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Lisa kann es kaum erwarten. Ein Wochenende bei den Großeltern steht vor der Tür – diesmal mit ihren besten Freunden, Jan und Leon. Auf dem Dachboden entdecken die Kinder ein uraltes, geheimnisvolles Buch. Eine Reise voller Magie, Gefahren und spannender Abenteuer beginnt. Werden die drei es schaffen, dem unsichtbaren Pfad durch das Tal der toten Träume und den Sumpf der sorglosen Seelen bis zum Ende zu folgen? Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem magischen Mondmedaillon? Und wer ist eigentlich Balduin Kreuzberg?
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Für meinen Bruder Floh, der mir gezeigt hat, dass es im Leben viele Wege gibt, sein Glück zu finden!
Teil I - Das geheime Buch
Der außergewöhnliche Dachboden
Ein lang ersehntes Wochenende
Ein Mondstrahl und ein enthülltes Geheimnis
Leopold und Jannis
Luisa
Die Waldhöhle
Tunnel ins Ungewisse
Eine rätselhafte Aufgabe
Der Floßbau
Aufbruch
Der blinde Passagier
Nächtlicher Besuch
Das Tal der toten Träume
Nur weg von hier
Heimtückische Gefahr
Unerwartete Hilfe
Ein Heim im Wald
Abschied
Teil II - Das Medaillon des Zauberers
Die erste Nacht im Sumpf der sorglosen Seelen
Wunder der Sümpfe
Um Haaresbreite
Das Labyrinth des Berges
Ein übereilter Abstieg
Irrwege
Schwarzer Schrecken aus der Dunkelheit
Trügerische Hoffnung
Die große Höhle
Gefangen!
Die Geschichte eines alten Mannes
Die List des Zauberers
Ein wahrer Meisterdieb
Der Ausbruch
Eine letzte Gnadenfrist
Der Turm der Magierin
Zirkus der Abscheulichkeiten
Das magische Mondmedaillon
Die Turmspitze
Ein neuer Weg
Teil III - Das Erbe eines Zauberers
Der freundliche Fremde
Ein Wagen voller Gaukler
Der Jahrmarkt von Endsbrück
Zirkus Montegal präsentiert
Ein Eichhörnchen in der Not
Das Rätsel der Seherin
Der Alte erwacht
Luisas Vorahnung
Die Nebelspitze
Der Adler im Eis
Eine dunkle Eskorte
Die Entscheidung
Freudiges Wiedersehen
Das große Festbankett
Die ganze Wahrheit
Der letzte Schritt
Ein unerwarteter Gast
Teil I
Das geheime Buch
Eine von Lisas Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, auf dem Dachboden ihrer Großeltern herumzustöbern.
Der Dachboden war riesengroß und voll mit den abenteuerlichsten Dingen. Bis unter die Decke stapelten sich hier geheimnisvolle Schachteln, seltsame Kisten und vieles mehr. Alles angefüllt mit kostbaren Schätzen.
Von diesem Ort aus hatte Lisa schon die ganze Welt bereist. Einmal entdeckte sie einen kleinen weißen Spielzeugdampfer. Schon war sie unterwegs auf dem großen, weiten Mississippi. Dort baute sie sich mit Tom Sawyer ein Floß und sie erlebten beide die wildesten Abenteuer.
Ein anderes Mal fand Lisa eine Schachtel voller Cowboys und Indianerfiguren. Wenig später ritt sie an der Spitze einer Schlange von Planwägen, tief im Wilden Westen. Die Sonne brannte heiß auf ihren Kopf. Doch sie durften keine Zeit verlieren, denn die blutrünstigen Rothäute waren ihnen schon dicht auf den Fersen.
An einem wackeligen Kleiderständer in einer Speicherecke hingen zahllose alte Klamotten. Manchmal verwandelte sich Lisa in eine anmutige Edeldame. Oder sie deckte als Sherlock Holmes die schaurigsten Verbrechen auf.
Durch Zufall fand sie eines Tages einen alten Chemiebaukasten. Er lag versteckt unter einem Zeitungshaufen und war voll gestopft mit kleinen Fläschchen. In mühevoller Arbeit entwickelte Lisa einen Unsichtbarkeitstrank. Nun konnte sie jederzeit ungestört ihre Eltern belauschen.
Doch das Schönste auf dem Dachboden waren die Bücher. Ihre Großeltern mussten sie wohl ihr Leben lang gesammelt haben. Hunderte, wenn nicht Tausende von Büchern lagen dort herum. An den Wänden aufgestapelt, in großen Kartons verpackt oder zu Haufen aufgetürmt, die an kunstvolle Bauwerke erinnerten. Manchmal waren sogar ein paar Abenteuerromane dabei. Lisa liebte solche Bücher über alles.
Und so wartete sie bei jedem Besuch immer schon sehnsüchtig darauf, im Dachboden der Großeltern auf Schatzsuche zu gehen.
Es war ein regnerischer Tag im Herbst. Die Autofahrt kam Lisa vor wie eine Weltreise. Allein ihre Freunde, Leon und Jan, schafften es, sie ein wenig aufzuheitern.
Letzte Woche in der Schule hatte sie den beiden von dem geheimnisvollen Dachboden erzählt. Sie waren sofort Feuer und Flamme gewesen. Da war Lisa eine geniale Idee gekommen. Am Abend sprach sie mit ihren Eltern darüber, ließ nicht locker und bekam letztendlich ihren Willen. So saßen sie jetzt zu dritt auf der Rückbank des Autos, auf dem Weg nach Mühlberg, wo Lisas Großeltern wohnten.
Ein ganzes Wochenende mit ihren Freunden. Was für eine tolle Aussicht! Das machte die nervtötende Autofahrt schon um vieles angenehmer.
Die Jungen wollten alles über den Dachboden wissen.
„Ist da schon mal was Seltsames passiert?“, fragte Jan gespannt. „Wie sieht es dort oben überhaupt aus?“
Leons Augen leuchteten: „Gibt es da Spinnen? Oder vielleicht Ratten?“
„Na, ihr dahinten!“, meinte Lisas Vater vom Vordersitz, “Wartet es doch einfach ab, dann könnt ihr euch die Sache selber einmal anschauen!“
Lisa hingegen ließ sich eine solche Chance nicht entgehen. Im Flüsterton erzählte sie den Freunden die schauerlichsten Geschichten. Der Rest der Autofahrt verging wie im Flug.
Kaum hatten sich die drei versehen, rief Lisas Mutter auch schon: „Aussteigen!“
Wie immer empfingen Lisas Großeltern den Besuch an der Haustüre. „Da seid ihr ja!“, begrüßte Frau Hansen ihre Gäste. „Schön euch wieder zu sehn. Und ihr zwei müsst Jan und Leon sein. Lisa hat uns schon viel von euch erzählt.“ Lächelnd schob sie die ganze Bande ins Wohnzimmer. Dort standen schon drei Tassen mit heißer Milch und vier mit dampfendem Kaffee bereit.
„Ihr seid bestimmt ganz durchgefroren bei diesem Wetter!“ Eilig gab Lisas Opa jedem eine Tasse. Dankbar nahmen alle einen kräftigen Schluck.
Inzwischen holte Frau Hansen einen leckeren Kuchen aus der Küche. Eine gewaltige Schokoladentorte, belegt mit extra vielen Schokostückchen! Den Kindern lief das Wasser im Munde zusammen.
Während die Erwachsenen eine Unterhaltung begannen, ließen sich Lisa, Jan und Leon die Schokotorte schmecken.
Danach holten die drei ihre Koffer aus dem Auto. Sie hatten ein Zimmer ganz für sich alleine. Mit einem Stockbett!
Doch bevor sie sich häuslich einrichten konnten, wurden die Kinder ins Wohnzimmer gerufen. Dort warteten die Erwachsenen mit einer Spielesammlung. Der Rest des Nachmittags bestand aus Menschärgere-dich-nicht und Würfelspielen. Dann gab es Abendessen.
Und endlich war es soweit. Lisa zupfte Leon am Ärmel: „Kommt, wir gehen zu Opa und fragen, ob wir auf den Dachboden dürfen!“
Als die drei vor ihm standen, musste Herr Hansen schmunzeln. „Ich habe die Leiter schon hingestellt.“, brummte er und deutete zur Decke.
Lisa grinste: „Wer nach mir oben ankommt, ist eine lahme Schnecke!“ Schnell lief sie voraus.
Einen Augenblick standen Jan und Leon ganz verdattert da. Dann sprinteten sie hinterher.
Natürlich war Lisa die Erste, die die Leiter erreichte. Flink wie ein Wiesel kletterte sie hinauf. Unten konnte sie gerade noch Jan und Leon ausmachen, die ihr dicht auf den Fersen waren.
„Warte doch!“, rief Jan nach oben.
„Kommt lieber hoch zu mir.“, antwortete Lisa. Auffordernd winkte sie mit ihrer Hand. “Hier gibt es eine Menge zu entdecken!“
Schnaufend stemmten sich ihre Freunde aus der Dachluke. „Mensch, du legst vielleicht ein Tempo vor!“ Jan wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Jetzt stellt euch nicht so an, ihr Waschlappen!“, feixte Lisa. „Helft mir lieber. Wir machen jetzt einen Wettbewerb. Der interessanteste und aufregendste Gegenstand hat gewonnen.“ Schon war sie hinter einem großen Stapel Holzkisten verschwunden.
Das ließen sich Jan und Leon nicht zweimal sagen. Eilig begannen sie mit ihrer eigenen Schatzsuche. Was es hier für tolle Sachen gab! Da konnte man sich in einem ganzen Leben nicht satt sehen.
Lisa machte sich auf die Suche nach einem spannenden Abenteuerroman. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie heute keinen Erfolg. Von vorne bis hinten durchkämmte sie den Dachboden. Jede dunkle Ecke und staubige Nische nahm sie genau unter die Lupe.
Selbst in den größten Bücherkisten war nichts zu finden. Obwohl sie sich bis zum Kistenboden durchgewühlt hatte.
Niedergeschlagen lehnte sie sich an einen wackligenBücherstapel. Er war meisterhaft bis zur Decke aufgetürmt. Jedoch schien er nicht sehr widerstandsfähig zu sein. Lisas zusätzliches Gewicht brachte das Fass zum Überlaufen. Das Gebilde schwankte gefährlich. Es blieb keine Zeit mehr, sich in Sicherheit zu bringen. Mit einem lauten Krachen kippte der Bücherstapel um.
Erschrocken kamen Jan und Leon angerannt. Doch als sie ihre Freundin wütend zwischen den Büchern zappeln sahen, prusteten sie los. Da konnte Lisa nicht anders und musste mitlachen.
Die Jungen halfen ihr die Bücher wieder aufzustapeln. Das dauerte eine ganze Weile, denn es waren ziemlich viele.
Als Lisa ein besonders dickes Exemplar auf den Stapel legen wollte, rutschte plötzlich etwas aus dem ledernen Einband. Mit einem lauten Klatsch landete es direkt vor ihren Füßen. Vorsichtig hob sie den Fund auf.
Es handelte sich um ein kleines, schmales Schriftstück. Die Seiten waren schon ganz vergilbt und zerfleddert.
Lisa betrachtete es genauer. Sie versuchte zu lesen, was dort stand. Aber sie konnte kein Wort entziffern. Das Geschriebene kam ihr irgendwie eigenartig vor.
Fremdartige, wundervolle Muster zierten den Umschlag des Buches. Es musste ziemlich alt sein. Welches Geheimnis sich wohl zwischen diesen Seiten verbarg?
Mit zitternden Fingern schlug sie es auf.
In diesem Moment hörte Lisa ihren Vater von unten rufen. „Jetzt aber flott! Es ist schon kurz nach elf. Höchste Zeit zum Zähneputzen!“
Schnell ließ das Mädchen ihren Schatz unter den Pullover gleiten.
Leon und Jan waren bereits die Leiter hinunter geklettert. Sie musste sich beeilen, um die beiden noch einzuholen.
Im Bad fand eine kleine Wasserschlacht statt. Jan ging dabei als eindeutiger Verlierer hervor. Zum Glück hatte er einen zweiten Schlafanzug.
Schließlich wünschten die drei den Erwachsenen eine gute Nacht. Dann verzogen sie sich auf ihr Zimmer.
Natürlich hatte keines der Kinder vor, gleich schlafen zu gehen. Aber sie wollten sicher sein, dass niemand sie stören würde. Deshalb legten sich die drei in ihre Betten und warteten. Nach einer endlosen halben Stunde hielten sie es nicht mehr aus. Leise stiegen Jan und Leon zu Lisa ins Stockbett hinauf.
Leon hatte seine Taschenlampe mitgebracht. Der gelbe Lichtkegel war gerade hell genug, um etwas sehen zu können.
Lisa brannte schon darauf, den Jungen von ihrem Fund zu berichten. Behutsam zog sie das kleine vergilbte Buch aus ihrem Kopfkissenbezug, wo sie es vorhin versteckt hatte.
Staunend betrachteten Jan und Leon ihre Entdeckung. In allen Einzelheiten berichtete Lisa ihnen, wie sie zu dem Schriftstück gekommen war.
„Was ist das für ein Buch?“, wollte Leon wissen.
Lisa zuckte mit den Achseln: „Keine Ahnung. Aber das kriegen wir schon noch raus. Erstmal sollten wir den Einband genauer unter die Lupe nehmen.“
Angestrengt betrachteten die Kinder das Buch. Doch so sehr sie sich auch darauf konzentrierten, sie konnten nichts entziffern. Es war wie verhext. Als ob die Buchstaben davonschwimmen würden, wenn man sie länger musterte.
„Leuchte mal direkt mit der Taschenlampe darauf.“, schlug Jan vor. Aber auch das half nichts.
„Zum verrückt werden ist das!“ Lisa ließ sich auf ihr Kopfkissen fallen. „Die Schrift sieht nicht nach einer anderen Sprache aus. Trotzdem kann ich nichts lesen. Ich hab keine Lust mehr!“ Wütend nahm sie das unnütze Ding und warf es vom Stockbett. Einen Moment segelte das Schriftstück in der Luft, bevor es schließlich elegant auf dem Fußboden landete. Genervt starrte Lisa zur Decke.
Da packte Jan sie am Arm. „Schau doch!“ Aufgeregt deutete er nach unten.
Der Mond schien hell durch das Zimmerfenster. Einer seiner Strahlen berührte das Leder des Buches. Dort, wo das milchige Weiß mit dem Braun verschwamm, begann dieses blau zu schimmern.
Kaum einen Atemzug später waren die Kinder vom Bett geklettert. Vorsichtig hob Lisa ihren Fund vom Boden auf.
„Halt es ganz in das Mondlicht.“, flüsterte Leon.
Das Buch begann heller zu leuchten. Plötzlich bewegte sich etwas auf seiner Oberfläche. Die seltsamen Zeichen verschwammen ineinander. Es war so, als fließe jedes an seinen richtigen Platz zurück. Gebannt schauten die Kinder zu. Kurz darauf war das merkwürdige Schauspiel vorbei.
Nun prangten dort klare Lettern in goldener Schrift. Andächtig las Lisa vor: „Balduin Kreuzberg.“ Behutsam schlug sie die erste Seite auf. Wieder vollzog sich das gleiche Wunder wie vorher. Endlich konnten die Kinder lesen, was dort geschrieben stand.
Sie waren so gefesselt von ihrer Entdeckung, dass sie die abgrundtiefe Stille nicht bemerkten, die sich schleichend um sie herum ausgebreitet hatte.
Das blaue Schimmern des Buches wurde zu einem strahlenden Leuchten. Auf einmal floss weißer Nebel aus seinen Seiten.
Erschrocken schleuderte Lisa das Ding von sich.
„Was ist das?“, schrie sie entsetzt.
Eiskalte Furcht packte die Kinder.
„Wir müssen es schließen!“, rief Jan. Seine Stimme bebte vor Angst.
Der Dunst bedeckte schon den gesamten Fußboden. Immer größere Schwaden strömten aus dem ledernen Einband hervor. Sie waberten um die Beine der Kinder und leckten an ihren Schlafanzughosen.
Doch es war nicht unangenehm, sondern warm und wohltuend. Bleierne Müdigkeit breitete sich in ihren Gliedern aus.
Was wollte ich gerade tun? Lisa fühlte sich ganz benommen.
Leon und Jan ließen sich auf den Boden gleiten.
Ob sich der Nebel wohl weich anfühlt? Langsam ging Lisa in die Knie.
Die Jungen waren schon fast nicht mehr zu sehen. Weiße Schleier umhüllten sie.
Noch einmal versuchte das Mädchen gegen die fremde Kraft anzukämpfen. Doch sie war nicht stark genug. Langsam kippte sie nach hinten um.
Der letzte Gedanke, der Lisa durch den Kopf schoss, war, ob es sich wohl genauso anfühlte auf einer Wolke zu liegen. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Es war ein heißer Sommertag. Grell und unerbittlich brannte die Sonne vom blauen Himmel herunter.
Als Leopold vor die Türe trat, musste er heftig blinzeln. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Es kam ihm vor, als ob er aus einem tiefen Schlaf erwacht war. Er hatte von seltsamen Dingen geträumt. Aber an das meiste konnte er sich nicht mehr erinnern. Ein fremdartiges Zimmer, alles bedeckt von weißem Nebel. Waren da nicht noch andere Personen?
Was soll’s, dachte er, es war ja nur ein Traum. Leopold wollte sich gerade auf den Weg machen, als seine Mutter in der Tür erschien. „Vergiss deine Schwimmsachen nicht!“, rief sie. Schnell schnappte er seinen Beutel und rannte los.
Von ihrer Hütte bis zum Fluss war es eine ziemlich lange Strecke. Das baufällige Häuschen stand am äußersten Rand einer kleinen Stadt. Ein großzügiger Bauer hatte Leopold und seiner Mutter erlaubt, darin zu wohnen, wenn sie ihm bei der Ernte halfen. Als arme Leute konnten sie sich nichts Besseres leisten.
Schon von weitem sah Leopold die vielen Kinder, die sich am Fluss tummelten. Ein paar Kleinere planschten friedlich am Ufer.
In der Mitte des Stroms schwammen mehrere Jungen, die sich gegenseitig untertauchten.
Da war ja auch sein Freund Jannis. Er ging beim Hofzauberer in die Lehre. Sein Vater hatte ihn dazu gezwungen. Jannis wäre viel lieber Soldat der königlichen Garde geworden. Doch davon wollten seine Eltern nichts wissen. Es dauerte allerdings nicht lange und er fand Spaß daran, Dinge zu verzaubern. Manchmal zeigte er Leopold sogar eines seiner Kunststücke.
„Hallo!“, rief Jannis, als er seinen Freund erblickte.
„Komm ins Wasser. Es ist herrlich!“
Das ließ sich Leopold nicht zweimal sagen. In Windeseile war er umgezogen. Vorsichtig kletterte er auf einen hohen Felsen, der ein wenig in den Fluss hinein ragte. Oben angelangt, nahm er Anlauf und sprang.
Mit einer gewaltigen Fontäne tauchte er ins Wasser. Eine Gruppe Mädchen, die am Ufer mit ihren Puppen gespielt hatten, stob kreischend davon.
„Guter Einfall.“ Jannis nickte anerkennend. „Muss man dir lassen.“ Grinsend kam er auf Leopold zugeschwommen.
Die zwei kannten sich schon seit sie kleine Kinder waren. Sobald sie laufen konnten, hatten sich die beiden die wildesten Streiche einfallen lassen. Zu ihrem Glück hatte man sie bisher nur selten erwischt.
Einmal hatten sie sich bis zum Schloss des Königs vorgewagt. Es stand auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt. Dort waren sie an der Wehrmauer hochgeklettert und hatten der Prinzessin Luisa eine weiße Maus aufs Bett gesetzt. Ihr Schrei war selbst am Fluss noch zu hören gewesen!
Seit Jannis zaubern konnte, wurden ihre Scherze sogar noch einfallsreicher.
„Luft holen!“, rief Jannis.
Bevor Leopold reagieren konnte, wurde er schon untergetaucht. Das durfte dieser natürlich nicht auf sich sitzenlassen. Schon gab es eine wilde Wasserschlacht.
Nicht lange und auch die anderen Stadtkinder machten mit. Es wurde ein lustiger Nachmittag.
Irgendwann schleppten sich Jannis und Leopold prustend ans Ufer. „Was hältst du davon, wenn wir in den alten Wald gehen?“, meinte Jannis. „Da können wir ein paar Hagebutten pflücken und daraus Juckpulver machen.“
Leopold war begeistert. Juckpulver konnte man immer gebrauchen.
Sie klaubten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg. Bis zum Wald war es nicht weit. Kurze Zeit später hatten sie ihn erreicht.
Leopold kannte den Wald wie seine Westentasche. Immer wenn er etwas Ruhe brauchte, kam er hierher.
In der freien Natur fühlte er sich zuhause. Er liebte die frische Luft und das Zwitschern der Vögel. Manche Stadtbewohner glaubten sogar, dass er mit den
Tieren sprechen konnte. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn. Aber Leopold war ein aufmerksamer Beobachter. Er wusste, was einem Tier fehlte, wenn es zu ihm kam.
„Dort hinten müssen die Hagebuttensträucher sein.“ Leopold deutete auf eine Gruppe Birken, die hoch über die anderen Bäume hinausragten. „Es ist nicht mehr weit.“
Sie folgten einem schmalen Trampelpfad, den er bei einem seiner Streifzüge entdeckt hatte. Seit seinem letzten Besuch war die Natur nicht untätig geblieben. Sie eroberte sich zurück was ihr gehörte.
Plötzlich blieb Leopold stehen. Hinter ihm kämpfte sein Freund verzweifelt gegen das dichte Gestrüpp.
„Psst, sei doch mal ruhig!“ Angespannt lauschte er in den Wald hinein. “Ich hab etwas gehört!“
Tatsächlich, auch Jannis konnte es hören. „Da singt doch jemand.“, flüsterte er. „Komm! Lass uns herausfinden, wer das ist.“
„Aber keinen Mucks! Er braucht uns ja nicht gleich entdecken.“
Leise schlichen die beiden weiter. Das dornenbesetzte Dickicht riss ihnen Arme und Beine auf. Doch kein Laut kam über ihre Lippen.
„Da, auf der Waldlichtung, siehst du ihn?“ Aufgeregt zeigte Leopold nach vorne.
„Schau mal genau hin.“, wisperte Jannis. „Das ist gar kein Junge. Das ist ein Mädchen!“ Er blickte Leopold verschmitzt an. „Mir kommt da so ein Gedanke. Wir könnten uns von hinten anschleichen. Und dann jagen wir ihr einen ordentlichen Schrecken ein?“
Sein Freund nickte: „Das machen wir. Die fällt bestimmt in Ohnmacht!“
Grinsend krochen die Jungen weiter. In einem großen Bogen umrundeten sie die Lichtung. Bereit zu einem ohrenbetäubenden Schrei wollten sie gerade aus dem Gebüsch springen, da stand das Mädchen auf. Blitzartig drehte sie sich zu den beiden um.
„Ihr könnt ruhig rauskommen.“, rief sie mit spöttisch blitzenden Augen. „Ich hab euch schon längst gehört. Ihr trampelt ja so laut wie zehn Elefanten im Urwald!“
Verblüfft schauten sich Leopold und Jannis an. Damit hatten sie nicht gerechnet. Ganz verdattert stolperten sie aus dem Dickicht.
„Es ist nicht so wie es aussieht.“, stotterten sie. „Wir wollten nicht, ähm, wir sind nur ganz zufällig hier. “Vergeblich versuchten sie sich aus der ganzen Sache herauszuwinden.
„Ach jetzt redet doch keinen Blödsinn.“, sprach das Mädchen. „Wärt ihr zwei auf der Lichtung gesessen, hätte ich euch auch erschreckt. Aber ich wäre erfolgreicher gewesen, dass könnt ihr mir glauben.“ Mit einem breiten Grinsen betrachtete sie die gescheiterten Übeltäter. „Ich bin übrigens Luisa.“
Leopold und Jannis klappte die Kinnlade herunter. „Die Tochter des Königs?“ Jetzt waren sie völlig sprachlos.
„Kriegt euch mal wieder ein.“, wütend starrte Luisa die Freunde an. „Irgendeinen Vater muss ich schließlich haben. Und dass er zufälligerweise der König ist, dafür kann ich ja nichts, oder?“
Mit betretenen Minen blickten die Jungen zu Boden. Da überwand sich Leopold: „Aber ich hab mir die Prinzessin ganz anders vorgestellt.“
Luisas Augen funkelten zornig. „Wahrscheinlich fein angezogen, stimmt´s? Von früh bis abends soll ich in meinem Zimmer sitzen und mit meinen Puppen spielen, oder?“
Seufzend setzte sie sich ins Gras zurück. „Wieso versteht mich denn niemand? Es ist schrecklich sich immer vornehm benehmen zu müssen. Die ganze Zeit aufzupassen, dass einem nichts Unanständiges passiert. Wie ich das hasse!
Papa hat extra einen Hauslehrer eingestellt, der mir Manieren beibringen soll. Bis jetzt hatte er allerdings keinen Erfolg damit! Ich spiele ihm immer Streiche, wisst ihr. Wegen meinem Letzten muss ich eigentlich drei Tage Schlossarrest absitzen. Das mit dem Leim und seiner Perücke hat mir der Hauslehrer wohl übelgenommen. Aber auf dem Schloss ist es immer so langweilig. Deshalb bin ich ausgebüchst. Die werden sich wundern, wenn sie feststellen, dass ich gar nicht mehr da bin.“
Leopold und Jannis machten große Augen. „Du bist einfach abgehauen?“
Luisa nickte. „Ja und, was dagegen?“ Herausfordernd hob sie das Kinn.
„Nein, überhaupt nicht!“, versicherte Leopold, „Das finde ich sehr mutig von dir. Ich heiße übrigens Leopold. Und das ist Jannis.“
Sein Freund grinste. „Tolle Sache, das mit der Perücke! Hätte von mir sein können.“
Die drei verstanden sich auf Anhieb. Gemeinsam machten sie es sich im Gras gemütlich.
„Hast du Lust mit uns ein paar Hagebutten zu pflücken?“, fragte Jannis. „Wir wollen Juckpulver daraus machen.“
„Furchtbar gerne.“, entgegnete Luisa. “Aber ihr werdet um diese Jahreszeit keine finden. Es ist Hochsommer.
Da müssen wir leider bis zum Herbst warten.“
Leopold schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Natürlich! Dass ich daran nicht gedacht habe. Aber was machen wir dann?“ Grübelnd saßen die Kinder auf der Wiese. Das mit den Hagebutten wäre so eine gute Idee gewesen.
Da sprang Luisa plötzlich auf.
„Ich hab´s! Kennt ihr die kleine Waldhöhle?“
Erstaunt sahen sich die beiden Jungen an.
„Nein.“, antwortete Leopold. „Ich kenne den Wald ziemlich gut, aber eine Höhle hab ich noch nicht entdeckt.“ Es wurmte ihn ein wenig, dass Luisa mehr wusste als er. Doch die Neugier war größer als sein Ärger. Schließlich überwand er sich. „Zeigst du sie uns?“
Luisa lachte. „Klar, kommt mit!“ Und schon war sie im Dickicht verschwunden.
Jannis und Leopold hatten alle Hände voll damit zu tun, Luisa zu folgen. Dort, wo sie sich leicht durch das Gebüsch zwängte, mussten die Jungen sich mühsam vorwärts kämpfen. Es dauerte nicht lange, und sie waren von Kopf bis Fuß zerkratzt.
„Es ist nicht mehr weit.“, rief Luisa nach hinten. Wenige Augenblicke und einige Schrammen später blieb sie stehen.
„Da vorne, schaut!“ Geheimnisvoll deutete sie auf einen großen, moosbewachsenen Felsen.
„Ich kann keine Höhle sehen.“, meckerte Leopold.
„Wehe, wenn ich die ganzen Kratzer hier umsonst bekommen habe.“
Luisa beachtete ihn gar nicht. Zielstrebig ging sie auf den Stein zu. Mit beiden Händen bog sie einen großen Ast zur Seite, der einen Teil der Felswand verdeckte. „Und, was sagt ihr nun?“
Gespannt traten die Jungen näher. Vor ihnen lag eine schmale Öffnung. Als Jannis seinen Kopf hineinsteckte, wehte ihm ein kalter Lufthauch entgegen. Er konnte einen Gang erkennen, der tief in den Fels zu führen schien. Doch schon nach wenigen Schritten verlor er sich in der Dunkelheit.
„Wie zum Teufel hast du das bloß entdeckt?“, staunte Jannis.
„Mit ganz schönem Glück!“, gab Luisa zu. Angestrengt kramte sie in ihrer Rocktasche. „Hat jemand von euch vielleicht eine Kerze dabei?“ Triumphierend zog sie einen kleinen Wachsstummel hervor.
„Ah, ich wusste doch, dass ich eine habe!“ Sie nahm zwei runde Steine aus der Tasche und schlug sie aneinander. Winzige Funken sprühten. Doch der Kerzendocht entzündete sich nicht.
Wenn ich jetzt nur ein Feuerzeug hätte, dachte Luisa.
Sie kratzte sich am Kopf. Was war das eben?
Jannis riss sie aus ihrer Grübelei. „Soll ich dir helfen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er ihr die Kerze weg. Er schnippte mit der rechten Hand und der Docht brannte.
Luisa staunte nicht schlecht. Jannis grinste. „Tja, so was lern ich bei meinem Meister.“, sagte er stolz. „Ist gar nicht so schwer. Kann ich dir bei Gelegenheit mal beibringen.“
Schwungvoll drehte er sich um und ohne lange zu zögern, kletterte er in die Felsöffnung.
„Vorsicht, du musst über das Loch am Eingang...“
Aber Luisas Warnschrei kam zu spät. Sie hörte ein lautes Poltern. Dann war es ruhig.
„Ist dir etwas passiert?“ Angsterfüllt starrte sie in die Dunkelheit.
„Alles in Ordnung.“, kam es von unten herauf. „Ich hab mir zwar ganz schön was aufgeschürft, aber es geht schon. Leider hab ich die Kerze beim Sturz verloren. Hier ist es stockdunkel. Ich kann nicht einmal meine Hände sehen.“
„Warte“, rief Leopold, „Ich komme zu dir!“ Bevor Luisa etwas sagen konnte, war er in der Öffnung verschwunden.
Vorsichtig tastete Leopold sich den Gang entlang. Plötzlich trat einer seiner Füße ins Leere. Er ließ sich auf die Knie sinken. Mit beiden Händen konnte er den Rand der Grube ertasten. Behutsam glitt Leopold in die Tiefe. Als er wieder festen Boden unter sich hatte, berührte sein Fuß etwas Rundes. Schnell hob er es auf.
„Ich glaube ich hab die Kerze!“, rief er. „Wo bist du Jannis?“
„Hier.“ Die Stimme kam von links. Langsam tastete Leopold sich darauf zu. Plötzlich traf ihn etwas Hartes am Kopf. „Aua!“
„War das dein Kopf?“, fragte Jannis.
“Ja, was denkst denn du?”, antwortete Leopold entrüstet. „Meiner auch!“, kicherte Jannis. Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus.
„Was ist denn da unten los?“, rief Luisa. „Ach, nix besonderes.“, feixte Jannis. „Komm runter. Wir spielen gerade Fangen im Dunkeln. Leopold hat die erste Runde gewonnen.“
„Sagt mal.“, hörten sie von oben. „Könnt ihr kein Licht machen?“
Leopold drückte seinem Freund die Kerze in die Hand. Ein Schnippen und schon züngelte ein kleine Flamme empor.
Flink kletterte das Mädchen zu den anderen hinab.
„In diesem Loch war ich noch nie.“ Verwundert drehte sie sich im Kreis. Plötzlich stieß sie scharf die Luft aus: „Ich wusste ja gar nicht, dass es hier auch einen Gang gibt.“
Tatsächlich, im flackernden Lichtschein konnten die Kinder es deutlich erkennen. Die Felswand war an einer Stelle durchbrochen. Ein schmaler Tunnel kam dahinter zum Vorschein. Er war eindeutig nicht natürlich entstanden. Jemand musste ihn in mühsamer Arbeit ins Gestein gehauen haben.
Jannis trat einen Schritt darauf zu. „Wohin führt der wohl?“, fragte er. Bevor jemand widersprechen konnte, schnappte sich Luisa die Kerze. „Ich werd es herausfinden!“ Mutig betrat sie als erste den Stollen.
Es roch modrig und alt. An einigen Stellen tropfte Wasser von der Schachtdecke. Der Lichtschein reichte kaum aus, um den Weg vor ihnen zu beleuchten. Immer tiefer unter die Erde führte sie der Tunnel.
Das anfängliche Unbehagen der Kinder wich einer beklemmenden Angst. Luisa war stehen geblieben.
„Spürt ihr das auch?“, fragte sie.
Jannis nickte. „Wir sind hier nicht erwünscht!“
Besorgt betrachtete das Mädchen die anderen. „Wollen wir zurückgehen?“
Leopold schüttelte den Kopf. „Wir sollten herausfinden, was es hier zu entdecken gibt.“ Zögernd stimmten die anderen ihm zu.