Die Ungeduldigen - Véronique Olmi - E-Book
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Die Ungeduldigen E-Book

Véronique Olmi

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Beschreibung

Frankreich in den wilden Siebzigern und drei lebenshungrige Schwestern voller Ungeduld 

Eine Welt im Wandel, drei Schwestern in Aufruhr: Hélène, die Mittlere, pendelt zwischen dem reichen Onkel in Paris und der einfachen Familie im katholischen Aix-en-Provence. An ihrem Koffer klebt der Geschmack von Freiheit, der die Sehnsüchte und Träume der drei jungen Mädchen nährt. Sie alle wollen nur eins – anders leben und lieben als die konservativen Eltern. Simone de Beauvoir und Gisèle Halimi sind ihre heimlichen Heldinnen und der Weg in die Selbstbestimmtheit führt alle drei nach Paris, mitten hinein in die stürmische Zeit des Protests, der freien Liebe und des Feminismus. Hélène, Sabine und Mariette durchleben die Höhen und Tiefen eines gesellschaftlichen Umbruchs, der uns bis heute nachhaltig prägt. Diese zärtlich-stürmische Familiensaga verzaubert durch ihre lebenshungrigen Heldinnen - und die tiefgründige Leichtigkeit à la Olmi.

»Es ist ein besonderes Vergnügen, Véronique Olmi zu lesen!« CHRISTINE WESTERMANN

»Véronique Olmi schreibt mit einer wahnsinnigen Leichtigkeit – einfach nur großartig.« WDR 1 LIVE

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Seitenzahl: 625

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Über das Buch

Pressestimmen zu Véronique Olmi: 

„Beim Lesen sieht man Bilder wie aus Truffaut-Filmen vor sich.“ NDR Kultur, Annemarie Stoltenberg

„Véronique Olmi kennt unsere Wünsche und Hemmnisse, unsere Emotionen und Schwächen.“ Armgard Seegers, Hamburger Abendblatt

„Véronique Olmi schreibt mit einer wahnsinnigen Leichtigkeit – einfach nur großartig.“ Jan Drees, WDR 1 Live

„Bestechend ist – wie so oft bei Olmi – die Sprache, die auch in der Übersetzung poetisch und suggestiv wirkt.“ Franziska Wolffheim, Spiegel Online

„Mit ihrem geschliffenen, treffgenauen Stil greift Véronique Olmi dem Leser ans Herz.“ Madame Figaro

„In leichtem Ton und wie nebenbei stellt Véronique Olmi die Fragen einer ganzen Generation.“ Femina

Über Véronique Olmi

Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt mit ihren zwei Kindern in Paris. In Frankreich wurde die ausgebildete Schauspielerin für ihre Arbeit als Dramatikerin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt und werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Ihre Romane stehen seit Jahren weltweit auf den Bestsellerlisten und werden von der Presse hochgelobt.

Claudia Steinitz wurde 1961 in Berlin geboren, studierte Romanistik und übersetzt seit 30 Jahren französischsprachige Literatur u.a. von Yannick Haenel, Véronique Olmi, Albertine Sarrazin, Virginie Despentes und Lyonel Trouillot. Für ihre Arbeit wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet.

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Véronique Olmi

Die Ungeduldigen

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

I: Alle zusammen waren sie wer

II: Sehnsucht nach etwas anderem

III: Ein Tross von Schweigen

IV: Ehrliche Lügen

V: Eine sonderbare Kraft

VI: Der ursprüngliche Rhythmus

VII: Das Versprechen

Anmerkungen

Danksagung

Erläuterungen

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für Bonnie

Come gather ‘round, people

Wherever you roam

And admit that the waters

Around you have grown

And accept it that soon

You’ll be drenched to the bone

If your time to you is worth savin’

And you better start swimmin’

Or you’ll sink like a stone

For the times they are a-changin’

Bob Dylan ~ The Times They Are A Changing

Kommt her, ihr Leute, wo immer ihr seid.

Gebt zu, dass das Wasser höher steigt.

Gesteht, eure Knochen sind durchgeweicht.

Wollt ihr wirklich noch was retten?

Dann fangt an zu schwimmen oder sinkt wie ein Stein,

Denn es kommen andere Zeiten.

Engerling ~ Es kommen andere Zeiten(Text: Wolfram Bodag)

I

Alle zusammen waren sie wer

Hélène kam aus einer anderen Welt. Sie kam mit ihrem Koffer, ihrem neuen roten Regenmantel und dem passenden Regenhut nach Hause. Sie war anders und sie fiel auf. Hélène liebte diesen Regenmantel, das Knistern des gestärkten Stoffes, wenn sie sich hinsetzte, den etwas scharfen und chemischen Geruch, das leuchtende Rot. Er schützte sie vor dem Regen, wenn sie in Neuilly bei ihrem Onkel wohnte, und vor dem Mistral, wenn sie wieder in Aix‑en-Provence bei ihrer Familie war. Es war das Ende des Sommers 1970, seit mehr als acht Jahren flog sie hin und her, Luxus in Neuilly, Einfachheit in Aix, sie nahm es hin, ohne Fragen zu stellen. Sie passte sich an. Sie war elf Jahre alt.

An Wochentagen war die Empfangshalle des Flughafens Marseille-Marignane menschenleer. Ihr Vater holte sie ab, er, der selbst nie geflogen war, erwartete Hélène voller Sorge, sah sie von weitem in ihrem roten Regenmantel, oft das einzige Kind zwischen all den heranströmenden Erwachsenen, die meisten von ihnen Geschäftsleute. Sie hatte ein Schild mit ihrem Namen um den Hals, »Hélène Malivieri«, musste aber nicht mehr wie früher an der Hand von Stewardessen gehen, die alle aussahen wie Françoise Dorléac und mit strahlendem Gesicht und prickelnder Sinnlichkeit auf ihren Vater zukamen. Er zeigte ihnen seinen Ausweis, den er schon bereithielt, und umarmte seine Tochter zurückhaltend. Er träumte davon, sie an sich zu drücken. Er tat es nicht. Sie kam aus einer Welt, von der er sich ausgeschlossen fühlte, und in der riesigen Halle mit all den Plakaten, auf denen begeisterte Paare für Parfums und Länder warben, die ihn nicht reizten, versagte er sich jedes Zeichen von Zärtlichkeit. Er war unruhig, etwas verlegen. Würde man seine Tochter an diesem für unbekümmerte Menschen geschaffenen Ort wirklich ihm übergeben, ihm und keinem anderen? Er hatte sich aufgeregt, als die Stewardess einmal nicht nach seinen Papieren fragte, nach dem Ausweis, der bewies, dass er der Vater war.

»Würden Sie meine Tochter etwa jedem Dahergelaufenen mitgeben?«

»Monsieur, sie ist Ihnen doch um den Hals gefallen!«

»Na und?«

Es war einer der höchst seltenen Momente, in denen Hélène ihren Vater mit einer Frau schimpfen sah, aber war es verwunderlich, dass er seine Anspannung an der Stewardess ausließ, die ihm Hélène übergab und in einer Minute Wochen der Trennung auslöschte? Den Onkel und den Vater, die beiden Männer, bei denen Hélène abwechselnd lebte, verband einzig und allein, dass sie eine Richert-Tochter geheiratet hatten. Hélènes Vater Bruno, Grundschullehrer an einer katholischen Privatschule, war der Jüngste einer Familie mit zwei Töchtern und fünf Söhnen, die wie er jeden Monat einen Teil ihres Einkommens darauf verwendeten, die gigantischen Schulden ihres Vaters François Malivieri abzuzahlen, der nach dem Krieg Klappwohnwagen erfunden und vertrieben hatte, die sich leider nicht aufklappen ließen. Ihr Onkel David importierte Fotoapparate einer großen Marke aus Japan, sein Vater war der Schweizer Bankier Franz Tavel. Der Sohn aus guter Familie mit rasanter Karriere und zwei Söhnen liebte Hélène wie die Tochter, die er gern gehabt hätte, und seitdem sie drei Jahre alt war und allein fliegen durfte, bestand er darauf, sie in allen kurzen Ferien und drei Monate im Sommer bei sich zu haben, manchmal noch länger, wenn er beschloss, dass sie ihm zu sehr fehlte, und er sie die letzten Schultage verpassen ließ, »die sowieso nichts bringen«. Jeden Monat schickte er einen Scheck, eine finanzielle Unterstützung, die Bruno mit schmerzhafter Demut annahm und von der er einen Teil an seinen ruinierten Vater weiterleitete.

Auf der Rückfahrt in seinem Simca 1000 fragte Bruno Hélène nicht, wie es dort gewesen war. Sie kam zurück von den Reichen, er lebte in La Petite Chartreuse, einer Siedlung am Rand des Stadtzentrums, und obwohl es der Familie an nichts fehlte, fühlte es sich an, als verzichteten sie auf alles. In ihrer Wohnung war das Leben einfach, fast karg, die bilderlosen Wände rochen nach Tapetenleim, und es gab so wenig Möbel, dass die Stimmen hallten, als wären sie gerade eingezogen oder bereiteten sich auf den Auszug vor.

Hélène hielt ihren roten Hut auf den Knien und schaute auf die Landschaft vor dem Fenster, die sie vermisst hatte, auf die nackten Kiefern unter dem verzehrend blauen Himmel. Sie legte diese Landschaft über die andere, die sie gerade verlassen hatte, nun würde sie wieder ihren Platz in der Töchterreihe einnehmen, zwischen Sabine, der Ältesten, und Mariette, der Jüngsten, den Mittelplatz, der ihr Halt gab, als läge sie zwischen ihren Schwestern in einem schmalen Bett, geschützt von dieser Enge.

Als Hélène angekommen war, machte Sabine ihren Koffer auf. Kaum hatte sie ihn in ihrem gemeinsamen Zimmer abgestellt, betrachtete und berührte sie, was die kleine Schwester mitgebracht hatte: neue Kleidungsstücke, die niemand vor ihr angehabt hatte, gekauft und ausgewählt, damit sie ihr passten, und nicht, damit sie jahrelang von einer Töchterschar abgetragen wurden. Die Kleidersäume waren unsichtbar, nicht immer wieder angepasst, die Ärmel weder zu kurz noch auf die Schnelle umgekrempelt, und als Sabine die neuen Sachen auseinanderfaltete, verstand sie den Ausdruck: Das sitzt wie angegossen. Ordentlich zusammengelegt, der Kragen zugeknöpft und die Ärmel nach hinten geschlagen, das kleine Revers sorgsam geglättet, glichen sie braven Tieren, die darauf warteten, dass man sie herausließ, um im hellen Licht zu leben.

»Das ist aber schön … Zieht man das jeden Tag an?«

»Ja, sicher.«

»Gehst du damit in die Stadt?«

»In die Stadt?«

»Nach Paris, meine ich.«

»Ja. Nach Paris, nach Neuilly, auch in die Normandie.«

»Reitest du mit diesen Sachen?«

»Ich reite in Hosen, neue Hosen hat sie mir nicht gekauft.«

»Darf ich das Kleid anprobieren?«

Sabine zog das Kleid an, das ihr zu klein war, drehte sich mit winzigen Schritten und betrachtete sich im Schrankspiegel, lächelte, als würde das Kleid wie angegossen sitzen, würdigte die Festigkeit des neuen Stoffes und die Farben, so rein wie ein Sommermorgen. Die Vierzehnjährige hatte eine üppige Figur, einen festen Körper und ein Gesicht, das zu viel Charakter hatte, um ihr zu gefallen. Sie bewunderte Audrey Hepburn für ihre zarte Gestalt und ihre lebendige, selbstbewusste Persönlichkeit. Sie beneidete die Mädchen, deren Erscheinung zur Natur passte, denen alles stand, nicht nur die Kleider, sondern auch das Dasein, ein ausgewähltes, mit Anmut getragenes Leben. Hélène betrachtete Sabine und sorgte sich, die Nähte könnten platzen, aber sie sagte nichts. Sie hatte ihr so gefehlt, dass sie in den Galeries Lafayette geweint hatte, als sie sah, wie zwei Schwestern lachend ein Paar Handschuhe anprobierten. Ihre Fröhlichkeit hatte Hélène ganz trübsinnig gemacht, und sie hatte plötzlich die Bedeutungslosigkeit gefühlt, die von der Einsamkeit kommt. Ihre Tante Michelle nahm sie oft mit in die Warenhäuser, endlose Tage in diesen riesigen Schatzkästchen voll Licht, Treppen und künstlicher Düfte. Die hinter ihren Auslagen wartenden Verkäuferinnen glichen mit ihren übertrieben geschminkten Augen in strahlender Höflichkeit erstarrten Schaufensterpuppen, und als Hélène einmal so eine Puppe nackt und zerlegt auf der Erde liegen sah, hatte sie sich gefragt, ob die Verkäuferinnen noch im Sturz ihren begeisterten und liebenswürdigen Blick bewahren würden.

Als sich Sabine auf ihr Bett legte, platzte die Naht unter ihrem Arm.

»Als du nicht da warst, war Mariette wieder krank, Mama hat die ganze Zeit geweint.«

»Glaubst du, es wird schlimmer?«

»Mit der Kleinen oder mit Mama?«

»Das Kleid ist nicht deine Größe …«

»Natürlich nicht. Glaubst du, ich kann irgendwann mitkommen?«

»Wohin?«

»Nach Paris.«

»Das wäre schön. Geht es der Kleinen immer nachts schlecht?«

»Ja, immer, wenn die Eltern schlafen, zum Glück ist sie bei ihnen im Zimmer, Mama hört sie sofort. Mariette hustet und erstickt fast, dann kriege ich Schiss, aber ich trau mich nicht aufzustehen und nachzusehen.«

»Jetzt bin ich da.«

»Ja, du bist da. Bald fängt die Schule an.«

Die Ferienzeit gehörte den Tavels, die Schulzeit den Malivieris. Neuilly war der Ort für die Freizeit und die Langeweile – das Zimmer ohne ihre Schwester, die Tage in den Kaufhäusern, das Verbot, bei Tisch zu sprechen, und die vielen Erwachsenen, Onkel und Tante, deren Freunde und ihre Söhne, zwei Teenager, die kaum noch zu Hause waren. Die Kleider passten Hélène zwar, aber die Welt, die sie umgab, war ihr fremd. Also ging sie raus, besuchte Nachbarn, obwohl sie sie nicht besonders mochte, und schloss Freundschaften, vergänglich wie eine Kinderliebe. Als sie klein war, hatte sie viel Zeit mit dem damaligen Dienstmädchen Dolorès verbracht, dessen Kinder in Spanien geblieben waren. Dolorès trug immer Schwarz und brachte Hélène in ihrem fensterlosen Zimmer das Stricken bei. Sie nahm sie auch mit, wenn sie die Abendeinkäufe erledigte, ein kurzer Besuch beim Lebensmittelhändler oder Bäcker, und hielt ihre Hand mit unangreifbarer Autorität. Dolorès war fortgegangen, und Hélène war größer geworden, man überließ sie nicht mehr dem Personal. Von Anfang an hatte sie bei den Tavels einen Freund voller Zutrauen, der nichts verlangte und alles verstand. Caprice war ein Kurzhaardackel, der sie grenzenlos verehrte. Man musste nur den Namen Hélène aussprechen, damit er zu kläffen begann und vor hysterischer Freude zitterte und jaulte. Hélène liebte es, wenn man ihr von seiner Sehnsucht nach ihr und seiner treuen Anhänglichkeit erzählte. Früher hatte sie oft in seiner Hundesprache mit ihm geredet, seine Ohren hochgeklappt, ganz leise gebellt und die Töne moduliert, damit er den Sinn erfasste, und es kam ihr so vor, als wäre er umso aufmerksamer, weil er nichts verstand. Sie bellte schlecht, und schließlich bellte sie gar nicht mehr, sondern erzählte ihm in der Menschensprache von ihrer Traurigkeit, wenn sie genug davon hatte, unter all den Erwachsenen zu sein, oder wenn sie einen Brief von ihrer Familie bekam, die auf dem Zeltplatz von Ramatuelle Ferien machte, in dem alle so groß wie möglich schrieben, um die Seite mit konventionellen Worten zu füllen und von Freuden zu erzählen, die sie nicht teilte. Wenn die Ferien vorbei waren, verließ sie Caprice. Sie verabschiedeten sich schon tagelang vor der Abreise. Und verbrachten ihr Leben damit, einander zu verlassen.

Sie begrüßte die Ihren mit etwas gezwungener Freude, erlebte das Wiedersehen mit der Angst, nicht im Einklang mit ihnen zu sein. Sie musste sich schnell und ohne sichtbare Anstrengung anpassen, als wäre sie nur kurz aus dem Haus gegangen und gleich wiedergekommen. Sie konnte Tante und Mutter einfach nicht zusammenbringen, konnte sich die beiden Frauen, die in allem verschieden waren, nicht mit demselben Namen und in derselben Familie vorstellen. Michelle, die Älteste von sieben Kindern, hatte studieren und einen Abschluss als Bibliothekarin machen dürfen. (Der älteste Sohn hatte Medizin studiert.) Nachdem ihre Eltern eine Tochter und vor allem einen Sohn bekommen hatten, fanden sie wohl, das Wichtigste sei vollbracht, sie seien würdig vertreten, und die folgenden Kinder wuchsen auf, so gut sie konnten, in Schatten und Mühsal. Agnès war die Jüngste, sie hatte nichts gelernt und mit achtzehn Jahren einen Mann geheiratet, der mit dem Beruf eines Grundschullehrers die stolze Position des Familienoberhaupts auf die eines Mannes ohne Ehrgeiz reduzierte. Als Michelle David Tavel heiratete, lernte sie die Codes der Großbourgeoisie, das Paar siezte sich, wie auch die Söhne ihre Eltern siezten. Man ließ sich bei Tisch bedienen und hielt sich gerade, man war höflich zu den Dienstmädchen, machte sich aber auch über sie lustig, und wenn sie es übelnahmen, fand man, es fehle ihnen an Humor. Bei Bruno und Agnès aßen sie in der Küche mit Resopalmöbeln und Wachstuch, wenn keine Gäste da waren, und nach dem Essen spülten sie abwechselnd das Geschirr. Agnès blieb die meiste Zeit stehen, sie sagte, das sei praktisch und es mache ihr Freude, zuzusehen, wie die Familie aß, was sie gekocht hatte. Der Geldmangel gefährdete die Beziehungen, als könnte alles von einem Tag auf den anderen verschwinden, und weil die Eltern sich immer einschränkten und achtgaben, glichen sie zwei Kindern am Straßenrand, die sich nie hinüberwagen. Man kann es nicht weit bringen. Hélène war immer mit einem Fuß woanders, und wenn Agnès ihre Kinder vorstellte, sagte sie mit lächelnder Selbstverständlichkeit: »Sabine, meine Älteste, Mariette, die Kleine, und die Tochter Tavel.« Und man antwortete: »Ach ja, die Pariserin!«

Am Tag von Hélènes Ankunft war das Abendessen immer etwas Besonderes, sie nahm ihren Platz am Tisch ein, es war ziemlich eng in der Küche, aber die Familie war endlich wieder vollständig, und Bruno blickte mit gerührter Zufriedenheit auf seine Töchter.

»Beim nächsten Mal möchte ich mit Hélène nach Paris«, sagte Sabine.

Agnès, die dabei war, die Artischocken aufzutun, erstarrte mitten in der Bewegung über dem Schnellkochtopf, und der Dampf verbrannte ihr den Arm. Sie fluchte leise. Bruno fragte:

»Warum?«

»Sie langweilt sich allein. Stimmt’s, Hélène, du langweilst dich?«

»Dich hat Tavel nicht bestellt.«

Agnès sagte es mit einer Spur Boshaftigkeit, die nicht zu ihr passte. Sie war eine liebevolle Mutter, die all ihre Kraft daransetzte, ihrer Familie Halt zu geben, sie hatte sich in diese Aufgabe gestürzt, als müsste sie irgendwem ihre Kompetenz beweisen.

»Ich träume davon, nach Paris zu fahren, Mama, das weißt du doch!«

»Was ist denn so interessant an Paris? Reicht es dir nicht, Au théâtre ce soir zu sehen?«

Nein, Au théâtre ce soir zu sehen reichte nicht, obwohl die Lust auf Paris auch daher kam. Sabine hatte auf dem SchwarzWeiß-Bildschirm Stücke von Molière mit derselben Faszination gesehen wie die von André Roussin, mehr als zwanzig im Jahr; an diesen Abenden war die ganze Familie pünktlich und alle dämpften die Stimme. Die Sehnsucht nach der Stadt, die Sabine schon von ein paar Familientreffen kannte, war die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die Chance auf Veränderung, sie hätte nicht genau zu sagen gewusst, auf welche, aber vielleicht war es möglich, dass etwas Ungewöhnliches geschah und dass sie imstande sein würde, es zu erleben.

»Nicht zu Allerheiligen, die Herbstferien sind zu kurz. Und ganz bestimmt nicht Weihnachten … Ostern vielleicht … Das sehen wir später …«

Nach Paris. Agnès verstand sie. Sie dachte an ihre Träume, an das, was sie hatte lernen wollen und nicht gelernt hatte, an die Länder, die sie hatte entdecken wollen und in denen sie nie gewesen war, weil ein Mädchen seine Unschuld nicht in der gefährlichen Männerwelt riskiert und weil die Jüngste einer katholischen Familie einen guten Mann sucht, dem sie gesunde Kinder macht, dann kommt das Glück von selbst. Sie hatte kein Abitur, sie hatte einfach geträumt, etwas zu sein. Ballerina. Übersetzerin. Kinderärztin.

»Ich spreche mit Michelle.«

Sie sagte es, ohne Bruno anzusehen, die Augen auf das Spülbecken gerichtet, in dem sie die Töpfe zu putzen begann. Er zündete sich eine Zigarette an und sagte zu Sabine:

»Wenn du mit Hélène nach Paris fährst, nutze ich die Gelegenheit, um euer Zimmer zu tapezieren.«

Hélène wusste, dass sie sehr wohl in den »zu kurzen« Herbstferien nach Paris fliegen würde, und den Weihnachtsabend verbrachte sie zwar bei ihren Eltern, aber am Tag darauf ging es wie immer zum Flughafen und dann zu dem ungeduldigen Hund hinter der Autoscheibe und ihren Geschenken unter dem anderen Tannenbaum, die sie allein auspackte, weil der Weihnachtsabend vorbei war. Aber Ostern würde Sabine vielleicht mitkommen … würden sie zusammen fliegen? Dann könnte sie ihr den Unterschied zwischen einer Boeing und einer Caravelle erklären. Würden sie in Neuilly in der großen Wanne baden, die Maria bis zum Rand volllaufen ließ, während man in La Petite Chartreuse für drei Kinder »zwei Zentimeter Wasser« in die Duschschüssel goss? Sie würde Sabine etwas ganz Verrücktes zeigen: Wenn man sich in einer vollen Badewanne ausstreckt, steigen die Beine von selbst nach oben. Sie würde sie auch vor zwei, drei Sachen warnen: Wenn du nicht kerzengerade am Tisch sitzt, bohrt dir Michelle ihren Fingernagel in die Wirbelsäule, das tut nicht weh, aber es ist unangenehm. Sie würde ihr auch sagen, dass sie den Käse nicht auf das Brot legen soll (»Machst du dir ein Sandwich?«), sie würde ihr beibringen, einen Pfirsich mit Messer und Gabel zu schälen, nie ihren Salat zu schneiden, nicht Reitsport »machen«, sondern »treiben« zu sagen und nicht einfach »essen«, sondern »zu Mittag« oder »zu Abend essen«. Aber vor allem würde sie ihr Baloo vorstellen, ihre Shetlandponystute, die komischerweise einen männlichen Namen trug und keine Fohlen bekam, sondern immer wieder Scheinschwangerschaften hatte. Bei der Gelegenheit würde sie Sabine fragen, ob sie wisse, was das ist.

Jeden Abend träumte Sabine von Paris. Sie hatte es eilig, ins Bett zu kommen, um die aufregende Geschichte weiterzuspinnen, die sie sich erzählte, eine Geschichte wie ein Fortsetzungsroman, der sie mitriss und über dem sie irgendwann einschlief. Sie war Erzählerin und einzige Heldin, und was sie für sich selbst erfand, rührte sie manchmal zu Tränen. Sie machte Bekanntschaften, überwand Gefahren, erregte und faszinierte erfundene Gestalten, Statisten am Rande ihres berauschenden Lebens. Alles spielte sich in Paris ab und an zwei von drei Abenden im Theater. Sie hatte sich immer gefragt, wohin die Zuschauer des Théâtre Marigny gingen, wenn der Vorhang gefallen war und sie nach den Schauspielern jedes Mal auch dem Bühnenbildner Roger Hart und dem Kostümbildner Donald Cardwell applaudiert hatten. Man sah sie aufstehen und in einem unverständlichen Stimmengewirr nach ihren Mänteln greifen. Sabine wollte ihnen folgen. Wissen, wie sie heimkehrten, durch Paris bei Nacht. An manchen Abenden folgte sie ihnen nicht auf die Boulevards, in die Restaurants, an diesen Abenden durfte sie auf der Bühne des Théâtre Marigny vorsprechen, die unvermeidlichen Szenen des bürgerlichen Theaters, in denen man sich gutgelaunt Hörner aufsetzt und nur auftritt oder abgeht, um Verwirrung zu stiften. Sie wurde ausgewählt. Sie spielte in Paris, dann ging sie mit der Truppe auf Tournee, das war so aufregend, manchmal auch abenteuerlich, ganz anders als jedes andere Leben, ein Künstlerleben mit Erfolgen, Liebschaften und harterkämpften Siegen. Warum nicht? Alles war möglich. Sie wusste, dass sie nicht ewig in ihrem Zimmer in La Petite Chartreuse sitzen würde, wo Mariettes nächtlicher Husten an den Wänden hallte, wo sie die Grausamkeit der Welt erfuhr, wenn die Nachbarn mit dem Besen klopften, und sie sich vornahm, das alles nie zu vergessen. Wie sie sich an ihre Mutter erinnern würde, die die Kleine nächtelang im Arm hielt, während sie im Badezimmer stand und warmes Wasser aus dem Hahn laufen ließ, weil der Dampf dem Töchterchen beim Atmen half, und am nächsten Morgen war der Boiler leer.

Sabine war gerade in die achte Klasse gekommen, und sie hatte beschlossen, Zeit zu sparen, indem sie dachte und handelte, als wäre die Kindheit schon vorbei. Sie musste Familie und Schule hinter sich lassen, sich auf das Leben vorbereiten, das sie erwartete. Sie bemühte sich, selbstbewusst aufzutreten, die Welt zu beobachten und persönliche Ideen zu verteidigen, aber sie fand niemanden, um sie zu teilen. Ihre Freundinnen sorgten sich wegen ihrer ersten Regel, machten Abstecher zum Supermarkt und tauschten sich über die Sonntagabendfilme oder die Feten am Donnerstagnachmittag aus. Ein Leben aus unvermeidlichen Ärgernissen und Vertraulichkeiten, für die ihnen die Worte fehlten, weshalb sie die der Erwachsenen borgten, endgültige Worte, die sie beruhigten. Manchmal kaufte Sabine die Zeitung, Le Nouvel Observateur oder Le Monde, in der sie schüchtern blätterte, niedergedrückt von dem Gedanken, dass sie sie eigentlich ganz durchlesen müsste, was sie nie schaffte. Sie hatte sich in der Stadtbücherei angemeldet und entdeckte Welten, die sie nicht immer verstand, aber sie mischte ihr Leben mit dem der Romanhelden, und so gewann es durch die Lektüre an Weite, die Schicksale waren so unermesslich wie entfaltete Flügel, die im Wind schlugen, als verdiente jedes Leben Applaus.

Da sie sich immer später und anderswo sah, lebte sie in einer vervielfachten Zeit, führte ein Dasein in mehreren Dimensionen mit Fluchtlinien und Erweiterungen. Den Kreuzgang des Collège des Prêcheurs, die Treppen aus grauem Stein, die zu den Klassenräumen führten, und den Pausenhof mit den widerlichen Toiletten bemerkte sie gar nicht mehr. Ebenso wenig wie den Matheunterricht mit Mademoiselle Beyer, die ihre Kreide zerrieb und ständig wiederholte: »Ihr denkt bestimmt, ich erzähle immer dasselbe«, und die tatsächlich immer dasselbe erzählte … aber was? Sabine verstand kein Wort, es war wirr und völlig überflüssig. Die Musiklehrerin, Mademoiselle Chef, die die neuen Schülerinnen terrorisierte, den zitternden Ton, der aus ihren Plastikflöten quoll, und die Befriedigung, als die Mädchen begriffen, dass Mademoiselle Chef nur eine dumme, ihrer gemeinsamen Macht ausgelieferte Hexe war. Die Englischlehrerin, bei deren Hereinkommen die Schülerinnen aufstanden, um im Chor Good morning, Miss Thomas! zu rufen. Dann setzten sie sich wieder und ließen die Stühle knarren, bevor eine Stunde resignierten Stotterns begann. All die Monate und Jahre unter Mädchen, nicht einmal ein Lehrer, ein Aufseher, ein einziges männliches Element, die Mädchen in einer Schule, die Jungen in einer anderen, wie unverträgliche Tiere. Seit Mai 68 schrieb die Schulleiterin im Aufsichtszimmer wenigstens nicht mehr jeden Montag die Namen der Schülerinnen an die Tafel, die sie am Wochenende in Begleitung eines Jungen gesehen hatte und die dank ihrer Namensschilder an den Blusen auf dem Schulhof leicht zu identifizieren waren. Manche hatten sich versteckt, andere waren zusammengebrochen. Es hatte nur wenige gegeben, die es wagten, Schmach und Neugier die Stirn zu bieten. Seit kurzem hatten sie das Recht, Klassendelegierte zu wählen. Ein wenig den Kopf zu heben. Aber weiter mit gesenktem Blick. Die Welt blieb engstirnig, verkalkt von Ignoranz. Welchen Sinn hatte das? Wo war die Freude? Und vor allem: Welchen Raum hatten sie, um zu leben und sich am Leben zu begeistern? Die Kleineren kamen verängstigt aus der Grundschule und suchten den Schutz einer älteren Schwester. Wenn sie das Collège vier Jahre später verließen, wunderten sie sich, dass sie das alles ernst genommen und in dieser feindlichen und altmodischen Welt so sehr gelitten hatten.

~

Bruno hatte beim Fahren den linken Ellbogen im offenen Fenster, der Geruch von geschnittenem Gras mischte sich mit dem des Simca, der staubigen Decke auf den Sitzen und der dunklen Gauloise, die er langsam rauchte. Er kam von der Kooperative in Aiguilles zurück, wo er den Wein in Kanistern kaufte, den er dann selbst in Flaschen abfüllte, und er hatte noch den Geruch vom billigen Gesöff der Kooperative, feuchten Brettern, Korken und Stroh in der Nase, gegen den die Weinreben und Pinien ringsum nicht ankamen. Der Himmel verdüsterte sich, Insekten zerplatzten an der Windschutzscheibe, der Abend stieg auf wie tiefer Nebel, und plötzlich wurde er traurig, als hätte er die Traurigkeit vor sich verborgen und sie würde überraschend hervorbrechen. Also summte er ein ziemlich albernes Liedchen, Les Trois Cloches, das seine Töchter liebten, doch es war komisch, das Lied ohne sie zu singen, es fühlte sich an, wie eine Geschichte ins Leere zu erzählen. Er fragte sich, ob er Sabine daran hindern durfte, Hélène nach Paris zu begleiten. Was zog sie dorthin? Die Stadt oder Tavel? Er hatte keine Lust, ihr Zimmer zu tapezieren, er taugte nicht zum Tapezierer, zum Handwerker überhaupt, was Agnès als persönliche Beleidigung auffasste. Sie hatte keinen Bastler-Ehemann. Nein. Er war kein Bastler-Ehemann. Und er machte nur Töchter. Irgendetwas fehlte ihm, sein männlicher Anteil schwächelte, konnte sich offenbar nicht durchsetzen. Drei Töchter und kein Kind, sagte sein Vater, der ihn fragte, was aus dem Namen Malivieri werden solle, wenn er nicht mehr da wäre. Heuchlerische Schikane, denn Brunos Brüder hatten Jungen, hatten Kinder. Sein Vater vergaß oder tat, als vergäße er, dass es da noch etwas gegeben hatte. Etwas, das Bruno aus seinen Gedanken verjagte, sobald es auftauchte.

Er sah sie von weitem. Zuckte zusammen, als wäre sie gegen seine Windschutzscheibe geknallt, ein unerwartetes, brutales Bild. Unwillkürlich dachte er an seine Töchter, wie er bei jeder Gefahr an sie dachte. Er hielt auf dem Randstreifen, die Straße war schmal und unbeleuchtet. Er schaltete die Warnblinkanlage ein und rannte zu dem Mädchen. Sie lag auf der Erde neben ihrem Fahrrad, sie war bei Bewusstsein und antwortete, als er sie nach ihrem Namen fragte, Rose, sie sagte, ihr Bein tue weh und die Schulter, sie könne sie nicht mehr bewegen, und sie brach in Tränen aus. Er sagte, er werde nachsehen, ob sie blute, sie drehte den Kopf zur Seite, ihr war kalt, ihre Zähne klapperten und sie biss sich auf die Innenseite der Wangen. Anscheinend blutete sie nicht. Bruno wusste, dass man einen Verletzten in die stabile Seitenlage bringen muss, trotzdem nahm er Rose wie ein Baby auf den Arm, entzog sie der Kälte, die mit der Dunkelheit kam. Er legte sie vor das Auto und verstaute das Fahrrad im Kofferraum. Der Körper der Kleinen zuckte wie ein halbbetäubtes Tier, und sie übergab sich ins Gras. Die Scheinwerfer des Simca warfen ein grelles Licht auf sie, wie der suchende Strahl einer Taschenlampe. Bruno hörte den Verkehr in der Ferne, die Motoren quietschender Lastwagen, die an einer Kreuzung abbogen und nie auftauchten, hier fuhren keine Autos, und er fühlte sich verlassen in einer toten, durch den Unfall verwaisten Welt. Wieder hob er das Mädchen auf, legte es auf die Rückbank und sagte ihr tröstende Worte, wie er sie seinen Töchtern gesagt hätte, aber dieses verletzte Kind liebte er nicht, er hatte Angst vor ihm und wollte es schnell anderen übergeben. Er fuhr langsam und sprach mit ihr, um sich selbst zu beruhigen, das Krankenhaus sei nicht weit, sie seien gleich da, das wiederholte er, gleich sind wir im Krankenhaus …

Als er vor der Notaufnahme anhielt, sah er, dass sie eingeschlafen war. Voller Panik rannte er zum Empfang, dann ging alles sehr schnell. Die Sanitäter kamen mit einer Trage angelaufen, einer von ihnen drückte ihm die Tasche des Mädchens in die Hand, wir bringen Ihre Tochter in die Chirurgie, dann verschwanden sie hinter den Schwingtüren, niemand warf ihm vor, sie hergebracht zu haben, niemand kümmerte sich um ihn. Trotzdem hatte er das Gefühl, er hätte etwas falsch gemacht, er staunte geradezu, dass ihm niemand Vorwürfe machte. In der Tasche fand er den Namen und die Nummer von Roses Mutter, er wechselte am Empfang Geld und rief sie an. Zehn Minuten später war Laurence da. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, Schuhe anzuziehen, sie war in Strümpfen, die Haare ungekämmt, eine falsch geknöpfte Jacke über dem Kleid, Bruno erkannte sie sofort, eine Mutter, die ihr Kind sucht. Sie hoffte auf ein beruhigendes Wort, eine Versicherung, dass alles gut werde, es war ihm peinlich, dass sie ihm diese Macht verlieh, er hatte einfach nur ein Kind vom Boden aufgelesen. Er lächelte sie mit erzwungener Ruhe an, dann wandte er den Blick ab, vermied ein Gespräch. Er fühlte sich außerstande, sie zu beruhigen, und versuchte seine Sorge zu verbergen, auch seine Wut, wenn er an den Dreckskerl dachte, der das Mädchen umgefahren hatte und abgehauen war. Sie warteten schweigend hinter der Schwingtür zu einer Welt, die Für Besucher verboten war, und durchlebten eine wirre und quälende Zeit, wie man sie niemals erleben möchte und die einen doch spüren lässt, dass dies das Leben ist. Es kann sein, dass dir nichts erspart wird.

Laurence flehte die Frau am Empfang an, sich zu erkundigen, und kurz darauf oder vielleicht Stunden später kam ein junger Arzt und beruhigte sie, Rose gehe es gut, sie habe sich das Bein gebrochen, man habe ihr Stifte eingesetzt und einen Gips angelegt, sie werde bald in den Aufwachsaal kommen. Diese Worte wischten das Schlimmste von der Tafel. Laurence legte die Hände vors Gesicht, die gute Nachricht war ein ebenso heftiger Schock wie die Mitteilung über den Unfall. Bruno fühlte sich von allem befreit, er war raus, und doch hatte er das irgendwie feige Gefühl, dass die Harmlosigkeit des Ganzen ihm einen riesigen Dienst erwies.

Sie gingen nach draußen, um zu rauchen. Laurence weinte lächelnd, ihre Finger zitterten, sie war schön, eine tief bewegte Mutter, deren Tränen die dunklen Augen glänzen ließen. Sie glich einer Madonna. Bruno erlaubte sich diesen so zutreffenden wie erschütternden Gedanken, und es war irgendwie irreal, dass sie als völlig Fremde die Intensität dieses Augenblicks teilten. Gleich darauf sagte Laurence, sie müsse telefonieren. Er blieb allein in der klagenden Nacht, das Zirpen der Grillen verlieh der Dunkelheit ergreifende Tiefe. Irgendetwas lauerte in dieser unsichtbaren Welt. Mit dem Rücken zum Krankenhaus schloss er die Augen und bot sein Gesicht der feuchten Kälte dar. Dann spürte er, wie sich sein Körper allmählich entspannte und seine Haut wieder das Leben, die Luft und die Geräusche des Lebens wahrnahm. Er holte Roses Fahrrad aus dem Kofferraum, lehnte es an das Geländer, sah unwillkürlich nach, ob Laurence wiederkam, und beschloss, ihr nicht auf Wiedersehen zu sagen. Er hatte es jetzt eilig, zu seiner Frau und seinen Töchtern, in seine stabile und ungetrübte Welt zurückzukehren. Es war ein Fehler gewesen, das verletzte Mädchen in seinem Auto zu transportieren, er wusste es, und der Gedanke daran, dass es schlecht hätte ausgehen können, wühlte in seinen Eingeweiden wie ein entsetzlicher Schmerz. Der Tod hatte ihn gestreift. Einmal mehr. Er sagte sich, dass er beten müsse, das Gebet würde ihn beruhigen.

~

Sabine und Hélène lagen in ihren Betten und tuschelten in der Dunkelheit. Das Zimmer ihrer Eltern, in dem Mariette schlief, war von ihrem durch eine papierdünne Gipswand getrennt. Was sie sich sagten, war geheim, denn wenn sie allein waren, wagten sie, von dort zu sprechen. Was war so anders in der anderen Familie, bei diesem Onkel und dieser Tante, die Hélène mehr gehörten als ihren Schwestern? Was konnte sie darüber erzählen? Was hieß das eigentlich, Geld haben? Wehe den Reichen. Ihre Eltern zitierten diesen Satz aus dem Evangelium oft mit einem Seufzer, der Widerspruch und Neid verriet, offenbar war Reichsein ein Fluch voller Wohltaten. Sabine wusste, dass Geld haben hieß, sich wohlzufühlen, von so vielen Problemen befreit zu sein, dass man sorgloser und entspannter wurde. Sie konnte es kaum fassen, wenn ihr Hélène von den Freiheiten erzählte, die sie bei den Tavels genoss:

»Du wirst sehen, dort ist es ganz ruhig, Michelle macht sich nie Sorgen. Du gehst los, du sagst, dass du Freunde oder Nachbarn triffst, mit dem Hund spazieren gehst, sie sagt, alles klar, bis nachher.«

»Sie hat keine Angst?«

»Eigentlich nicht.«

»Du bist allein in Paris unterwegs?«

»Nein, nicht in Paris. Ich bleibe in Neuilly. Mit der Metro darf ich nicht allein fahren.«

»Mit mir darfst du dann.«

»Ich habe Lust zu tanzen.«

»Jetzt?«

Hélène stand auf und begann in der Mitte des kleinen Zimmers, zwischen den Betten und der Holzplatte, die ihnen als Schreibtisch diente, zu tanzen. Ihr weißes Nachthemd war ein wandernder Fleck, wie das Licht des Mondes, vor dem Wolken vorbeiziehen. Sie wiederholte, Wir fahren zusammen Metro, Metro unter der Erde und Metro unter dem Himmel von Paris Paris Paris …

»Leg dich hin, Hélène, du weckst noch die Kleine.«

Sie setzte sich auf den Bettrand, man hörte ihren Atem, die Freude erfüllte sie, zitternd wie eine kleine Wachspfütze unter der Flamme. Sie war schmal und groß für ihr Alter, ganz anders als die kräftige, bäuerliche Sabine, und wurde schon mit elf Jahren als »Bügelbrett« und »Bohnenstange« verspottet. Ihr Gesicht war blass, ihre Wimpern über den grünen, fast durchsichtigen Augen sehr fein. Sie fand sich so farblos wie eine ausgebleichte Zeichnung. Und vor allem verstand sie nicht, »nach wem sie kam«. Agnès sagte, sie ähnele einer ihrer Großtanten, doch weil Hélène sie nie gesehen hatte, wusste sie nicht, ob das schmeichelhaft oder vernichtend war. Auf jeden Fall klang es entsetzlich alt.

»Mit der Hochbahn zu fahren muss toll sein«, sagte Sabine.

»Ich bin schon damit gefahren, mit Vincent.«

»Ist Vincent nett?«

»Er ist mein Lieblingscousin. Weißt du, wenn die Metro über dem Wasser fährt, ist man wie auf einer Brücke, und manchmal habe ich Angst, dass sie runterfällt … Natürlich fällt sie nie.«

»Gehst du oft ins Theater?«

»Ja, oft.«

»Erzähl es mir nicht.«

»Warum?«

»Darum. Erzähl es mir nicht. Ich kann mir alles vorstellen.«

»Was soll ich dir dann erzählen?«

»Keine Ahnung.

»Mein Pony hat Scheinschwangerschaften.«

»Aha.«

»Aber es ist gar nicht schwanger. Hörst du mir zu?«

»Ja, aber leg dich hin, bleib nicht barfuß auf den Fliesen stehen, du erkältest dich noch.«

»Was ist eine Scheinschwangerschaft?«

»Das ist, wenn du glaubst, dass du ein Baby erwartest, aber du erwartest keins, es ist nur Einbildung.«

»Wie wenn ich Pipi machen muss, aber nur vor Aufregung?«

»Ja.«

»Wie merkt man das?«

»Na eben, weil nie ein Baby kommt.«

»Aber wie merken es die anderen? Wenn sie sagen, ›sie hat eine Scheinschwangerschaft‹?«

»Komm, sei jetzt still, Hélène. Du gehst mir auf die Nerven. Weinst du?«

»Nein, ich bin erkältet.«

»Hör auf!«

»Ich weine wegen meinem Pony.«

»Das ist lächerlich, es weint doch auch nicht.«

»Woher willst du das wissen?«

»Es ist ein Tier. Tiere sind wie Babys, sie spüren keinen Schmerz.«

»Warum nicht?«

»Das ist eben so. Das ist sozusagen wissenschaftlich.«

»Ach so … komisch.«

»Nicht mehr als eine Scheinschwangerschaft. Komm, wir schlafen jetzt.«

Sie schwiegen und jede dachte über das nach, was sie gerade gesagt hatten, Phantasie mischte sich mit Unwissenheit, so viel Unwissenheit, als wäre Erwachsensein ein besonderer Zustand, in dem nichts von dem fortdauert, was wir vorher gewesen sind, eine Häutung, die die alte Haut in Schweigen und Vergessen zurücklässt, und so würden sie leben, plötzlich alles begreifen, die Codes, die Gesetze kennen, ohne Zögern wichtige Entscheidungen treffen, Leute kennen, andere wissende Erwachsene, mit denen sie die Welt teilen würden, die ihre unerschütterliche Teilnahme begrüßen würden. Sie fühlten sich empfindlich in ihren Baumwollnachthemden, ihren schmalen Betten, mit den dünnen Wänden dieser übereinandergestapelten Wohnungen, in denen man den Schalter der Nachbarn, die Krallen seines Hundes auf den Kacheln, den Wasserhahn, die Spülung hörte, auch die im Rhythmus der Körper quietschenden Betten, die Schreie der Frauen und die Schreie der Männer, diese Gewalt und diese Scham vor irgendetwas. Die Nacht war der Ort der offenbarten Vertraulichkeiten, doch am Morgen begegnete man sich im Treppenhaus und grüßte sich höflich, als wäre nichts passiert, als wären die Wesen, die nachts lebten, in ihrem Schlafzimmer geblieben, und die, die sich im Tageslicht zeigten, ihre zivilisierten und ordentlichen Doppelgänger.

Hélène weinte leise und wollte nicht schniefen, ließ den Rotz lautlos zwischen ihre Finger rinnen. Baloo kannte den Schmerz. Sie wusste es. Morgens, wenn sie sie aus ihrer Box oder von der Weide holte, wieherte sie, wenn sie sie kommen sah, und rieb dann den Kopf lange an ihrem Bauch. Das war Freude. Hélène stellte sich vor, dass sie das Gegenteil empfinden würde, wenn sie, ohne stehen zu bleiben, an der Box vorbeiginge. Das wäre der Schmerz. »Wissenschaftlich«. Das Wort kannte sie nicht. Allmählich hörte sie auf zu weinen, sie sah wieder den Bauch ihres Ponys vor sich, der so dick war, dass man dachte, er wäre voller Babys, aber er war nur voll von Eingeweiden, Blumen, Gräsern und Dornen. Und dann schlief sie ein, nachdem sie wie jeden Abend auf den Moment gelauert hatte, wo sie vom Wachsein in den Schlaf überging, und da sie ihn nicht erwischte, glitt sie ohne Übergang von der Traurigkeit ins Vergessen. Sabine spürte den Augenblick genau, wenn ihre kleine Schwester im Schlaf versank, sie erkannte an ihrem Atem den Moment, von dem an sie ihr keine Fragen mehr stellen und nicht mehr so tun würde, als sei sie erkältet. Sie nahm ihre Paris-Träume wieder auf. Die ferne Stadt war ihr zweiter Wohnsitz, ihr abendliches Rendezvous. Sie wollte nicht nur in der Metro über dem Fluss sein, sie wollte nicht nur in einem roten Samtsessel sitzen. Sie wollte allein durch Paris laufen, ohne Schwester, Tante, Cousin oder Hund. Sie wollte aufstehen und losgehen.

~

Und dann gab es in Aix‑en-Provence diese allgemeine Empörung, den Skandal. Und in der kleinen, abgeschiedenen und bürgerlichen Provinzstadt war das ein Makel, der sich unmöglich verbergen ließ.

Eines Abends, als Sabines Schwestern noch vor dem Haus spielten und sie hochgekommen war, um ihre Hausarbeiten zu machen, hatte sie ihre Eltern in der Küche gehört. Sie flüsterten betreten, Agnès stützte den Kopf in die Hände, sie wirkte müde und etwas orientierungslos.

»Warum weinst du?«, fragte Bruno.

»Ich weine nicht … Ich bin aufgewühlt, das ist alles.«

»Du hast schon geweint, als sie gestorben ist.«

»Aber ich sage dir doch, ich weine nicht! Ich bin nur … Ich bin empört, dass sie es wagen, ihn in Aix zu zeigen, wo die Eltern des Jungen so nah sind … Regt dich das nicht auf?«

Sie klangen beide, als wollten sie etwas aufhalten, einer Gefahr zuvorkommen und vermochten es nicht.

»Bruno, dieses Plakat, hier, das ist so schockierend … Das ist … ein Skandal, ja, genau! Das ist …«

»Was machst du denn hier, Sabine?«

Obwohl Bruno versucht hatte, harmloses Erstaunen in seine Frage zu legen, zitterte seine Stimme, und Sabine kam auf Zehenspitzen in die Küche, passte sich dieser seltsamen Stimmung an.

»Bist du nicht unten bei deinen Schwestern? Wer passt auf Mariette auf?«

»Hélène.«

»Bist du schon lange da?«

»Ja, schon lange.«

Und dann mussten sie es erklären. Weil Sabine es wollte. Weil sie fragte, Was ist das für ein Skandal? Und diese Frage, die Eltern so verlegen machte, dass sie einen Moment dachte, einer von ihnen sei irgendwie darin verwickelt. Sie wussten nicht, wie sie es ausdrücken sollten, und schoben den anderen vor: Na los! Nein, du!, und Sabine sah, wie jung und hilflos sie waren. »Sie werden noch lange leben«, und während sie das dachte, meinte sie, dass sie immer leben würden, also war sie erbarmungslos und verlangte, dass sie vor ihr nichts verbargen, sonst würde sie sich selbst umhören, und da traf sie den Nerv: Keiner von beiden wollte, dass die Geschichte ihrer Tochter mit Worten erzählt würde, die sie nicht gewählt hatten, ohne diese große Vorsicht. Es war, als würden sie eine Granate in Seidenpapier verpacken. Das sei eine verbotene Geschichte, die einer »Geschiedenen«, sagte ihr Vater, und das machte sie schon zur beschmutzten Frau. Eine geschiedene Mutter. Wörter, die nicht zusammenpassten. Sie hatte sich das Leben genommen, in Marseille, sie hatte den Gashahn aufgedreht und dann war sie gestorben. Sabine glaubte, dass diese Frau ihren Eltern nahegestanden habe und dass das der Skandal sei, eine Geschiedene-Mutter-Selbstmörderin‑in-Marseille, und sie fragte, ob sie zur Beisetzung gehen würden. Sie starrten sie an, als wäre sie von Sinnen.

»Sie ist schon lange beigesetzt. Sie hat sich 1969 umgebracht.«

»Hast du in Aix die Plakate für einen Film mit Annie Girardot gesehen? Eine rote Rose auf einem Steckbrief? Hast du sie nicht gesehen?«

»Nein. Was ist das?«

Ihre Mutter starrte zärtlich auf ihre zur Küchendecke geöffneten Handflächen und stieß hervor:

»Aus Liebe sterben.«

»Aus Liebe sterben?«

»Ja. So nennen sie die Geschichte. Diese Frau, Gabrielle Russier, war Lehrerin in Marseille, und in ihrem Alter … mit zweiunddreißig … In ihrem Alter hat sie … hat sie mit einem ihrer Schüler geschlafen, ja, der sechzehn war. Sie ist dafür ins Gefängnis gekommen. Natürlich. Und die Eltern dieses Schülers sind Lehrer, hier an der Uni in Aix. Und die Filmplakate sind überall in der Stadt …«

»Ich verstehe.«

Sie sagte es, damit sie aufhörten zu reden. Aber sie verstand nichts, sicher, weil die Eltern selbst nicht verstanden, woher ihr Schmerz und diese riesige Verlegenheit kamen. Dieser Kriminalfall brachte ihre Glaubensgrundsätze ins Wanken, störte den ehrenhaften und richtigen Plan, den sie für ihr Leben aufgestellt hatten und der einzigartig und allgemeingültig sein sollte. Ihre christliche Moral schloss die Verwirrung der Gefühle aus, aber ganz in ihrer Nähe hatte eine Frau so gelitten, dass sie ihre Kinder vergaß, den Backofen öffnete und den Kopf hineinsteckte. Wie sollte man da nicht zutiefst verstört sein?

Sie verboten Sabine, den Film zu sehen, und sie widersetzte sich nicht und sprach über diesen Fall weder mit Hélène noch mit ihren Freundinnen. Sie blieb allein mit dieser Explosion, die so viele Breschen schlug. Die Liebe wie ein über die Ufer getretener Fluss. Die Liebe, die nicht ausschließlich ehelich, vom Priester gesegnet, vom Gesetz genehmigt war. Gerade hatte das Jahr 1971 angefangen, es war Januar. Zwei Monate später las sie im Nouvel Observateur ein paar Worte des früheren Schülers von Gabrielle Russier. Er sagte: »Das war keineswegs eine Leidenschaft. Das war Liebe. Leidenschaft ist blind. Aber wir waren nicht blind«, und das verstärkte ihr Unverständnis noch. Sie hätte es vorgezogen, wenn Aus Liebe sterben eine Krankheit gewesen wäre, an der zwei gedankenlose und egoistische Menschen litten, weit weg von allem, was sie kannte. Doch in diesem Artikel las sie, dass sie gebildet, politisch engagiert, ungehorsam und schön waren. Sie las die Geschichte, die ihr die Eltern nicht erzählt hatten, mit Worten wie Verführung Minderjähriger, Psychiatrisches Krankenhaus, Gefängnis Baumettes, und sogar von Pompidou und den Versen von Éluard, die der Präsident so seltsam rezitiert hatte, um Gabrielle Russier zu verteidigen. Das war ein wilder Tanz, alle Welt schien in dieser Beziehung gewühlt zu haben, ganz Frankreich beugte sich über diese Liebe, um daraus ein Sittendrama zu machen. Nachdem Sabine den Artikel gelesen hatte, versteckte sie sich und weinte. Weinte um ihre Lust zu lieben und die Scham, die sie darüber empfand, wegen der Beschmutzung, die womöglich mit dem Gefühl, der Beziehung, der Sexualität verbunden war. Die Liebe war ein Skandal. Und sie wollte, dass es ihr zustieß.

~

Sie entdeckten eine andere Provence und betraten das Grundstück mit der respektvollen Begeisterung derer, denen es nicht zusteht. Doch man öffnete ihnen das Tor, sie wurden empfangen. Die lange Auffahrt, die Erde fein wie Sand, gesäumt von Zypressen, die nach Weihrauch dufteten, und Buchsbaum in altem Grün, die feierliche Schönheit des Ortes, alles verwirrte Bruno und Agnès, und sie empfanden für Laurences Einladung die Dankbarkeit der Schüchternen. Sie bedankten sich immer wieder mit verlegener Stimme.

»Ich habe Ihnen zu danken«, sagte Laurence, »mein ganzes Leben werde ich Ihnen danken, mein ganzes Leben.«

Agnès hatte Laurence wiedergefunden, ohne sie zu kennen, an einem Samstagmorgen auf dem Markt. Sie hatte diese etwas nachlässig (sie sagte speziell) gekleidete Frau gehört, die laut sprach und einer Freundin vom Unfall ihrer Tochter Rose erzählte. Und weil sie sie speziell fand und unglaublich schön, in Sachen gekleidet, die nicht zu ihrem Alter passten, ein bisschen wie diese Hippies, hatte sie dem Gespräch zugehört, und dann hatte sie gesagt, Das war mein Mann, ich glaube, das war mein Mann, der Ihre Tochter ins Krankenhaus gebracht hat. Und sie konnte es nicht fassen, dass sie gewagt hatte, sie zu unterbrechen, sie presste Mariette an sich, während sie es tat, als wollte sie sich ihrer Autorität versichern. Laurence hatte laut gejubelt, hatte sie mit der Spontaneität unbefangener Menschen umarmt, hatte gesagt, dass sie ihren Mann gesucht habe, sie habe ihm danken wollen, aber er habe im Krankenhaus kein Formular ausgefüllt, sie sei so glücklich, jetzt endlich zu wissen, wer der Mann sei, der ihre Tochter gerettet habe. Und dann hatte sie die Frau angeschaut, die so stolz auf ihren Mann war und einem erschöpften Kind glich.

»Ich würde Sie gern zum Tee einladen. Sie und Ihren Mann. Und natürlich die Kleine.«

»Ich habe drei Töchter.«

»Schon? Wie alt sind Sie denn?«

»Vierunddreißig.

»Und schon drei Kinder. Und … keinen Jungen?«

»Nein.«

»Wollen Sie einen?«

Agnès wurde etwas blass. Sie antwortete mit Inbrunst:

»Ganz bestimmt nicht.«

Sie setzten sich auf die Terrasse, das Landhaus hinter ihnen war ein dunkles Loch, von großen blauen Fensterläden vor der Sonne geschützt, sie saßen im Schatten der Linde, die sie mit ihren tiefhängenden Ästen zwang, den Kopf einzuziehen, sobald sie aufstanden, als suchten sie sich in der Dunkelheit. Der Frühlingsanfang war die herrlichste Jahreszeit im Süden, ohne die lähmende Schwüle des Sommers. Das große Becken war leer, es verwirrte Hélène, den Boden zu sehen, auf dem Laub und zerbrochene Spielsachen lagen. Sie hatte gewaltige Angst vor Schwimmbädern, und trocken wirkte das Becken noch unergründlicher. Einige Monate zuvor war ein Mädchen aus dem Collège während des Schwimmunterrichts im städtischen Schwimmbad ertrunken. Sie dachte Tag und Nacht daran, sie dachte immerzu daran, ohne je darüber zu sprechen. Sie selbst war als ganz kleines Kind fast im Ärmelkanal ertrunken, während der Ferien mit David und Michelle, und seither konnte sie den Kopf nicht ins Wasser tauchen, ohne genau zu spüren, was der Tod war. Sie hatte ihn nicht gestreift. Sie hatte ihn erlebt und in sich bewahrt. David hatte sie gerettet, doch das Mädchen aus dem Collège hatte man zwar dem Wasser, nicht aber dem Tod entrissen. Man hatte sie auf den harten und kalten Rand des Schwimmbeckens gelegt, aber sie war schon woanders. Oder nirgendwo. Und Hélène fragte sich, warum nie darüber gesprochen wurde; wie war es möglich, dass ein Mädchen lebendig in die Umkleideräume kommt und tot aus dem Schwimmbad geholt wird, ohne dass dies das einzige Gesprächsthema ist? Sie hatte erfahren, dass das Mädchen an jenem Morgen, genau zu dieser Stunde ohnehin gestorben wäre, im Wasser oder draußen. Es hatte eine Herzmissbildung, und das musste passieren. Hélène kannte sie nicht, trotzdem wurde sie ihre Gefährtin, ihr Kummer, ihre nicht gerettete Doppelgängerin.

Sabine und Rose gingen mit Mariette im Garten spazieren, Hélène gesellte sich zu ihnen, um die Gedanken zu vertreiben, die alles verdarben. Rose lief mit einer Krücke, Sabine und Hélène waren eingeschüchtert von ihr, die das Geheimnis eines nächtlichen Unfalls und einer Rettung durch ihren Vater barg. Sie fühlten sich als Töchter des Helden, und diese kleine Überlegenheit glich das soziale Gefälle ein wenig aus. Sie hatten erlebt, wie Rose ihren Vater bewunderte, er wirkte distanziert und lächelte ihr nur zu, ohne die Nacht zu erwähnen, ein Lächeln, das bedeutete, Vergessen wir das. Sie wussten auch, dass Rose ihn schön finden musste, weil er schön war, ihre Freundinnen sagten es ihnen, und die Nachbarn, die Freunde, die darauf hinwiesen, dass er einem Schauspieler ähnlich sei, aber sich nie erinnerten welchem. Sie stellten sich einen amerikanischen Schauspieler vor, größer und heldenhafter als ein französischer, und sie waren stolz auf die Schönheit des Vaters.

»Gehst du schon wieder ins Cézanne?«

Sabine war nur ein Jahr jünger als Rose, im nächsten Jahr würde sie auch ins Lycée Cézanne hinter den Hügeln gehen. Das war immer noch nicht gemischt, aber es hieß, man könne dort mit den Jungen ausgehen, die die Matheleistungskurse im selben Gebäude besuchten, und es gab so wenig Mädchen in diesen Kursen, dass die meisten sicher frei waren, aber es hieß auch, sie blieben immer unter sich, sogar in der Pause, sie stünden immer zusammen, man sehe sie nur von hinten. Das war nicht sehr verlockend, aber wenn sich einer von ihnen umdrehte, würde er vielleicht sein strahlendes, von Theoremen befreites Gesicht zeigen. Das musste doch passieren, dass sich irgendwann ein Junge umdrehte und man ihn von vorn sah. Die bei den Feten am Donnerstagnachmittag waren so jung, als wären sie alle Cousins, harmlose, ungeschickte Knaben. Sie übten sich an den bereitwilligen Mädchen, Sabine fand sie erbärmlich, sie sah, wie sie litten und wie sie sich gegenseitig überwachten. Wer von ihnen würde es schaffen, ein Mädchen einzuwickeln? Oder zwei. Oder drei. Auch wenn sie die Fensterläden schlossen und im Halbdunkel Slows tanzten, sah man ihre Unbeholfenheit wie im Tageslicht.

Rose war nicht hübsch, und Sabine und Hélène fanden, dass der Vorname nicht zu ihr passte. Aber sie besaß eine ruhige, selbstsichere Freundlichkeit, und das verwirrte sie. Eine Fünfzehnjährige ohne Komplexe. Sie schlug vor, ihnen ihr Zimmer zu zeigen, das ihre Mutter im Erdgeschoss eingerichtet hatte. Sie betraten das Haus, das nach Zitronenmelisse und überreifen Feigen roch. Der Staub schwebte in den schrägen Lichtstrahlen, die durch die Fensterläden eindrangen, und fiel auf die Bodenfliesen. Drinnen standen ein Klavier, ein großes Buffet und ein Holztisch, darauf Vasen mit welken Blumen und Tassen, in denen Fliegen summten. Das Wasser tropfte in ein steinernes Becken und gab der Zeit einen langsamen, zerstreuten Rhythmus. Alles schien ein unabhängiges, chaotisches Leben zu führen. Eine rote Katze lag auf dem Tisch, Mariette wollte zu ihr, Sabine nahm ihre Hand, Du streichelst sie nicht so lange, Mariette, du bist allergisch, und sie streichelten die Katze zusammen, die sie träge anschaute und dann mit einem Satz verschwand. Bei ihrem Sprung warf sie die Zeitung, auf der sie gelegen hatte, zu Boden, eine Zeitung mit schwarzem Hintergrund, darauf die Zeichnung eines Mannes mit dickem, faltigem Gesicht, sein Blick ebenso fliehend wie seine Züge. Charlie Hebdo titelte: Wer hat die 343 Schlampen des Manifests für die Abtreibung geschwängert? Sabine legte die Zeitung sofort weg. Sie hatte Innenminister Michel Debré nicht erkannt, aber sie hatte das Manifest im Nouvel Observateur gelesen, ein langes Plädoyer, und sie verstand die Beschimpfung nicht. Schlampen. Dadurch wurde die Abtreibung, jenes brennende Thema, das ihr unangenehm war und über das sie nicht zu sprechen wagte, noch brutaler. Mariette war der Katze gefolgt, die sich über ihren Napf beugte. Sabine ging zu ihr. Ihre Schwester war so klein, man konnte meinen, sie wachse nicht, ihre Augen waren riesig in dem winzigen Gesicht, als folgten sie einem unabhängigen Wachstum, und sie betrachtete die Welt mit ständiger eifriger Neugier.

»Ich habe dir schon mal gesagt, du sollst ein Tier nicht stören, wenn es frisst!«

»Ich fasse sie gar nicht an.«

»Trotzdem. Du sollst nicht mit dem Gesicht auf seiner Höhe sein.«

»Sie hat mich gern.«

»Sie kennt dich gar nicht.«

»Kommt ihr endlich?«

Hélène rief sie aus Roses Zimmer, es kam ihr vor, als wären ihre Schwestern weit weg, als müssten sie mehr als ein Zimmer durchqueren, um zu ihr zu gelangen.

»Was habt ihr denn getrieben?«

Sie erschrak über ihre Aggressivität und setzte Mariette mit festem Griff auf ihren Schoß. Die Kleine wand sich, machte sich los und setzte sich neben die anderen auf Roses großes Bett, das mit zerdrückten Kissen bedeckt war. Sie wollte ihre Haltung nachahmen und stützte das Kinn in die Hände, konnte die Pose aber nicht halten, ließ sich auf den Rücken fallen und betrachtete die Decke. Hélène fragte noch einmal:

»Na, was habt ihr getrieben?«

»Gar nichts, wir haben die Katze gestreichelt, beruhig dich!«

»Die Katze, ja, die Katze!«, sagte Mariette.

»Ich habe keine Geschwister«, sagte Rose stolz.

Sie fühlten sich erbärmlich. Sie hatten gerade ein ganz falsches Bild von sich abgegeben. Rose konnte das nicht verstehen. Sie stritten sich nicht. Sie riefen sich. Sie konnten einander nach einer Sekunde fehlen, und diese Sekunde war wie ein winziger Wassertropfen, der alles enthielt. Ihr Altersunterschied trennte sie ein wenig, aber Agnès hatte ihnen gesagt, dass dieser Unterschied mit den Jahren schwinden würde, Nicht mal drei Jahre, das zählt, wenn man jung ist, nicht, wenn man erwachsen ist, und Hélène sah die »nicht mal drei Jahre« schwinden wie eine Zahl im Sand, das war traurig und lächerlich. I’ve been followed by a moonshadow, sang Cat Stevens. Genau das spürte sie. Man wurde vom Schatten des Mondes verfolgt. Man starb in der Tiefe des städtischen Schwimmbads. Man starb in der Tiefe des Meeres. Man starb auf dem Fahrrad auf einer Straße der Provence. Man starb an Missbildung oder Unaufmerksamkeit. Unter dem Schatten des Mondes.

Ihre Mutter rief sie, sie mussten nach Hause, wo waren sie? Ihr Ruf war von weiteren Danksagungen begleitet, Dieser Garten ist schön, so schön, vielen Dank. Kommen Sie, wann immer Sie wollen, sagte Laurence, und als die Mädchen neben ihrer Mutter standen, erklärte sie begeistert, Verrückt, wie vier Schwestern! Agnès lächelte, sie war geschmeichelt, das bemerkten Hélène und Sabine, den geschmeichelten Ausdruck ihrer Mutter. Sie sagte, sie habe Sabine mit neunzehn bekommen. Diese Zahl, so lächerlich sie war, würde nicht mit der Zeit schwinden. Diese Zahl sagte, dass ihre Mutter ihre Jugend nicht erlebt hatte, weil sie keine gehabt hatte.

Alle fünf hatten es jetzt eilig, nach Hause zu kommen, das Minibad für drei einlaufen zu lassen, in der Küche zu essen, Mariette ins Bett zu bringen und den Sonntagabendfilm zu sehen, dabei Mars-Riegel zu essen, die Agnès in kleine Stücke teilte, zwei Riegel für vier, weil einer für jeden zu teuer gewesen wäre. Sie würden auch die Geschichte des Films teilen, verlegen bei den Kussszenen, gerührt von der Schönheit der Schauspielerinnen, die traurige und komplizierte Geschichten durchlebten, in denen alle etwas von ihren Wünschen und ihrer Bedrängnis erkannten. Während sie den Film sahen, spürten sie, dass sie die Plätze wechseln würden, früher oder später würden sie einander ersetzen, die Zeit würde die Rollen neu verteilen. Vielleicht liebten sie diese Momente in der Familie deshalb so sehr, weil die Situation zerbrechlich und vergänglich war, und alle zusammen waren sie wer.

~

In den Osterferien fuhren Hélène und Sabine nach Paris, mit dem Mistral ab Marseille. Michelle hatte Geld für die Zugfahrkarten geschickt, nicht genug für das Flugzeug. Agnès machte ihnen weinend Brote. Das musste so kommen. Ihre Schwester begnügte sich nicht mit einem Kind, sie wollte zwei. Sie hatte schon immer alles gedurft. Studieren, weil sie die Älteste war. (Sie hatte nie gearbeitet und ihr Bibliothekarsdiplom nie gebraucht.) Zu allem eine Meinung haben, weil sie reich war und in Paris lebte. Seit ihrer Kindheit blieb Agnès diejenige, der man Ratschläge gab, der man ein bisschen half und von der man nichts erwartete. Jeden Monat gab ihr Bruno, nachdem er Tavels Scheck zur Bank gebracht und Geld an seinen Vater überwiesen hatte, etwas Bargeld, damit sie Fleisch kaufte, ein Schulterstück für das Pot‑au-feu und einen Lendenbraten für die Sonntagsgäste. Tavels Geld füllte alle mit Proteinen, es duftete nach brauner Butter und gebratenem Fleisch.

Sabine packte ihre abgetragenen, schlecht geschnittenen Sachen in den Koffer. Sie hatte Geld vom Babysitten gespart, in Paris würde sie sich ihre ersten Jeans und ihre erste Wimperntusche kaufen. Für ihren Vater war jede Schminke anstößig, er missbilligte die Kunstgriffe, die aus einem anständigen Mädchen ein vulgäres Mädchen machten, das die Männer gewiss nicht respektieren würden. Ein leichtes Mädchen. Sie überlegte sich, dass sie die Wimperntusche heimlich auftragen würde, und mit den Jeans würde ihr Vater sich schon abfinden. Sie war fünfzehn, es stand ihr zu, aber für ihre Eltern war alles Neue eine mögliche Gefahr, und sie hatte das Gefühl, selbst die Fragen, die sie ihnen stellte, seien unangemessen, als blitzte in dem, was sie nicht verstand, die Grausamkeit der Welt auf. Sie hätte gern mit ihrer Mutter gesprochen, ohne dass die Worte ihr peinlich waren, aber jeder Gedanke glich einer Infragestellung ihres Daseins, ja einem Vorwurf. In Agnès’ Alltag steckten so viel Energie und so großer Eifer, dass es schwierig war, sich ihrem Revier auch nur zu nähern. Im letzten Winter hatte sie zugelassen, dass Sabine Kohlen aus dem Keller holte, und es war ihr wie ein Verzicht vorgekommen. Wie oft hatte Sabine sie im Winter die Eimer aus dem Keller in die fünfte Etage schleppen und den Ofen füllen sehen? Ihr Leben lag in diesem Verb, füllen. Den Ofen mit Kohlen füllen, den Eisschrank füllen, die Badeschüssel füllen, ihre Mägen füllen, das Schweigen füllen, jeder Gefahr begegnen. Wäre es einfacher gewesen, wenn sie nur ein einziges Kind gehabt hätte? Sabine hatte gehört, wie sie einer Schwägerin, die zum sechsten Mal schwanger war, den Rat gab, mehr Motorroller zu fahren und zu hüpfen. Wie sollte man das verstehen? Was war der Unterschied zwischen einer gewollten Fehlgeburt und einer vorsätzlichen Abtreibung? Nachdem sie das Manifest der 343 Schlampen, wie Charlie Hebdo sie getauft hatte, im Nouvel Observateur gelesen hatte, war Sabine so ratlos gewesen, dass sie die Ausgabe versteckt hatte, deren Titelseite einem Warnschild glich, farbige Worte auf schwarzem Hintergrund. Eine Traueranzeige, bekritzelt mit Leben. Unterzeichnet von Catherine Deneuve, Simone de Beauvoir, Françoise Sagan, Marguerite Duras, Gisèle Halimi und vielen anderen berühmten Frauen, die sie nicht kannte, und von vielen unbekannten Frauen, die ihre Unterschrift offenbar teuer zu stehen kam. Das Manifest erklärte, dass die Frauen nicht frei über ihren Körper verfügen könnten. Wie Sklaven. Dass die Frauen zur Fortpflanzung gezwungen seien. Wie Vieh. Und es verglich die Katholiken mit den Faschisten. Die Brutalität dieser Gleichsetzung verstärkte den Schock der Lektüre, den die Zahl der Frauen auslöste, die abtrieben, und derer, die dabei starben. Alles war eine Frage des Bauchs, nur darum ging es, um den Bauch der Frauen. Wem er gehörte. Wem er Rechenschaft schuldete und was sie mit ihm tun durften. Und auch in dem Manifest stand das Wort Skandal. Das war heftig und gefährlich. Und entsetzlich nah. Als Sabine ihre Regel bekam, hatte Agnès gesagt, Du bist jetzt eine Frau, pass auf. Sie hatte gedacht, sie solle aufpassen, keine Flecken auf ihr Laken oder ihren Rock zu machen. Und dann hatte sie verstanden, dass es um etwas anderes ging. Sie konnte ein Kind bekommen. Sie war auf die Seite der Gefahr gewechselt. Aber sie wusste nicht, wie sie sich davor schützen sollte, nicht einmal, wie man es kommen sah. Die Erwachsenen sprachen nicht über solche Dinge. Die Eltern nicht. Die Lehrer nicht. Und keins ihrer Bücher. Irgendetwas war zu Ende gegangen, und etwas anderes, mächtig und schlecht, würde seinen Platz einnehmen. Das war alles.

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Hélène und Sabine blieben nur eine Nacht in Paris. Nicht einmal in Paris. In Neuilly. Eine Nacht, in der Sabine vor Enttäuschung weinte, während Hélène an ihren Hund geschmiegt schlief, jede in ihrem Bett mit so vielen Kopfkissen, dass Sabine die Hälfte über Bord geworfen hatte. Es war ein Schlafzimmer wie im Film, mit indirekter Beleuchtung, Bildern an den Wänden, Gardinen und Übergardinen, einem riesigen Kleiderschrank, in dem Licht anging, wenn man ihn öffnete. Die Fächer darin waren voll von akkurat zusammengelegten Pullovern und Blusen, Kleiderbügeln, die sich wie eine führungslose Herde aneinanderpressten, Jacken, Mänteln, Kleidern, Anzügen, und an den Türen Krawatten, Gürtel, Tücher, auf dem Boden eine ganze Ausstellung von Schuhen mit Spannern und makellosen Bürsten. Angesichts dieser Überfülle hatte Sabine gefragt, Wem gehört das? In einem Ton, der besagte, Was ist das für ein Schwachsinn? Und Hélène hatte begriffen, dass ihre Schwester diesmal keine Lust haben würde, ein Kleid anzuziehen, das nicht ihrs war, um sich im Spiegel anzusehen und sich langsam zu drehen.