Levi, Ist das ein Mensch?

EinsVon der Sklaverei zur Freiheit

Sie weiß nicht, wie sie heißt. Sie weiß nicht, in welcher Sprache sie träumt. Sie erinnert sich an arabische, türkische, italienische Wörter, und sie spricht ein paar Dialekte. Einige aus dem Sudan, einen aus Venetien. Die Leute sagen: »Ein Kauderwelsch.« Sie spricht ein Kauderwelsch, und man versteht sie schlecht. Man muss alles wiederholen, mit anderen Wörtern. Die sie nicht kennt. Sie liest mit faszinierter Langsamkeit Italienisch und unterschreibt mit zittriger, fast kindlicher Schrift. Sie kennt drei Gebete auf Latein. Und Kirchenlieder, die sie mit tiefer, kräftiger Stimme singt.

Man bittet sie oft, ihr Leben zu erzählen; sie hat es erzählt, wieder und wieder, von Anfang an. Der schreckliche Anfang interessiert die Leute besonders. Sie hat ihnen in ihrem Kauderwelsch davon erzählt, und so ist ihre Erinnerung zurückgekommen. Indem sie in chronologischer Reihenfolge aussprach, was so fern und so schmerzhaft ist. Storia meravigliosa. So heißt das Buch über ihr Leben. Erst war es eine Artikelserie in einer Zeitschrift, später wurde daraus ein Buch. Gelesen hat sie es nie. Ihr Leben, ihnen erzählt. Sie war stolz und hat sich geschämt. Sie hat sich vor den Reaktionen gefürchtet und sie mochte es, dass man sie mochte, wegen dieser Geschichte, wegen dem, was sie zu sagen gewagt und dem, was sie verschwiegen hat, was die Leute nicht hätten hören wollen, was sie nicht verstanden hätten und was sie ohnehin niemandem je erzählt hat. Eine wunderbare Geschichte. Für diesen Bericht ist ihre Erinnerung zurückgekommen. Ihren Namen aber hat sie niemals wiedergefunden. Sie hat nie erfahren, wie sie hieß. Doch das ist nicht das Wichtigste. Denn wer sie war, als Kind, als sie den Namen trug, den ihr der Vater gegeben hatte, das hat sie nicht vergessen. Wie eine Hommage an die Kindheit bewahrt sie in sich das Mädchen, das sie war. Das Kind, das in der Sklaverei hätte sterben sollen, hat überlebt, dieses Kind war und bleibt, was ihr niemand je zu nehmen vermocht hat.

Als sie zur Welt kam, waren sie zwei. Zwei kleine gleiche Mädchen. Und sie ist das Doppel ihrer Zwillingsschwester geblieben. Ohne zu wissen, wo sie war, lebte sie mit ihr. Sie waren getrennt, aber zusammen, sie wuchsen heran und wurden alt, fern und einander gleich. Nachts vor allem spürte sie ihre Anwesenheit, spürte sie den fehlenden Körper neben ihrem, seinen Atem. Ihr Vater war der Bruder des Dorfchefs in Olgossa, in Darfur. Den Namen ihres Dorfes und der Region haben ihr die anderen gesagt, denen sie ihre Geschichte erzählt hat, sie haben sie mit Karten, Daten und Ereignissen abgeglichen. In Olgossa also hat ihr Vater ihre Zwillingsschwester und sie ins Mondlicht gehalten, um sie zu schützen, und dem Mond hat er zum ersten Mal ihre Namen genannt, die für immer daran erinnern würden, wie sie auf die Welt gekommen waren; und für immer würde die Welt sich ihrer erinnern. Sie weiß, dass es so geschehen ist, sie weiß es untrüglich und für immer. Wenn sie in die Nacht schaut, denkt sie oft an die ausgestreckten Arme ihres Vaters und fragt sich, in welchem Teil der Unendlichkeit ihr Name fortbesteht.

Abends in Olgossa, wenn die Sonne hinter die Steinberge geglitten war, kehrten die Männer und die Herden zurück, die Ziegen knieten sich unter die Bäume, das Eselsgeschrei klang wie misstönende Musik, die Erde war noch nicht kalt, die Leute ihres Dorfes versammelten sich um das Feuer und redeten so laut wie die Menge auf den kleinen Märkten. Sie setzte sich auf das Bein ihres Vaters und legte den Kopf an seine Schulter. Wenn er sprach, ließ seine Stimme die Haut vibrieren. Ein sehr langer Schauer, der einen Geruch, eine Musik, eine Wärme hatte. Ihre Zwillingsschwester setzte sich auf das andere Bein, sie hatte im hereinbrechenden Abend die gleiche Angst. Sie hat oft an diese Abende, an die Süße ihrer behüteten Angst gedacht. Sie hat die Augen geschlossen und den nicht zu beschreibenden, den unerklärlichen Kummer für sich behalten. Sie hat keine Sprache, um es zu sagen, die Wörter, die sie kennt, sind konkret und roh, jedem entspricht eine Zeichnung oder eine Form, sie benennen weder was entflieht noch was besteht. In ihrem Blick kann man den Kontrast zwischen ihrer Kraft und ihrer Unschuld lesen, in ihrem Blick ist immer das, was verloren war und was sie mithilfe ihres Innenlebens wiedergefunden hat. Ihr Leben. Das sie behütet wie ein Geschenk.

Das Gesicht ihrer Mutter muss schön gewesen sein, weil sie schön war. Weil sie immer dafür ausgewählt wurde, für ihre Schönheit. Ihre Mutter muss groß gewesen sein, mit hohen Wangenknochen, breiter Stirn und schwarzen Augen mit einem blauen Schimmer in der Mitte. Wie sie. Sie roch nach gerösteter Hirse, nach bitter-süßem Schweiß und nach Milch. Sie roch nach dem, was sie gab. Sie weiß, dass ihre Mutter danach roch, weil dieser Geruch mehrmals wiedergekommen ist und ihr den Atem geraubt hat. Es war entsetzlich, ihn nicht festhalten zu können, den Schock zu verspüren, ohne seine Süße genießen zu dürfen. Es war entsetzlich und es war auch gut, dieses Aufblitzen zu empfangen, ein paar Sekunden, die sie einfach annehmen musste, wie ein Geheimnis ohne Kummer. Von den elf Kindern, die ihre Mutter geboren hatte, waren vier gestorben. Zwei wurden geraubt.

Sie ist fünf, als es zum ersten Mal passiert. Fünf, sechs oder sieben, woher soll sie das wissen? Sie ist 1869 geboren. Vielleicht etwas früher. Oder etwas später, sie weiß es nicht. Für sie hat die Zeit keinen Namen, sie schreibt nicht gern Zahlen, sie liest die Zeit nicht von den Uhren, nur vom Schatten der Bäume. Die anderen, die sie gebeten haben, von Anfang an zu erzählen, haben ihr Alter berechnet, anhand der Kriege im Sudan und der Gewalt, die ihr später anderswo begegnet ist, denn die Welt ist überall dieselbe, geboren aus dem Chaos und der Explosion geht sie vorwärts, indem sie untergeht.

Sie ist ungefähr fünf, und es ist das Ende der Welt. Jener Nachmittag trägt ein Licht, das nie wiedergekehrt ist, eine ruhige Freude, die vibriert und die niemandem auffällt. Niemand weiß, dass sie da ist. Sie leben im Innern dieser Freude wie geschäftige Vögel; an diesem Nachmittag spielen in ihrem Dorf die Kleinen im Schatten des großen Baobab, und der Baum ist wie ein Vertrauter. Er ist das Zentrum und der Urahn, ist Schatten und Orientierung. Die Alten schlafen zu dieser Stunde. Die Männer ernten die Wassermelonen auf den Feldern. Am Dorfrand dreschen die Frauen Hirse, es ist die ruhige Musik eines friedlichen Dorfes, das seine Felder bestellt, das Bild eines verlorenen Paradieses, das sie bewahren wird, um sich zu überzeugen, dass es existiert hat. Von dort kommt sie, vom Ort der Unschuld, der Güte und der Ruhe. Das ist es, was sie will. Aus einem gerechten Leben kommen. Wie jedes Leben vor dem Wissen um das Böse.

Ihre große Schwester Kishmet ist aus dem Dorf ihres Mannes gekommen, um den Nachmittag bei ihnen zu verbringen. Sie ist ungefähr vierzehn. Ihr Baby hat sie nicht mitgebracht, die Schwiegermutter hütet das Kind, das etwas Fieber hat, und so wird sie für ein paar Stunden wieder zur Tochter ihrer Eltern, sie ist bei der Zwillingsschwester, die in der Frauenhütte Mittagsschlaf macht. Sie ist traurig, weil sie woanders lebt, zu ihrem Mann gehört und nicht mehr zu ihrem Vater, aber sie ist stolz, ein Kind zu haben, ihre Brüste sind voll, vor dem Einschlafen hat die Zwillingsschwester von ihrer Milch getrunken, das hat beide erleichtert.

Der Gesang der Frauen, die die Hirse dreschen, klingt wie das Summen von Insekten, sie ist fünf Jahre alt und spielt neben ihrer Mutter mit kleinen Steinen. Sie tut, was alle Kinder tun, sie erfindet, sie verleiht den Dingen, den Steinen, den Pflanzen Leben, sie erweckt und phantasiert. Die letzten Augenblicke der Unschuld. Mit einem Schlag wird das Wissen auf sie niedergehen und ihr Leben umdrehen wie einen Handschuh. Ihre Mutter singt etwas langsamer als die anderen Frauen, sie hört diese Verzögerung, die Gedanken ihrer Mutter sind woanders, weil ihre älteste Tochter zu Besuch gekommen ist. Bald wird die Tochter sein wie sie. Sie hat schon ein Baby. Sie wird noch eins bekommen. Und noch eins. Das Leben einer verheirateten Frau. Der langsamere Gesang der Mutter verrät den Stolz, die heimliche Sorge. Und die Zärtlichkeit.

Sie ist fünf Jahre alt und sie hat Angst vor Schlangen. Oft zeichnet ihr älterer Bruder mit der Spitze seines Stocks lange Bänder in den Sand, er lacht, wenn sie schreit, das ist ein Spiel, ein Scherz des großen Bruders, und in ihrem Geist werden der Bruder und die Schlange immer verbunden sein. Sie wird dem ungleichen Spiel nachtrauern und den Augen des Bruders, die auf ihren Schreck lauern und schon vorher lachen, diesem spöttischen Blick, den er auf sie richtet und der sie ein bisschen wichtiger macht. An jenem Nachmittag, in dem Moment, wo sie die Spur der Schlange sieht, die vielleicht nicht ihr Bruder gezeichnet hat, hört sie gewaltigen Lärm. Unbekannten Lärm. Sie versteht ihn nicht, aber im selben Augenblick halten die Frauen beim Dreschen der Hirse inne und heben die Köpfe, sie schreien, als hätten sie das Unglück bereits vor Augen, und rennen, um es einzuholen. Ihre Mutter packt sie, ohne sie anzusehen, wie ein Paket, reißt sie hoch wie einen Grashalm und rennt und brüllt. Und dann vergisst sie sie. Lässt sie plötzlich los, im fremd gewordenen Dorf, inmitten der Flammen, und stürzt in die Hütte, wo Kishmet und die Zwillingsschwester schlafen. Sie ist allein. Inmitten von Feuer und Toten. Da bohrt sich das Entsetzen des Verlassenseins in sie. Sie ruft ihre Mutter. Ruft ihren Namen, aber ihr Schrei verliert sich im wütenden Lärm des Feuers und der Schläge der Männer, die es mit Heugabeln und Mörsern bekämpfen, die Wassereimer leeren; der Rauch hüllt das Dorf ein und erstickt es. Das kleine Mädchen hustet und ruft seine Mutter, aber weder sein Schluchzen noch seine ausgestreckten Arme finden Zuflucht.

Als die Mutter in die Frauenhütte kommt, sucht sie Kishmet und findet nur die Zwillingsschwester. Allein und am Leben. Sie schüttelt sie. Küsst sie. Stößt sie zurück. Presst sie an sich. Panische Bewegungen ohne Sinn. Sie schreit die Kleine an: Sag mir, was du gesehen hast! Sie wiederholt mit schriller Stimme, sie befiehlt hysterisch schluchzend, Sag mir, was du gesehen hast! Die Kleine bleibt stumm. Die Mutter weiß, was sie gesehen hat. Sie weiß, was geschehen ist. Sie ist selbst im Krieg geboren, sie kennt die Organisation der Sklaverei und sie weiß, warum man ihre Tochter entführt hat und wozu sie dienen wird. Sie möchte im Bericht der Kleinen ein letztes Bild von ihr finden. Sag mir, was du gesehen hast! heißt Sag mir, dass du sie noch siehst. Aber die Kleine rührt sich nicht. Sie schweigt. Ihr Blick hat sich verändert, er trägt ein neues Wissen, und sie hat noch keine Worte, es auszudrücken.

An jenem Nachmittag waren die Entführer im Galopp gekommen, auf Pferden, mit Feuer, Gewehren, Ketten, Holzgabeln, und hatten mitgenommen, was sie konnten. Vor allem, was jung war. Die Jungen für die Armeen, die Mädchen für das Vergnügen und die Hausarbeit. Sie waren schnell, sie hatten Übung. Sie kannten das Dorf, informiert von Zuträgern, die ihnen den Weg gewiesen hatten und die vielleicht aus dem Nachbardorf stammten. Sie wussten, was sie finden würden.

Die Männer und Frauen von Olgossa sind zu spät gekommen. Ihre Söhne und Töchter haben versucht zu fliehen, sich zu verstecken, aber sie wurden gefangen, verwundet, getötet, und ihre Stimmen verloren sich im lauten Atem der Flammen. Sie sieht verstümmelte, verbrannte, sterbende und schreiende Körper in großen Blutlachen. Sie sieht herumrennende Ziegen, weinende Hunde und stumme Vögel. Sie sieht zerstörte Hütten und zerbrochene Holzgabeln, die den Weg der Entführer nachzeichnen. Das Feuer rast noch von Fleck zu Fleck. Es ist die Unterschrift der Sklavenhändler.

Mehrere Tage bleibt das Dorf so wüst, wie ein Feld nach dem Unwetter. Sie erkennt ihre Zwillingsschwester nicht wieder, erkennt den Ort nicht mehr, an dem sie lebt. Olgossa ist voll vom Klagen der Verletzten, es hört nicht auf, es ist eine Wiederholung des Leidens, das kreist wie ein langsamer, verzweifelter Ruf. Sie erkennt die Menschen nicht wieder, mit denen sie lebt. Die Bewohner haben die Toten eingesammelt und die Fehlenden gezählt. Sie haben die enthaupteten Alten und die amputierten Kinder entdeckt. Die Zerstörung und die Plünderung, die verwüsteten Felder, die sterbenden Kühe, das von aufgequollenen Leichen verseuchte Wasser des Flusses, jedes Lebenszeichen vernichtet. Da haben die Frauen ihre Körper bis aufs Blut zerkratzt und ihre Stirn gegen den Boden geschlagen, haben Schreie ausgestoßen, die sie noch nie gehört hat. Die Männer haben ihre Lanzen und ihre Tamtams ergriffen und sind in der Nacht verschwunden. Der Zaubermann ist gekommen und hat Opfer gebracht. Nach Tagen und Nächten sind die Männer zurückgekehrt. Ohne ihre Frauen anzusehen. Und auch vor ihren Söhnen haben sie den Blick gesenkt. Gegen die Gewehre und das Pulver waren ihre Pfeile und Bögen nur dazu gut, ihre ohnmächtige Anwesenheit zu bekunden. Was für ein Hohn.

Lange behielt das Dorf den Geruch der Körper und des verbrannten Strohs, tagelang wirbelte die Asche herum, bis sie im Wind verschwand, und erst als sie verschwunden war, war alles wirklich vorbei. Aber auf dem Sand, vor der Frauenhütte, hatte der Körper der großen Schwester die Spur einer Schlange hinterlassen, so dick wie der Ast eines Baobabs. Sie sieht die Spur. Auch, wenn die anderen drauftreten. Auch wenn der Regen die rote Erde in Schlammklumpen verwandelt. Sie sieht das Bild ihrer brutalen und stummen Abwesenheit. Diese Warnung. Und sie bewahrt die nackte Angst, die Angst ihrer eigenen Schreie, die ihre Mutter nicht hörte. Eine neue Gefahr: den Schutz ihrer Mutter zu verlieren. Ihrer Mutter, die sie nicht wiedererkennt. Einer unruhigen, nervösen und schlaflosen Frau.

Natürlich haben die Bewohner von Olgossa daran gedacht, ihr Dorf zu verlassen, weil die Händler es jetzt kannten und weil ihre Schergen sicher zurückkommen würden, doch dann dachten sie an die, die früher aus ihren geplünderten Dörfern geflohen waren, ihre Felder verlassen, ihre Herden verloren hatten, die fortgegangen waren zu einem Anderswo, wo sie niemals angekommen waren. Man hatte sie verhungert am Fuß der Berge, in der Ebene, im Wald gefunden. Also sind die Bewohner von Olgossa geblieben. Geblieben ist auch die Angst, beim Holzholen, beim Wasserholen, die Angst, dass die Kinder sich entfernen, dass die Frauen zu schön sind, dass die Gewehre und das Pulver im Galopp zurückkommen. Jederzeit. Bei Tag. Bei Nacht. Und ihre Freude wurde zerbrechlich, gestört von der Trauer und der Ohnmacht und jenem neuen Misstrauen gegenüber Fremden, aber auch und vor allem gegenüber jenen, die keine Fremden waren und die unbeirrt den Weg dahin gewiesen hatten, wo sie zu finden waren.

Ihre Mutter hatte so viele Kinder. So hat sie sich immer an sie erinnert, mit Kindern an den Händen, den Beinen, ihren Bauch wölbend, an ihren Brüsten saugend, auf ihrem Rücken schlafend. Ein Baum und seine Äste. Das ist ihre Mutter. Als Mutter aller Kinder, als liebende und ewige Mutter, als Spiegel aller Frauen, die Leben schenken, bleibt sie immer jung und fruchtbar, bleibt sie liebend und mächtig, ist sie die bedingungslose Liebe, die absolute, die Märtyrerliebe. Mater dolorosa.

Sie hat versucht, die hübschen Bilder der Mutter zu bewahren, die Bilder von vor dem Überfall. Vom Tag des Festes, von ihrem rotbemalten, ölglänzenden Körper, eine aufragende Flamme über dem Sand. Schön wie eine Unbekannte. Die Kinder hielten sich mit schüchternem Lachen an den Händen und folgten ihr. Immer war das Dorf voller Kinder. Man wuchs heran mit einem Kind auf den Armen. Auf der Hüfte. Auf dem Rücken. An der Hand. Man wuchs heran und öffnete die Arme für jene, die nach einem kamen, wuchs heran, um sie zu tragen, und das hatte kein Ende. Die Kinder rissen aus, verstreuten sich, rannten frei und nackt herum, mit schrillen Schreien, Lachen und kurzem Weinen. Und schon wurden neue geboren.

Für dieses Fest, daran erinnert sie sich, hat ihr die Mutter Zöpfe mit roten, gelben und blauen Perlen geflochten, hat ihr auch um die Taille und die Handgelenke rote, gelbe und blaue Perlen gebunden, die ihren Ahnen gehört hatten und das Zeichen ihres Volkes, sein Erkennungsmerkmal waren, wie die Zeichnungen auf den Körpern und den Gesichtern, die Tätowierungen der Lider, die Frisuren und der Schmuck. Farben, die zurückkommen, Fetzen von Kindheit, die auftauchen und an die sie glauben möchte. Vor diesem Fest hat sich ihre Mutter Zeit nur für sie genommen, und als sie fertig war, sagte sie Du bist schön. Da dachte sie, dass sie ein Schmuckstück für sie ganz allein war, und sie schwor sich, dass sie ihr später gleichen würde, sie würde der roten Flamme gleichen, der die Kinder hinterherrannten.

In den zwei Jahren nach dem Überfall dachte sie, sie werde heiraten, werde Kinder haben und die große Leere füllen, die ihre große Schwester hinterlassen hatte. Sie werde das Unglück wettmachen. Die werde sie sein. Die alles wieder in Ordnung bringt. Damit ihre Mutter nicht länger die Frau ist, die stürzt, die Frau, die sich umsieht, die ihr zehnmal am Tag befiehlt, sich nicht zu entfernen, nie mit Fremden zu reden, niemandem zu folgen, der nicht aus dem Dorf ist, auch keinen Frauen, auch keinen Jugendlichen, das ist eine Litanei, die sie nicht mehr hört, das ist der neue Gesang der Mutter.

Sie ist jetzt sieben Jahre alt und weiß, dass ihre große Schwester und andere Mädchen und Jungen hinter den Hügeln verschwunden, dass sie Sklaven geworden sind. Sklave, sie weiß nicht genau, was das ist. Das Wort für Abwesenheit, für ein brennendes Dorf, das Wort, nach dem nichts mehr kommt. Sie hat es gelernt, dann hat sie weitergelebt, wie es kleine Kinder machen, die spielen und nicht wissen, dass sie dabei sind, heranzuwachsen und zu lernen.

Sie ist sieben Jahre alt, sie führt die Kühe zum Fluss, sie geht nie allein, geht nicht weit weg, niemals, aber sie wird gebraucht, und das gefällt ihr. Sie hat ihren Platz. Und ihren Charakter. Man sagt, sie sei fröhlich, immer guter Laune, immer in Bewegung. Ihre Mutter sagt, sie sei »sanft und gut«, deswegen versucht sie auch, wenn sie sich aufregt, wenn sie wütend wird, zu sein, was ihre Mutter von ihr sagt, »sanft und gut«, das hält sie zurück, bringt sie zur Vernunft, sie, die so viel Phantasie hat und sich jeden Tag neue Geschichten ausdenkt, die sie den ganz Kleinen erzählt, die sie ihnen mit Bewegungen und ihrer Stimme vorspielt, um den Worten etwas hinzuzufügen. Sie liebt den Blick der Kleinen, die der Fortsetzung harren, ihre Schreie gespielter Angst, die auf den Mund gepressten Hände, ihr erleichtertes Lachen. Sie liebt es, ihnen diese Momente der Phantasie zu schenken, den Stolz, verborgene Gefühle herauszulassen: die Angst und die Hoffnung.

Sie ist sieben Jahre alt und sie gehorcht ihrer Mutter, die sie eines Nachmittags bittet, am Dorfrand Kräuter zu holen. Sie geht nicht allein, sie geht mit ihrer Freundin, die Sira heißt, sie erinnert sich an einen weichen Namen, warum nicht Sira. Sie geht vor, schwenkt die Arme und singt ihr Liedchen, Als die Kinder von der Löwin geboren wurden, das Lied hat sie sich ausgedacht, sie singt es den Kleinsten vor. Das Lied erzählt von einer alten Frau, die sich daran erinnert, dass die Kinder früher mit Fell und scharfen Zähnen geboren wurden, die sie verloren, als sie heranwuchsen, um richtige Menschen zu werden. Wenn sie sich etwas ausdenkt, ist sie Geist, verlorenes Kind, kriegerisches Tier. Ihre eigene Angst besänftigt sie mit dem glücklichen Ausgang der Geschichte.

An jenem Nachmittag läuft ihre Freundin Siri neben ihr, sie lassen sich ein bisschen Zeit beim Suchen der Kräuter, sie sind matt, der Wind hat sich gelegt, die Sonne hat ihre Härte verloren, vielleicht sind Siri und sie wegen dieser Milde so sorglos und zerstreut. Sie sehen die beiden Männer und misstrauen ihnen nicht. Kein Pulver, kein Gewehr, kein Pferd, zwei Männer, deren Dorf nicht weit entfernt ist. Nachbarn.

Die Nachbarn waren auch Opfer von Überfällen. Sie haben alles verloren. Vielleicht wollen sie eins dieser beiden Kinder gegen eines austauschen, das die Sklavenhändler ihnen genommen haben, vielleicht hoffen sie, ihr Kind zurückzubekommen. Vielleicht sind sie auch selbst Sklavenhändler geworden. Sind aus einem verwüsteten Dorf entkommen und wollen so überleben. Die beiden Mädchen sind allein. Und noch klein. Ein kleines Mädchen lässt sich am teuersten verkaufen, teurer als ein kleiner Junge. Mädchen zwischen sieben und zehn sind besonders begehrt, und dieses, das sehen sie, ist jetzt schon schön, sie sehen die Schönheit, die sich entfalten wird und viel wert ist. Eine Haremsschönheit. Sie lächeln. Sie grüßen, in einem Dialekt, der sich nicht sehr von dem der Mädchen unterscheidet, und sie warten ein bisschen, warten trotz ihrer Ungeduld, reden ganz leise miteinander und verständigen sich darüber, wie sie vorgehen wollen, sie werden nur eine nehmen, die Männer sind nicht mehr ganz jung, und die Kleinen sehen schon kräftig aus, sie werden sich verteidigen wie Löwinnen, eine allein ist weniger riskant, die Schönere natürlich, nur der eine spricht mit ihr, um sie nicht zu erschrecken, der andere hält sich bereit, um einzugreifen, wenn es Widerstand gibt.

Der Mann sagt zu Sira, sie solle weggehen. Ein Stück weggehen. Noch ein Stück. Weiter. Sira weicht zurück, weicht zurück, ohne sich umzudrehen. Er winkt immer noch, und sie gehorcht. Am Fluss bleibt sie stehen. Die Männer sind erstaunt, wie einfach es ist, die Mädchen sagen keinen Mucks, das Dorf ist nah, ein einziger Schrei, und die Männer hätten sich schleunigst davongemacht. Zu ihr sagt der Mann, sie solle in die andere Richtung gehen, zur Bananenstaude. Sie rührt sich nicht. Sie schaut verstört, beinah blöd. Er zeigt zur Bananenstaude, er sagt, sie solle von dort ein Paket holen, sie versteht nicht. Sie sieht zum Baum. Und sie sieht zu ihrer Freundin. Sira hüpft mit weit aufgerissenen Augen von einem Fuß auf den anderen, ohne stehen zu bleiben. Der Mann wird jetzt lauter. Er gehört nicht zu unserem Dorf. Das denkt sie, der Gedanke ist wie ein Pfeil. Ihre Freundin tanzt noch schneller von einem Fuß auf den anderen, und ihre großen Augen starren sie weinend an. Sie spürt die Angst. Sie ist gefangen im Netz der Angst, die von den Männern zu Sira und von Sira zu ihr selbst strömt. Ihre Ohren dröhnen, und ihr Blick verschleiert sich. Der Mann verzerrt das Gesicht, sie sieht seine gelben Zähne, sein Lächeln ist ungeduldig, und der andere, der die Hand in die Hüfte gestemmt hat, atmet laut, er ist wütend. Er lauert, das Dorf ist ganz nah, jemand könnte vorbeikommen, der Tag geht zu Ende, sie werden die Herden heimbringen, das Mädchen ist schön, aber dumm. Sie spürt, wie die Zeit sich verzerrt und sie niederdrückt. Sie sieht kein Paket. Sie kann nicht sprechen. Sie kann nicht schreien. Sie versucht nicht zu fliehen. Sie weiß, dass sie abrutscht, dass sie irgendwohin fällt. Aber sie weiß nicht wohin. Sira, beide Fäuste in den Mund gepresst, der Körper gekrümmt, starrt sie an, und es sieht aus, als würde ihr Körper in der Erde versinken. Die Welt ist stumm und wütend. Der Wind bläst nicht mehr, der weiße Himmel ist von einer einzigen unermesslichen reglosen Wolke bedeckt. Der Mann drängt. Sie sieht den Baum an, zu dem sie gehen soll. Sie weiß nicht warum, aber sie tut es. Sie geht zu dem Baum. Die beiden Männer folgen ihr unter die Bananenstaude, nähern sich ihr vorsichtig. Ihr Herz dröhnt. Wie ein Tamtam, das alle zusammenruft. Der Mann, der die Hand in die Hüfte gestemmt hatte, zieht einen Dolch und drückt ihn ihr an die Kehle, bedeckt mit der anderen Hand ihren Mund, »Wenn du schreist, töte ich dich!«, die Hand ist so groß, sie bedeckt ihr ganzes Gesicht, sie riecht schlecht, und das Tamtam wummert in ihrem Kopf, ihrer Brust, ihrem Bauch, und ihre Beine zittern. Sie weiß nicht, was die Männer wütend gemacht hat. Jetzt brüllen sie in ihrem Dialekt, und der Dolch drückt gegen ihren Hals, sie denkt, dass sie vielleicht kleine Mädchen essen, wie Gazellen. Sie schleifen sie fort, wie eine tote Gazelle, sie ist nackt, wie alle Kinder ihres Dorfes. Sie gehen weiter und schleifen sie mit. Olgossa entfernt sich. Zerfällt schneller als unter den Flammen.

Sie lief mit ihnen, bis die Nacht hereinbrach. Sie hörte nicht, dass die Leute ihres Dorfes sie verfolgten. Sie hörte keine Buschtrommeln. Sie sah ihren mächtigen, gefürchteten Vater nicht auftauchen. Sie lief weiter, immer weiter, es wurde dunkel, und sie wartete immer noch auf sie. Sie würden sich sorgen, sie würden schnell gehen, würden rennen und sie einholen. Aber sie kamen nicht, und da packte sie plötzlich das Entsetzen, die Offenbarung dessen, was sie ausgelöst hatte. Sie sah ihr Dorf brennen. Sie dachte, dass sie ihr deshalb nicht zu Hilfe kamen. Man nimmt ein Kind, und das Dorf brennt, und die Bewohner sind damit beschäftigt, gegen die Zerstörung zu kämpfen. Das hatte sie getan. Sie hatte nicht gehorcht und die Katastrophe ausgelöst, und ein zweites Mal war es zwecklos, ihre Mutter zu rufen, die Arme auszustrecken. Niemand würde sie hören.

Sie hatte gewartet. Sie hatte lange gewartet. War lange gelaufen. Die Nacht brach herein, und dann … Dann, das hat sie nie erzählt. Als hätte sie sich nie daran erinnert. Als wäre es nie geschehen. Das ist keine wunderbare Geschichte. Keine storia meravigliosa. Damit eine Geschichte wunderbar ist, muss der Anfang schrecklich sein, natürlich, aber das Unglück muss erträglich sein, und niemand darf beschmutzt draus hervorgehen, weder die, die erzählt, noch die, die zuhören.

Die Nacht war hereingebrochen. Sie war allein mit den Entführern. Wie soll sie erzählen, wovon sie sich wünscht, sie hätte es nie erlebt.

Der Marsch dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Sie wusste nicht, wo der große Fluss, wo die Dörfer waren, was hinter dem Hügel, hinter den Bäumen und hinter den Sternen war. Also versuchte sie, sich alles zu merken, um den Weg in die andere Richtung, den Weg nach Hause zu finden. Sie hatte Angst und sie merkte sich alles. Sie war verloren und sie sagte es sich auf: Der kleine Bach. Die Weide mit vier Ziegen. Die Düne. Der Busch. Der Brunnen. Zwei Bananenstauden. Dornensträucher. Ein gelber Hund. Ein Esel. Zwei Esel. Eine Zwergpalme. Ein alter sitzender Mann. Akazien. Die Düne. Ein Hirsefeld. Ein Weg mit schwarzen Steinchen. Ein Elefant hinter einem Baobab. Grüne Kräuter. Rote Steine. Sie beginnt von vorn. Zwei Esel. Ein alter sitzender Mann. Akazien. Die Düne. Sie stolpert. Sie fällt. Der kleine Bach. Die Weide. Sie steht wieder auf. Ein Brunnen. Ein Kamel. Der Mond. Sie zögert. Die Sterne: der Hund, der Skorpion und die drei Schwestersterne. Zwei Esel. Nein. Zwei Zwergpalmen. Das Hirsefeld. Sie hört den schrillen Schrei der Hyänen. Die Hitze hat sich in Eis verwandelt, die Nacht kommt, der Wind ist kalt und schnell. Die Landschaft verschwindet. Sie ist inmitten des Unsichtbaren.

Ein Dorfrand. Ein Sandweg, ein paar Hütten, magere Hunde und die Echos eines weit entfernten Lebens. Männer unterhalten sich, zerstreut und unaufgeregt. Sie grüßen die beiden Männer und wenden sich wieder ihrem Palaver zu. Sie sind an geraubte Kinder gewöhnt, das gibt es ständig und überall, immer schon, sie achten nicht auf das kleine Mädchen, zeigen weder Mitleid noch Neugier. Ein ganz normaler Abend.

Die Entführer öffnen eine Tür. Stoßen sie hinein. Sie fällt. Auf harte, eisige Erde. Sie schließen die Tür mit dem großen Riegel. Sie ist voller Entsetzen, und das Wort Mama ist alles, woran sie sich erinnert, das Einzige, was wirklich existiert. Dieses Wort erfüllt ihren Kopf, ihre Brust, ihren ganzen Körper. Es mischt sich mit dem Schmerz, mit der großen Angst vor dem, was man ihr angetan hat, vor dem, was sie nicht versteht, es ist der einzige Name, der ihr bleibt. Ein anderer fehlt ihr: der eigene. In der ersten Nacht haben die Männer sie gefragt, wie sie heißt. Sie hatte zu große Angst, um sie anzusehen. Mit gesenkten Augen sah sie den Dolch. Glänzend und kalt. Wie sie heißt. Wie ihre Mutter sie rief. Wie sie heißt. Wie ihr Vater sie nannte, als er zum Mond sprach. Einer der Männer hat seine Hände auf ihre mageren, von den Akaziendornen am Wegrand zerkratzten Beine gelegt. Wie sie heißt. Sie hat ihren Vornamen am Fluss zurückgelassen. Sie hat ihren Vornamen unter der Bananenstaude gelassen. Er sagte, wie sie auf die Welt gekommen ist. Aber sie weiß nicht mehr, wie sie auf die Welt gekommen ist. Sie weint voller Panik. Nur das Wort für die Mutter bleibt. Ist überall. Und zu nichts gut.

In dem Raum, in den die Männer sie geworfen haben, gibt es keinen Tag, und nie bricht der Abend herein. Hier gibt es keine Sonne. Keinen Mond. Und keine Sterne. Das Draußen dringt einzig durch ein kleines Loch oben in der Wand herein. Hier bleibt sie, lange. Vielleicht einen Monat. Eine Zeit ohne Rhythmus, eine Zeit, die eins ist mit der Furcht. Sie ruft ihre Mutter, und ihre Mutter kommt nicht. Voller Zärtlichkeit fleht sie sie an. Sie bittet um Entschuldigung, entschuldige, es tut mir leid, entschuldige, ich tue es nicht noch mal, bestraf mich, nimm mich zurück, entschuldige. Manchmal erscheint ihr ihre Mutter im Traum, sie hat Erscheinungen, die sie mit ihren Leuten verbinden. Steht die Mutter nachts auf, um nach ihr zu schauen? Bittet sie ihren Vater, sie wiederzufinden? Verflucht sie sie dafür, ihre tiefe, schmerzende Wunde vergrößert zu haben?

Manchmal denkt sie, dass sie ihr ganzes Leben hierbleiben wird, mit den beiden Entführern, die abends mit etwas Brot und Wasser kommen und auch mit Gewalt. Dass sie so heranwachsen wird. Ist das möglich? Kommt das vor? Von aller Welt vergessen zu sein außer von diesen beiden Männern? Für sie allein zu existieren?

Sie ist umgeben von Nacht, und nach dieser Nacht gibt es nichts außer dem Beginn der nächsten. Sie spürt die Ratten, spürt Läuse in ihren Haaren, alles ist unsichtbar und bedrohlich, sie ist schmutzig und gequält, sie trägt einen neuen Körper, voller Schmerz und Scham. Man nähert sich ihr nur, um ihr wehzutun. Anwesenheit ist Bedrohung. Sie wird lange brauchen, bis sie nicht mehr zusammenzuckt, wenn man sich ihr nähert, bis sie keine Angst mehr hat vor einer Hand, die sich ausstreckt, vor einem zu selbstsicheren Blick. Sie wird lange brauchen, um den Instinkt der bedrohten Beute zu beruhigen, selbst in der Freude oder im Schlaf.

Sie schläft zusammengekauert wie ein Fötus, lutscht am Daumen, und manchmal singt sie ihr Lied, Als die Kinder von der Löwin geboren wurden, und legt sich dabei die Hand auf die Brust, um ihre Haut vibrieren zu spüren wie die ihres Vaters. Ihre Stimme zittert wie die Luft in der Mittagssonne, und ihre Haut zerreißt. Wanzenstiche und Mäusebisse zeichnen brennende Male, denen sie mit den Fingern folgt.

Eines Morgens beschließt sie zu fliehen. Sie findet in sich die Kraft zu hoffen, an etwas zu glauben und ungehorsam zu sein. Tagelang kratzt sie in der Erde, an dem Loch oben in der Lehmwand. Auf Zehenspitzen, den Körper gereckt, kratzt sie, so fest sie kann. Sie ist klein, sie ist mager, aber sie beschließt, die ganze Zeit, jeden Tag zu kratzen, dann wird das Loch größer werden, und sie wird heimkehren. Sie entdeckt in sich eine hartnäckige, verbissene Kraft, den Drang zu leben, den man Überlebensinstinkt nennt. Immer wird es in ihr zwei Personen geben: die eine, die der Gewalt der Männer ausgeliefert ist, und die andere, auf unerklärliche Weise bewahrt, die dieses Schicksal ablehnt. Ihr Leben verdient etwas anderes. Sie weiß es.

Jeden Tag kratzt sie und wiederholt Mama, Mama, dieses Wort hält sie, sie lebt im Tempo dieses Wortes, das ein Befehl wird. Schon bald bluten ihre Finger. Schorf bildet sich und reißt auf, wie soll sie das Loch vergrößern, womit? Eines Morgens wirft sie Mäuse hinauf, damit sie ihr helfen. Aber die, die nicht herunterfallen, verschwinden durch das Loch, ohne je daran zu knabbern. Die, die herunterfallen, stoßen schrille Schreie aus, die ihre Angst schüren. Mach mich ganz klein!, bittet sie eines Abends den Mond, den sie nicht sieht, lass mich herauskommen! Sie weint und fühlt sich verschwinden, das Leben verlässt sie. Und dann richtet sie sich wieder auf. Irgendetwas zieht sie, erweckt sie aus der Verzweiflung. Sie sieht das Loch an und spricht zu ihm. Es wird ihr Freund. Ihr Feind. Ein zu zähmendes Tier. Ein anzuflehender Geist. Sie hat es vor Augen, auch wenn sie die Augen schließt. Sie hat es im Kopf, auch wenn sie schläft. Einen ganzen Tag lang reibt sie ihre Haare daran. Ihre Haare brechen. Das Loch wird nicht größer. Jeden Tag misst sie es auf Zehenspitzen mit den ausgestreckten Händen. Es sind drei. Und niemals mehr.

Da findet sie ein anderes Mittel, um sich zu retten. Sie erzählt sich selbst Geschichten. Manchmal stellt sie sich vor, dass die ganz Kleinen ihr zuhören, sieht sie ihre Augen voller Angst und Hoffnung auf sich gerichtet; sie beginnt die Geschichte und beendet sie nie, sie weiß nicht, wo sie aufhört, alles entgleitet ihr, das Fieber packt sie, und sie versinkt in der Welt von früher, hört, wie abends die Herden zusammengetrieben werden. Die Rufe ihrer Mutter zum Essen. Die heiseren Stimmen der Alten, die schwatzen, wenn die Sonne sinkt. Sie hört und sieht alles. Sie schart alles um sich, tauscht die Skorpione, die Ratten und die Ameisen gegen geliebte Menschen aus, nennt sie beim Namen und sieht sie leben. Eine Zeit lang rettet sie diese andere Wirklichkeit vor dem Tod. Und dann kommt die Hoffnungslosigkeit zurück. Dann sieht sie, wo sie tatsächlich ist. Sie ist niemand mehr. Sie schreit wie ein verlassenes Tier. Sie schreit und weint zwischen Traum und Schlaf, reist zwischen Einbildung und Wirklichkeit, zwischen der Kindheit und dem Ende der Kindheit. Sie ballt die Fäuste. Das Loch in der Wand ist ein Auge, das sie überwacht. Es ist da oben. Es lässt sie nicht los.

Eines Morgens öffnet einer der Entführer die Tür, er zerrt sie nach draußen, und das Licht ist wie ein Messer. Stimmen. Männer. Ein Stimmengewirr in einer Sprache, die nicht die ihres Volkes ist. Sogleich begreift sie, dass die Männer nicht aus ihrem Dorf sind. Die Enttäuschung ist so heftig wie die Sonne. Sie spürt die Hände der Männer auf sich und öffnet die Augen, weiße Nadeln tanzen und sonst nichts. Ein Mann zieht ihre Wimpern hoch und sagt, sie sei krank. Da packt der Entführer ihr Kinn, zwingt sie, den Mund zu öffnen und ihre Zähne zu zeigen. Man wirft einen Stock, damit sie rennt und ihn holt, am Anfang versteht sie es nicht. Sie geht ihn nicht holen. Man ohrfeigt sie und wirft ihn noch mal. Sie rennt. Der Mann spuckt aus, als sie fällt. Ihre Beine tragen sie nicht mehr, sie steht auf zwei krummen Holzstöcken. Sie versteht nicht, was sie tun soll. Sie ist voller Panik. Sie weiß nicht, was die Männer von ihr wollen. Sie untersuchen sie. Überall. Sie tun ihr weh, und sie versteht nicht, warum man ihr immer wehtun will. Sie weint, weil sie nicht versteht, und sie weint aus Mutlosigkeit, da wird der Entführer wütend, er zeigt dem Händler die Muskeln der Kleinen, die Schenkel und die Arme, und vor allem wiederholt er, dass sie schön sei. Djamila. Das ist das Wort, das sie bezeichnet. Djamila. Dann beginnen Palaver, Streit und verächtliches Lachen. Ihre Augen gewöhnen sich an das Licht. Sie sieht, dass hinter ihnen Männer und Frauen stehen. Eine kleine Gruppe, die wartet. Sie weiß nicht worauf. Sie hört die Verhandlungen in einer Sprache, die sie nicht versteht; wird sie in das Loch zurückkehren? Einen Moment lang glaubt sie, dass die Männer von ihrem Vater geschickt sind, dann sieht sie Geld von der Hand des Mannes in die des Entführers wandern. Sie sieht deutlich die Münzen. Sie will nicht in das Loch zurückkehren, will nicht bei den Entführern bleiben, lieber geht sie mit diesen Leuten fort, sie WILL mit diesen Leuten fortgehen. Sie lauscht und versteht ein paar Wörter, die bedeuten, dass sie ungefähr sieben Jahre alt ist, die sagen, sie heiße Bakhita. Der Entführer steckt das Geld in eine kleine Börse und stößt sie zu der wartenden Gruppe. Sie ist voller Angst, aber sie verlässt ihr Gefängnis. Sie weiß nicht, dass Bakhita, ihr neuer Name, »die Glückliche« bedeutet. Sie weiß nicht, dass sie von mohammedanischen Sklavenhändlern gekauft wurde. In Wahrheit weiß sie überhaupt nicht, was das alles bedeutet.

Sie sind aneinandergekettet. Die Männer vorn. Drei. Jeder mit einer Kette um den Hals, verbunden mit denen der beiden anderen. Die Frauen dahinter. Drei. Ketten um den Hals. Verbunden mit denen der beiden anderen. Alle nackt, wie sie. Und da ist noch ein kleines Mädchen, kaum älter als sie, das nicht angekettet ist und neben das man sie stellt, zwischen zwei Wärtern beschließen sie den Marsch. Sie sieht den Zug, die Wärter haben Peitschen und Gewehre, die Angeketteten laufen, ohne zu klagen, sie haben sie nicht angesehen, sie werden sie nicht ansehen. Ihr Leben lang wird sie den Blick der Misshandelten, der vom Leben, der Arbeit oder den Herren Misshandelten suchen. Sie betritt die organisierte Welt der Gewalt und der Unterwerfung, sie ist sieben Jahre alt und trotz ihrer Angst ist sie aufmerksam. Sie wusste nicht, dass man angekettet und gepeitscht laufen kann. Sie wusste nicht, dass man Menschen so etwas antut. Und sie weiß nicht, wie das heißt. Also fragt sie das kleine Mädchen, wie das heißt.

»Psst!«, antwortet die Kleine.

»Wer ist das?«

Sie wiederholt es, leiser. Das Mädchen zeigt ihr, dass es nicht versteht. Es spricht nicht ihren Dialekt. Sie zeigt auf die jungen Erwachsenen, die vor ihnen laufen.

»Wer?«

Das Mädchen kneift die Augen zusammen, versucht zu verstehen, und dann sagt es plötzlich: »Abid.«

Dann zeigt es auf sie. »Abda.«

Das Entsetzen peitscht sie wie eine Ohrfeige. Abda. Ihre Schwester. Das ist es. Das ist mit ihr passiert. Abda, Sklavin, das ist das größte Unglück, abda, das ist Kishmet, und das ist sie, und plötzlich ist es real, existiert es hier, ist es da, vor ihren Augen, und sie fragt sich zum ersten Mal: Ist KishmetDA? Sie wird es sich immer fragen.

Sie sieht sich wieder verloren im Rauch des Dorfes nach ihrer Mutter rufen, die sie nicht hört. Sie schaut die jungen aneinandergeketteten Frauen an und hört ihre Mutter: Sag mir, was du gesehen hast! Jetzt gibt die Mutter ihr diese Anweisung. Also sieht sie hin, sieht die jungen, schon gebeugten Körper und die Narben auf ihren Rücken, ihre blutenden Füße; das Wort Sklave, das Wort des Grauens läuft vor ihr her, das Mädchen neben ihr zeigt auf sich und sagt ganz leise: »Binah. Bi-nah.« Dann zeigt es auf sie und stellt eine Frage, die sie nicht versteht, aber errät. Sie würde ihr gern antworten, aber sie weiß nicht wie. So lange schon hat niemand mit ihr gesprochen, jede Sprache ist jetzt eine fremde Sprache. Sie zögert. Sieht die Sklaven an. Dann fährt sie mit den Fingern über ihre feuchten Augen, wischt mit ihrem schmutzigen Arm den Rotz ab und sagt zum ersten Mal, zeigt auf sich und sagt: »Bakhita.«

In den folgenden Tagen hat sie das Gefühl, die ganze Erde zu durchqueren. Ebenen und Wüsten, Wälder, Wasserläufe ohne Wasser, stinkende Sümpfe, sie springen über Erdspalten, Furchen in der vertrockneten Erde. Sie erklimmen Berge. Mit brennend heißen Steinen, die sich unter den Füßen bewegen und die wie Esel beladenen Männer stürzen lassen, Steine mit Schlangen darunter, die die Köpfe heben und zischen. Sie spricht ihren Vornamen vor sich hin, den sie verabscheut und an den sie sich zu gewöhnen versucht. Bakhita schreit nicht, wenn sie die tanzende Zunge der Schlange sieht, Bakhita greift nicht nach Binahs Hand, wenn sie auf die Steine fällt … Sie hat Angst, dass die Sonne und der Mond sie mit diesem neuen Vornamen nicht erkennen. Sie versucht, sich in diesem neuen Leben zurechtzufinden, aber sie weiß nicht, wohin sie gehen, was geschehen wird. Sie weiß, dass sich ihr Dorf entfernt, sie kennt diese Landschaft nicht, alles, was sie sieht, sieht sie zum ersten Mal. Der Wind ist warm, er peitscht Sandkörner gegen ihre Beine, kleine Male bleiben lange auf der Haut, wie die Stiche unsichtbarer Mücken. An manchen Tagen füllt sich der Himmel mit Wasser, hängt über ihnen wie ein riesiger grauer Bauch, aber niemand spricht zum Regen, niemand sagt die Gebete und Gesänge, damit er fällt, also bleibt ihr Durst ungestillt und sie getrennt vom Himmel.

Sie ist nicht mehr im Gefängnis, sie ist in der unermesslichen, sich verändernden Welt und sie schaut mit Erschöpfung und auch voller Gier. Sie sieht Vögel mit roten und blauen Flügeln, die sich aus großer Entfernung etwas zurufen, sich finden und dann so schnell verschwinden, als hätte man sie mit einem Strich vom Himmel gelöscht. Fliegen diese Vögel zu ihrer Mutter? Können die Mutter und sie dieselben Dinge sehen? Kann sie ihr ihre Gedanken schicken? In allem, was sie sieht, sucht sie sie. Eines Morgens sieht sie sehr früh einen Falken, der sich am Himmel ausruht, die Flügel ausgebreitet wie eine ruhige Hand, und diese Ruhe bringt sie zum Weinen. Er gleicht ihrer Mutter vor dem großen Unglück. Sie sieht Blumen, die sich im Wind bewegen, und fragt sich, was ihr Tanz zu sagen hat, aber sie errät es nicht. Ihre Mutter weiß es. Ihre Mutter kann die Landschaft lesen. Sie sieht einen Baum am Boden liegen, umgestürzt von wilden Tieren, seine Äste bohren sich wie Krallen in den Boden, und sie denkt an den Stamm des umgestürzten Baobabs, auf dem die Kinder in ihrem Dorf spielen und auf den sich ihre Mutter setzt, um die Sonne aufgehen zu sehen. Sie hört die Tiere rennen, sie hört sie, ohne sie zu sehen, ihr Lauf bebt unter ihren eigenen Füßen, sie denkt an ihre Mutter, wenn sie tanzt, sie verlässt sie nicht, aber jenseits dieser Gedanken gibt es die Müdigkeit und den Schmerz. Den Durst, der ihren Speichel trocknet. Und ihre Tränen, wenn sie die aneinandergeketteten Frauen sieht, die nicht ihre große Schwester sind. In ihren Kehlen gurgelt es, ein Husten, der nicht herauskommt. Sie röcheln und stolpern, ihre Hände bewegen sich unaufhörlich, ihre Hände zittern am Ende der Arme. Ihre Hälse sind eingeschnitten und geschwollen, manchmal versuchen ihre Finger, die Kette wegzuschieben, immer wieder versuchen sie es, es nützt nichts, also hören sie auf. Und fangen wieder an. Die Wärter lachen darüber. Und es reizt sie, sie sagen, dass die Frauen sich freuen sollen, die Hände frei zu haben, das wird nicht so bleiben, und dann schwingen sie ihre Peitschen, ihre Stöcke oder Dolche, schwenken ihre Gewehre, die Frauen haben Angst, und wenn eine fällt, reißt sie die anderen mit sich, und es entsteht große Unordnung, die Ketten würgen sie noch mehr, Schreie und Weinen, man muss immer an die anderen Angeketteten denken, und sie denkt an ihre große Schwester. Haben sie ihr das angetan?

Sie begreift, dass sie keine kleine Reise gemacht hat, seit sie entführt wurde, sie ist viel gelaufen und sie sucht nicht einmal mehr nach Orientierungspunkten: die Hügel, die Berge, die Dünen, die Ebenen und die Wälder, das kann sie sich nicht alles merken. Das ist also die Welt, sie entdeckt sie, die Dialekte wechseln wie die Landschaften, die Form der Hütten, die Tiere auf den Weiden und in den Ebenen, die Gesichter der Männer und der Frauen, die Zeichen auf ihrer Haut, die Farbe ihrer Haut, manche sind tätowiert, andere skarifiziert, das hat sie nie zuvor gesehen, schön und erschreckend zugleich. Manche sind groß und zart wie Halme, andere klein wie alte Kinder, und alle sind an die vorbeiziehenden Karawanen gewöhnt. Ihr Dorf liegt auf der Sklavenroute zwischen den zeribas, jenen überall im Land verstreuten von dichten Hecken umgebenen Lagern der großen Händler, in denen das Elfenbein und die Gefangenen gesammelt, bewacht und sortiert werden. Später bringt man sie zu den großen Märkten. In den Dörfern, die sie durchqueren, werden manchmal spontan Geschäfte gemacht. Wer keinen Sklaven zu verkaufen hat, verkauft jemanden, den er gestohlen hat, oder ein Familienmitglied. Einmal hat sie gesehen, wie in einem von der Hungersnot entvölkerten Dorf ein junger, ausgezehrter Mann ein kleines, von Magerkeit entstelltes Mädchen anbot. Die Wärter spuckten auf den Boden, wofür hielt er sie? Sie versetzten dem Kind einen Peitschenhieb, und es fiel um, der Beweis, dass es nichts taugte. Sie hatte nicht begriffen, dass es die Schwester des Mannes war, Binah erklärte es ihr und drängte sie, ihr zu glauben. Sie hielt sich die Ohren zu. Manchmal ist die Bekanntschaft mit der Welt nur ermüdend. Und im nächsten Augenblick ist es das Gegenteil. Will sie alles sehen und alles hören. Auch das, was sie nicht versteht. Sie will sich die arabischen Wörter merken, behalten, was sie sieht, was Hunger und Elend aus den Menschen machen. Sie sieht die Angst, die wütend macht, und die Verzweiflung, aus der der Hass entsteht. Sie nimmt alles wahr, ohne es benennen zu können. Das Schauspiel der Menschheit. Die Schlacht, die sie alle zerreißt.

Sie entdeckt, dass jeder Sklaven kauft und verkauft, wer nicht wenigstens einen oder zwei besitzt, ist der ärmste Hungerleider. Sie sieht die Sklaven auf den Feldern und in den Häusern, als Schmiede, Söldner, Bauern, sie sind überall, eine Seuche von Sklaven, und wenn ihre Wärter neue kaufen, immer junge, geht das unabänderlich so vor sich: Vor dem Kauf kontrollieren sie die Zähne, die Augen, den Mund, innen, außen, die Muskeln, die Knochen, sie werfen den Stock, lassen die Sklaven sich drehen, springen, die Arme heben und manchmal auch sprechen. Sie schlagen die Frauen, wenn sie weinen. Wenn sie brüllen, weil man sie von ihren Kindern trennt, oder nicht mehr brüllen. Sie öffnen den Mund, aber ihre Stimme steckt in der Tiefe ihres Bauches fest, im Eis. Sie sieht sie an und denkt an Kishmets Baby, war es ein Mädchen oder ein Junge? Sie ist abgestumpft, betäubt von zu viel Unglück. Sie ist selbst in dieser Geschichte, ist abda, sie kommt nicht heraus, aus dieser entsetzlichen Geschichte kommt sie nicht heraus. Die Geschichte geht weiter. Sie hat auch Angst. Denn der Händler kauft und lässt zurück. Er lässt die zurück, die der Marsch erschöpft hat, die husten, die humpeln, die bluten, die fallen, aber Binah und sie behält er. Sie will, dass er sie behält. Denn ohne ihn wäre es schlimmer, sie weiß es. Vom Händler zurückgelassen zu werden, heißt nicht, frei zu sein, im Gegenteil. Seit ihrer Entführung weiß sie, dass andere Männer sie nehmen, sie behalten und weiterverkaufen können. Deshalb hat sie Angst, sich zu verletzen. Krank zu werden. Ihre Müdigkeit oder ihren Durst zu zeigen. Sie folgt der Karawane, die Männer vornweg, die Frauen dahinter, Binah und sie zwischen den beiden Wärtern. Eine lange nackte und verzweifelte Reihe, die eine Welt voll großer Gleichgültigkeit durchquert. Sie, die ihr Vater dem Mond gezeigt hat, sie, die sich als Gast der Erde fühlte, sie wird nicht mehr vom Universum beschützt. Die Sklaven gehen vorbei und wohnen nirgends. Ihr Volk existiert nicht mehr. Sie gehören zu den Verstreuten, sind Teil des Martyriums, Männer und Frauen fern ihrer Heimaterde, die laufen und oft unterwegs sterben.

Nachts, vor dem Ausruhen, nehmen die Wärter die Ketten und Gabeln von den Hälsen der Männer und Frauen und legen sie ihnen um die Füße. Immer zu zweit werden sie aneinandergekettet. Das machen sie auch mit ihr und Binah. Sie ketten sie an den Füßen aneinander, und die Mädchen tun alles zusammen. Voller Scham. Am Anfang trauen sie sich nicht, einander anzusehen oder gar zu reden. Eines Abends müssen sie über ihre Verlegenheit lachen, dann bewahren sie dieses Lachen, und an den folgenden Abenden lachen sie schon vorher über das, was sie zusammen tun müssen, auf die bloße Erde, und auch wenn ihr Lachen mehr gezwungen als aufrichtig ist, verleiht es der Scham doch etwas Würde. Einmal erlernt wird er ihr ein Leben lang Eleganz verleihen: der Humor, eine Art, ihre Anwesenheit zu bekunden und auch ihre Zärtlichkeit.

Sie und Binah versuchen, ihre Dialekte zu vereinen, und das ist schwierig. Sie mischen ein paar arabische Wörter darunter, aber die wenigen arabischen Wörter, die sie lernen, sind brutal und roh, unbrauchbar für das, was sie einander gern sagen möchten. Sie wollen sich Geschichten von früher erzählen. Der anderen sagen, wie es früher war, als sie klein (noch kleiner) waren, und so mit ihrem Leben, mit ihrer eigenen Geschichte, mit ihren Lebenden und ihren Toten verbunden bleiben. Sie versteht, dass Binah kurze Zeit vor ihr gefangen wurde. Auch sie will ihre Mutter wiederfinden. Sie erklärt ihr, dass ihre große Schwester nicht von Sklavenjägern mitgenommen wurde. Sie ist gestorben, als sie einen kleinen Jungen zur Welt brachte. Um sich verständlich zu machen, spielt Binah die Entbindung, das Neugeborene und den Tod. Sie versteht nicht alles. Sie schaut Binah an und denkt an die Kinder, denen sie Geschichten erzählte. In Binahs Blick sieht sie die gleiche Erwartung. Sie erzählt ihr nicht von ihrer Zwillingsschwester, von ihrem Vater, der Kuhherde, die sie zum Fluss führte, oder von ihrem Bruder, der die Spur von Schlangen in den Sand zeichnete, sie verzichtet darauf. Und als Binah sie nach ihrem richtigen Namen fragt, verzieht sie den Mund und kneift sich in den Arm, um nicht zu weinen. Binah weiß, wie sie heißt. Sie heißt Awadir. Sie sagt es ihr wie ein Geheimnis, das sie nicht aussprechen darf, niemals. In der nächsten Nacht halten sie einander im Schlaf an der Hand. Und sie spürt eine ungeahnte Kraft, einen mächtigen Strom, und auch das ist neu: mit einer Unbekannten die Liebe zu teilen, die sie nicht mehr denen schenken kann, die ihr fehlen.

Eines Tages erreicht die Karawane unter der brennenden weißen Sonne Taweisha. Es ist nicht mehr dieselbe. Einige Sklaven wurden gekauft, andere sind gestorben, und den ganzen Weg lang wurde die Karawane von Hyänen und Geiern verfolgt, die darauf warteten, sich auf die Sklaven zu stürzen. Auf die Kranken, die von den Wärtern losgemacht wurden und die, das Gesicht zum Himmel gewandt, langsam starben. Auf die, die nicht mehr atmeten und plötzlich umfielen. Oder die, die flehten und von den Wärtern mit einem Stockschlag niedergeworfen und liegen gelassen wurden. Der Karawanenweg ist gesäumt von Skeletten, zerbrochen wie Reisig, abgenagt und weiß. Sie hat einen Tod ohne Rituale und ohne Begräbnis kennengelernt, einen Tod jenseits des Todes, nicht die Menschen sterben, sondern das System lebt. Sie hat Angst vor den Schreien der Hyänen und dem schweren Flügelschlag der Geier, sie weiß nichts von den Wegen der großen Karawanen, wo sich die Tiere nicht mehr rühren, weil sie so vollgefressen sind. Die Sklaven sterben und bleiben in großer Stille am Wegesrand zurück, der einem Massengrab gleicht.

Taweisha, die Stadt, die sie nach dreißig Tagen Marsch endlich erreichen, liegt an der Grenze zwischen Darfur und Kordofan. In diese zeriba führen die Sklavenjäger die Gefangenen, die sie nicht selbst bis zur Küste bringen. Taweisha ist die Stadt des Handels und des Schmuggels. Handel mit Eunuchen. Handel mit Sklaven, die getauscht oder an Zwischenhändler verkauft werden. Handel mit Elfenbein, Blei, Schmuggelwaren, Spiegeln, Parfum; dort treffen die großen und die kleinen Karawanen aufeinander, die großen Händler und die kleinen Banditen, und alles wird bewertet, geschätzt, zu Geld gemacht.

Hütten aus Stroh und Stein kleben am Hügel, da, wo die Einwohner leben. Für die Sklaven gibt es am Fuße des Hügels große Hütten ohne Fenster. Als sie nach Taweisha kommt, weiß sie nicht, dass hier die erbarmungslose Organisation der Sklaverei herrscht. Ihre Karawane wird sogleich von zwei faruks geprüft, sie sind schwarz wie Ebenholz, schwarz wie sie, schwarz wie ihre Entführer, aber auch sie sind Sklaven. Das sind die Verantwortlichen des Lagers, die Soldaten, ohne die nichts funktioniert. Sie werden beneidet und protegiert. In Taweisha besitzen sie Farmen, haben Frauen und Kinder, sie haben selbst Sklaven, ganz junge Burschen, die entführt wurden oder sich angeboten haben, ihnen zu dienen, und deren Dankbarkeit grenzenlos ist, aus dem Elend gerettete Kindersoldaten. Die faruks sprechen mit den Wärtern, sie kennen sich gut, alles ist eine Frage von Vertrauen, Organisation und Hierarchie. Einige Einwohner kommen den Hügel herab, um sie zu begutachten, sie sprechen eine Sprache, die sie nicht versteht, auch Kinder sind dabei, die sie ohne Erstaunen ansehen, denn das ist der Alltag, Sklaven, die sortiert werden, bevor sie zum großen Markt weiterziehen. Und plötzlich wird es still, die Körper richten sich auf, dann verneigen sie sich, der mohammedanische Priester, der faki, ist eingetroffen. Sie müsste die Augen senken, aber sie tut es nicht, ihre Aufmerksamkeit wird plötzlich von einem ganz kleinen Baby angezogen, das in den Armen seiner Mutter, einer Bewohnerin von Taweisha, schläft. Sie würde gerne die Füße des Babys berühren. Im Geiste verlässt sie die Reihe der Sklaven, verlässt sie die Niedertracht und geht auf das zarteste, das neueste Leben zu. Sie achtet nicht auf den ganz in Schwarz gekleideten faki mit dem langen Bart über der Brust, der verehrt und gefürchtet wird und gekommen ist, um die kleinen Jungen zu holen. In den Reihen der Sklaven ertönen Schreie und Weinen, Peitschenhiebe und Flehen, die Angst geht um wie ein Windhauch. Sie ist in die Betrachtung der Babyfüße versunken, sie sind so klein, sie hatte vergessen, wie schön das ist, so ein Fuß mit seinen winzigen Zehen und den fast durchsichtigen Nägeln, seinen Falten, seiner Krümmung, der zarten Haut, sie hatte diesen Kinderfuß vergessen, diesen Fuß, der nie gelaufen ist. Der faki fährt in seiner Auswahl fort, er weiß, dass von den zwanzig kleinen Jungen, die er an diesem Tag mitnimmt, nur zwei die Entmannung überleben werden. Aber gerade die Seltenheit bestimmt den Preis, nichts bringt so viel ein wie ein Eunuch. Die Luft ist schwer, die träge Brise wirbelt die trockene Erde kaum auf. Sie streckt die Hand nach den Babyfüßen aus, die Mutter weicht aufschreiend zurück, ein Wärter schlägt sie mit der Peitsche, einen Moment herrscht Stille, bevor sie aufschreit, auch das Baby schreit, aufgeweckt vom Schrei seiner Mutter. Sie weint nicht nur wegen der Peitsche, dem brennenden Schreck, sie weint um die Babys ihres Dorfes, um das von Kishmet und das, das sie selbst war und das verschwunden ist. Trostlose Verzweiflung. Die Mutter und das Kind gehen davon. Die zwanzig kleinen Jungen folgen dem faki, er wird sie persönlich entmannen, eine Ausnahme, deren er sich rühmt, normalerweise lässt man diese Operation, die kein Moslem ausführen darf, von den Juden machen, aber Eunuchen sind selten, und die fakis von Darfur legen selbst Hand an. Darfur, im Westen des Sudan, ist der neue Ort des Sklavenhandels, Unterschlupf für alle Übeltäter, Gewalt in der Gewalt, Unmenschlichkeit in der Unmenschlichkeit.

Durch die Tränen, die in ihren staubverklebten Augen brennen, sieht sie eine junge Sklavin schreien und sich die Haare ausreißen, Binah erklärt: »Ihr Bruder. Sie Schwester.« Sie zeigt auf die Reihe kleiner Jungen, die dem großen Priester folgen. Sie sind nicht angekettet, sie halten sich an den Händen und gehen ruhig davon, der faki hat ihnen gesagt, dass er sie für ein großes Schicksal, das Leben eines Auserwählten bestimmt hat. Sie verstehen kein Arabisch. Aber sie folgen ihm, weil sie die Bestrafung derer gesehen haben, die nicht gehorchen, deshalb sind sie brav. Einer von ihnen dreht sich für einen kurzen Augenblick zu dem Mädchen um, das vor Verzweiflung durchdreht, ein einziger Blick von ferner Zärtlichkeit.

Dann werden die Sklaven nervös und zittern vor Müdigkeit unter dem weißen Himmel, lehnen sich aneinander, tun sich weh, reißen an den Hälsen der anderen, die Wärter haben Angst, dass die Ware Schaden nimmt, öffnen die Schlösser, nehmen die Ketten von den Hälsen und legen sie um die Füße, öffnen die Tür der großen runden Hütten, drängen die Frauen in die eine, die Männer in die andere, sagen keine Unzucht, die Sklaven verstehen das Wort nicht, aber wer hätte schon den Mut, sich zu vereinigen, wer von ihnen hätte die Kraft, sich zu paaren. Sie leben nicht. Sie überleben.

Sie begreift schnell, dass in der Hütte zu sein schlimmer ist, als draußen zu sein. Sie spürt wieder die Beklemmung, das Leben in dem Loch, in das sie die Entführer gesperrt hatten, und hier sind die Skorpione handgroß, gleichen die Ratten kleinen Füchsen. Sie zieht Binah tiefer in die Hütte, sie lehnen sich aneinander, und sie singt ihr kleines Lied, Als die Kinder von der Löwin geboren wurden, sie spricht den Text nicht aus, nur die Melodie kommt über ihre ausgetrockneten Lippen, sie singt immer dieselben Töne, sie versucht wieder, sich in ihren Kopf zu flüchten, aber um sie herum wird geschrien und gestöhnt, die Welt ringsum ist stärker, sie schafft es nicht, sich ihr zu entziehen, sie spürt Binah neben sich, die erschöpft den Kopf an ihre Schulter legt und sagt: »Ich mag dein Lied.« Sie versteht den Satz nicht, sie versteht das Gefühl. Und so wird sie fortan durchs Leben gehen, mit den anderen durch Intuition verbunden. Was von ihnen ausgeht, wird sie durch die Stimme, den Schritt, den Blick, manchmal nur eine Handbewegung spüren.

Sie schaut sie an. Die, mit denen sie lebt. Die Frauen, die vorher da waren, und die Neuankömmlinge, zu denen sie gehört. Die meisten sind jung, es gibt noch andere kleine Mädchen, sie sehen sich an, suchen eine der ihren, fragen in einer Mischung aus Dialekt und Arabisch nach Neuigkeiten, dann kehren sie enttäuscht und müde zu ihrem Status als zu verkaufende Mädchen zurück. Es riecht nach Erbrochenem und Scheiße, nach Schweiß, Eiter, Urin und Menstruationsblut, sie schlafen alle auf dem nackten Boden, wenn sie denn schlafen. Wohin gehen sie? Was wird man mit ihnen machen? Wie lange wird es dauern? Sie wissen es nicht. Jemand holt die Kranken, sie gehen hinaus, und man sieht sie nicht wieder. Jemand holt die Älteren, sie gehen hinaus, und man sieht sie nicht wieder. Junge Mädchen werden für ein paar Stunden hinausgezerrt, und als sie wiederkommen, schwanken sie wie Betrunkene und sprechen davon, sich umzubringen. Andere erzählen entsetzliche Geschichten, die sie nicht verstehen wollen und die sie nicht glauben wollen, wenn sie sie verstehen. Sie hört die Geschichte der Sklavin, die ihrer Karawane nicht mehr folgen konnte und die der Händler am Hals an einen Baum gekettet hat, um sicher zu sein, dass sie sich nicht erholt, um sicher zu sein, dass sie stirbt und kein anderer von ihr profitiert. Den Namen dieser jungen Sklavin hört sie nicht, aber sie denkt an ihre Schwester, sie weiß, dass auch sie umgetauft wurde, wie heißt sie heute? Ein moslemischer Name, damit sie Moslem wird, aber auch, damit man sie alle verwechselt, damit niemand sie findet; die Spuren sind verwischt, sie gehören zur großen Herde. Man spricht von Sklavinnen, die mit der Gabel am Hals vom Käufer zurückgelassen werden, der sie nicht mehr ernähren kann, von erstochenen oder durch Kugeln getöteten Sklavinnen; man spricht von der, deren Baby den Krokodilen vorgeworfen wurde und die in den Fluss sprang, um bei ihm zu sein; und auch von der, der man den Bauch aufschlitzte, weil die Entführer um das Geschlecht des Fötus gewettet hatten. Sie will all diese Berichte nicht mehr hören, die sie kaum versteht. Über dem Misstrauen, das in der Hütte herrscht, über dem Hass und dem Wahnsinn, der die einen oder anderen erfasst, steht die Liebe zu Kishmet, und für ganz kurze Zeit werden alle Eingesperrten ihr ähnlich. Die, die sich die Wange bis aufs Blut aufkratzt. Die, die den Kopf gegen die Lehmwand schlägt. Die, die nicht mehr spricht, sondern nur grunzt und stöhnt. Die, die betet. Die, die schnarcht. Die, die weinend lacht. Und das ganz kleine Mädchen, das sich an sie schmiegt, das sich weigert zu sprechen, das die Augen geschlossen hält. Sie spürt, wie das Herz des Kindes schlägt, das den Tick hat, mit einem Finger auf seinen Arm zu schlagen, vielleicht wiegt es sich selbst, vielleicht ist es der Rhythmus einer Geschichte, vielleicht verliert es den Verstand, wer weiß. Ein Vögelchen, gehalten von ein paar Strohhalmen,