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Beschreibung

Nach fast 300 Jahren kehren Ana-Luise und ihre Mutter auf der Suche nach Freiheit zurück nach Parondon. Eine Stadt, in der sie mit ihrem Alter nicht unbedingt auffallen, denn hier sind viele Menschen ein bisschen anders. Jeder von ihnen auf sehr individuelle Weise. Eigentlich dachten sie, das wäre von Vorteil, doch nach und nach zeigen sich auch die Schattenseiten Parondons. Auf der Suche nach einem Ort zum Niederlassen und einem Green-Flag-Mann wird Ana-Luise von einem Dating-Desaster ins nächste gestürzt, von ihrer dunklen Vergangenheit eingeholt und in ein äußerst beunruhigendes Vorkommnis hineingezogen: Egal wo man hinsieht, überall begehen die Menschen plötzlich Suizid ...

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 554

Veröffentlichungsjahr: 2025

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BANG BANG

LISA DARLING

Lisa Darling

https://micromanweb.wordpress.com

https://instagram.com/lisadarlingbooks

Lektorat: Davide Valente

Korrektorat und Satz: Sandra Bollenbacher, www.rotstift.art

Umschlaggestaltung: Lisa Müller

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Paperback

978-3-347-56393-3

Hardcover

978-3-347-56397-1

E-Book

978-3-347-56399-5

© 2025 Lisa Darling

tredition GmbH Halenreie 40–44

22359 Hamburg

Die vorliegende Publikation, einschließlich ihrer Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Grafiken:

Emojis von https://openmoji.org

Fonts:

Charrie von Creative Fabrica (https://www.creativefabrica.com/de/product/ charrie); Crimson Pro © 2018 The Crimson Pro Project Authors (https://github. com/Fonthausen/CrimsonPro). This Font Software is licensed under the SIL Open Font License, Version 1.1.; Roboto: Licensed under the Apache License, Version 2.0 (http://www.apache.org/licenses/LICENSE-2.0)

Trigger- und Contentwarnung findet ihr am Ende des Buches.

»There is no terror in the bang, only in the anticipation of it.«

– Alfred Hitchcock

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Titelblatt

Urheberrechte

EVE

Mr Smith

Christof

Gänsehaut

ParonDate

Russel

Joe

Carl

Bassett

Narben

John

Chaos

Lebendig

Musical

Mona

Gina

Milan

Jasper

Kurt

Levin

HUnter

Sicherheit

Schicksal

Herzschmerz

Marc

Lucia

Rick

Ana

Todd

PPD

Danksagung

Glossar

Personen

Über die Autorin

Trigger- und Contentwarnung

Mehr aus dem Parondon Universe …

microman

Rabbit-Boy

BANG BANG

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Urheberrechte

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EVE

»Du musst dich unbedingt bei Dating-Apps anmelden. Pinder oder ParonDate. Das sind die Favourites hier in Parondon.« Begeistert strahlt mich meine Freundin Eve an, nachdem wir wieder darüber geredet haben, wie sehr ich mir endlich die Liebe meines Lebens wünsche. Eine, die mich eben- bürtig und respektvoll behandelt und ehrlich zurück liebt. Ihre Wangen sind gerötet vom Wein und ihre Augen leuchten. Ich bin jedoch nicht sonderlich überzeugt. Über Dating-Apps hört man nicht immer die besten Geschichten. Vor allem von Pinder. Aber Eve schwört darauf. Sie hat ihren Freund Steve da- rüber vor einigen Monaten inmitten der Pandemie, in der wir gerade stecken, kennengelernt und es war Liebe auf den ersten Blick. Und sie ist noch genauso frisch wie zu Beginn.

Als diese Sache mit der Pandemie losging, hab ich beschlossen, zurück nach Parondon zu ziehen. Zum einen habe ich sowieso seit einer Weile mit dem Gedanken gespielt und zum anderen wusste ich, dass ich zu solch einer Zeit in Parondon am besten aufgehoben war. Auf einer 5-Millionen-Einwohner-Insel – die übrigens mitten im Ärmelkanal zwischen Frankreich und England liegt – lässt sich so was leichter überstehen und schneller ausrotten. Ist nämlich nicht meine erste Pandemie. Und ich sollte recht behalten. Ich war noch keine Woche zurück in meiner Heimat, da wurden sämtliche Einsreisen verboten. Kein Schiff durfte mehr anlegen, kein Flugzeug bekam mehr Landerlaubnis. Sogar der Eurostar, der unterirdisch von Paris nach London führt, durfte hier keinen Zwischenstopp mehr einlegen. Das hielt uns zwar den Virus nicht vom Leib, da ihn bereits jemand mit hierhergeschleppt hatte, allerdings ging die Verbreitung viel langsamer voran. Mittlerweile sind wir sogar wieder beinahe virusfrei. Regeln und Barrieren gibt es natürlich trotzdem noch. Aus Sicherheitsgründen.

Dennoch war es zwischenzeitlich nicht einfach, neue Menschen kennenzulernen. Als alles noch geschlossen war. Eve kannte ich tatsächlich schon vorher, durch einen Urlaub, den sie in meiner vorherigen Heimat Berlin gemacht hat. Selbst jetzt sind Veranstaltungen wie Partys, Konzerte oder Festivals leider noch nicht wieder am Laufen. Veranstaltungen, bei denen man die Menschen nicht auf sicherem Abstand halten kann, weil die Fläche zu gering ist und die Wahrscheinlichkeit von leichtsinnigen Betrunkenen zu groß. Aber es geht voran. Es ist irgendwie genauso wie damals zur Spanischen Grippe. Die Menschen haben sich kein bisschen verändert, was gewisse Dinge angeht. Als die damalige Pandemie im Frühjahr 1918 losging, lebte ich gerade in San Francisco. Es gab ähnliche Beschränkungen wie heute. Keine großen Versammlungen mehr, Maskenpflicht zunächst nur bei wichtigen Jobs, am besten viel zu Hause bleiben und Menschen meiden. Ähnlich wie heute eben. Und als dann die Maskenpflicht für alle eingeführt wurde, wurde von vielen Seiten gemosert. Freiheitsberaubung, blabla. Konnte ich absolut verstehen, ich wurde in meinem Leben schon vieler Freiheiten beraubt – nicht gerade selten durch irgendwelche alten, aber auch jungen Männer, die sich für den Pascha hielten – und auch ich hatte herzlich wenig Lust darauf, eine Maske zu tragen. Aber ich habe es brav getan. Genauso wie heute. Ebenso wie auch heute gab es damals schon die Schwurbler, die sogar eine Anti-Masken-Liga in San Francisco gründeten und damit fordern wollten, dass alle Maßnahmen fallen gelassen werden. Das war dann übrigens bereits zur zweiten Welle der Spanischen Grippe. Die erste wurde nämlich etwas zu lasch gehandelt und zu früh für beendet erklärt, sodass es uns keinen Monat später umso heftiger traf. Aber es gab natürlich nicht nur die Antiliga, sondern auch diejenigen, die das alles etwas zu heftig sahen. Einmal habe ich beobachten können, wie ein Mann einen anderen verprügelt hat, weil dieser sich weigerte, eine Maske zu tragen. Beide Extreme sind irgendwie bedenklich, wenn man mich fragt.

Obwohl es in all den Jahrhunderten so viel Fortschritt auf der Welt gegeben hat in sämtlichen Hinsichten, muss ich mittlerweile einfach einsehen, dass man manche Dinge niemals aus den Menschen rauskriegen wird. Starrsinn, Hass und Missgunst.

Aber zurück ins Jahr 2021. Dating-Apps sind in der Lockdown-Zeit unheimlich beliebt geworden in Parondon. Vermutlich überall auf der Welt. Gefühlt bin ich eine der wenigen Menschen, die sie bisher trotzdem gemieden hat. Fleischbeschauung nenne ich es gerne. Doch mittlerweile höre ich immer öfter von Kollegen oder Freunden, dass sie darüber ihren Partner gefunden haben.

»Komm, ich mach dir ein Profil, okay? Du kannst es ja immer noch löschen, wenn du merkst, es ist nichts für dich.« Überschwänglich greift Eve nach meinem Smartphone, das auf dem Tisch liegt, da ich immer noch stark mit einer Entscheidung kämpfe. »Mist, entsperrst du bitte?« Sie lächelt und ich starre mein Handy an. Na gut. Okay! Warum nicht?, denke ich meinem alkoholisierten Zustand und entsperre das Handy für sie. Warum sollte ich den Apps nicht auch mal eine Chance geben? Was kann schon schiefgehen? Und wie sie eben schon sagte: Ich kann mein Profil jederzeit wieder löschen, sollte es mir nicht zusagen.

»Mach mir ein Profil!«, jubele ich also und halte mein Sektglas in die Höhe, um mit ihrem Weinglas anzustoßen. Was sie prompt macht – ebenfalls jubelnd.

»Pinder oder ParonDate?«, fragt sie und winkt dann lachend mit dem Handy in der Hand ab. »Ach, weißt du was? Wir nehmen beide! Doppelt hält besser!«

Ich lache ebenfalls, aber etwas nervös und stürze den Rest meines Sekts hinunter. Worauf lasse ich mir hier gerade ein? Andererseits könnte es auch lustig werden. Ich bin meistens eh zu schüchtern, um jemanden auf der Straße anzusprechen. Etwas, was ich in meinen über 300 Jahren Lebenszeit bis heute nicht geschafft habe abzulegen. Jedenfalls dann, wenn mir jemand wirklich so richtig gut gefällt. Jemanden nach dem Weg oder der Uhrzeit zu fragen oder für Freunde anzusprechen, ist nicht das Problem. Aber so ganz generell lasse ich mich lieber ansprechen. Dann weiß ich wenigstens, dass ich dem, der mir gefällt, wenigstens auch irgendwie zu gefallen scheine. War schon immer so. Mit wenigen Ausnahmen oder im Rauschzustand.

»Lächle mal«, sagt Eve und drückt schon ab, kaum dass ich sie anblicke. Aber da sie weiter fotografiert, posiere ich ein bisschen und wir schauen uns gemeinsam die entstandenen Bilder an. Beim Anblick der meisten verziehe ich das Gesicht, weil ich doof gucke. Entweder sind meine Augen zu, mein Mund offen, es ist etwas verschwommen oder ich habe ein Doppelkinn.

»Was ist mit dem?«, fragt Eve. »Das ist süß geworden. Wie alle eigentlich!«

»Schleimerin.« Ich lache leise, deute aber auf ihren Bildschirm. »Kannst du den Ausschnitt wegmachen? Dann können wir das gerne nehmen.«

»Aber das ist doch sexy! Und eigentlich kaum zu sehen.«

»Ich möchte aber keine Vorlage für dumme Anmachsprüche bieten.«

»Verstehe. Wird gemacht.«

Eve schneidet das Bild zu, tippt wie wild auf meinem Handy herum und präsentiert mir schließlich stolz mein neues Pinder-Profil. Ich schiebe meine große runde Brille ein Stück höher und blicke durch die Vergrößerungsgläser hindurch auf den Bildschirm.

Ana-L., Parondon

Job:Konditorin

Alte Seele sucht Seelenverwandtschaft

Der einfachste Weg zu meinem Herzen ist …

Humor und Ehrlichkeit

Meine Lehrer in der Schule beschrieben mich

stets als …sehr redselig

Meine Superkraft ist …meine Schönheit

»Den Namen kannst du so nicht stehen lassen!«, rufe ich schockiert aus und fuchtele mit meinem Zeigefinger vor dem Handybildschirm herum. Die Brille rutscht mir dabei zurück auf das Nasenbein. Ich sollte mal die Bügel richten lassen. »Das ist voll die Vorlage!« Irritiert blickt Eve mich an, bevor sie plötzlich lachend grunzt und aus dem L ein Luise macht.

Stirnrunzelnd blicke ich nun auf den Rest des Profils. »Sind das vorgefertigte Fragen?«

»Ja. Gibt noch mehr, falls du was anderes willst.«

»Sind die anderen Fragen besser?«

»Nicht wirklich.« Sie lächelt entschuldigend.

»Dann lassen wir das bis auf den letzten Satz erstmal stehen. Der wirkt so … eingebildet.«

Eve mustert mich skeptisch, löscht den Satz mit der Superkraft jedoch wieder.

»Auch wenn das mit der alten Seele noch ein bisschen holprig ist. Schnulzig«, füge ich murmelnd hinzu.

»Ich kann auch das löschen, wenn du willst?«

»Mh … ja. Ja, bitte.«

Sie löscht es ebenfalls. »Was soll ich als Alter angeben? 28?«

Eve ist die Einzige, die um mein wirkliches Alter weiß. Jedenfalls grob. Und die Meldebehörde für Genträger natürlich. Und meine Mutter, denn sie ist in etwa gleich alt. Ganze 23 Jahre unterscheiden uns, was in Anbetracht dessen, dass wir beide bereits knapp über 300 Jahre alt sind, wirklich nichts ist. Sie war einer der allerersten Genträger dieser Stadt. Damals, als der verseuchte Regen 1719 alle Betroffenen genmanipuliert hat. Meine Mum war damals gerade schwanger mit mir und draußen, um die Hühner im Stall zu füttern. Und zack – wurde sie zu einem der Menschen, die zur ersten Generation der Genträger zählen. Sie war zu dem Zeitpunkt 23 und hörte ab da einfach auf zu altern. Ihr Körper ist heute noch genauso in Takt wie damals, genauso wie alles an ihr. Und mich traf es ungefähr mit Ende 20. Damals mussten wir ständig fliehen, denn Genträger wurden zu der Zeit verfolgt, da sie pünktlich zur Hexenjagd auf den Plan traten, die auch wir eine sehr lange Zeit hautnah miterleben mussten. Deshalb hielten wir uns versteckt. Als wir schon einige Jahrhunderte nicht mehr in Parondon lebten, zeigten die Genträger sich irgendwann der Öffentlichkeit und hatten das Glück, damit einen guten Nerv der Zeit getroffen zu haben. Früh zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebten Comics ihren ersten Aufschwung in Parondon. Kurz darauf folgten die ersten Comics über Superhelden. Die Menschen waren begeistert von dieser Art Helden, sodass sich die Genträger aus ihrem Schatten wagten. Lange hielt das allerdings nicht an. Missgunst, Hass und Gier auf beiden Seiten führten zu Krieg und so wurde eine Geheimhaltungserklärung unterschrieben, dass Genträger sich wieder versteckt zu halten haben. Und alle sogenannten Normalos wurden damals so was wie geblitzdingst – ihnen wurde die Erinnerung an all das Wissen und Erlebte rund um die Genträger geraubt. Es wurde wieder zu normalen Comicgeschichten für sie. All das hab ich mir erzählen lassen, nachdem wir wieder hierher zurückgekommen sind, denn anderswo auf der Welt bekommt man von hier nicht viel mit. Schon gar nicht über die neuere Geschichte der Genträger und der mittlerweile eingeführten Gesetze und Forschungen, die diese betreffen. Doch seit ich hier lebe, hole ich Stück für Stück ein wenig an Wissen auf.

Vor einigen Jahren haben die Genträger sich allerdings erneut geoutet und bisher läuft es sehr gut. Auch wenn es natürlich nach wie vor Menschen gibt, die einem skeptisch gegenübertreten. Doch bisher gab es zumindest noch keine größeren Aufstände, man lebt einigermaßen friedlich miteinander und es wundert sich keiner über einen, wenn man beim Niesen mal Wasser spuckt oder jemand beim Einkaufen an einem vorbeifliegt. Einer der Gründe, weshalb ich zu überlegen begann, wieder zurück in meine alte Heimat zu kehren. Dorthin, wo alles begann.

Es ist schwierig mit diesem Nicht-Alterungsprozess. Anfangs heißt es immer noch »Oh, du hast dich aber gut gehalten«, doch irgendwann werden die Leute stutzig. Warum man mit 50 immer noch aussieht wie Ende 20. Oder wie in Mums Fall sogar Anfang 20. Also fast noch wie ein Teenager. »Was ist euer Geheimnis?« Deshalb ist sie bisher überall offiziell als meine kleine Schwester aufgetreten und nicht als meine Mum, da sie offensichtlich jünger aussieht als ich. Außerdem muss man sich regelmäßig neue Ausweise besorgen und den Ort wechseln. Mum und ich sind die Zeit überwiegend zusammengeblieben, weil wir alles waren, was uns für immer bleiben würde – solange uns nicht etwas Tödliches zustößt. Wir haben Dad überlebt, wir haben meinen Bruder überlebt, wir haben Mums darauffolgende zwei Ehemänner überlebt, meinen Ehemann – der nebenbei gar nicht so toll war, wie anfangs gedacht –, etliche andere grausame Männer, Freunde, die wir an Krankheiten und Kriege verloren haben und sogar meine Tochter. Für mich persönlich der härteste Verlust in meinem ganzen Leben. Leider hat sich unser Gen bei ihr nie entfaltet.

Nicht jedes Kind von Genträgern wird auch garantiert später selbst zu einem. Studien haben über all die Zeit nachgewiesen, dass ein Kräftegen in 95 Prozent der Fälle erst nach der Pubertät ausbricht. Wenn der Körper fertig entwickelt ist sozusagen. Nur 5 Prozent der Genträger ist schon früher dran, aber dann auch erst kurz vor Ende der Pubertät. Zumindest gibt es keine Verzeichnisse darüber, dass es bisher jemals früher passiert wäre. In vielen Fällen entfaltet es sich auch einfach niemals. Sogar Lebensstil und schlimme Unfälle oder Krankheitsverläufe können beeinflussen, ob das Gen jemals ausbrechen oder gar wieder verschwinden wird. Selbst darüber gibt es selbstverständlich Studien. Auch hier gibt es jedoch wieder Ausnahmen. Ich schätze, Mum und ich gehören irgendwie zu diesen dazu. Jedenfalls haben wir damals sogar die Spanische Grippe überlebt, während unsere Freunde um uns herum daran gnadenlos verreckt sind. Wir hatten lediglich ein bisschen Husten und vielleicht mal einen Abend mit Fieber flachgelegen in der Zeit. Es ist faszinierend. Zwar können wir wie jeder andere auch krank werden und uns verletzen, aber es ist, als würde unser Jungbrunnen-Gen dafür sorgen, dass wir ein besonders starkes Immunsystem besitzen. Wir haben mal vermutet, dass das daran liegen können, dass unser Körper oder Gen sonst Schwierigkeiten damit hätte, uns konsequent so jung zu halten. Während andere bei einer Grippe tagelang zu Hause im Bett liegen mit Fieber und Gliederschmerzen, dauert das bei uns vielleicht einen oder zwei Tage mit leichter Schniefnase und etwas Husten. Einmal habe ich mir den Arm gebrochen. Nach einer Woche war er wieder vollständig verheilt. Daraufhin mussten wir übrigens fliehen und den Wohnort wechseln, denn das war noch im 18. Jahrhundert zu Zeiten der Spanischen Inquisition. Hexenjagd. Unser Scheiterhaufen stand bereits, als wir es mit Hilfe eines anderen Genträgers schafften, zu entkommen und kurz darauf mit einem Schiff nach England überzusetzen.

Übrigens ist unser Immunsystem sogar so gut, dass wir zu einer weiteren Ausnahme zählen. Ich weiß, Ausnahmen über Ausnahmen und ausgerechnet wir beide zählen zu ihnen, aber schätzungsweise involviert unser Gen diese Ausnahmen einfach, weil es sonst nicht möglich wäre, uns so existieren zu lassen, wie wir es eben tun. Der größte Feind eines Genträgers ist nämlich Wasser. Was wir beide aufgrund unserer Immunität viele Jahre gar nicht wussten. In der Tat haben wir das erst mit unserer Rückkehr hierher herausgefunden. Viele Genträger wurden damals aufgrund ihrer plötzlich mutierten Kräfte verbrannt. Denn man hatte natürlich Angst vor ihnen und sie alle wurden der Ketzerei angeklagt. Verständlicherweise haben sie sich danach sehr schnell versteckt und nicht zu erkennen gegeben oder sind wie wir aus Parondon geflüchtet. Dadurch haben sich einige Genträger auf der ganzen Welt verteilt und für Nachkommen dort gesorgt. Aber der größte Teil existiert nach wie vor in Parondon, da sich genug Leute versteckt halten konnten oder die Verbrannten Nachkommen mit ihren Genen hinterlassen haben. Und wie das so bei kleinen Inseln ist, pflanzen sich alle untereinander fort und vererben ihre Gene weiter. Muss wirklich eine Erleichterung gewesen sein, als man zumindest nicht mehr Angst haben musste, verbrannt zu werden. Mit unserem Gen hatten meine Mutter und ich es da ein wenig einfacher. Wir mussten einfach nur öfter umziehen, damit wir nicht zu auffällig wurden, und mehr darauf achten, uns keine schlimmeren Verletzungen mehr zuzuziehen, damit wir nicht mysteriös schnell vor den Augen anderer heilten.

Aber zurück zum Wasser. Es funktioniert wie eine Art Schalter, der die Kräfte lahmlegt. Beim Duschen, Baden oder im Regen wird man also quasi zu einem Normalo. Man kann durch Wasser hindurch auch keine Kräfte wirken, wie man vor einigen Jahren herausfand. Weshalb unter anderem die Firma WatPlast gegründet wurde, die es geschafft hat, Wasser in einen neuen Aggregatzustand zu bringen. In eine Art plastische Form, sodass damit kriminelle Genträger unter Kontrolle gehalten werden und nicht aus Gefängnissen ausbrechen können, indem sie ihre Kraft wirken. Spezielle WatPlast-Gitterstäbe bremsen ihre Kräfte einfach aus. Nein, schalten sie aus. Doch auch hier gibt es eben Ausnahmen. Es funktioniert nicht bei 100 Prozent der Genträger, sondern bei vielleicht 80 Prozent. Wie ich kürzlich erst gelesen habe – was die Theorie meiner Mutter und mir irgendwie bestätigt hat –, scheinen die Kräfte außen vor zu sein, die sich lediglich auf einen selbst beziehen und keine Wirkung auf das Umfeld haben. So wie eben unsere Kräfte, die sich rein auf unseren Körper beziehen. Andernfalls sähen wir jetzt sicherlich nicht mehr aus wie in unseren 20ern. Oder Menschen, die beispielsweise ihre Haarfarbe ändern können, einen beschleunigten Stoffwechsel haben, sich in Tiere verwandeln können und so weiter. Denn diese Kräfte sind körpereigene und tangieren andere Menschen nicht. Man ist gerade am Entwickeln neuer Möglichkeiten für eben jene Genträger. Damit auch Kriminelle mit solchen Kräften aufgehalten werden können, von denen es glücklicherweise bisher keine gab. Zumindest ist mir da nichts bekannt. Und damit auch Genträger mit besonders belastenden Kräften eine Möglichkeit erhalten, uneingeschränkt ihr Leben leben zu können. Für Letzte gibt es aktuell Selbsthilfegruppen und Gruppentherapien, da diese ihre Kräfte nicht mal eben mit WatPlast-Schmuck abschalten können.

Seit Mum und ich wieder zurück in Parondon sind, leben wir wieder zusammen in einer Wohnung als WG. Immer noch offiziell als Geschwister, da wir so normal wie möglich leben möchten. Zwar wird uns hier in Parondon niemand Fragen stellen, wenn bemerkt wird, dass wir nicht altern, aber bis dahin haben wir noch genug Zeit. Und da hier eben der Ursprung allen Übels zu finden ist und damit auch die größte Toleranz und die besten Sicherheitsvorkehrungen vorhanden sind, hat es uns beide unter anderem hierher zurück verschlagen. Den letzten und vor allem kurzfristigen Anstoß hat dann wie bereits erwähnt der Ausbruch und die Sicherheit vor der weltweiten Pandemie gegeben.

»Ja, nimm 28«, bestätige ich Eve. »Wobei es sicher interessante Gesprächsaufhänger gäbe, wenn ich dort mein echtes Alter reinschreiben würde«, sage ich und lache.

»Ich glaube, dein Geburtsjahr kann man hier auch gar nicht auswählen.« Eve grunzt amüsiert und scrollt durch die Jahre. »Nope, geht erst ab 1900 los.«

»Dann 28«, bestätige ich nochmal und fülle unsere Gläser nach.

»Es gibt hier auch die Möglichkeit, anzugeben, dass man Genträger ist. Aber ich schätze, das möchtest du lieber nicht anklicken?«

Ich schüttele den Kopf. »Nope, richtig. Das muss nicht jeder sofort wissen und auch wenn es sicherlich ein Aufhänger sein kann … einfach nö. Nachher will man mich nur deshalb oder umgekehrt gar nicht erst kennenlernen. So was kommt dann später, wenn eine Basis da ist.« Eve nickt und lässt die Finger noch etwas über mein Smartphone flitzen.

Meine Wangen fühlen sich bereits genauso heiß an, wie Eves aussehen. Sicherlich sind auch meine knallrot. Aber es fühlt sich gut an. Prickelnd. Und ich würde gerade wahnsinnig gerne feiern gehen. Vielleicht sollten wir bald eine der Bars besuchen, die kürzlich wieder eröffnen durften. Leider muss man rechtzeitig reservieren, sonst sind alle Kapazitäten schon ausgeschöpft und man kommt spontan nicht mehr rein.

»Soo, jetzt ergänzen wir noch ein paar Bilder. Hast du was Schönes auf dem Handy? Oh, hier, neulich vom Mädelsabend, als wir beide uns mal wieder aufhübschen wollten. Da hattest du diesen schönen Rock an.«

»Oh ja, das ist schön, hast recht. Nimm das!«

»Guuut … ist drin. Mh … Hast du die Bilder von deinem Leben vor der Pandemie noch auf dem Handy? Aus Berlin? Dann nehmen wir da noch ein schönes.«

»Aber ein harmloses bitte, nicht das, wo ich so gespielt lasziv schaue oder so.«

»Geht klar. Ähm … ah, da ist es. Ist auch drin. Und jetzt noch das hier, denn ein schöner Rücken kann auch entzücken. So. Und jetzt darfst du wischen! Bitte schön.« Feierlich überreicht Eve mir mein Handy. »Rechts hui, links pfui.«

Ich muss lachen. »Das ist aber sehr oberflächlich, Evie!«

Sie zuckt mit den Schultern. »Denkst du, die Männer handhaben das anders? So ist das mit den Apps. Du kannst den Leuten auf den Bildern noch weniger hinter die Stirn gucken als live auf der Straße. Du kannst aber auch schauen, manche schreiben ja was in ihr Profil und dann gehst du einfach danach.«

»Oh, der ist süß!«, befinde ich direkt beim ersten Vorschlag. Als ich seinen Profiltext lese, verziehe ich jedoch gleich das Gesicht. »Suche ONS oder F+. Bist du gut im Bett, bin ich zu dir nett. Eww, was’n das für’n Spruch? Was für ein Arsch.«

»Na ja, wenigstens weißt du dann gleich Bescheid und kannst ihn wegwischen. Gibt ja aber auch die, die genau das suchen und für die ist das gleich eine Ansage«, verteidigt Eve den Kerl.

»Schon. Aber der Spruch ist trotzdem eklig und so einer wie der erklärt direkt den schlechten Ruf dieser App.«

»Dafür nutzen es wohl auch sehr viele. Für kleine Abenteuer.«

Ich grunze lachend. »Ob das Abenteuer klein ist, hängt ja immer vom Abenteurer ab, ne?«

Eve stupst mich lachend an. »Jetzt wirst du aber fies!«

»Entschuldige, das ist der Sekt«, antworte ich mit einem breiten Grinsen.

»Ja, ja, lahme Ausrede!« Eve lacht erneut und blickt auf mein Handy. »Jedenfalls wird man auf diesen Apps absolut fündig, wenn man Abenteuer sucht und –«

»Ich suche aber keine Abenteuer!«, unterbreche ich sie mit erhobenem Finger. »Ich hab mich lang und oft genug ausgetobt. Am besten war’s echt in den 1970ern und 90ern.« Ich seufze lächelnd und versinke einen Moment in wilden Erinnerungen, ehe ich mich wieder fange. »Aber jetzt«, sage ich entschlossen und blicke meine Freundin an, »hab ich mich genug ausgetobt und genug Scheiße erlebt. Ich will was Echtes. Die große Liebe mit allem Drum und Dran. Also so richtig echt und schön, mit ganz viel Süßholzgeraspel und Zwischenmenschlichkeit. Heutzutage sind die Männer ja doch wenigstens zum Teil anders als damals. Ist ParonDate dafür besser geeignet?«

»Geht. Ich glaube, ParonDate ist zumindest etwas subtiler. Ich weiß aber nicht, ob das an der Klientel oder dem etwas anderen Aufbau der App liegt.«

Ich seufze und wische weiter. Nachdem ich ungefähr 15 Männer weggewischt habe, muss ich kichern. »Wow, ich wusste gar nicht, wie oberflächlich ich bin.«

Eve kichert mit. »Macht nichts. Sag dir bloß immer wieder, dass alle anderen auf dieser App das auch sind. Und es kann ja trotzdem was Gutes bei rauskommen! Sieh dir Steve und mich an!« Sie strahlt verliebt von einer Wange zur anderen und ich schöpfe nickend wieder Hoffnung. Wir swipen weiter und nach nicht mal zehn Minuten hab ich schon fünf Matches.

»Schau, wie beliebt du bist! Du musst damit rechnen, dass circa vier von fünf sich superschnell wieder erledigen, die sind für’n Arsch«, erklärt mir Eve und ich kichere erneut.

»Jetzt wirst wieder fies.«

»Nee, nee, nicht fies. Das ist Tatsache. Ich sag’s dir: Mindestens einer wird dir nicht antworten. Mindestens einer wird das Match wieder lösen, bevor ihr ein Wort wechseln konntet. Und mindestens einem musst du alles aus der Nase ziehen und die anderen beiden … Na ja, bei einem wird sich sicher schnell rausstellen, dass er dich eigentlich nur ins Bett kriegen will, mehr nicht. Beim fünften könntest du dann Glück auf ein längeres, interessantes Gespräch haben.«

»Klingt nicht sehr motivierend.«

Eve lacht. »Probier es einfach aus. Vielleicht irre ich mich ja und du verstehst dich mit allen fünf hervorragend und weißt gar nicht, wen du zuerst treffen sollst?« Sie grinst mich breit an und beugt sich zum Tisch vor, um sich eine Geleebanane zu nehmen und genussvoll in den Mund zu schieben. »Und sei ruhig mutig und triff dich mit den Kerlen. Aber!« Und nun wird ihr Blick ernst, als sie ihn auf mich richtet. »Schreib mir immer, wenn du dich mit wem triffst. Name, Ort, Zeit. Mh, teile am besten auch immer den Standort, dann kann ich besser auf dich aufpassen. Und gehe erstmal mit keinem zu ihm nach Hause. Sicher ist sicher.«

Nun lache ich etwas nervös, doch sie hat recht. »Denkst du, die sind hier so schlimm?«

»Mh, nicht schlimmer als überall sonst«, meint sie zwischen zwei Geleebananen. »Aber du weißt nie, ob sich mal ein Genträger darunter befindet, der seine Kräfte vielleicht ausnutzt. Oder einfach ein Normalo-Arsch, der dir Böses will. Bei einem öffentlichen Date bist du einfach sicherer, bis ihr euch besser kennt.«

Ich seufze und kippe den Rest meines Blubberwassers hinunter. »Fabelhaft. Na dann auf eine wunderbare Dating-Zeit!« Ich lächle schief und weil Eve aus unerfindlichen Gründen anfängt zu lachen, muss ich ebenfalls lachen, als wir mit unseren mittlerweile leeren Gläsern anstoßen.

MR SMITH

Zwei Tage später sitze ich in der Bahn und bin heilfroh, dass es heute nicht so kalt ist. Meistens trage ich Kontaktlinsen, aber an faulen Tagen wie heute habe ich meine Brille auf der Nase. Bei kalten Temperaturen beschlägt sie dank der Maske in einer Tour. Ich hab sogar so ein Anti-Beschlag-Spray für meine Brille ausprobiert, aber das war bloß Abzocke. 8 PD hab ich für den Spaß bezahlt und geholfen hat es absolut gar nicht.

Gerade stecke ich mein Buch in die Tasche und zücke stattdessen mein Handy, da es mittlerweile mehrmals vibriert hat. Newsletter. Eine PostApp-Gruppennachricht meiner Konditoreikollegen. Benachrichtigungen von Pinder und ParonDate. Eigentlich hab ich mir vorgenommen, nur abends in die Dating-Apps zu schauen, aber da ich eh gleich am Ziel ankomme und sich das Buch wieder auszupacken jetzt nicht mehr lohnt, habe ich dieses Vorhaben nach nicht einmal zwölf Stunden schon über Bord geworfen. Passiert.

Ich schreibe aktuell insgesamt mit zwei ganz netten Typen. Pete und Christof. Gerade ist es Christof mit F, mit dem ich Nachrichten hin- und herschicke. Mit F. Das hat er selbst betont, obwohl ich das ja lesen kann. Doch er scheint eine gesunde Portion Selbstironie zu besitzen und das gefällt mir irgendwie. Das Gespräch mit ihm war zwar bisher recht oberflächlich, aber sehr lustig. Wir haben viel gescherzt und hatten einen amüsanten Schlagabtausch. Das hat ihn mir so sympathisch gemacht, dass ich nun seiner Frage nach einem Treffen trotz Pete zustimme. Immerhin schreiben wir nicht erst seit zwei Stunden und das Treffen wird nicht gleich am nächsten Tag stattfinden, wie es bei Pete der Fall gewesen wäre.

Nachdem Eve neulich heimgegangen ist, hab ich noch ein wenig umhergewischt und das ein oder andere Gespräch angefangen. Und beinahe hätte ich Pinder sofort wieder gelöscht. Versteht mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen Sex, ich mag ihn sehr. Aber weder bin ich auf den Apps auf der Suche nach schnellen Bettgeschichten noch finde ich es gut, wie manche Leute meinen, einen ansprechen zu müssen. Ein bisschen Respekt kann man schon erwarten, oder? Als ich wieder nach Parondon gezogen bin, habe ich meinen Geburtsnamen wieder angenommen. Zurück in der Heimat, dachte ich mir, benutze ich wieder meinen ursprünglichen Namen: Ana-Luise Miller. Und viele der Kerle auf Pinder hatten an den letzten Abenden nichts Besseres zu tun, als wahnsinnig stupide Wortwitze über meinen Namen zu machen.

Da steht wohl jemand auf anaL ;)

AnaL? Dein Kink? ;)

Lustiger Name! Kürz mal Luise mit L. ab: D

Dabei haben wir meinen Namen extra ausgeschrieben. Mehr muss ich dazu sicherlich nicht sagen, oder? Diese Chatversuche waren mir keine Antwort wert. Sicherlich, es gab genügend, die mich nicht auf meinen Namen angesprochen haben, aber …

Hey Süße, meine Ohren sind kalt.

Lust, sie mit deinen Schenkeln aufzuwärmen?

Bock zu ficken?

Kannst du dir ein paar Augenfalten schminken, wenn wir uns treffen?

Find dich total süß, aber stehe eigentlich auf ältere Frauen.

Wenn der wüsste.

Schickst du mir Nudes?

Hey Hübsche, bist ja nur 2 km weg von mir. Ich könnte direkt mal vorbeikommen, wenn du magst.

Darf ich dich lecken?

Schickst du mir Bilder von deinen Füßen?

Würde gerne an deinen großen Zehen lutschen. Die sehen sicher toll aus.

Ich meine: Was soll man darauf antworten? Meiner Meinung nach ist das alles nicht mal eine sarkastische Antwort wert. Diese Matches hab ich lediglich mit einem Match lösen beantwortet. Wobei ich zumindest denen mit den Kinks noch höflich geschrieben habe, dass ich auf so was nicht so stehe und auf der Suche nach etwas anderem bin.

ParonDate ist da – wie Eve bereits erwähnt hatte – etwas seriöser. Zumindest erscheint es mir so, dass die Männer dort mehr Respekt zeigen … oder heucheln. Sicher bin ich mir noch nicht. Doch der eine oder andere nette Kerl ist schon dabei, mit dem ich immer mal ein paar Sätze wechsle. Vorausgesetzt, sie antworten auch. Von manchen hab ich seit ihrem Hallo nichts mehr gehört. Einer war aber besonders nett. Der eben schon erwähnte Pete. Angeheitert wie ich gestern war, habe ich mit ihm sofort ein Treffen für heute Abend ausgemacht, zumal er echt lustig war und wir uns gleich super verstanden haben. Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, habe ich dieses Treffen allerdings gleich bereut. Das geht mir dann doch etwas zu schnell. Also habe ich mein Handy gezückt und ihn gebeten, die Verabredung noch etwas rauszuschieben, da ich mich so schnell gar nicht treffen mag und mich der Alkohol gestern zu einer spontanen Zusage verleitet hat.

Kein Problem. Versteh ich absolut, wenn du gern erst noch ein bisschen kennenlernen möchtest :) Mach dir keine Gedanken. Ich flieg morgen erstmal zwei Wochen in den Urlaub und danach können wir das ja nochmal in Ruhe angehen.

Das war seine Antwort. Eine, die mich echt erleichtert hat. Auch wenn es unabhängig seiner Reaktion natürlich total in Ordnung ist, eine Verabredung abzusagen, für die man sich nicht bereit fühlt. Das weiß ich.

Kaum dass ich eben meine Antwort an Christof abgeschickt habe, hat Pete mir wieder geschrieben. Zuletzt hatten wir uns nach meiner Absage über Filme unterhalten.

Ich freu mich schon total,

wenn der neue Actionfilm mit

Thomas Poland im Kino läuft.

Oh, ich mich auch! Den mag ich voll gerne.

Vielleicht können wir den ja zu-

sammen schauen. Sind ja noch

ein paar Tage Zeit zum Kennenlernen, bis der rauskommt ;)

Klar, können wir auf jeden Fall nochmal drüber reden, wenn es so weit ist.

Und wir uns dann immer noch gut finden ^^

»Nächste Haltestelle: Thames Boulevard.« Das ist meine Haltestelle. Ich schließe die App, stecke mein Handy weg und stehe auf, um wenige Sekunden später Brille richtend hinaus an die frische Luft zu treten. So frisch sie unter der Maske eben sein kann.

Ich laufe vorbei an einem Bäcker, drei Wohnhäusern, über die Fußgängerampel und vorbei an einem Friseurladen und einem weiteren Bäcker. Dann stehe ich vor dem Hauseingang des Gebäudes, in dem ich mir eine Wohnung mit meiner Mum teile. Auch sie hat ihren ursprünglichen Namen wieder angenommen: Lydia Miller. Damit unser Schauspiel als Schwestern besser funktioniert, habe ich vor vielen Jahrzehnten angefangen, sie bei ihren wechselnden Vornamen zu nennen, und jetzt ist es so fest verankert, dass es sich seltsam anhört, sie mit Mum anzusprechen.

»Bin wieder daaa!«, rufe ich in die Dreiraumwohnung, als ich Musik aus der Küche schallen höre. Lydia ist in diesem Leben Buchhändlerin und arbeitet bei Phalia, einer Buchhandlungskette. Seit einigen Monaten darf sie wieder fest dort arbeiten, ohne befürchten zu müssen, dass der Laden jeden Moment wieder schließt oder sie aufgrund der PandemieBedingungen ihren Job von einem auf den anderen Tag verlieren könnte. Wie es aussieht, hat ihre Frühschicht heute pünktlich geendet.

»Anaaaaa, wie schön, dass du da bist. Die Sonne scheint, hast du das gesehen? So schön! Wir sollten nachher unbedingt noch ein bisschen spazieren gehen.«

»Ich komme gerade von draußen, Lydia.« Ich lasse lachend den Schlüssel in eine Schale auf der Kommode im Flur fallen, während ich aus meinen Slippern schlüpfe. »Natürlich habe ich gesehen, dass die Sonne scheint!«

Als ich am Türrahmen ankomme, dreht sie sich zu mir herum und lacht. »Dumme Frage«, stellt sie selbst fest. »Hast du denn Lust, mitzukommen?«

»Klar!«, erwidere ich und schaue in den Kühlschrank. »Wieso wäschst du ab? Ist die Spülmaschine kaputt?«

»Nein, aber voll und ich wollte den ganzen Mist hier weghaben.«

»Hast du vorgekocht? Oder warum hast du so viel dreckiges Geschirr?«, frage ich amüsiert und schenke mir etwas Eistee in ein Glas. »Möchtest du auch?«

»Nein danke, ich hab mir grad erst Kaffee gemacht. Und ich hab tatsächlich vorgekocht, ja. Die nächsten Tage fallen meine Schichten so, dass ich immer auf Arbeit essen muss, und ich hab keine Lust, meine Pausen jedes Mal mit irgendwo Anstehen zu verschwenden, bloß um mir Essen zu besorgen.«

»Verständlich!«

»Finde ich auch.« Sie lacht und legt den letzten Topf zum Abtropfen auf die Abtropfmatte neben der Spüle. »Übrigens war vorhin Besuch für dich da.«

Mit neugierigem Blick setze ich mein Glas von den Lippen ab und schaue sie fragend an. »Eve?« Dann lausche ich kurz neben der Musik. »Ist die Maschine überhaupt an?«

»Ja, ist sie. Wieso?«

»Weil ich nichts höre und die Lampe blinkt.« Ich deute darauf und Lydia seufzt.

»Hab vergessen, den Startknopf zu drücken. Klar … Ich werde wohl langsam echt alt.«

»Nur ein bisschen.« Ich grinse verschmitzt und sie muss lachen.

»Wenigstens werde ich nicht völlig unlustig auf meine alten Tage.«

»Wer war denn nun der Besucher?«

»Ach so!« Meine Mutter legt ihre Schürze ab, setzt sich mit ihrer Kaffeetasse an den Tisch und ich setze mich zu ihr. »Nein, es war nicht Eve. Es war ein älterer Herr.«

»Ein älterer Herr?«, frage ich verwundert und beobachte, wie sie eine Schachtel Zigaretten aus dem Schubfach des Küchentischs holt.

»Ja, ein Mr Smith.«

»Mr Smith?« Ich runzle die Stirn.

Lydia wühlt in der Schublade herum und nickt. »Ja, so wie es klang, ist er von deiner Arbeit? Ah, da!« Sie zieht ein Feuerzeug hervor und blickt mich fragend an. Ich greife über den Tisch und nehme die Schachtel an mich.

»Ich dachte, du hast aufgehört?«, tadle ich sie und sie seufzt.

»Aber mir ist gerade danach!« Beinah könnte sie einem leidtun, so leidlich klingt sie. Aber eben nur beinahe. Knallhart schüttle ich den Kopf.

»Nichts da, genau das ist der Fehler. Gib der Sucht nicht nach, Lydia!« Streng betrachte ich sie, doch sie schaut ebenso streng zurück.

»Sieh mich nicht so an, ich bin immer noch deine Mutter! Wie du siehst, hat es mich nach all der Zeit noch nicht umgebracht! Außerdem ist es doch bloß Nikotin, keine Drogen!«

Ich atme tief durch, als sie diesen Vergleich zieht, und bin kurz davor nachzugeben, doch dann stecke ich die Schachtel ein. Immerhin ist Nikotin nachweislich auch schädlich für den Körper. Auch wenn ich mir tatsächlich unsicher bin, ob unsere Körper da nicht eine Ausnahme bilden könnten. »Nein! Und doch, Kippen sind auch Drogen.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Klugscheißer. Wer hat dich erzogen?«, fragt sie schief lächelnd. »Du weißt schon, dass ich mir einfach neue kaufen kann?«

»Wage es dich bloß nicht!«

Wir leisten uns einen Anstarrwettbewerb, doch dann gibt sie nach und verstaut das Feuerzeug wieder im Schubfach. »Du hast ja recht, mein Kind.«

»Ich weiß, … Mutter.« Wir sehen einander an, dann müssen wir lachen. »Also dieser Mr Smith … Du sagst, er arbeitet in der Konditorei?«

»Jedenfalls denke ich das. Er meinte, er kenne dich von der Arbeit.«

»Aber bei uns arbeitet kein Mr Smith.«

»Hm … vielleicht ein Kunde?« Sie greift nach ihrer Kaffeetasse und nippt vorsichtig daran. Als sie beschlossen zu haben scheint, dass er nicht mehr zu heiß ist, trinkt sie mutiger daraus.

»Könnte sein. Ich kenne viele Gesichter, aber wenige Namen der Kunden.« Ich trinke noch was von meinem Eistee, während ich Lydia nachdenklich ansehe. »Was wollte er denn?«

»Weiß ich nicht.« Lydia zuckt mit den Schultern. »Wollte zu dir und als ich meinte, du seist nicht da, ist er wieder gegangen.«

Ich runzele die Stirn. »Er war hier? Hier bei uns zu Hause?« Sie nickt. Meine Stirn legt sich noch tiefer in Falten, während ich Billie Stylishs Mad Guy im Hintergrund lausche. »Woher hat der meine Adresse?«

Nun runzelt auch Lydia ihre Stirn. »Wieso hab ich mir diese Frage nicht gestellt?«

»Weil … du vermutlich davon ausgingst, dass er und ich uns kennen?«

»Ja, das muss es gewesen sein.« Nachdenklich nickt sie vor sich hin. »Du kennst ihn also wirklich nicht?«

»Nein.«

»Hm. Seinem Akzent nach zu urteilen, dürfte er Amerikaner gewesen sein. Klickt da etwas? Ein alter Bekannter vielleicht?«

Wenn überhaupt möglich, ist meine Stirn nun noch stärker gerunzelt. Amerika. Es ist lange her, dass wir in Amerika gelebt haben. Dafür haben wir dort für eine recht lange Zeit gelebt. Von den 1860er-Jahren bis Anfang der 1970er. Also über hundert Jahre. Danach sind wir für einige Jahre nach Prag und dann Berlin, ehe es uns schließlich zurück nach Parondon verschlagen hat.

»Smith … ist ja jetzt auch kein seltener Name. Vielleicht kannte ich einen, ja«, murmle ich. Die meisten jedoch dürften schon tot oder sehr alt sein. »Wie sah er denn aus?«

»Och, sehr durchschnittlich für sein Alter. Graues, gescheiteltes Haar, blaue Augen, Schnauzer.«

»Nee, sagt mir echt nichts. Aber so hat er ja damals vermutlich auch noch nicht ausgesehen.«

Der Nachrichtengong hallt durch die Lautsprecher des Küchenradios und lässt uns beide automatisch schweigen.

»Filmfans können wieder aufatmen. Ab morgen werden sämtliche Kinos des Landes wieder geöffnet ebenso wie diverse Freizeitanlagen. Dazu zählen Minigolfanlagen, Lasertag- und Kletterhallen sowie Fitnessstudios, Zoos und Kinderfreizeitstätten.«

»Langsam fühlt es sich wieder wie ein normales Leben an.« Lydia lächelt. »Fast wie damals. Hoffentlich schlägt es nicht genauso zurück wie in San Francisco.«

»Trauer um Sneaky Siggi. Während eines Open-Air-Autokonzertes hat sich der beliebte Rapper mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Mitten während seiner Performance rannte er panisch atmend hinter die Bühne, kehrte mit einer Waffe an seiner Schläfe zurück und drückte nur wenige Sekunde später ab. Noch ist unklar, was genau vorgefallen ist. Sein Manager geht jedoch von einer unkontrollierten Panikattacke aus. Laut dessen Aussage litt der Rapper seit Beginn der Pandemie gehäuft an Aussetzern und Panikattacken. Die Fans sind geschockt.«

Lydia schüttelt den Kopf. »Unglaublich, was dieser Virus mit den Menschen anstellt. Entweder er rafft sie durch eine Infektion dahin oder durch den Lockdown, in den er uns getrieben hat«, murmelt sie seufzend. »Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele sich mittlerweile selbst das Leben genommen haben. War das beim letzten Mal auch schon so? Ich erinnere mich kaum noch.« Eine Arbeitskollegin meiner Mutter, ein befreundeter Schauspieler und außerdem einer ihrer Stammkunden hatten sich bereits im vergangenen Jahr selbst aus dem Leben verabschiedet aufgrund ihrer finanziellen oder einsamen Situationen. Ich nicke stumm und leere mein Eisteeglas.

»Ich weiß es auch nicht mehr genau. Aber … Schon krass. Ob Sneaky Siggi wohl Publikum wollte, als er das getan hat?«, frage ich mich laut.

»Wir werden es nie erfahren.«

CHRISTOF

Es ist so weit. Nach wenigen Tagen habe ich also mein erstes ParonDate-Date mit Christof. Pete und ich schreiben immer noch, aber er ist seit ein paar Tagen im angekündigten Urlaub und wir woll- ten uns ja eh erst danach treffen. Vielleicht muss ich ihn aber sogar nochmal versetzen, wenn das Treffen mit Christof heute gut läuft.

Mich gleich mit zwei Männern gut zu verstehen, war nicht der Plan, aber ich will auch niemanden ghosten, nur weil ich mich noch mit einem anderen gut verstehe. Und ein Date ist ja nicht gleich verbindlich. Also rede ich mir ein, dass das absolut legitim ist. Erstmal Männer kennenlernen. Und wenn einer dabei ist, der mich echt umhaut, kann ich den anderen immer noch Bescheid geben. Zumal sich das meiste bisher ja sowieso sehr schnell wieder verlaufen hat. Vor allem die ganzen anzüglichen Chats.

Zurück zu Christof mit F. Wir wollen uns etwas zum Trinken für unterwegs besorgen und ein bisschen spazieren gehen. Christof mag die Parks in der Parondoner Innenstadt und liebt Spaziergänge. Deshalb gehen wir spazieren. Er wohnt etwas weiter außerhalb in Greenville und kommt heute nur für mich in die Stadt. Irgendwie finde ich das ganz nett.

Wie mit Eve vereinbart, schicke ich ihr Treff- und Zeitpunkt des Dates sowie Christofs Namen. Den Vornamen, mehr kenne ich schließlich selbst nicht. Also sicherheitshalber auch ein Screenshot von seinem Profil samt Bild. Zur Sicherheit. Als ich zwei Minuten zu früh am vereinbarten Treffpunkt stehe und von ihm weit und breit noch nichts zu sehen ist, schicke ich Eve noch schnell meinen live Poogle-Standort per PostApp.

Viel Spaß, Süße! Ich pass auf dich auf!

Und berichte mir hinterher jedes Detail! ;*

Ich lächle ob ihrer Nachricht und stecke mein Handy in die Hosentasche. Und als ich aufschaue, sehe ich, wie sich mir ein Typ nähert, der schon von Weitem winkt und mich anlächelt. Da muss ich glatt mitlächeln. Hübsch sieht er aus, wie auf den Fotos. Sogar noch besser. Gepflegtes Auftreten. Sportlich. Modern gekleidet. Frisiertes Haar. Markante Wangenknochen. Für meinen Geschmack sieht er beinahe schon zu gut aus und ich staune, dass so einer mich überhaupt gematcht hat. Vermutlich hätte ich ihn bei einer einfachen Begegnung auf der Straße kaum wahrgenommen, weil er optisch mit seiner klassischen Schönheit normalerweise nicht in mein Beuteschema fällt. Ich mag es eher edgy. Wenn jemand etwas Besonderes an sich hat, was die Aufmerksamkeit erregt. Eine flüchtende Augenbraue. Ein Muttermal am Hals oder im Gesicht. Eine schiefe Nase. Intensive Augen. Eine besondere Lippenform. Doch sein Profil war sympathisch und der Wortwechsel mit ihm auch. Vielleicht sind diese Apps ja doch ganz praktisch, weil man da ein bisschen mehr hinter die Fassade sehen kann, als wenn man an jemandem auf der Straße vorbeiläuft.

»Hey, du musst Ana mit einem N sein!«, grüßt er mich frech grinsend und umarmt mich.

»Stimmt!«, antworte ich lachend und erwidere die Umarmung ganz automatisch, obwohl es sich seltsam anfühlt. Vielleicht, weil er im Grunde dennoch ein Fremder ist.

»Und du bist Christof mit F?«

Er lacht. »Der bin ich. Darfst mich aber auch einfach Chris nennen.«

»Wie großzügig.« Ich schmunzle. »Dann darfst du mich Ana nennen.«

»Deine Großzügigkeit steht meiner in nichts nach!« Christof zwinkert mir zu und nickt nach links. »Holen wir uns was zum Trinken? Und dann wird losspaziert? Ich hoffe, du hast jemandem Bescheid gegeben, mit wem du dich triffst. Dann ist die Chance höher, dass ich dich nicht entführe.«

Er lacht. Ich lache mit. Etwas nervös. Die Art, wie er das sagt, macht mir jetzt keine Angst oder so. Es wirkt allerdings viel gezwungener als im Chat. Nicht locker-flockig von der Hüfte. Als würde er versuchen, lustig sein zu wollen. Was er schriftlich auch definitiv war. Doch da fehlte mir der Tonfall. Das Auftreten. Egal, ich gebe ihm trotzdem eine Chance. Sicher ist er nur nervös, bin ich ja irgendwie auch.

Wir überqueren also die Straße nach links und ziehen unsere Masken auf, um uns zwei Smoothies to go zu holen. Für mich einen Mangosmoothie, für ihn irgendeinen grünen mit Gurke, Grünkohl und Spinat. Schon bei der Vorstellung des Geschmacks dieser Zusammenstellung stellen sich meine Nackenhaare auf. Grünkohl ist leider so gar nicht mein Fall. Glücklicherweise ist das jedoch alles Geschmackssache.

»Super Shake!«, meint er und ich verzichte darauf, ihn zu korrigieren. Shake. Smoothie. Ist ja Pillepalle und macht mich sicher nicht sonderlich beliebt, den Klugscheißer raushängen zu lassen.

»Mutig von dir, würde ich behaupten«, sage ich stattdessen lachend.

»Ach was, ich trink das täglich. Ein grüner Shake am Tag und Minimum einen Eiweißshake.«

»Zur Trainingsunterstützung?«, frage ich und mein Blick gleitet unwillkürlich über seinen Körper. Schon eben und auf den Bildern ist mir aufgefallen, dass er sehr gut trainiert ist. Doch jetzt live im Shirt so dicht neben mir … ja, doch. Eindeutig jemand, der viel Sport treibt. Viel Kraftsport. Sieht gut aus und kostet sicher viel Schweiß und Fleiß, doch auch das ist normalerweise nicht so mein Fall. Ich mag es nicht, wenn jemand zu trainiert aussieht. Aber meckern will ich auch nicht, am Ende kommt es schließlich auf den Charakter an. Und ich selbst muss eh die Klappe halten mit meinen ausladenden Hüften. Die sind angeboren, ich hab über die Jahre so viel versucht, aber sie sind nie wieder weggegangen. Vielleicht gehört das zu meinem Gen. Mein Körper verändert sich schließlich nicht über all die Jahre, dann vermutlich auch nicht, wenn ich Sport treibe oder die Ernährung extrem umstellen würde. Diese Figur hatte ich einfach schon immer. Zwischenzeitlich war ich damit sogar sozusagen voll im Trend, als Kurven mal der letzte Schrei waren. Doch das ist schon lange her, die letzten mindestens fünfzig Jahre war dann doch eher wieder Zierlichkeit angesagt. Mittlerweile habe ich mich mit meinen Kurven abgefunden, aber ich weiß auch, dass nicht jeder auf Hüftgold und breite Oberschenkel steht. Es gibt welche, aber eben nicht alle. Wäre ja auch langweilig, wenn jeder jedermanns Typ wäre. Ich bin eben … mehr der weiche Typ Frau.

»Genau!« Chris grinst. »Ich find Sport und Ernährung extrem wichtig.«

»Ja, unwichtig ist es jedenfalls nicht.«

»Machst du viel Sport?«

»Sieht man das nicht?«, scherze ich und werde sofort einer genaueren Betrachtung unterzogen.

»Nee«, antwortet er, gefolgt von einem knappen Lächeln.

»Warum fragst du dann?«, versuche ich lächelnd meine sofort aufkeimende Unsicherheit zu überspielen. Aber ich fehlinterpretiere das sicher bloß.

»Weißt du«, beginnt er, meine Frage übergehend, »ich hab vorher gar nicht gefragt, das mache ich sonst eigentlich immer, aber … wie alt sind deine Fotos eigentlich?«

»Nicht alt.«

»Was heißt nicht alt?«

»Mein Profilbild habe ich erst vor knapp einer Woche geschossen und die anderen beiden sind aus diesem Jahr. Oh, nee, das aus Berlin ist von vor knapp einem Jahr. Kurz bevor ich von dort hierhergezogen bin. Aber das ist ja auch noch nicht sooo lange her.«

»Ich frage das wie gesagt sonst immer vorher, bevor mir so was wie bei meinem ersten App-Date passiert.«

»Was ist denn da passiert?«, hake ich neugierig nach. Jetzt kommen die spannenden Geschichten! Denke ich jedenfalls. Etwas weg vom Smalltalk. Mal Geschichten von der männlichen Seite der DatingApps. Bisher kenne ich nur die von Freundinnen. Und meine eigene karge Erfahrung.

Christof schlürft die dickflüssige grüne Masse aus seinem Strohhalm und winkt mit der freien Hand ab. »Ach, die hatte echt schöne Bilder drin. Hübsche Frau, schlanke Figur. Sah wirklich gut aus. Und dann treffen wir uns und die hatte mindestens fünf bis zehn Kilo mehr auf den Hüften als auf ihren Bildern. Als ich sie fragte, wie alt die seien, meinte sie, die wären zwar schon zwei Jahre alt, aber sie sähe ja noch genauso aus. Aber glaubste, nee! Wie gesagt: bestimmt fast zehn Kilo mehr. Das geht eben gar nicht. Ich hab sie schließlich ausgewählt, weil sie mir so gefällt, wie sie auf dem Foto aussieht! Nicht mit vielleicht zehn Kilo mehr. Weißt du?«

»Hm«, mache ich und streiche unbewusst im Gehen mit der Hand über die Seite meines Oberschenkels. Will er mit damit jetzt unterschwellig irgendetwas mitteilen? Dass ich auf meinen Bildern schlanker aussehe? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Aber vielleicht interpretiere ich auch bloß wieder zu viel und er hat lediglich nach Unterhaltungsstoff gesucht. Dennoch fühle ich mich gerade etwas unwohl in meiner Haut und in mir steigt der Drang auf, ihm von meinem Gen zu erzählen und davon, dass sich dadurch auch mein Körper nie verändert hat und Sport zwecklos wäre. Aber ich schlucke es runter, denn ich habe es im Grunde nicht nötig, mich zu rechtfertigen.

Wir laufen weiter. Christof erzählt munter weiter von der Frau mit den zehn Kilo zu viel und darüber, wie wichtig ihm Sport, gesunde Ernährung, eine gute Figur und definierte Muskeln sind. Zumindest ist das an ihm nicht zu übersehen. Das hilft mir gerade nicht unbedingt über meine Unsicherheit hinweg, aber ich versuche es irgendwie positiv zu sehen und nicht persönlich zu nehmen.

Da ich kaum zu Wort komme, nicke ich immer wieder brav, streue hier und da ein »Ja«, »Ach so« oder »Hm« ein und habe meinen Mangosmoothie schneller leer getrunken als mir guttut. Zum Glück war es kein Slushy, dann hätte ich jetzt sicher Hirnfrost. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass Christof mit F mit mir keinen Slushy kaufen gegangen wäre. Passt sicherlich nicht in seine strenge, gesunde Ernährung. Selbst wenn Diäten und Sport etwas bei mir bringen würden – und ich hab es ein paarmal versucht –, ich könnte nie so eisern sein mit solchen Ernährungsweisen. Dafür liebe ich Essen und vor allem Süßes zu sehr. Ich habe Respekt vor den Menschen, die das hinbekommen. Hut ab. Aber für mich selbst wäre es keine Option und ich persönlich fühle mich sehr unwohl, wenn mir jemand vorhält, wie gesund er sich doch ernährt.

Irgendwann haben wir es geschafft, von den Themen Figur, Sport und Ernährung wegzukommen – mittlerweile weiß ich auch, wie sehr er seine Mum beim Abnehmen unterstützt und mit einer Smartwatch ihre Kalorienzufuhr und ihre Bewegung überwacht, damit sie auch ja schön schlank und fit bleibt –, und schwenken auf seinen Job um.

»Ich hab mittlerweile echt ein riesiges Taschengeschäft. Handtaschen, Rucksäcke, Reisetaschen, Bauchtaschen. Einfach alles! Ich hab echt klein angefangen. Hatte da eine Tasche zu viel und hab die auf PostBuy reingestellt und die war sofort weg! Für den Originalpreis, ohne Einbußen. Und da dachte ich mir: Mensch, Chris, da kannste was draus machen. Ich hab nach und nach immer mehr Taschen verkauft, bis das ein richtiges Business wurde. Und bis vor Kurzem hab ich alles von Bangkok aus gemacht. War gerade zum Urlaub drüben, als die Pandemie um sich schlug und alles dicht wurde. Ein halbes Jahr hab ich da drüben gesessen.« Er hält kurz die Klappe, um darüber zu lachen. Etwas verkniffen lächelnd schmeiße ich meinen leeren Becher in den nächsten Mülleimer und frage mich, ob ich Kaugummis dabeihabe. Oder irgendwas anderes, um meinen Mund zu beschäftigen, bevor ich noch eine blöde Bemerkung loslasse. Jeder kann ja machen, was er für richtig hält und was ihm Spaß macht. Dagegen habe ich absolut nichts. Aber die ganze Art und Weise, wie er auftritt und sich gibt, lässt mich von Minute zu Minute immer unwohler fühlen. Etwas, was ich nach unserer Schreiberei so gar nicht erwartet hätte. Als stünde hier ein anderer Mensch neben mir. Oder als hätte jemand anderes für ihn mit mir geschrieben. Vielleicht hat meine Fantasie aber auch einfach etwas anderes aus ihm gemacht. Wer weiß das schon.

»Richtig geil«, fährt er fort, kaum dass er fertig gelacht hat. »Supergünstig, mega Wetter. Da drüben war das Thema Pandemie schneller gegessen als hier. Ich konnte mir alles einfach rüber liefern lassen statt nach Parondon und konnte mein Geschäft weiter betreiben. Der Onlinemarkt hat da ja erst recht zu boomen begonnen. Total gut, wirklich. Das lief so gut, dass ich mein Geschäft sogar ausbauen konnte. Hab mir in Bangkok noch einen Mitarbeiter gesucht und eine Geschäftsstelle in Parondon eröffnet. Natürlich alles nur online, aber hab mir auch von hier Leute gesucht, die mich bei der Buchhaltung und der Koordination unterstützen und von hier aus alles am Laufen halten. Thailand ist großartig, versteh mich nicht falsch, aber irgendwann wollte ich schließlich auch wieder nach Hause.«

»Hm.« Ich lächle. Mehr schaffe ich eh nicht, bevor er weiter von seinem Shop, seinen Taschen und seinem Bangkokaufenthalt erzählt, von dem aus er zahlreiche Ausflüge ans Meer unternommen hat.

Irgendwann haben wir den gesamten Paron-Park umrundet – vorbei an einem Brunnen, einem Spielplatz, einem kleinen Teich und einer Hundewiese, auf der gerade eine Hundeschule mit Abstandsregel ihr Training durchführt. Merkwürdig, wie verinnerlicht das mittlerweile ist. Da das auch Christof auffällt, ist die Pandemie unser nächstes Thema. Wie sehr sich alles verändert hat, wie ewig das mit dem Impfstoff gedauert hat, dass wir froh sein können, hier auf Parondon schon so weit zu sein im Gegensatz zum Großteil vom Rest der Welt et cetera. Natürlich kommt das alles aus Christofs Mund. Ich selbst komme ja kaum dazu, etwas zu sagen. Das erste Mal, dass er mich etwas fragt – abgesehen von der Sache mit dem Alter meiner Fotos – ist, als wir den Park beinahe zum zweiten Mal umrundet haben.

»Und … warum bist du Single?«

Ich zucke mit den Schultern. »Mr Right war einfach noch nicht dabei. Außerdem wohne ich noch nicht so lange hier.«